Ein Sommer, drei Monde - Silke Sutcliffe - E-Book

Ein Sommer, drei Monde E-Book

Silke Sutcliffe

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Beschreibung

Alice: fast 16. Kreativtalent. Schlägt sich allein mit ihrem Vater durch. Fahrradfan. Beste Freundin: Jule.

Jule: fast 16. Mondexpertin. Wohnt mit ihren reichen Eltern in einem Designerhaus. Fahrradfan. Beste Freundin: Alice. Verliebt sich in Bastian.

Bastian: Kommt neu in die Klasse von Alice und Jule.
Hat vorher an der Ostsee gelebt. – Oder doch nicht?
Vater: berühmter Meeresbiologe. – Oder doch nicht?
Ist schwer krank. – Oder doch nicht?
Ist mit Jule zusammen. – Oder doch nicht?

Alice wird misstrauisch. Warum lügt Bastian sie an? Warum riskiert er immer wieder sein Leben? Warum reagiert er oft extrem? Als Alice merkt, dass Bastian ihr nicht egal ist, wird ihre Freundschaft mit Jule auf eine harte Probe gestellt.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ein Sommer, drei Monde

Silke Sutcliffe

Inhalt

September

Prolog: Fahrtwind

Juni

1. Privatstrand

2. Nachtschatten

3. Feuervogel

4. Blitzschlag

5. Geheimnisse

6. Gewitter

7. Schatzinsel

8. AquaCity

9. John Lennon

10. Sternennacht

11. Höhenflieger

12. Tsunami

13. Das Zimmer

14. Milka-Herzen

15. Antworten

16. Wartezeit

17. Fluchtpunkte

18. Rheinwiesen

19. Vorhänge

20. Findlinge

21. Die Brücke

22. Paralleluniversum

23. Die Karte

24. Frühstück

25. Altrhein

26. Müll

Juli

27. Notlügen

28. Labyrinth

29. Tagebuch

30. Die Einladung

31. Sweet 16

32. Flower moon

33. Flüsterpost

34. Zugzwang

35. Verstecken

36. Nieselregen

37. Der Kran

38. Kletterpartie

39. Aussagen

40. Letzte Worte

August

September

Epilog: Die Klinik

Anhang

Playlist: Soundtrack zum Buch

Die Autorin: Silke Sutcliffe

Danksagung

September

Prolog: Fahrtwind

Nein, denke ich, es ist eben so und es hat nichts mit dem Mond zu tun. Jule denkt, alles auf der Welt hat mit dem Scheißmond zu tun. Egal, ob meine Nase läuft oder mein Rad einen Platten hat: Jule zückt ihren Mondkalender und erklärt mir die Welt. Neuerdings aber schweigt Jule mehr, als dass sie erklärt.

Wir sitzen auf einem Vierersitz im Zug. Ich am Fenster, Jule schräg gegenüber am Gang. Ihr Blick gibt mir das Gefühl, dass ich mich in Acht nehmen muss. Sie spielt gleichzeitig Kriminal­kommissarin und Rachegöttin und ist davon besessen, die Wahr­­heit über diesen Sommer herauszufinden. Unbedingt muss sie wissen, wer von uns recht und also ein Recht auf Bas­tian hat. Ich für meinen Teil würde aufs Recht haben und auf die Wahrheit verzichten.

Es ist September und trotzdem noch heiß. Mein Trägerkleid klebt an mir. Ich habe das Fenster geöffnet. Der Fahrtwind im Gesicht tut gut. Man kann einfach die Augen schließen und ist beschäftigt.

Jule hat ihr langes Haar, das früher in drei Blondtönen geschimmert hat, abgeschnitten und hennarot gefärbt. In manchen Völkern wechseln diejenigen, die um jemanden trauern oder jemanden verloren haben, die Körperbemalung und schneiden sich die Haare ab. So kommt mir das vor. Vielleicht hat sie auch einfach genug davon, schön zu sein. Der Versuch ist miss-geglückt: Geglückt, weil sie nicht mehr so aussieht wie Jule, und das war wohl der Sinn der Sache, missglückt, weil sie nicht mehr aussieht wie Jule, sondern blass und erwachsen.

Eigentlich, das heißt vor diesem Sommer, war Jules Gesicht mir das liebste von allen. Mit Apfelbäckchen und Lachgrübchen und hellen, grünen Augen. Jetzt kommen mir ihre Augen so grau vor wie das kratzige Polster der Sitze. Jules Mutter denkt, dass die Aktion mit Jules scheußlicher Haarfarbe meine Idee gewesen ist. Sie weiß nicht, dass Jule nicht mal mehr mit mir redet. Und wenn sie es wüsste, würde sie in einem ihrer Ratgeber nachschlagen und mit Expertenmine sagen, dass wir uns eben auseinanderentwickelt hätten, Pubertät und so. Jules Mutter denkt, dass Jule und ich freundschaftsmäßig nicht zusammenpassen. Das ist natürlich nicht die Wahrheit, denn Bastian fehlt in dieser Gleichung.

»Jule?«

Sie reagiert nicht. Aber was sie kann, kann ich auch. Ich setze Kopfhörer auf und vergesse für einen Moment den Zug, unser Ziel und Jules Pokerface. Rio Reisers Junimond tröstet mich.

Dass dieser Sommer fast vorbei sein soll, geht mir nicht in den Kopf. Draußen rauschen Kräne, Fluss und Rheinstrand vor­bei.

Warum alles genau so gekommen ist, weiß ich nicht. Nur dass es nichts mit dem Scheißmond zu tun hat, das weiß ich.

Juni

1

Privatstrand

Vor ein paar Wochen haben die Bagger angefangen, am Ufer Unmengen von feinem weißen Sand aufzuschütten. Wie aus dem Bastelgeschäft. Jule und ich stehen am Bauzaun und staunen hinein ins abgeriegelte Gelände. Das Flussufer hat sich in einen richtigen Strand verwandelt. Unsere Fahrräder lehnen am Zaun. Drinnen stehen blauweiß gemusterte Liegestühle, noch in Plastikfolie eingepackt. Ein Holzsteg schlängelt sich durch die Sandberge, links und rechts davon Farne, Palmen und Kakteen in Terrakottatöpfen. Weiter hinten sehe ich einen Bartresen mit rosa Anstrich. Es gibt sogar einen kleinen, flach abfallenden Flussabschnitt, wo der Sand bis ans Wasser reicht. Zwei Typen klimpern mit einem Schlüssel und schließen ab.

»Kannst du morgen eine Stunde früher kommen?«, fragt der eine, der mit seiner Halbglatze wirkt wie ein Karl-Heinz oder Wolfgang. »Klar«, antwortet der andere, der jünger ist und trendy aussieht wie ein Noah oder Leon. Dann steigen sie in einen weißen Van mit der Aufschrift Frontera Security GmbH und sind weg.

Mein Blick bleibt an einem Plakat hängen, auf das in riesigen Lettern das Eröffnungsdatum der Strandbar gedruckt ist. Jule stupst mich an und jetzt sehe ich es auch: Das ist schon bald. Ein kleineres, handgeschriebenes Schild ist direkt daneben angebracht: Betreten der Baustelle verboten. Eltern haften für ihre Kinder.

Ich bin nur einmal an einem richtigen Strand gewesen: in Sellin. An der Ostsee. Mit fünf. Die Fotos von uns als Familie, die Sandburgen baut, hat meine Mutter, als sie ausgezogen ist, mitgenommen. Das Einzige, was mir vom Strand geblieben ist, ist ein Gedanke, den ich im Bett in der Ostsee-Ferienwohnung gedacht habe: Nämlich, dass ich mich ewig an diesen Tag erinnern möchte. Natürlich habe ich den Tag selbst vergessen.

»Bescheuert.« Ich zeige auf die Umzäunung.

»Bald ist ja auf«, sagt Jule beschwichtigend.

Da weiß ich, dass sie es nicht kapiert. Jule fährt dauernd mit ihren Eltern in Urlaub. Auf die Malediven, nach Bali, 5-Sterne-Hotels mit all inclusive und so. Dann schickt sie Postkarten, die drei Wochen zu spät ankommen.

»Du kannst ja warten, wenn du willst«, sage ich, »aber ich gehe rein.«

Mein Ton tut mir gleich wieder leid. Denn eigentlich ist es nicht Jules Schuld, dass irgendwelche Verwaltungsfritzen das Rheinufer zum Privatstrand erklärt haben. Jule tritt von einem Bein aufs andere.

»Komm schon, Alice. Wir kriegen voll Ärger, wenn die uns erwischen.«

Wen Jule mit die wohl meint? Die, die die Schilder machen, die, die die Gesetze machen oder die, die ihr Frühstück machen? Mein Vater macht mir nur noch an meinem Geburtstag das Frühstück.

»Ich gehe rein«, wiederhole ich.

Jule seufzt. Aber dann zuckt sie mit den Schultern und nickt.

Ich mache ihr eine Räuberleiter und klettere dann selbst ohne Hilfe rüber. Auf der anderen Seite lassen wir uns in einen Sandhaufen plumpsen. In der Dämmerung sieht der Strand echt super aus: mit weißem, unberührtem Sand und schwarzen Holzstegen. Zuerst laufen wir einen der Holzstege entlang bis zur Bar. Jule setzt sich auf einen Barhocker und lässt die Füße in der Luft baumeln. Um die Barhocker herum stehen mit Edding beschriftete Boxen (Teller, Martha, Kaffeemaschine). Dekozeug ist überall verteilt. In den Ecken liegen Lichterketten, eingerollt wie Tausendfüßler. Nicht mal das Schild mit den Preisen ist schon aufgehängt.

Jule schaut sich skeptisch um. »Meinst du echt, dass die bald aufmachen?«

Ich steige über einen Plastik-Flamingo und zucke mit den Schultern: »Keine Ahnung.«

Dann stehe ich hinter der Bar und nehme Bestellungen auf: Pina Colada und Sex on the beach. Schon von der Idee, dass man uns problemlos für 18 hält, fühlen wir uns beschwipst. Ich lache und mische Phantasie-Cocktails. Dabei öffne ich einen der Retro-Kühlschränke hinter mir.

»Krass!« Jule kriegt Kulleraugen.

»Jackpot«, sage ich.

Reihen von Bierflaschen, Softdrinks und Sekt stapeln sich in den verschiedenen Fächern. Andächtig berühre ich eine Fassbrause. Sie ist warm.

Jule grinst. »Dass die das hiergelassen haben!«

Ich nehme eine Flasche Sekt aus dem Kühlschrank und stelle sie auf den Tresen. Jule schüttelt lachend den Kopf.

»Dann halt jede eine!« Ich grinse.

Jule schaut dabei zu, wie ich mir eine weitere Flasche schnap­­pe und am Korken rumfummele. Ich drehe ein, zwei, drei Mal am Metalldraht. Plötzlich löst sich der Korken und knallt an Jule vorbei an die Decke. Dort schießt er einen Lampion ab und hinterlässt ein Loch in einer Strohmatte. Der Sekt schäumt über und schlabbert den Tresen voll.

»Du bist verrückt«, sagt Jule, aber es klingt ein bisschen wie ein Kompliment, und obwohl sie ihre eigene Sektflasche wieder zurück in den Kühlschrank stellt, nimmt sie einen großen Schluck aus meiner, als ich sie ihr anbiete.

Wir trinken abwechselnd warmen Sekt, ziehen die Schuhe aus und klettern eine Bauschuttdüne hinauf. Oben drehen wir uns immer schneller um uns selbst und torkeln im Sand herum. Wir fallen hin und bleiben auf dem Rücken liegen, Blick zum Himmel.

Jule vermutet, dass Lena garantiert mit einem Typen hinter einer der Bauschuttdünen liegt. Erzählt sie ja jedem. Dass sie es gerne draußen tut. Findet sie romantischer. Wegen Sternenhimmel, Wellenrauschen und den zwei Kilo Sand in der Unterhose. Jule kann nicht aufhören zu kichern. Ich male mit den Zehen Kreise und Schlangenlinien in den Sand. Jule malt Herzen und hält plötzlich inne.

»Neumond«, stellt sie leise fest, »heute passiert etwas Bedeutsames.«

Der Sand fühlt sich kalt an und heimelig nach Kinderspielplatz. Der Rhein rauscht träge vorbei. Jule sieht aufs Wasser. Ich sehe Jule an und dann aufs Wasser. Es ist schon fast dunkel und wahnsinnig schön. Plötzlich taucht ein Umriss in meinem Sichtfeld auf.

»Da ist jemand«, sage ich.

Jule atmet scharf ein und eine Falte erscheint zwischen ihren Brauen.

»Was? Spinn nicht rum.« Angestrengt blicken wir ins Halbdunkel. Kein Zweifel. Auf dem Steg, der ins Wasser hinausreicht, liegt jemand: reglos, Füße im Fluss. Ein Rücken, der fast mit dem Steg verschmilzt. Wieso hat die Person uns nicht bemerkt? Bei dem Lärm, den wir beim Überklettern des Zauns und beim Erkunden der Bar veranstaltet haben.

»Da stimmt was nicht«, sagt Jule leise. »Was, wenn der zur Baustelle gehört, Alice? Wenn der hier ist, um auf das Zeug aufzupassen? Was, wenn der den Kühlschrank checkt? Wenn der die Polizei holt?«

»Jetzt komm mal runter«, sage ich.

»Okay.« Aber Jule fixiert weiterhin mit riesigen Nachteulen­augen den Steg. »Vielleicht ist er betrunken. Oder bekifft. Oder tot? Alice, Mann, meinst du, der ist tot?«

»Nein«, antworte ich und denke, dass die Polizei auf jeden Fall Besseres zu tun hat, als Sektflaschen auf unsere Fingerabdrücke zu untersuchen. Aber plötzlich ist mir von meinem eingebildeten Cocktail schlecht. Füße plätschern durchs Wasser. Der Schatten vor uns verändert seine Form. Setzt der Fremde sich auf? Dreht er sich um? Sieht er zu uns herüber? Oder sieht er nur Schatten und Steg?

»Lass uns abhauen.«

Ich fange an, rückwärts von unserer Bauschuttdüne herabzusteigen. Meine Sandalen habe ich in der Hand. Die halbleere Sektflasche lassen wir liegen. Sand rieselt und Steinchen rollen links und rechts von uns den Hügel hinab. Das klatschende Geräusch nasser Flip-Flops auf Holz passt nicht in die Nacht, weil keiner von uns es erzeugt. Wir beginnen zu rennen. Platsch hören wir und Platsch. Rennen geht nicht gut, so barfuß über Steine und Bauschutt. Aber in Flip-Flops auch nicht. Platsch, Platsch, Platsch, Platsch. »Wartet!«, ruft jemand. Wir rennen zum Zaun. So schnell kann man gar nicht klettern, wie wir klettern. Beim Runterspringen auf der anderen Seite reiße ich mir ein großes Erinnerungsloch in mein T-Shirt. Trotzdem sehen wir unseren Verfolger noch für Sekunden auf der anderen Seite des Bauzauns: Groß ist er. Eins achtzig oder neunzig. Ein Riese mit lockigem Haar, das wirr vom Kopf absteht.

2

Nachtschatten

Wir schmeißen uns in den Sattel und rasen mit Turbogeschwindigkeit in die Nacht. Ich bin so aufgedreht, als hätten wir gerade eine Hundert-Meter-Staffel gewonnen. Jule muss es ähnlich gehen, jedenfalls lachen wir ununterbrochen.

Für Jule und mich ist das Fahrrad das beste Fortbewegungsmittel. Nicht nur, weil wir mit fast 16 zu alt für ein Pferd, aber zu jung für den Führerschein sind.

Es ist inzwischen ziemlich dunkel. Unsere Schatten überholen uns im Dynamolicht. Wir verlassen die asphaltierte Straße und biegen in ein Wäldchen ein: Blätterdach, Baumrauschen, Nachtschatten. Hier ist es frischer als unter freiem Himmel und riecht angenehm nach feuchter Erde. Jetzt fahren wir nebeneinander. Jule fängt an, ein Lied zu pfeifen. Das machen wir so. Sie pfeift, ich rate den Liedtitel. Nach vier Takten erkenne ich Bad moon rising von Creedence Clearwater Revival. Es geht um einen Mond, der nichts Gutes verheißt. Den Text kenne ich gut, weil der Song zur Standard-Playlist meines Vaters gehört. Jule lacht.

»Hab ich’s nicht gesagt, dass heute etwas Bedeutsames passiert? Der Mond hat uns einen Fremden geschickt.« Sie pfeift weiter. Jetzt geht es um Erdbeben und Blitze.

»Schwachsinn!«, antworte ich.

»Heute gibt’s überhaupt keinen Mond, du Freak.«

Jule richtet sich auf ihrem Sattel ein paar Zentimeter auf, gleitet mindestens zehn Meter ohne zu treten, und flüstert eindringlich: »Doch: Neumond.« Sie macht eine gekünstelte Sprechpause und fährt mit Orakelstimme fort: »Wenn der Mond zwischen Sonne und Erde steht, ist die Zeit für große Veränderungen gekommen: Neustart, Neubeginn, tabula rasa. Zum Beispiel kannst du einen Menschen treffen, der dein Leben entscheidend beeinflusst.«

Ich beschließe, dass es keinen Zweck hat, weiter mit Jule zu diskutieren.

Wir passieren ein Feld mit Spielgeräten mitten im Wald, das wir als Kinder oft mit meiner Mutter besucht haben. Schnell fahren wir an den Blockhütten, Rutschen, Wippen und Sandkästen vorbei, die gruselig wirken, so verlassen. Wir müssen uns beeilen. Obwohl wir gleich alt sind, muss Jule sonntagabends um zehn zuhause sein. Mein Vater ist Sozialarbeiter. Familienhelfer, um genau zu sein. Aber das mit dem Helfen klappt nur in fremden Familien, nicht in unserer eigenen. Mein Vater setzt auf Eigenverantwortung. Reden statt Regeln, sagt er. Aber die meisten seiner Worte sind so leer wie das Zimmer meiner Mutter.

Jule und ich biegen in unsere Siedlung ein. Die letzten zwanzig Meter schieben wir die Räder. Dann stoppen wir zwischen unseren Häusern auf der Straße. Jule vor dem Designerheim ihrer Eltern, das wie eine riesige Bauklotzsammlung aussieht und seit Jahren abbezahlt ist, ich vor dem efeubewachsenen Hexenhaus, in dem wir zur Miete leben. Jule umarmt mich.

»Bis morgen«, sagt sie und deutet ein Winken an.

»Bis morgen.«

3

Feuervogel

Gekannt haben Jule und ich uns eigentlich schon immer, denn wir sind am selben Tag auf die Welt gekommen. Unsere Väter sind im Kreißsaal zusammen ohnmächtig geworden. Vielleicht ist die so entstandene Verbrüderung der Grund dafür, dass wir in das kleine Haus gegenüber von Jules Zuhause gezogen sind und auch nach dem Auszug meiner Mutter dort blieben. Jule und ich haben gemeinsam die ersten Löcher in unsere Hosen gerissen, gemeinsam unser erstes Rührei gebraten, unser erstes Popcorn in Kinositze gekrümelt und uns gemeinsam um Sam gekümmert.

Sam ist eine griechische Landschildkröte, die Jule kurz nach ihrer Geburt bekommen hat. Als ich vier Jahre alt war, habe ich Sam beinahe umgebracht. Im Fernsehen habe ich Schildkröten gesehen, die fröhlich um ein Krokodil herumplantschten. Wir hatten zwar kein Krokodil, aber dafür ein quietschbuntes Plastikschwimmbecken. Ich setzte Sam vorsichtig auf der Wasseroberfläche ab. Leider können griechische Landschildkröten nicht schwimmen. Erst zappelte er, dann zog der schwere Panzer ihn nach unten. Mein Vater schrie, sprang ins Plansch­becken und rettete Sam das Leben.

Jule hätte es dem ZDF niemals verziehen, wenn Sam wegen der Reportage etwas passiert wäre.

Mir aber auch nicht.

Einmal im Jahr hält Sam Winterschlaf in der Garage. Irgendwann haben wir begonnen, Sams Geburtstag gemeinsam mit unserem eigenen zu feiern. Je älter wir wurden, desto abgedrehter wurden die Partys. Mit Schildkröten-Partyhütchen, Schildkröten-Büfett aus Löwenzahnblättern und Schildkröten-Trinkliedern. Nach einem Streit, wenn Funkstille zwischen uns herrscht, stelle ich mir Jules und meine Freundschaft immer wie Sam im Winterschlaf vor. Sicher verpackt in einer kleinen hölzernen Kiste mit Laub in der Garage. Im Herbst streichelt man Sam über den Panzer, verabschiedet sich und packt ihn ein. Wenn man im Frühling wiederkommt, schaut er sich etwas verwirrt um und bewegt sich nur langsam. Aber nach ein paar Stunden ist er wieder topfit und fröhlich, frisst Salatblätter und Löwenzahn und alles ist wie vorher.

Von draußen scheint das Licht der Türleuchte durchs Milchglas. Ich ziehe meine Turnschuhe aus und stelle sie in den Windfang. Sand rieselt auf Mamas gepunktete Gummistiefel und die Birkenstocksandalen meines Vaters.

Ich trete ins Dunkel des Hausflurs. Die Fliesen kühlen meine Füße und machen sie angenehm schwer. In der Küche öffne ich die Kühlschranktür. Etwas fällt und Glas klirrt, aber zerbricht nicht. Es ist eines der Nagellackfläschchen meiner Mutter. Ich hebe es auf und stelle es zurück zu den anderen mit ihren verheißungsvollen Namen: Kobalt, Perlmutt, Flieder, Koralle. Farbe und Lösungsmittel haben sich getrennt wie meine Eltern. Mein Vater hat sie trotzdem an ihrem Platz stehen lassen, als wäre meine Mutter ein vom Aussterben bedrohtes Tier, dessen Lebensraum man erhalten muss. Und ich kann das Zeug irgendwie auch nicht aussortieren und wegschmeißen. Das Einzige, was ich sonst im Kühlschrank finde, ist eine Flasche Orangensaft. Ich trinke einen Schluck, dann gehe ich die Treppe hoch. Aus dem Elternschlafzimmer, das wie Mamas Zimmer und mein Zimmer im ersten Stock liegt, dröhnt Moonlight Drive von The Doors.

Mit meinem Vater und Musik ist das so eine Sache. Er hört Musik, wenn er noch nicht aus dem Bett will. Weil: Er ist ein bisschen faul. Er hört Musik, wenn er rückwärts durch die Küche schleicht. Weil: Er übt den Moonwalk. Er hört Musik, wenn er dabei versehentlich Espressotassen zertrümmert. Weil: Er ist ein bisschen tollpatschig. Er hört Musik im Auto, am Schreibtisch und sogar auf dem Klo. Mein Vater hat mich mit seiner Musikkrankheit angesteckt. Unsere Playlisten haben sich miteinander vermischt und aneinander angepasst. Manchmal denke ich, Musik ist das Einzige, was wir noch gemeinsam haben.

Ich gehe ins Elternschlafzimmer. Das Licht brennt, aber er selbst liegt im Bett wie ausgeknipst. The Doors fordern mich dazu auf, mit ihnen zum Mond zu schwimmen, weisen mich aber auch gleich darauf hin, dass sie mir dabei nicht helfen können. Über Wasser halten muss ich mich schon alleine. Keine Ahnung, wie irgendjemand bei dem Lärm schlafen kann. Mein Vater schnarcht, röchelt, atmet, stoppt: Schlafapnoe. Er ist wieder in einen seiner lebhaften Träume abgetaucht. Früher, direkt nachdem meine Mutter weg war, habe ich mir Sorgen gemacht, dass er einfach nicht mehr aufwacht, und nachts manchmal lange heimlich vor seiner Tür gesessen. Aber er schnauft weiter und weiter, immer irgendwo an der Schwelle zum Stillstand. Ich bahne mir einen Weg durch das Zimmer, dessen Boden voller Kleider ist, und mache die Anlage aus.

In meinem Zimmer nehme ich ein weißes Shirt aus dem Schrank und ziehe das rote Tuch zur Seite, das wie ein Theatervorhang über der alten Nähmaschine meiner Mutter hängt. Pfaff – German design liest sich der Übertitel der Vorstellung. Mit Edding kritzele ich den Umriss eines Vogels auf das Shirt und beginne, rote, orangene, pinke, gelbe und braune Stoffreste hineinzunähen. Das Nähen hat mir meine Mutter beigebracht. Manchmal hat das Summen der Nähmaschine mich nachts, wenn ich schon längst schlafen sollte, in ihr Zimmer gelockt. Dann saß ich neben ihr und habe dabei zugesehen, wie aus bunten Quadraten riesige Patchworkdecken entstanden.

Um ein Uhr bin ich todmüde, aber von meinem T-Shirt flackert mich eine grell leuchtende Form an: ein Feuervogel. Ich stelle mir vor, dass die Wärme, die ich im ganzen Körper spüre, von ihm ausgeht. Vielleicht habe ich ein magisches Kleidungsstück geschaffen, das Kraft auf seinen Träger überträgt? Kurz überlege ich, das Shirt mit ins Bett zu nehmen. Stattdessen hänge ich es über die Stuhllehne und dusche noch. Ich putze mir absichtlich nicht die Zähne, ziehe mir einen viel zu dünnen Schlafanzug an und lege mich mit nassen Haaren ins Bett.

Im Traum sind Jule und ich wieder klein. Meine Mutter passt auf uns auf, weil Jules Mutter arbeitet. Trotzdem befinden wir uns in Jules Garten. Denn da gibt es ein Klettergerüst mit Rutsche, ein Trampolin und einen Sandkasten. Wir spielen Familie und streiten uns, weil wir beide die Mutter sein wollen. Die Mutter ist am coolsten.

»Kein Problem«, sagt Mama vom Liegestuhl aus, »ich kann das Kind sein oder der Hund.«

Das finden wir gut. Mutter eins hat Geburtstag. Mutter zwei macht Sandkuchen mit Stöckchenkerzen. Der Hund stürmt rein und frisst alles auf. Um uns wieder zu versöhnen, schleppt er Steingeschenke und Blattgeschenke an. Dann verwandelt er sich in das Kind und singt ein schiefes Ständchen.

Ich schließe die Augen. Als ich sie wieder öffne, bin ich in meinem Zimmer. Es ist mein zwölfter Geburtstag, aber es gibt weder Sandkuchen noch irgendeinen anderen Kuchen, nicht mal was vom Bäcker. Mein Vater hat mich vor der Arbeit geküsst und gesagt: Wir machen am Wochenende eine Riesenparty. Versprochen. Ich schaue die Wand an. Mama liegt auf der anderen Seite in ihrem Zimmer. Plötzlich drrrr, drrrr, die Türklingel. Unten steht Jule, mit einem Blech halbverbrannter Muffins.

»Happy birthday!« Ihr blonder Pferdeschwanz hüpft, als sie mir um den Hals fällt.

»Dir auch«, flüstere ich.

Wir essen auf der Couch, bis uns schlecht ist und in allen Ritzen Krümel liegen. Ich höre ein Klopfen am Fenster und drehe den Kopf. Ein Riese mit lockigem Haar beobachtet uns. Sein Gesicht liegt im Schatten. Wir lassen ihn nicht rein. Stattdessen schleichen wir nach oben und klopfen bei Mama an. Keiner antwortet. Wir öffnen die Tür.

»Willst du was essen? Es gibt Muffins?«

Die Decke liegt auf dem Boden. Die Vorhänge rascheln im Wind. Das Bett ist leer.

4

Blitzschlag

Der Wecker klingelt und klingelt. Aber erst als ich an den General denke, gelingt es mir, ein Bein über die Bettkante zu heben und dann noch eins. Eigentlich sitzen wir jetzt, am Ende des Schuljahres, nur noch im überhitzten Klassenzimmer unsere Zeit ab und schauen Filme. Aber nicht beim General. Der General unterrichtet Latein und Sport. Er wirkt durchtrainiert, als würde er im Fitnessstudio pumpen, obwohl er schon richtig alt ist und bestimmt bald in Rente geht. In seinen Sportkurs nimmt er nur Jungs auf. Die lässt er im Kreis rennen, bis sie kotzen. In Latein ist es ähnlich: Wir rennen um Formen im Kreis, bis wir kotzen.

Ich streife mir das Feuervogel-Shirt über, schnappe meinen Rucksack und sprinte die Treppe runter. Mein Vater sitzt am Frühstückstisch, hört laut Musik, trinkt Kaffee und liest Zeitung.

»War spät gestern, oder?«