Ein Spackel namens Rudi - Maya Lichtenberg - E-Book

Ein Spackel namens Rudi E-Book

Maya Lichtenberg

4,9

Beschreibung

Stell dir vor, du besuchst ein Seminar über Tierkommunikation – und es funktioniert?! Ella, eine Berliner Anwaltssekretärin, kann nach dem versehentlichen Besuch eines Tierkommunikationsseminars plötzlich mit Hunden sprechen. Prompt wird sie von dem rotzfrechen Dackelmischling Rudi adoptiert, der ihr Leben gehörig durcheinanderbringt und sie zu ihrer wahren Berufung als Hundeversteherin führt. Sogar eine Fernsehredakteurin wird auf die beiden aufmerksam - genauso wie der Besitzer des Seminarguts, wo alles seinen Anfang nahm.

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Inhaltsverzeichnis

Ein Spackel namens Rudi

Bildungsurlaub ohne Urlaub

Warnung vor dem bisschen Hund

Zarte Liebesbande

Spürnasen

Hundeflüsterei

Flüstertainment

Familienbande

Impressum

Ein Spackel namens Rudi

Stell dir vor, du besuchst ein Seminar über Tierkommunikation – und es funktioniert?!

Ella, eine Berliner Anwaltssekretärin, kann nach dem versehentlichen Besuch eines Tierkommunikationsseminars plötzlich mit Hunden sprechen. Prompt wird sie von dem rotzfrechen Dackelmischling Rudi adoptiert, der ihr Leben gehörig durcheinanderbringt und sie zu ihrer wahren Berufung als Hundeversteherin führt. Sogar eine Fernsehredakteurin wird auf die beiden aufmerksam - genauso wie der Besitzer des Seminarguts, wo alles seinen Anfang nahm.

Bildungsurlaub ohne Urlaub

Ella fühlte sich nicht als arme, ausgebeutete Anwaltssekretärin, trotz ihres geringen Gehalts und der vielen unbezahlten Überstunden. Sie half anderen gerne, auch wenn man ihr nie half.

Ihr Chef, Hans-Jürgen Winterkorn, nutzte dies schamlos aus mit der Rechtfertigung, dass sie schließlich in einer renommierten Firma in einer aufregenden Stadt arbeite. Dabei handelte es sich lediglich um eine stinknormale Rechtsanwaltskanzlei in Berlin, die diese Lobeshymnen nicht verdiente.

Ellas Kollegen waren ausschließlich Anwälte, die den ganzen Tag in dunklen Anzügen herumliefen und wichtige Klienten empfingen. Ihre Kolleginnen waren ausschließlich Assistentinnen, die ebenfalls so wenig verdienten, dass sie sich keine schicken Kostüme leisten konnten und so mit ihrer Arbeit beschäftigt waren, dass sie selten mehr Zeit hatten als für ein kurzes Schwätzchen bei einem Kaffee.

Von ihnen allen hatte Ella das ganz große Los gezogen: Sie durfte für Hans-Jürgen persönlich arbeiten. Sogar spätabends und am Wochenende, und das schon seit über zehn Jahren.

Kein Wunder, dass sie mit Mitte dreißig immer noch Single war und kein Privatleben hatte. Sie sah eher durchschnittlich aus, fand selten Zeit für einen Friseurbesuch und kleidete sich nicht gerade modisch. Wann hätte sie jemanden kennenlernen sollen? Hans-Jürgen war Mitte fünfzig und behandelte sie von oben herab, die anderen Anwälte waren noch arroganter, und die Klienten rauschten so schnell an ihr vorbei, dass sie kaum einen Blick auf sie erhaschen konnte. Privat ging sie kaum aus, weil sie niemanden hatte, mit dem sie etwas unternehmen konnte, und meistens so erschöpft war, dass sie am liebsten im Stehen eingeschlafen wäre.

Wann war ihr ihre Lebensfreude abhandengekommen? Als Kind war sie ganz anders gewesen und hatte viele menschliche und tierische Freunde gehabt, daran erinnerte sie sich ab und zu noch dunkel.

Aber sogar Ella hatte den ihr gesetzlich zustehenden Mindesturlaub und musste diesen nach dem Bundesurlaubsgesetz nehmen, obwohl die Firma es selbstverständlich lieber gesehen hätte, wenn man Urlaub verfallen ließ. Hans-Jürgen hatte ihr immerhin jovial geraten, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und ein Seminar zu besuchen, um sich während ihres Urlaubs weiterzubilden.

Deshalb stand sie eines schönen Frühlingstages auf einem brandenburgischen, zu einem Seminarhotel umgebauten, Gutshof. Das Angebot hatte sie über ihre Krankenkasse erhalten, welche die von ihr gewählten Kurse – morgens Bewegung, vormittags Ernährung und nachmittags Stressbewältigung und Entspannung – jeweils bezuschussen würde. Wenn schon, denn schon, hatte Ella gedacht und sich das volle Programm gegeben. Schließlich hatte sie sich in den letzten Jahren stress-, frust- und schokoladebedingt einige Pfunde zu viel angefuttert, während sie Sport fast nur noch vom Hörensagen kannte.

Sie hatte schon ewig keinen Urlaub mehr gehabt, dachte sie, als sie ihren Koffer auspackte. Überhaupt war es lange her, dass sie sich bewusst Zeit für sich selbst genommen hatte.

Ihr Zimmer lag im Erdgeschoss des Haupthauses – mit Blick auf den Innenhof. Es war klein, aber liebevoll eingerichtet. Die alten restaurierten Möbel passten zum Charme des Gutshauses. Außerdem hatte sie ihr eigenes Duschbad mit einem roten Duschvorhang. Ella, die in Berlin in einer Zweiraumwohnung in einem Hinterhaus lebte, war überrascht, als sie das Fenster öffnete und frische Luft hereinkam.

Die Kurse begannen zwar erst am Montagmorgen, aber sie war bereits am Sonntagnachmittag angereist. Ursprünglich, weil sie gehofft hatte, endlich einmal abschalten zu können. Stattdessen stand sie unschlüssig an ihrem geöffneten Fenster, atmete die ungewohnt frische Luft ein und musste feststellen, dass ihr die Fähigkeit, zur Ruhe zu kommen, in den letzten Jahren abhandengekommen war.

»Sie sehen aus, als hätten Sie Angst vor frischer Luft! Kommen Sie ruhig raus, wir beißen nicht«, sprach sie ein nett aussehender Mann um die Vierzig, in einem karierten Hemd und Jeans, an, der zusammen mit einem sehr großen grauen Hund über den Hof ging.

Ella warf einen Blick von ihm – blaue Augen, schöne Zähne, nettes Lächeln – zu seinem Hund: braune Augen, viele spitze Zähne, hängende Lefzen.

»Vielleicht später«, murmelte sie, unsicher, ob das ›wir beißen nicht‹ den Hund und seine vielen spitzen Zähne mit einschloss.

»Keine Angst, Rover ist ein ganz Lieber.«

Rover warf Ella einen, wie ihr schien, herausfordernden Blick zu, als solle sie sich da besser nicht zu sicher sein, weshalb sie sich schleunigst abwandte und hinter der Gardine verschwand.

Erst als Hund und Herr außer Sichtweite waren, traute sie sich für einen Spaziergang aus ihrem Zimmer. Der Gutshof lag einsam, um ihn herum erstreckte sich flaches Land in unterschiedlichen Grün- und Brauntönen. Weil sie keine Ahnung hatte, was auf den Feldern wuchs, blieb Ella brav auf den Wegen. Da sie außerdem über keinen besonders ausgeprägten Orientierungssinn verfügte, mied sie den angrenzenden Wald und blieb immer in Sichtweite der Gutsgebäude.

Das Abendessen fand um neunzehn Uhr im Speiseraum statt. An einer Längsseite war ein Buffet aufgebaut. Mehrere Tische für jeweils sechs Personen waren im Raum verteilt, an einigen saßen bereits Gäste und schwatzten fröhlich miteinander. Leicht eingeschüchtert blieb Ella in der Tür stehen. Ob sie sich einfach dazusetzen konnte?

»Hallo, bei welchem Kurs bist du?«, begrüßte sie ein weiblicher Teenager mit einer riesigen Salatschüssel in den Händen.

»Ich?« Ella sah sich kurz um, ob tatsächlich sie gemeint war. »Bei den Präventionskursen. Bewegung, Ernährung und Stressbewältigung.«

»Ach, du bist die Verrückte, die sich hier mit Kursen stresst«, strahlte das Mädchen Ella an. »Hi, ich bin Mandy. Kann dir leider nicht die Hand geben, sonst fällt die Schüssel runter. Setz dich doch zu den anderen ans Fenster, siehst du den Tisch dort, den zweiten von rechts? Da sitzen Birgit und Arne. Birgit leitet den Ernährungskurs. Lass dir von ihr bloß nicht den Appetit verderben. Und Arne ist derjenige, der dich frühmorgens durch die Gegend scheuchen wird. Viel Spaß!«

Zögernd ging Ella auf den Tisch zu. Von den sechs Stühlen waren fünf besetzt. Sie räusperte sich, bevor sie vorsichtig fragte: »Entschuldigung, ist hier noch frei?«

Fünf Augenpaare sahen sie an. »Jo, klaro«, »Denke schon« und »Was bist'n du für eine?«, klang ihr mehr oder minder gleichzeitig entgegen.

»Ich bin Ella«, sagte sie, weil sie ihren richtigen Namen Eleonora noch schrecklicher fand als ihren Spitznamen, und wusste dann nicht weiter. ›Ella‹ klang nach Frankreich und Lebensfreude, und sie fühlte sich als genaues Gegenteil davon.

Glücklicherweise schob ihr jemand den Stuhl zu, sagte »Ich bin Joschi, und das ist Anka«, und damit war sie in die Runde aufgenommen. Joschi und Anka wirkten beide extrem sportlich, deshalb überraschte es Ella nicht, dass sie sich fürs Bewegungsseminar angemeldet hatten. Auch Arne, der Kursleiter, sah aus, als würde er jeden Tag mindestens einen Marathon laufen.

Birgit, die vor einem Teller mit Sprossen und Kernen saß, musterte Ella kritisch. »Der Aufenthalt hier wird dir gut tun«, prophezeite sie und setzte etwas hämisch hinzu: »Wird auch Zeit, dass du deinem Körper etwas Gutes tust.«

Worauf habe ich mich da nur eingelassen, dachte Ella. Lediglich die Sechste im Bunde, eine blasse, magere Dunkelhaarige mit dicker Brille, sah noch schlechter aus als sie. »Ich bin Margot«, stellte sie sich vor und schwieg dann.

Birgit sah es als ihre Pflicht an, Ella bereits vor Kursbeginn vor den Gefahren des Buffets zu warnen. Als da lauerten: Kalorien, tierische Fette, Zucker in allen möglichen Variationen, Alkohol. Sie zählte noch etwa ein Dutzend andere Inhaltsstoffe auf, bevor Ella zum Buffet gehen durfte, mit deutlich weniger Appetit, als sie beim Betreten des Raumes gehabt hatte. Unsicher musterte sie die Speisen und nahm sich schließlich einen kleinen Teller voll Salat und eine Scheibe selbstgebackenes Brot.

Aber selbst das stieß an ihrem Tisch auf Entsetzen. »Kohlenhydrate, abends? Nein, das ist gar nicht gut! Morgens isst man Kohlenhydrate, morgens! Vielleicht auch noch mittags. Auf gar keinen Fall abends, vor allem nicht, wenn man abnehmen will!«

Ella, die von ihren Eltern gelernt hatte, dass man immer seinen Teller leer essen müsse, schwieg und aß mit schlechtem Gewissen ihr Brot. Einen Nachtisch traute sie sich nicht zu nehmen, obwohl der Schokoladenpudding sie angelacht hatte.

»Ja, dann bis morgen früh!«, verabschiedete sich Birgit, kaum dass sie ihren Teller mit Grünzeug geleert hatte. »Und nicht vergessen, der Ernährungskurs beginnt direkt nach dem Frühstück!«

»Ob das so sinnvoll ist, einen Ernährungskurs direkt nach dem Frühstück?«, überlegte Joschi laut.

»War kein anderer Termin mehr frei, diesmal ist nämlich irgend so 'ne Esoterikgruppe im Seminarraum«, antwortete Arne. »Gut, dass wir einfach rausgehen können. Ich hoffe, ihr habt gute Sportschuhe dabei?«

Joschi und Anka nickten energisch. Ella, die genau ein Paar Sportschuhe besaß, das sie seit dem Kauf vor einigen Jahren kaum angezogen hatte, rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her.

»Na, dann bis morgen früh um sieben!«, sagte Arne und schlug zum Abschied mit der Faust auf den Tisch, dass Geschirr und Besteck klirrten. »Gestiefelt und gespornt, dann gehen wir vor dem Frühstück noch 'ne kleine Runde laufen!«

Joschi und Anka sprangen ebenfalls auf und verkündeten, dass sie noch ein bisschen in die Gymnastikhalle gehen würden.

Ella blieb mit Margot, der blassen Dunkelhaarigen, alleine am Tisch zurück. Mit einem absichernden Blick in die Runde flüsterte diese: »Ich glaube, ich brauche noch einen Nachtisch.«

»Gute Idee«, flüsterte Ella zurück. Kurz darauf schlichen beide mit verschwörerischen Mienen zum Buffet und kamen mit Schokoladenpudding und frischem Obstsalat zurück.

»Gehst du auch zum Ernährungsseminar?«, fragte Ella, die insgeheim dachte, dass das auch Margot gut tun würde – aus dem gegenteiligen Grund wie ihr selbst. Während sie zu viel Speck auf den Rippen hatte, hatte Margot eindeutig zu wenig.

»Nein, ich mache Intuitives Malen. Wurde mir im Krankenhaus empfohlen. Ich habe gerade eine Chemotherapie hinter mir.«

»Entschuldigung, das tut mir leid«, stotterte Ella.

»Kannst du ja nicht wissen. Du macht das Ernährungsseminar mit?«

»Ja, und das Bewegungsseminar bei Arne. Und nachmittags noch Stressbewältigung und Entspannung.«

»Das habe ich letztes Jahr gemacht, das war schön. Überhaupt haben die hier manchmal wirklich gute Kurse. Nächsten Monat gibt es schamanisches Trommeln, das würde mich auch interessieren.«

Letztendlich wurde es doch noch ein unterhaltsames Gespräch, und als Margot kurz vor acht aufstand und sich entschuldigte, entschied auch Ella sich, in ihr Zimmer zu gehen. Von der vielen frischen Luft und dem ungewohnten Umfeld ermüdet schlief sie über ihrem Buch ein.

*

Warum nur hatte sie sich das angetan?

Es war gerade zehn Minuten nach sieben. Um Punkt sieben hatten sie sich in Sportkleidung auf dem Hof versammelt und Arne hatte verkündet, dass sie zum Aufwärmen eine kleine Runde um den Gutshof laufen würden. Keine hundert Meter später war ihr die Gruppe davongerannt, während Ella mit Seitenstechen, heftig um Luft und Fassung ringend, auf dem Feldweg zurückgeblieben war.

»Du bist aber echt gar nicht fit!« Aus dem Mund von Arne, der zurückgesprintet kam, klang es wie eine Anklage.

Genau deshalb machte sie diesen Kurs ja. »Aber der Kurs wurde mir von meiner Krankenkasse als Anfängerkurs empfohlen.«

»Das ist ein Anfängerkurs«, belehrte Arne sie in einem Tonfall, der sie etliche Level unterhalb des Anfängerniveaus deklassierte.

Ella hatte keine Puste mehr für eine Antwort. Keuchend blieb sie stehen.

»Nein, nicht stehenbleiben, du musst in Bewegung bleiben!«

Sie versuchte ein paar Schritte zu gehen, blieb dann aber erneut stehen. »Ich kann nicht. Ich habe Seitenstechen.«

»Weil du falsch atmest.«

Dann zeig mir doch, wie ich richtig atmen muss, anstatt davonzurennen, dachte Ella bissig, traute sich aber nicht, es auszusprechen.

»Okay, weil das der erste Morgen ist: Geh zurück. Neben dem Haus ist eine Wiese mit Apfelbäumen, dort machen wir gleich ein bisschen Zirkeltraining. Wir laufen noch die Runde zu Ende und treffen dich dort, sagen wir, in zehn Minuten?«

Ella nickte. Langsam drehte sie sich um und ging den Feldweg zurück. In Sichtweite des Gutshofs fing sie an, nach einer Wiese Ausschau zu halten. Wie sahen Apfelbäume eigentlich aus? Äpfel kannte sie, aus dem Supermarkt. Aber Apfelbäume? Waren die groß oder klein, hatten die Blüten oder Blätter, und falls sie blühten, in welcher Farbe?

Schließlich sah sie neben dem Hof eine eingezäunte Wiese, auf der Bäume standen. Ella sah sich um, aber von ihrer Gruppe war weit und breit noch nichts zu sehen. Dafür war direkt vor ihr ein Gatter. Sie mochte ein Stadtmensch sein, aber dass man auf dem Land durch Gatter hindurchgehen konnte, sofern man diese wieder hinter sich schloss, war selbst ihr bekannt.

Erst als sie bereits ein paar Schritte über die Wiese gegangen war, stellte sie fest, dass sie nicht alleine war.

Drei graue Monster kamen auf sie zugeschossen.

Zwei davon waren Schafe.

Das dritte war Rover.

Ella drehte sich um und rannte auf das Gatter zu. So schnell, dass Arne stolz auf sie gewesen wäre, wenn er sie hätte sehen können.

Rover war trotzdem schneller und stellte sich zwischen sie und den rettenden Ausgang. Schwanzwedelnd, als sei dies alles ein großer Spaß.

Hinter sich spürte Ella die Schafe.

Vor ihr stand der Hund.

Sie erstarrte vor Angst.

Plötzlich ertönte ein kurzer Pfiff. Die Schafe blökten. Rover drehte sich zum Gatter um und wedelte noch heftiger mit dem Schwanz.

»Ah, Sie sind auch eine Frühaufsteherin!« Es war der Mann, der angeblich nicht biss.

»Könnten Sie mich bitte retten?«, rief Ella mit zittriger Stimme.

Der Mann schaute sie an, schaute sich um, und schaute sie wieder an. »Was ist denn passiert?«

»Ihr Hund -«, antwortete Ella schwach.

»Rover? Was hat er denn getan?«

»Er ist …«, sagte Ella, und nochmal: »er ist.« Eigentlich erklärte das doch alles, oder etwa nicht?

Anscheinend nicht, denn der Mann sah sie nur verständnislos an. Dann griff er den Hund, der kein Halsband trug, am Nackenfell und hielt ihn an seiner Seite fest. »Er ist?«

»Ja, er ist.« Wieso verstand er sie nicht? »Groß. Mit großen Zähnen.«

»Fast ein Meter Stockmaß«, entgegnete der Mann stolz und tätschelte das kurze graue Fell. »Ein kerngesunder Kerl.«

Der Hund zog die Lefzen hoch, als grinse er Ella an. Kein Wunder, der Mann hatte ihn zum Tätscheln wieder losgelassen.

Ella machte einen Schritt zurück, aber der Mann machte drei Schritte auf sie zu, sodass er vor ihr stand, und streckte seine Hand aus, mit der er eben noch den Hund festgehalten hatte. »Martin.«

»Ella.« Sie streckte ihre Finger aus, ohne den Abstand zu seinem Hund zu verringern.

»Ja, und das ist Rover.« Er tätschelte den Hund erneut. Eine Staubwolke stieg auf. »Oh, dich muss ich gleich noch bürsten. Frühstück gibt's erst ab acht.«

Ella brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass mit Letzterem sie gemeint war. Die Anwesenheit eines dem mythischen Höllenhund nicht unähnlichen Wesens hatte sie vorübergehend gelähmt, selbst wenn Rover ein paar Köpfe weniger hatte als der sagenumwobene Cerberus.

»Oh, ich darf noch nicht Frühstücken. Ich muss noch bis halb neun Sport machen.« Ella sah sich suchend um. Wo war eigentlich ihre Sportgruppe? »Ist das hier nicht die Wiese mit den Apfelbäumen?«

»Nein, das sind Kirschbäume. Süßkirschen. Die Apfelwiese ist hinter dem Haus.«

Kein Wunder, dass sie ihre Gruppe nicht gesehen hatte. Wie kam sie jetzt am besten an dem Hund vorbei?

»Kommen Sie, Ella, ich bringe Sie hin.«

In Ermangelung einer besseren Idee folgte sie ihm. Leider folgte Rover ebenfalls, genauer gesagt: Er schritt erhobenen Hauptes neben seinem Herrchen her.

»Haben Sie keine Leine?«, fragte Ella zaghaft.

Martin schüttelte den Kopf. »Brauche ich nicht. Rover ist zwar eine Deutsche Dogge, aber wir sind hier nicht in der Stadt, wo man große Hunde anleinen muss. Er ist lammfromm und folgt aufs Wort. Sonst würde ich ihn niemals mit den Schafen alleine lassen. Er weiß gar nicht, dass er ein Wach- und Schutzhund ist, er denkt, er sei ein Schoßhund.«

Rover drehte sich bei diesen Worten zu Martin um, und Ella kam es vor, als lächelte er milde.

»Na, dann bringe ich Sie mal zu Ihrer Gruppe, die Sie bestimmt schon vermisst.«

Genau davor hatte Ella Angst. »Ich glaube nicht. Die sind alle so … sportlich.«

»Ja, aber das ist ein Anfängerkurs. Darauf muss auch Arne Rücksicht nehmen.« Resolut schritt er voran. Ella blieb nichts anderes übrig, als hinterherzulaufen.

Tatsächlich, auf einer Wiese hinter dem Gutshof sah sie die anderen, wie sie abwechselnd Liegestütze machten und zwischen den Bäumen hin und her rannten.

»Ich glaube, ich schaffe das nicht«, flüsterte Ella angsterfüllt. »Ich habe seit Ewigkeiten keinen Sport mehr gemacht.«

»Ach, lassen Sie sich von denen nicht ins Bockshorn jagen.« Martin ging schnurstracks auf Arne zu. »Ich habe eine deiner Schülerinnen auf der Kirschbaumwiese aufgesammelt. Pass ein bisschen auf sie auf, und nimm Rücksicht auf ihr Fitness-Level. Du sagst doch selbst immer, eine Gruppe ist nur so gut wie ihr schwächstes Mitglied.«

Arne guckte, als habe er in eine Zitrone gebissen. Sauertöpfisch wies er Ella eine Trainingspartnerin zu, eine geschätzt Sechzigjährige mit einem modischen grauen Kurzhaarschnitt, die sich als Jutta vorstellte. »Kommen Sie, Ella, wir machen das schon. Ein bisschen Bewegung an der frischen Luft – und hinterher gibt's erst mal lecker Frühstück.«

Mit Jutta an ihrer Seite, die stoische Ruhe ausstrahlte und sich selbst von Arne nicht hetzen ließ, machte der Rest der Bewegungsstunde dann sogar Ella wieder Spaß.

Trotzdem war sie froh, als sie frisch geduscht und umgezogen endlich frühstücken gehen konnte. Sie stellte sicher, dass sie sich an einen anderen Tisch setzte als Birgit, damit die ihr nach dem gestrigen Abendessen nicht auch noch das Frühstück vermiesen konnte.

Glückselig bediente sie sich an Müsli, frischem Obst, Joghurt und Nüssen und goss sich einen ordentlichen Schuss vollfetter Milch in ihren Kaffee.

Aber ihr Glück währte nur kurz, genauer gesagt, nur bis zum Beginn des Ernährungskurses. Er fand in einem Raum neben der Gutsküche statt, und während Birgit über Fette, Kohlenhydrate und Ähnliches erzählte, drangen von nebenan leckere Gerüche und fröhliche Stimmen zu ihnen. Irgendjemand brutzelte etwas verführerisch Duftendes. Ellas Magen knurrte bereits wieder.

Während Birgit von den Vorzügen von rohem Gemüse erzählte, schweiften Ellas Gedanken ab. Zu Hause ernährte sie sich überwiegend von Fast Food. Aber Birgit mit ihrem ›ich schnippele mir jeden Morgen eine Tupperbox voll Gemüseschnitze‹ hatte gut reden. Die hatte keinen Hans-Jürgen, der permanent hinter ihr her war, warum dies oder jenes noch nicht erledigt sei. Wobei Ella zugeben musste, dass Karottensticks sich bei der Computerarbeit wahrscheinlich besser eigneten als Plunderteilchen mit süßer Füllung und klebrigem Zuckerguss, der schon mal auf der Tastatur oder den Akten gelandet war. Vielleicht konnte sie doch die eine oder andere Anregung mitnehmen.

Nachdem sie zwei Stunden lang in den Gerüchen, die aus der Küche drangen, gesessen hatte, freute Ella sich umso mehr aufs Mittagessen. Leider bestand Birgit darauf, dass sich alle Kursteilnehmer zusammen an einen Tisch setzten. Nach dem Vortrag des Vormittags traute Ella sich natürlich nicht mehr, sich am Buffet die Speisen zu nehmen, die für die verführerischen Gerüche verantwortlich gewesen waren, sondern entschied sich schweren Herzens für eine Gemüsesuppe sowie einen Salatteller.

»Morgen werden wir über Sprossen und Keime reden, mit denen ihr euren Salat aufpeppen könnt!«, zwitscherte Birgit, die mit wohlwollendem Blick die Teller ihrer Schüler betrachtete. Kein Wunder, von den anderen hatte sich auch niemand getraut, Fettes oder Kohlenhydratreiches zu nehmen.

Ella seufzte. Sollte das eine Woche lang so weitergehen? Da würde sie ja Urlaub brauchen, um sich vom Urlaub zu erholen!

Nach dem Mittagessen hatte sie frei, denn der Entspannungskurs begann erst um siebzehn Uhr. Etwas unschlüssig wanderte sie durch das Haus. Im Gemeinschaftsraum gab es verschiedene Sofas, einen Fernseher und einen gut gefüllten Bücherschrank. Sie hatte sich gerade hingesetzt, als eine Frau in lila Wallekleidern hereingestürmt kam. »Du hast nicht zufälligerweise Anton gesehen?«

Ella, die keine Ahnung hatte, wer Anton war, schüttelte den Kopf.

»Ich habe mich um Herrmann gekümmert, und derweil ist Anton … Anton!«, ließ sie den Satz unvollendet.

Wenn mich meine Frau so rufen würde, würde ich mich wahrscheinlich auch verstecken, dachte Ella, während die lila Wallefee unter den Sofas herumstocherte. Dachte sie etwa, ein ausgewachsener Mann könne sich darunter verbergen?

»Da bist du ja!« Sie zog ein wolliges rotbraunes Etwas unter einem der Sofas hervor, das protestierend miaute. Anton war eine Katze!

»Kommst du auch gleich mit zum Kurs?«, fragte die Frau das fluffige strampelnde Wesen auf ihrem Arm.

Insgeheim dachte Ella sich, dass Anton wohl kaum eine Chance hätte, nicht mitzukommen, schwieg aber wohlweislich. Erst als die Frau sie ansah, merkte sie, dass die Frage ihr galt.

»Oh nein, ich bin nicht angemeldet.«