Himmel, Arsch und Michael - Maya Lichtenberg - E-Book

Himmel, Arsch und Michael E-Book

Maya Lichtenberg

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Beschreibung

Bitte keinen Engelmist! Die Friseurin Angie glaubt nicht an irgendwelchen Esoterik-Quatsch. Sie geht auch nur zum Engelmedium Serafina, weil ihre beste Freundin Gabi ihr die Beratung zum Geburtstag schenkt. Erhofft hatte sich Angie Lösungen für ganz konkrete Probleme, davon hat sie schließlich mehr als genug: mit ihrem Mann, ihren beiden pubertierenden Teenagern, ihrem Chef, ihrer Vermieterin ... Nach dem Besuch bei Serafina fängt Angie auch noch an, Stimmen zu hören. Genauer gesagt, eine Stimme, die sich als Erzengel Michael vorstellt. Dem Spinner geigt sie erst mal gehörig die Meinung! Dadurch lässt sich ein Erzengel jedoch nicht beeindrucken, denn Michael und seine himmlischen Kollegen haben eine Mission: Angie einen Weg aus dem Chaos ihres Lebens zu weisen. Der vereinten Engelskraft, ihrer esoterisch angehauchten Freundin Gabi und jeder Menge "Zufällen" kann selbst Angie irgendwann nicht mehr widerstehen ... Dieses Buch erschien erstmals 2018 unter dem Titel "Himmlisches Chaos"

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Seitenzahl: 269

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Himmel, Arsch und Michael

Maya Lichtenberg

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

1

Noch zehn Minuten bis zum Beginn ihrer Zukunft.

Dicke Regentropfen klatschten auf die Windschutzscheibe von Angies Auto, hinter der sie sich verborgen hatte. Ihre hochgezogenen Schultern und ineinander verkrampften Finger widerstanden jeglichen Entspannungsversuchen.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Blondiert, strähnig und an den Spitzen ausgefranst. Man sollte meinen, dass jemand, der in einem Friseursalon arbeitete, schöne Haare hätte. Nicht jedoch Angie, denn aus Kostengründen ließ ihr Chef bei seinen Mitarbeitern bevorzugt die Auszubildenden ran, schließlich sollten die ihr Handwerk auch ordentlich lernen. Das Ergebnis dieser Lernerei befand sich jetzt auf Angies Kopf und war, sowohl was Farbe als auch was den Schnitt anging, eher eine Katastrophe als ein Aushängeschild.

Aber wie hatte ihr Chef so schön gesagt: Frauen mit grauen Haaren sollten nicht mehr arbeiten. Zumindest nicht bei ihm.

Mit ihren achtunddreißig Jahren war Angie nach ihrem Chef mit Abstand die Älteste dort, und sie hatte einige graue Haare, die sie zu kaschieren versuchte, denn sie brauchte den Job. Sie hatte auch reichlich Probleme, die eben diese grauen Haare rechtfertigten. Jobprobleme, Geldprobleme, Familienprobleme: Mit ihrem Mann Uwe, den sie des Fremdgehens verdächtigte, mit ihrem Sohn Philipp, der sich nicht für einen Ausbildungsplatz bewerben wollte, und mit ihrer Tochter Michaela, die lieber ausging als in die Schule. Deshalb war sie heute hier, bei Serafina.

Unschlüssig drehte Angie den Gutschein zwischen ihren Fingern. Violetter Karton mit weißer Schrift und Abbildungen von hellen Federn, die über dem Text zu schweben schienen. Die Aufmachung wirkte sehr edel. Angie wollte gar nicht wissen, wie viel die nächste Stunde kosten würde.

Sie selbst hätte sich so eine Extravaganz niemals geleistet. Es war Gabi, ihre beste Freundin, die darauf bestanden hatte, ihr den Besuch bei Serafina zum Geburtstag zu schenken. Gabi war schon immer etwas ausgeflippt gewesen, und trotz zunehmenden Alters hatte sie nicht vor, sich dieser Zahl zu unterjochen. Mit Anfang fünfzig trug sie ihre dunklen Haare mit pinkfarbenen und kupferroten Strähnchen durchsetzt und ging in ihrer Freizeit auf Erleuchtungserkundungen, wie sie selbst es immer nannte.

Angie nannte es Gabis Spinnereien. Quantenheilung, Kundalini Yoga, ein kreatives Wochenende mit dem inneren Kind – für so einen Quatsch hatte Angie weder Zeit noch Geld. Sie behauptete von sich, mit beiden Beinen im Leben zu stehen, und war stolz darauf. Selbst, wenn der Untergrund momentan recht rutschig war.

Doch Gabi war der Meinung, dass ihre Freundin eine wundervolle Zukunft verdiene, und hatte ihr deshalb den Gutschein für eine hellsichtige Beratung geschenkt. Sie selbst war erst vor Kurzem bei dem Medium gewesen und hatte Angie seitdem beinahe täglich von Serafinas seherischen Kräften vorgeschwärmt.

Noch fünf Minuten bis zu ihrem Termin. Angie betrachtete das altertümlich wirkende, hellblau gestrichene Reihenhaus auf der anderen Straßenseite. An den Wänden rankten Efeupflanzen empor, die ihm etwas Verwunschenes gaben. Einzig die Müll- und Recyclingtonnen im Vorgarten störten das Bild.

Der Regen ließ kurzzeitig nach, als wolle er ihr keine Ausrede mehr geben. Nach einem letzten nervösen Blick in den Rückspiegel stieg Angie aus, schloss die Wagentür hinter sich ab und überquerte die Straße.

Es gab nur ein Namensschild neben der Türklingel, und dieser Name lautete anders als der auf ihrem Gutschein. Einen Moment zögerte Angie, doch wenn sie jetzt einfach kehrtmachte, würde sie garantiert Ärger mit Gabi bekommen. Sie drückte auf die Klingel. Kurz darauf hörte sie Schritte, und die Haustür wurde von innen geöffnet.

Angie war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte – vielleicht die Art Wahrsagerin, die man aus Filmen kannte, schon etwas älter, dunkelhaarig, stark geschminkt, mit baumelnden Ohrringen, bunten Kopftüchern und osteuropäischem Akzent.

Die Frau, die ihr die Tür öffnete, schätze Angie auf maximal dreißig. Sie war ungeschminkt und trug ihre langen, naturblonden Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Zu einer weißen Hose hatte sie Jesuslatschen und ein Oberteil in verschiedenen Violetttönen kombiniert. Die Ketten mit bunten Halbedelsteinen in unterschiedlichen Längen, die sie um den Hals trug, klimperten leise bei jeder Bewegung.

»Hallo, schön, dass du da bist! Ich bin Serafina.« Zumindest der osteuropäische Akzent stimmte.

»Angelika Schneider.« So stand es zumindest in ihrem Personalausweis. Ihre Mutter hatte sie früher immer Geli genannt. Angie selbst hatte als junges Mädchen das gleichnamige Lied der Rolling Stones gehört und darauf bestanden, fortan nur noch Angie genannt zu werden. Als es später eine deutsche Bundeskanzlerin mit eben diesem Spitznamen gab, war es zu spät für eine weitere Namensänderung gewesen.

Zögernd streckte Angie der Frau ihre rechte Hand hin. Serafina ergriff sie nicht, sondern nahm sie stattdessen zur Begrüßung kurz in die Arme, bevor sie flotten Schritts eine weiß gestrichene Holztreppe hinauf ging.

Noch ganz perplex von der Begrüßung schloss Angie langsam die Haustür. So modern der Rest des Eingangsbereichs wirkte, so urtümlich kam ihr die Treppe vor. Fast, als würde sie geradewegs ins Märchenland führen.

Vielleicht tat sie das tatsächlich. Wer wusste schon, welche Märchen Serafina ihren Kunden erzählte? Gabi war immer schnell zu begeistern. Den Beweis, dass Serafina tatsächlich in die Zukunft sehen konnte, musste sie ihr allerdings erst noch liefern.

Angie beeilte sich, ihrer Gastgeberin zu folgen. Die befand sich inzwischen in einem kleinen Zimmer im ersten Stock, das durch weiß lackierte Sprossenfenster den Blick in den heller werdenden Himmel und einen kleinen Garten freigab. Ansonsten war auch innerhalb des Raumes fast alles weiß: Von der Decke, an der kleine Glühbirnenketten mit filigranen Seidenblüten befestigt waren, die den Raum in warmes Dämmerlicht hüllten, über die Wände bis zu den Holzdielen.

Serafina wies auf zwei Ledersessel, die sich vor dem Fenster gegenüberstanden, getrennt lediglich durch einen kleinen, runden Rattantisch mit einer Glasplatte. Darauf standen zwei Gläser Wasser und ein Tellerchen mit Keksen.

»Nimm Platz, meine Liebe«, sagte Serafina mit leichtem Singsang in der Stimme und wies mit einer weiten, einladenden Bewegung in den Raum. »Was kann ich für dich tun?«

Wäre es nicht Aufgabe einer Hellseherin, zu wissen, weshalb sie hier war? Umständlich nestelte Angie den Gutschein aus ihrer Tasche, legte ihn auf das Tischchen und ließ sich in einen der Sessel fallen.

Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Auf ein paar Bücherborden und einem zu einer Art Altar zweckentfremdeten Schränkchen standen unterschiedlich große Engelsfiguren, die meisten in weiß und gold oder aus transparent schimmerndem Glas, einige von ihnen etwas erhöht, als wollten sie den Überblick behalten. Auf der breiten Fensterbank befand sich eine ganze Armada aus angezündeten Kerzen, allesamt entweder cremeweiß oder dunkelviolett.

Irgendwie hatte Angie sich das Zimmer einer Wahrsagerin dunkel und geheimnisvoll vorgestellt, voller merkwürdiger Objekte, insbesondere einer großen Kristallkugel.

Serafina hingegen zog das neueste iPhone-Modell aus ihrem weit fallenden Oberteil und schaltete leise Musik ein, die aus gut verborgenen Boxen erklang. »Nun?«

Verspätet fiel Angie ein, dass sie die Eingangsfrage, wieso sie hier sei, noch gar nicht beantwortet hatte. Aber wie sollte sie wissen, was sie wollte, wenn sie doch keine Ahnung hatte, was sie erwartete? Gabi hatte nur erzählt, Serafina sei »phantastisch«. Wenn man sich hier umschaute, ließ dies jede Menge Spielraum für Interpretationen.

»Ja, also … meine Freundin Gabi war vor Kurzem hier, und sie meinte, du hättest eine wundervolle Zukunft für sie gesehen, und, nun ja …«

»Und da dachtest du, ich würde auch für dich eine wundervolle Zukunft sehen? Tut mir leid, so läuft das nicht.«

Angie schluckte ob dieser harten Worte. Sie war mal wieder zu dumm, zu leichtgläubig, zu vertrauensselig gewesen. Wenn einem noch nicht einmal eine Wahrsagerin eine rosige Zukunft voraussagen wollte, wo ging es dann mit der Welt gerade hin? Von ihrem Familien-Mikrokosmos-Chaos mal ganz abgesehen.

»Tut mir leid«, entschuldigte Angie sich automatisch.

Serafina drückte den Rücken durch. »Ich bin ein Kristallkind«, sagte sie, als hätte sie dies schon hunderte Male gesagt. »Meine Aufgabe ist es, Liebe und Frieden zu den Menschen zu bringen.«

»Danke, das nehme ich auch«, platzte Angie heraus. Nach fast zwanzig Jahren Beziehung war bei ihr und Uwe längst die Luft raus, ihre pubertierenden Sprösslinge fanden nichts ätzender als Respekt oder gar Liebesbekundungen ihren Erzeugern gegenüber, und Frieden konnte sie sowohl beruflich als auch privat gar nicht genug bekommen. Gerne auch gleich Weltfrieden. Je mehr, desto besser.

»Trink, Liebes«, sagte Serafina, ohne auf Angies Ausbruch einzugehen. »Das ist bei Vollmond abgefülltes Quellwasser, sehr gut für reine Gedanken, und selbstgebackene Dinkelkekse.«

»Sind die auch für irgendetwas gut?«, fragte Angie misstrauisch.

»Die schmecken lecker.«

Mit leicht mulmigem Gefühl trank Angie einen Schluck und knabberte an einem Plätzchen. Das Wasser schmeckte wie ganz gewöhnliches Wasser, das Gebäck war trocken.

»Ich frage dich noch einmal, liebes Kind: Was kann ich für dich tun?«

Hatte Serafina nicht eben noch gesagt, dass das hier kein Wunschkonzert sei? »Ich bin verzweifelt, du bist meine letzte Hoffnung, aber ich habe keine Ahnung, wie du mir helfen kannst«, versuchte Angie, ihrem Gegenüber klarzumachen, wie verwirrt sie von der ganzen Situation war. »Ich habe das Gefühl, mein ganzes Leben entgleitet mir.«

Serafina setzte sich noch aufrechter hin als zuvor, nahm die Hände in Namaste-Haltung vor ihr Herz, schloss die Augen und sprach eine Art Gebet, mit dem sie Engel, Erzengel und andere Lichtwesen einlud, zu ihnen zu kommen. Dann blickte sie Angie einen Moment an, als sehe sie durch sie hindurch.

Unsicher schaute Angie sich im Raum um, konnte jedoch keine der angesprochenen Besucher aus der geistigen Welt erkennen. Abgesehen von den vielen Engelsfiguren, die ihnen zuzuschauen schienen.

»Ich habe mich mit deinem Schutzengel verbunden«, verkündete Serafina, wobei sie sich auf ihrem Sessel sanft vor und zurück wiegte. »Er wacht über dich. Wenn du jemals unsicher bist oder Zweifel hast, kannst du ihn jederzeit um Hilfe bitten. Er ist ein mächtiger Engel.«

Schutzengel? So einen wie in der Werbung? »Ich dachte eigentlich, dass du mir helfen könntest, meine beruflichen und familiären Probleme zu lösen«, wandte Angie zaghaft ein. In ihrer Stimme schwang noch ein Fünkchen Hoffnung mit, dass der Besuch bei Serafina ihr Leben auf wundersame Weise zum Besseren wenden würde. Dann schaute sie sich abermals in dem Raum um, der nicht unbedingt so aussah, wie Angie sich ihre wundervolle Zukunft ausgemalt hätte, und das Fünkchen Hoffnung erlosch. Genau wie eine der weißen Kerzen just in diesem Moment.

»Ich bin ein Engelmedium, keine Psychologin.« Serafina hörte auf, sich zu wiegen, und sah Angie einen Moment lang direkt an, bevor sie wieder in die Unendlichkeit zu blicken schien. »Ich überbringe licht- und liebevolle Botschaften aus der geistigen Welt. Du zweifelst noch an der Wahrhaftigkeit meiner Aussagen. Ich kann dir versichern, dass all deine Probleme sich mit Hilfe der Engel lösen werden, zum besten Wohle aller Beteiligten.«

Was soll das Gesülze?, dachte Angie verärgert. »Sorry, aber das verstehe ich nicht. Ich dachte, du sagst mir eine wundervolle Zukunft voraus?«

Gabi würde sie was erzählen, wenn sie sich das nächste Mal trafen! Ein Gutschein für einen Friseurbesuch wäre ein sinnvolleres Geschenk gewesen. Bei einem richtig guten Friseur, nicht in dem Salon, wo sie arbeitete. Dann hätte sie sich zumindest für eine Weile gut fühlen können. Attraktiv.

Geliebt.

Moment, wo kam dieser Gedanke plötzlich her? Hatte Serafina sie mit ihrem Engelschmus schon angesteckt?

»Geliebtes Kind, sorge dich nicht, du wirst geliebt, genau so, wie du bist.«

»Von wem?«, fragte Angie bitter. Von Uwe längst nicht mehr. Ihr Mann und sie lebten nur noch nebeneinander her. Ihre beiden verzogenen Teenies beachteten sie ebenfalls nicht, solange sie Taschengeld und Essen bereitstellte und keine Szene machte, wenn sie wieder einmal spät nach Hause kamen oder eine Fünf in Mathe schrieben. Oder sah Serafina doch noch den gutaussehenden, reichen Fremden, der sie aus ihrem tristen Alltag rettete?

»Die geistige Welt liebt alle Menschen«, sagte Serafina und zerstörte Angies aufkeimende Hoffnung auf ein materiell besseres Leben. »Vertraue, und auch du wirst Gottes allumfassende Liebe spüren.«

In diesem Moment brach ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Angie nahm es mit einem Stirnrunzeln wahr.

»Ich wäre schon glücklich, wenn mein Mann mich mal wieder ansehen und unsere Kinder mich respektvoller behandeln würden«, murrte sie. »Siehst du nicht wenigstens einen Lottogewinn oder so etwas?«

»Ich sehe ein neues Auto. Doch bedenke, in der geistigen Welt geht es nicht um weltliche Dinge, sondern um deine seelische Entwicklung.«

Das sah Angie anders. Ein neues Auto klang doch wunderbar! Den Kombi, der vor der Tür parkte, hatten sie gebraucht gekauft, als sie mit Philipp schwanger gewesen war. Das war immerhin schon siebzehn Jahre her.

»Ich glaube nicht an Engel«, beharrte Angie ungeachtet des Großhandelsangebots an geflügelten Skulpturen um sich herum.

Serafina lächelte milde. »Das macht nichts. Sie sind trotzdem da und freuen sich darauf, dir helfen zu können.«

Angie ließ Serafinas Worte einen Moment in ihren Gedanken nachhallen. Die kleinen Engelsfiguren auf der Fensterbank schauten ihr schweigend beim Denken zu.

»Tja, und was soll ich jetzt machen?«

Entweder hatte Serafina sie nicht verstanden, oder die Botschaften, die sie zu übermitteln versuchte, waren in einer Sprache, die Angie nicht verstand. Das Medium redete zwar, wieder in ihrem leichten Singsang, doch die Worte, die sie benutzte, machten für Angie keinen Sinn. Es fühlte sich an, als wäre sie unter Wasser und nähme alles nur durch einen Schleier wahr. Als wären diese Botschaft nicht für sie bestimmt.

Ärger stieg in Angie hoch, über sich selbst, über Gabi, über ihre Familie, über Serafina und über Kommunikationsprobleme im Allgemeinen und mit Engeln im Besonderen.

»Hast du verstanden, was die Engel dir mitgeteilt haben?«, beendete Serafina ihren Sermon und sah Angie erwartungsvoll an.

Angie zögerte. Die ehrliche Antwort lautete »Nein, kein Wort.« Aber was dann? Würde Serafina noch einmal von vorne beginnen? Angie bezweifelte, dass sie bei einer Wiederholung mehr verstehen würde. Sie dachte an Uwe und ihre Kinder, deren Worte ihr auch oft unverständlich waren. Vielleicht lag es ja an ihr, wenn niemand sie verstand? Also nickte sie verhalten. »Ja, vielen Dank für deine Mühe.«

»Das ist keine Mühe, das ist meine Berufung. Es freut mich sehr, wenn ich eine geliebte Seele auf den göttlichen Weg führen kann. Du, Angie, bist etwas Besonderes. Du brauchst mich nicht, all die Weisheit des Universums ist bereits in dir.«

Was für Drogen nahm die Frau? Vielleicht sollte sie die auch probieren. Angie lächelte dünn. »Ja, ich gehe dann mal wieder.«

»Wie schön, dass ich dir helfen durfte.« Serafina strahlte sie so voller Liebe und Offenheit an, dass Angie sich wie eine Verräterin vorkam, nicht wie das Opfer eines Verrats.

»Denke daran, jeder einzelne kleine Schritt bringt dich auf deinem Weg weiter voran.«

Wohin auch sonst, dachte Angie sarkastisch, während sie vorsichtig die Treppe hinunter schritt, zurück aus dem Märchenland in die Realität.

An der Tür umarmte Serafina sie innig. Angie war so überrascht, dass sie sich nicht wehrte.

»Es war so schön, dich kennenzulernen«, vernahm sie Serafinas Stimme nah an ihrem Ohr. »Du bist eine von uns.«

Angie löste sich aus der aufgedrängten Umarmung, die sich gar nicht so falsch anfühlte. »Eine von euch? Was bedeutet das?«, hakte sie nun doch nach.

»Das habe ich dir bereits erklärt. Du musst einfach nur vertrauen, dann wird sich alles Weitere ergeben. In Zeiten größter Not rufe deine Engel an, und sie werden dir antworten. Höre auf dein Herz, es wird dir den rechten Weg weisen.«

Anrufen? Na klar, sie würde einfach mit ihren Engeln telefonieren. Die hatten bestimmt alle Telefonhörer am Ohr und nichts Besseres zu tun, als pausenlos auf Abruf zu sein. Fast wäre Angie in hysterisches Gekicher ausgebrochen. Diese Serafina war so was von neben der Spur, dass es fast schon wieder lustig war. »Sonst nicht?«, fragte sie, als wolle sie Serafina unbewusst provozieren.

»Glaube und vertraue, doch bedenke, du bist frei in deinen Entscheidungen.« Serafina lächelte Angie zum Abschied an, als wäre sie sicher, an ihr ein gutes Werk getan zu haben.

Nun, das war wohl nichts, dachte Angie, als sie wieder in ihrem Auto saß. Viel Geld für einen Haufen Pseudo-Weisheiten zum Fenster hinausgeworfen. Wieso war Gabi nur so begeistert von Serafina gewesen? Die Hellseherin musste ihre Freundin einer gehörigen Gehirnwäsche unterzogen haben. Engel, wer’s glaubte!

Aber wenn es uns tatsächlich gäbe?

Wo auch immer dieser Gedanke hergekommen war, Angie stoppte ihn, bevor er sich manifestieren konnte. Sie glaubte nicht an Engel, und kein Engelmedium der Welt würde sie vom Gegenteil überzeugen können.

2

Vierzig Minuten und einen Stau später suchte Angie verzweifelt nach einem Parkplatz, der nicht zu weit von ihrem Haus entfernt war. Gabi machte sich das einfach, sie bestellte sich ihre Parkplätze beim Universum. Angie glaubte nicht an so einen Quatsch und musste selber suchen. Bis vor ein paar Jahren war Parken in dem ehemals ruhigen Viertel am Stadtrand auch kein Problem gewesen, aber seit gegenüber ihrem Sechsparteienhaus ein riesiger Neubau hochgezogen worden war, wurde die Parkplatzsuche immer mehr zum Lotteriespiel. Inklusive der Suche am nächsten Morgen, wo sie ihr Auto zuletzt abgestellt hatte.

Endlich fand Angie einen freien Platz zwischen einem roten Kleinwagen und einem Altglascontainer. Kurz zögerte sie, ob dort vielleicht Scherben lägen. Es wäre nicht das erste Mal, und einen Platten konnte sie wahrlich nicht gebrauchen. Sie hatte schon genug um die Ohren.

Vorsichtig fuhr sie in die enge Lücke. Prompt knirschte etwas unter ihrem Reifen. Angie fluchte, und ein zweites Mal, als sie beim Aussteigen eine Delle in die Fahrertür drückte, weil sie den Abstand zum Glascontainer überschätzt hatte.

Sie schloss die Fahrertür ab und ging einmal um den Wagen herum. Tatsächlich, das linke Vorderrad sah verdächtig platt aus.

Die Krönung eines sowieso schon furchtbaren Tages. Missmutig schnappte Angie sich ihre Einkaufstasche aus dem Kofferraum. Dort gab es auch ein Reserverad und einen Wagenheber. Beides ignorierte sie gekonnt, denn einen Reifenwechsel überließ sie lieber Uwe. An ihr blieb schon das Kochen und Putzen hängen, das Müllrunterbringen und die Kindererziehung. Wobei sie zugeben musste, dass Letzteres ihr nicht gelungen war.

Manchmal hätte sie sich gewünscht, dass Uwe ein richtiger Vater wäre, der seine Kinder zu Wochenendcamps in die Wildnis mitnahm, mit ihnen Mathematik übte und ihnen beibrachte, wo ihre Grenzen waren.

Stattdessen kam Uwe abends erschöpft von der Arbeit und ließ die beiden einfach gewähren, was sie reichlich ausnutzten. Schnell hatten sie spitz bekommen, dass sie ihre Eltern nur gegeneinander auszuspielen brauchten, um ihren Willen durchzusetzen. Wo das noch hinführen würde, wagte Angie sich gar nicht auszumalen. Auf die Schule hatten jedenfalls beide keinen Bock, und arbeiten wollten sie erst recht nicht. Philipp, inzwischen sechzehn, hockte den ganzen Tag vor seinem Computer, und Michaela, fünfzehn, interessierte sich nur für Jungs. Wo ihr Sohn zu introvertiert war, war ihre Tochter zu extrovertiert. Angie hoffte nur, dass Philipp keine Karriere als Kleinkrimineller anstrebte und Michaela nicht schwanger wurde und die Schule ganz schmiss.

Sie hatte immer gedacht, ihren Kindern mit gutem Beispiel voranzugehen, indem sie und Uwe beide arbeiten gingen. Ausgesucht hatte sie sich das nicht, es war schlicht eine Notwendigkeit gewesen. Als kleiner Angestellter in einem großen Unternehmen verdiente Uwe nicht viel. So waren sie übereingekommen, dass Angie so bald wie möglich nach Michaelas Geburt wieder arbeiten ging, zunächst in Teilzeit, seitdem beide Kinder in der Schule waren wieder voll.

Doch anstatt in Abwesenheit ihrer Eltern Hausaufgaben zu machen, hingen Philipp und Michaela bevorzugt vor einem flimmernden Bildschirm und ließen sich berieseln.

Es wurde endlich Zeit, dass sie ein ernstes Wort mit Uwe sprach. Er musste Philipp klarmachen, dass er sich schnellstmöglich um einen Ausbildungsplatz kümmern musste. Vielleicht irgendetwas Kaufmännisches, wo er auch den ganzen Tag vor einem Computer sitzen konnte.

Obwohl sie schon seit ihrer Hochzeit hier wohnten, war Angie jedes Mal außer Atem, wenn sie die Treppen in den vierten Stock erklommen hatte. Null Sport, kombiniert mit einer heimlichen Vorliebe für Vollmilchschokolade waren auf Dauer nicht förderlich für die Kondition oder die Figur.

Sie öffnete die Wohnungstür und lauschte, ob irgendjemand zu Hause war. Inzwischen war es kurz nach achtzehn Uhr. Auf ihren Ruf »Ich bin wieder da!«, folgte lediglich Stille.

Nun, das war auch nichts Neues mehr. Selbst, wenn ihre Kinder zuhause waren, ließen sie sich selten blicken, und was Uwe betraf … Manchmal fragte Angie sich, ob ihr Mann wirklich so viele Überstunden machte, wie er vorgab, oder ob er sich nach Feierabend nicht stattdessen mit einer der blutjungen Sekretärinnen, die heute Assistentinnen hießen, vergnügte. Seine Erklärungen, dass die Firma wieder einmal ein neues Kosteneinsparungsprogramm verkündet hätte und er zusätzliche Aufgaben übernehmen musste, hatte sie schon zu oft gehört, um ihnen noch Glauben zu schenken.

Angie trug ihre Einkaufstasche in die Küche und begann, den Inhalt wegzuräumen. Die Küchenmöbel hatten sie gebraucht vom Vormieter übernommen, und abgesehen davon, dass sie zwischenzeitlich einmal den Herd ausgetauscht hatten, sah alles noch genauso aus wie damals, nur etwas dreckiger und verkommener. Immerhin waren die Fronten beigefarben, was relativ zeitlos war, redete Angie sich das Einrichtungsdesaster schön. Außer ihr hielt sich sowieso selten jemand in der Küche auf.

Im Rest der Wohnung sah es ähnlich aus. Sie lebten auf engstem Raum, vollgestopft mit Möbeln, die sie beim Einzug vom Sperrmüll geholt oder, ein paar Jahre später, von Uwes Eltern geerbt hatten. Wahrlich nicht Angies Stil, aber jedes Mal, wenn sie vorschlug, doch einmal etwas Neues zu kaufen, meinte Uwe, das Alte täte doch noch seinen Dienst, und für neue Möbel hätten sie kein Geld. Letzteres stimmte leider. Es reichte schon seit Jahren vorne und hinten nicht mehr. Nicht nur, dass ihre Kinder hohe technische Ansprüche stellten – das neueste Tablet oder Smartphone war ihnen gerade gut genug – ihre Kosten stiegen einfach schneller als ihr Einkommen. Manchmal verdächtigte Angie Uwe, der ihre Finanzen managte, in die Haushaltskasse zu greifen, doch so genau wollte sie das lieber nicht wissen. Lieber lebte sie weiterhin in einem zusammengewürfelten Stilmix.

Sie zog sich einen bequemen lila Jogginganzug an, in dem sie nie im Leben freiwillig joggen gehen würde, und war gerade auf dem Weg in die Küche, um das Abendessen zuzubereiten, als ihr Telefon klingelte.

Angie erkannte Gabis Nummer. Ihre Freundin wollte bestimmt wissen, wie es ihr bei Serafina ergangen war.

Ein paar Minuten Ruhe wären nett gewesen. Stattdessen erklang Gabis Stimme, schrill vor Aufregung, aus dem Hörer: »Und, wie war es? Ist Serafina nicht phantastisch?«

Phantastisch ist noch zu milde ausgedrückt, dachte Angie nicht wirklich amüsiert. »Bevor ich irgendetwas sage, wo hast du diese Serafina eigentlich aufgetan?«

»Jemand aus meiner Intuitiv-Tönen-Gruppe hat sie mir empfohlen. Ich wusste, dass du genauso begeistert von ihr sein würdest wie ich! Sag schon, was hat sie dir erzählt?«

Mit mulmigem Gefühl dachte Angie an die Märchenstunde im Engelreich zurück. »Nichts.«

»Wie, nichts? Warst du gar nicht da?« Gabi klang einen Moment perplex. Dann kicherte sie schrill. »Du willst mich auf den Arm nehmen! Natürlich warst du da, sonst würdest du Ärger mit mir bekommen. Immerhin war ich diejenige, die dir den Gutschein geschenkt hat.«

»Ja, aber das nächste Mal schenk mir doch lieber einen Gutschein für einen Friseurbesuch oder fürs Wellnessbad. Sogar ein Schnuppertag im Fitnessstudio wäre mir lieber gewesen als das. Diese Frau erzählt nichts als Schmus.«

»Ach Unsinn, du hast sie bestimmt nur nicht richtig verstanden«, tat Gabi ab. »Was genau hat sie denn gesagt?«

Gabis Erlebnisse bei Serafina hatten ganz anders und einigermaßen sinnvoll geklungen. Angie überlegte, wie sie ihren Besuch dort am besten zusammenfassen konnte. »Sie hat irgendwie nur gesagt, dass sie keine Antworten für mich hat. Dass sich alles ergeben wird. So was in der Art.«

»Hast du sie denn nicht gefragt, was genau das bedeutet?«

Hatte sie? Angie kratzte sich am Kinn und öffnete gleichzeitig die Kühlschranktür. Die Schüssel mit gekochten Nudeln, die sie in einen leckeren Nudelauflauf hatte verwandeln wollen, war nicht mehr dort. Wahrscheinlich hatte eines ihrer Kinder Hunger bekommen und sie vernichtet.

»Doch, ich habe nachgefragt. Aber die Antwort war eigentlich nur, dass ich vertrauen soll. Ich meine, in was denn? In das große Nichts?«

»So eine Antwort ist aber typisch für Engel, die geben dir normalerweise sehr liebevolle Botschaften«, fiel Gabi ihr ins Wort.

»Liebevoll ist ja schön und gut, aber wo bleibt der Inhalt?«, murrte Angie. »Das war irgendwie nur ein Haufen Engelmist. Darauf kann ich verzichten.«

»Du denkst in viel zu starren Dimensionen«, rügte Gabi vorwurfsvoll. »Sei ehrlich, deine Familie lässt sich von dir von vorne bis hinten bedienen, und du merkst es noch nicht einmal. Ich dachte, dass ein bisschen liebevolle Fürsorge Balsam für deine wunde Seele sein würde.«

»Ich mache das gerne«, widersprach Angie automatisch und suchte im Kühlschrank nach alternativ verwendbaren Zutaten, die dem Hunger ihrer Familie standgehalten hatten.

»So ein Unsinn, du jammerst mir ständig vor, dass du dich um alle, aber niemand sich um dich kümmert!«

Angie schwieg. Gabi hatte ja recht. »Ich hatte irgendwie gehofft, dass Serafina mir konkrete Antworten geben würde«, sagte sie enttäuscht. »So nach dem Motto: Philipp bekommt nächste Woche eine Ausbildungsstelle bei der Firma XY angeboten und wird dort Karriere machen. Dann hätte ich gewusst, wo er sich bewerben soll, und hätte eine Sorge weniger. Verstehst du?«

»Nein, du verstehst nicht«, entgegnete Gabi fröhlich. »Bei einem Engelkontakt geht es um dich, nicht um andere. Und die Engel können dir nur helfen, wenn du sie um Hilfe bittest. Hat Serafina dir das nicht erklärt?«

Möglicherweise. Hatte sie nicht zugehört, war sie abgelenkt gewesen, oder war sie so in Widerstand gegangen, dass sie nichts hatte hören wollen? Angie versuchte, sich an den Wortlaut zu erinnern, doch der war genauso verschwommen, wie die Erinnerung an Serafinas Märchenstunde allmählich verblasste. »Sie hat gesagt, dass all meine Probleme sich mit Hilfe der Engel lösen werden.«

»Zum besten Wohle aller Beteiligten«, ergänzte Gabi. »Wie wundervoll für dich!«

Angie bekam allmählich den Eindruck, dass Serafina und ihre beste Freundin die gleichen Drogen nehmen mussten. Dass Gabi eine Schwäche für Erdbeerbowle hatte und ihre Wohnung mit weißem Salbei räucherte, war ihr bekannt. Was sie darüber hinaus inhalierte, wollte sie lieber nicht wissen. »Wundervoll? Verrückt trifft es eher. Für wie blöd hält diese Serafina mich, zu denken, sie könne mich mit Phrasen wie 'Die geistige Welt liebt alle Menschen' beschwichtigen?«, beschwerte sie sich.

»Aber das tun sie doch.« Gabi klang verwundert. »Selbst, wenn du nicht an Engel glaubst, sind sie da und freuen sich darauf, dir zu helfen.«

Gabi war nett, aber sie war auch anstrengend. So wie jetzt. »Schön, dann können sie mir beim Kochen helfen.«

Doch Gabi schien die Anspielung nicht zu verstehen. »Hast du denn schon Kontakt mit deinem Schutzengel aufgenommen?«

»Habe ich … was?!«

»Ob du schon Kontakt mit deinem Schutzengel aufgenommen hast«, wiederholte Gabi, als handele es sich lediglich um ein akustisches und kein inhaltliches Kommunikationsproblem. »Ich mache das seit meinem Besuch bei Serafina jeden Morgen. Das ist so ein wundervolles Ritual, das kannst du dir gar nicht vorstellen.«

Ungebetene Bilder von Gabi, wie sie morgens im Schlafanzug auf ihrem Meditationskissen im Wohnzimmer saß und Räucherstäbchenqualm inhalierte, während sie Zwiegespräche mit ihrem Schutzengel hielt, drängten sich in Angies Gedanken. Sie schüttelte kurz den Kopf und war erleichtert, dass die Bilder sich auf diese Weise tatsächlich verdrängen ließen.

»Nein, habe ich nicht, will ich nicht und werde ich auch nicht«, stellte Angie klar und griff nach einer halbvollen Dose mit Erbsen. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange die schon im Kühlschrank gestanden hatte, aber für ein Gemüseomelette würden sie schon reichen.

Das solltest du lieber nicht machen.

Wieso nicht? Aufmüpfig schüttete Angie den Doseninhalt in ein Sieb und wollte sie gerade abspülen, als sie den grün-gräulichen Glibber zwischen den Erbsen bemerkte.

Also weder Nudelauflauf noch Gemüseomelette. Angie entsorgte den Siebinhalt im Mülleimer, der schon wieder verdächtig voll war. Hier fand sie auch einen Teil der vermissten Nudeln wieder, teilweise mit Ketchup beschmiert. Eine Karriere als Chefköche konnten sich ihre Kinder wohl abschminken.

Sie hatte nicht nur Gabis Geld verschwendet, sondern durch die Sitzung alles nur noch schlimmer gemacht. Anstatt durch Serafinas Gerede über himmlische Begleiter beruhigt zu sein, beschlich Angie das Gefühl, dass ihr Leben ihr ganz langsam entglitt.

»Wirklich, wenn Serafina sagt, dass du einen Engel an deiner Seite hast, dann kannst du ihr das glauben. Sie weiß, wovon sie spricht. Wie ich dich beneide! Ich wünschte, ich hätte auch …«

Anstatt Angie die Erlebnisse des Nachmittags vergessen zu lassen, zerrte Gabi sie unermüdlich wieder ins Licht, um sie von allen Seiten zu beleuchten und zu diskutieren. Nicht, dass Angie sich dadurch an mehr erinnerte als zuvor. Lediglich ihr Widerstand wuchs, nicht ihr Erinnerungsvermögen. Wenn sie angeblich einen Engel hatte, wie konnte sie ihn am schnellsten wieder loswerden? »Ich hab Engel«, das klang ja fast so wie »Ich hab Rücken« oder, noch schlimmer, »Ich hab Psyche.«

»Du kannst ihn gerne haben«, unterbrach Angie erschöpft Gabis enthusiastischen Redeschwall.

»Man kann doch nicht anderer Menschen Engel übernehmen!«, sagte Gabi in einem Tonfall, als müsse jedem etwas so Offensichtliches bekannt sein.

»Wieso denn nicht? Wenn andere deren Hilfe doch eher benötigen als ich? Mir mag es nicht gut gehen, aber anderen geht es teilweise viel schlechter. Unerfüllte Liebe, Krankheiten …«

»Ja, Liebe, Krankheit und Tod haben immer Hochkonjunktur«, scherzte Gabi. »Aber genau dafür sind Engel doch da, um dich durch solche transformierenden Prozesse zu begleiten.«

Das klang bedrohlich. Angie wollte lieber nicht noch mehr erfahren. Sie beendete das Gespräch mit dem Hinweis, dass sie fix und fertig sei und am nächsten Morgen früh raus müsse.

Nach dem Abendessen war sie zu nichts Weiterem mehr in der Lage gewesen, als auf dem Sofa im Wohnzimmer zu liegen und dabei durch die Fernsehkanäle zu zappen. Über dreißig Programme, und nirgendwo kam etwas, das sie interessierte.

Uwe tauchte erst gegen einundzwanzig Uhr auf. »Danke, ich habe keinen Hunger«, wischte er Angies halbherziges Angebot, ihm noch etwas zu Essen zu machen, beiseite.

Er trug seinen billigen Büroanzug, um den ungeschriebenen Kleidervorschriften seines Arbeitgebers Genüge zu tun, allerdings mit einem T-Shirt anstatt einem Hemd und ohne Krawatte. Das war ungewöhnlich.

Misstrauisch musterte Angie ihren Mann. Genau wie sie sah Uwe eher durchschnittlich aus. Mit Ende Dreißig hatte er bereits ausgeprägte Geheimratsecken und beginnenden kreisrunden Haarausfall am Hinterkopf, was ihr als Friseurin natürlich sofort aufgefallen war, von Uwe jedoch hartnäckig geleugnet wurde. Seit ein paar Monaten ging er auch etwas gebeugter als sonst. Vielleicht kam es einfach nur vom vielen Sitzen im Büro und nicht von Sorgen um seine Familie? Sie sprachen nicht über Probleme, denn jedes Mal, wenn Angie mit »Uwe, wir müssen reden« anfing, endete das Gespräch in einem Streit, bevor sie überhaupt zum Kern des Problems vorgedrungen waren, geschweige denn zu seiner Lösung.

»Mach dir doch wenigstens ein Brot«, murmelte Angie.

»Wenn ich so spät noch etwas esse, kann ich wieder nicht vernünftig schlafen. Und ein bisschen Abnehmen tut mir sicher gut.«

Implizierte er damit etwa, dass sie auch abnehmen sollte? »Findest du mich etwa zu fett?«

Glücklicherweise lebten sie schon lange genug zusammen, dass ihr Mann der Falle, die diese Frage beinhaltete, geschickt auswich. »Ich liebe dich, Mäuschen.«

Inzwischen war sie zwar zu einer stattlichen Maus herangewachsen, ihr Kosename war hingegen geblieben. »Ich dich auch, Bärlein«, antwortete Angie automatisch.

Solche Rituale hatten bisher dafür gesorgt, dass ihre Ehe trotz einiger Aufs und Abs immer noch Bestand hatte. Am Ende hatten sie sich immer wieder zusammengerauft. Doch wie lange noch?

Uwe setzte sich neben sie aufs Sofa und schaute auf die Mattscheibe.

Angie rückte ein Stück zur Seite, damit er mehr Platz hatte. Täuschte sie sich oder roch er frisch geduscht? Unauffällig beugte sie sich vor und schnüffelte. Doch, das war der Geruch von Uwes Duschgel, ganz eindeutig. Sie mochte den Großteil ihres Arbeitstages inmitten chemischer Gerüche stehen, aber so kaputt waren ihre Riechnerven doch noch nicht.

»Hast du schon geduscht?«, fragte sie, ohne Uwe dabei anzusehen. Er war doch gerade erst nach Hause gekommen!

Uwe nickte, ebenfalls ohne sie anzusehen, wie sie aus den Augenwinkeln mitbekam.

Etwa bei seiner Geliebten? Eifersucht durchfuhr Angie wie ein heißer Blitz. Ihr ganzer Körper kribbelte. Leider nicht vor Verlangen, so wie vor zwanzig Jahren, sondern vor Enttäuschung. Sie wusste einfach, dass Uwe sie betrog.

Sei unbesorgt, er liebt nur dich.

So ein Quatsch! Uwe liebte Fußball, allerdings ausschließlich die passive Variante. Er liebte es, Samstagnachmittags mit seinen Kumpels ein paar Bierchen zu zischen. Früher hatte er es auch geliebt, nach Feierabend und am Wochenende in ihrem Schrebergarten zu werkeln, der allerdings vor dreizehn Jahren einem Industriebau hatte weichen müssen. Seine Arbeit liebte er nicht, das wusste sie. Und dass er sie nicht mehr liebte, nahm sie nur allzu deutlich wahr. Die kleinen Gesten, die sie am Anfang ihrer Beziehung so nett gefunden hatte, blieben schon lange aus. Sie lebten nur noch nebeneinander her, bis er sie endgültig für eine andere verlassen würde.