Ein Strandkorb für Oma - Janne Mommsen - E-Book
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Janne Mommsen

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Beschreibung

Oma wird tüdelig. Seit einem Jahr leben Sönke und Maria gemeinsam auf der Nordsee-Insel Föhr. Mit der Ruhe ist es allerdings vorbei, als Sönkes minderjährige Cousine Jade zu Besuch kommt. Statt des braven Mädchens von früher steht eine übelgelaunte Grufti-Braut vor ihnen. Auch Oma bereitet Sorgen, denn sie wird zunehmend vergesslich, so richtig vergesslich! Und dann geschieht auf der Insel ein spektakulärer Kriminalfall, und die Kripo schickt vom Festland einen Kommissar, den Maria noch von früher kennt – ihr attraktiver Exfreund. Aber in der friesischen Karibik lösen sich alle Probleme irgendwann auf ganz eigene Art … «Es ist diese Leichtigkeit, die Mommsens Romane so beliebt und lesenswert machen; er erzählt wie der Freund von nebenan. Leichtigkeit bedeutet bei ihm nicht Leichtgewichtigkeit, sondern leichtes Skizzieren durchaus ungewöhnlicher Verhältnisse.» (Nordwest-Zeitung)

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Janne Mommsen

Ein Strandkorb für Oma

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Oma wird tüdelig.

Seit einem Jahr leben Sönke und Maria gemeinsam auf der Nordsee-Insel Föhr. Mit der Ruhe ist es allerdings vorbei, als Sönkes minderjährige Cousine Jade zu Besuch kommt. Statt des braven Mädchens von früher steht eine übelgelaunte Grufti-Braut vor ihnen. Auch Oma bereitet Sorgen, denn sie wird zunehmend vergesslich, so richtig vergesslich! Und dann geschieht auf der Insel ein spektakulärer Kriminalfall, und die Kripo schickt vom Festland einen Kommissar, den Maria noch von früher kennt – ihr attraktiver Exfreund.

Aber in der friesischen Karibik lösen sich alle Probleme irgendwann auf ganz eigene Art …

«Es ist diese Leichtigkeit, die Mommsens Romane so beliebt und lesenswert machen; er erzählt wie der Freund von nebenan. Leichtigkeit bedeutet bei ihm nicht Leichtgewichtigkeit, sondern leichtes Skizzieren durchaus ungewöhnlicher Verhältnisse.» (Nordwest-Zeitung)

Vita

Janne Mommsen hat in seinem früheren Leben als Krankenpfleger, Werftarbeiter und Traumschiffpianist gearbeitet. Inzwischen schreibt er überwiegend Romane und Theaterstücke. Mommsen hat in Nordfriesland gewohnt und kehrt immer wieder dorthin zurück, um sich der Urkraft der Gezeiten auszusetzen.

1. Familienbande

Im Hamburger Flughafen eilen an diesem Freitagabend Dutzende Geschäftsmänner im Laufschritt durch die Tür des Sicherheitsbereiches, sie sind alle gleich gekleidet und ziehen identisch aussehendes Handgepäck hinter sich her. Hinter ihnen kommen braun gebrannte Urlauber herausgewatschelt, ganz langsam, weil ihre Ferien an der Tür endgültig beendet sind. Ein paar Edelpunker mit zerfetzten Lederjacken, großen dunklen Sonnenbrillen und teuren Alukoffern balgen beim Hinausgehen wie junge Hunde miteinander. Die Flugpassagiere werden von quietschenden Angehörigen und Freunden erwartet oder von traurig dreinblickenden Fahrern mit Schildern wie «Airbus – Mr.Chang» oder «Atlantic Hotel – Monsieur Mathieu Longuet». Erst wenn die Männer angesprochen werden, erwachen sie aus ihrer Stand-by-Position und knipsen ein Lächeln an: «Hatten Sie einen guten Flug?» Auf die Punker wartet niemand, sie eilen direkt zur gegenübergelegenen Bar und ordern auf Englisch ein «Original German Pils».

Ich stehe regungslos neben einem Pfeiler und schaue mir das alles an wie einen Film. Maria wandert unruhig vor mir auf und ab, ihre Läuferinnenbeine federn auch bei diesem langsamen Tempo immer etwas nach, als sei sie jederzeit zu einem Sprung bereit. Die dunklen Haare hat sie auf Schulterlänge gekürzt, daran muss ich mich noch gewöhnen. Sie trägt eine dunkelblaue Hose, die oben eng und unten weit geschnitten ist. Diese «Marlene-Dietrich-Hose» hat sie selber genäht, genau wie die schwarze Bluse. Was Mode anbelangt, hat Maria ihre ganz eigene Auffassung, ganz unbelastet von der jeweils aktuellen Mode mixt sie die Fünfziger mit den Siebzigern und den Neunzigern; was es nicht von der Stange gibt, näht sie selbst.

Ihre braunen Augen senden klare Signale: Ich will hier weg!

Schließlich bleibt sie vor mir stehen und lehnt sich bei mir an. Automatisch wie bei einem Industrieroboter greifen meine Arme von hinten um sie, meine Nase passt perfekt in den Spalt hinter ihrem rechten Ohr, wo ich eine leichte Note Amber inhaliere. Die vermischt sich mit dem vertrauten Apfelshampoo, auf das Maria nur zur Wespenzeit verzichtet.

Ich spüre, wie ihre Unruhe nachlässt.

«Fernweh?», fragt sie.

Die Vibrationen des Knochens hinter ihrem Ohr verdoppeln ihre Stimme bei jedem Wort, was fast ein bisschen zu aufregend ist für eine öffentliche Halle.

«Absolut.»

«Wohin?»

«Auf eine grüne Insel 150 Kilometer nördlich.»

Natürlich möchte ich mit Maria vielleicht noch nach Feuerland, Angkor Wat in Kambodscha und nach Südafrika fahren. Aber seit einem Jahr lebe ich mit der Frau meiner Träume in einem Reetdachhaus auf Föhr, da lockt mich erst einmal nichts weg. Ich staune selbst über mich, war ich doch der typische Hamburger, der früher unentwegt von der großartigen Energie der Großstadt schwärmte.

Maria und ich sind gleich nach dem ersten Kuss zusammengezogen, und das war genau richtig, auch im Nachhinein besehen. Natürlich mussten verschiedene Gewohnheiten synchronisiert werden, Butter oder Margarine, Waschmaschine auf 40 oder 60 Grad, wann reden, wann lieber massieren, wann Fernsehen glotzen, wann ins Watt und wann in die Kneipe, wann einfach im Wintergarten beieinanderliegen und dem Sturm zuhören, wann alleine, wann zusammen. Dazu musste ich Marias Sprache lernen: wie meint sie es, wenn sie etwas sagt? Und viel wichtiger: wann sagt sie etwas, ohne den Mund aufzumachen?

Maria ist nicht so sehr eine Frau des Wortes, sondern vielmehr der Tat. Eines Abends im November kam sie spät nach Hause, grüßte mich kurz und suchte dann einen Spaten und eine Lampe. Anschließend buddelte sie wie eine Irre im Garten an einer Grube für den Gartenteich, den wir gar nicht dringend brauchen. Weder die Dunkelheit noch der beständige Nieselregen hielten sie davon ab. Es hatte sich einfach am Tag bei ihr einiges angestaut, das genau dorthin musste.

Die Teich-Aktion, so lernte ich, war auch eine Liebeserklärung an mich: sie wollte ihre schlechte Laune nicht an mir auslassen; ich konnte ja nichts dafür. Allerdings habe ich ihr nach einer Stunde eine Flasche Bier und ein paar Schnittchen gebracht, genau zum richtigen Zeitpunkt. Sie lächelte mich mit erdverschmiertem Gesicht an und kam entspannt ins Haus zurück.

 

Unser Kind müsste längst angekommen sein, der Flieger ist pünktlich vor einer halben Stunde gelandet.

«Meinst du, wir werden gute Eltern sein?», sorgt sich Maria.

«Eine liebevolle, strenge Mutter und ein lockerer, inkonsequenter Vater – ideale Bedingungen, würde ich sagen.»

Maria löst sich aus meiner Umarmung und dreht sich um.

«Du hältst dich also für locker?»

«Klar.»

«Und mich für streng …»

«Du bist immerhin Polizistin und kannst mit Waffen umgehen, du kennst alle Verhörtechniken …»

«So weit die Theorie», sagt Maria und grinst. «Ich erinnere dich nochmal daran.»

Ich kann mir nur schwer vorstellen, mit einem Kind zu leben: Früh aufstehen, Windeln wechseln, langweilige Urlaubsorte ansteuern, Kombi fahren etc. Andererseits: die Vorstellung, ein Kind mit Maria zu haben, wäre das Größte und würde alles Unvorstellbare sofort vorstellbar machen.

Unser Kind kommt aus Frankfurt, es heißt Jade, ist fünfzehn Jahre alt und unsere gemeinsame Cousine (was daran liegt, dass Maria als Adoptivtochter meines Onkels Arne gleichzeitig auch meine Cousine ist). Sie heißt nicht Dschäid, sondern Jade wie Jadebusen. Mein Onkel Cord und seine thailändische Ex-Frau Narasinee sind Jades Eltern; seit ihrer Scheidung leben sie in zwei Doppelhaushälften direkt nebeneinander. Jade war noch nie auf Föhr und will unbedingt die Wurzeln ihres Vaters kennenlernen, so hat es uns Cord jedenfalls übermittelt. Er selbst hat die Insel gleich nach der Schule verlassen, wegen seines despotischen Vaters, der gleichzeitig sein Lateinlehrer war und ihm «aus erzieherischen Gründen» eine Fünf ins Abi geknallt hat. Cord hat es auf dem Festland geschafft: er ist erfolgreicher Zahntechniker mit eigenem Betrieb in Frankfurt. Erst fünf Jahre nach dem Tod seines Vaters ist er das erste Mal zurück nach Föhr gekommen.

Wir haben darauf bestanden, dass Jade bei uns wohnt. Maria und ich haben sie das letzte Mal vor Ewigkeiten in Frankfurt gesehen, da war sie noch ein Baby. Zur Orientierung haben wir von Cord ein Foto bekommen, das sie in einem weißen Kommunionskleid zeigt.

Jade wird es genießen, der Enge ihrer elterlichen Umgebung in Frankfurt zu entkommen. Das Strandleben auf Föhr wird ihr genauso guttun wie mir damals. Ich hatte auch so einen jugendlichen Onkel, Marias Vater Arne, der Surflehrer war und mir auf meinen Föhr-Urlauben alles erlaubte, was meine Eltern verboten hatten. Dieser Stab wird nun an mich weitergereicht, weil ich der Nächstjüngste in der Familie bin, und ich freue mich schon darauf. Ich werde mit Jade nächtelang durch die Gemeinde ziehen und mich um keine Pädagogik kümmern. Kein Belehren oder Erziehen, wir werden einfach Spaß zusammen haben! Wie gesagt, wenn du Glück hast, hast du so einen in der Familie, der das mit dir macht. Ich erinnere mich selbst noch genau daran, wie angenehm das war.

 

Wieso ist Jade immer noch nicht da?

Dass sie sich seit ihrer Kommunion äußerlich verändert hat, ist Maria und mir klar, aber unter den Ankommenden wäre uns eine Fünfzehnjährige mit asiatischen Augen doch aufgefallen.

Ich wähle Jades Nummer, die ich mir auf einen Zettel geschrieben habe.

Besetzt.

Ich spreche ihr auf die Mailbox: «Moin, Jade, hier ist Sönke, melde dich doch bitte, wir sind am Flughafen in der Ankunftshalle.»

Die Punks hinter uns an der Bar kippen ein Bier nach dem anderen und grölen mit schottischem Akzent irgendetwas Versautes, das ich nur halb verstehe.

Ich wähle noch einmal Jades Nummer.

Jetzt geht sie ran.

«Jade, wo steckst du? Hier ist Sönke.»

«An der Bar. Ich habe euch nicht gesehen.»

Ich drehe mich um.

Ein leichenweiß geschminktes, zierliches Mädchen mit schwerem, schwarzem Ledermantel, dunkellila Rock sowie Schnürstiefeln bis übers Knie nimmt ihre Sonnenbrille ab. Düster geschminkte asiatische Augen werden sichtbar, auf ihre rechte Wange hat sie sich drei Tränen aus Glas geklebt.

Das ist Jade?

Mein erster Gedanke: Wir haben nur ein Badezimmer!

Diese Maske dauert jeden Morgen mindestens eine Stunde plus abends eine halbe Stunde zum Abschminken! Und was Nordseewasser und salzige Luft mit so viel Make-up anstellen, wird ihr nicht gefallen, schätze ich.

Sie schenkt weder Maria noch mir die Andeutung eines Lächelns.

«Moin, Jade», grüßt Maria freundlich und will sie umarmen. Doch Jade schiebt ihre Cousine weg: «So nahe stehen wir uns nicht.»

Eine klare Ansage.

Maria weiß gar nicht, wie sie reagieren soll (was äußerst selten vorkommt). Ich biete Jade nicht mal meine Hand an, sondern murmele ein betont beiläufiges «Moin».

Maria schaut nervös auf die Uhr.

«Wenn wir die letzte Fähre noch kriegen wollen, müssen wir uns beeilen.»

«Ich muss noch austrinken», protestiert Jade.

«Alkohol unter achtzehn ist verboten», erinnert sie Inselpolizistin Maria. Jade verabschiedet sich von jedem der Punkbandmitglieder, die sie im Flugzeug kennengelernt hat, mit einer Umarmung. Und nimmt demonstrativ noch einen großen Schluck Bier aus ihrem Glas.

Maria behält sich durchaus ihre eigene Meinung über Gesetze vor und handelt mal locker, mal eher streng. Aber bei Alkohol und Drogen in Verbindung mit Jugendlichen versteht sie keinen Spaß. Sollte Maria jetzt allerdings auf das Gesetz pochen, wäre das ein unglücklicher Start für die nächsten vierzehn Tage. Ich wage es kaum, sie anzuschauen.

Marias Augen verdunkeln sich um einige Grade, ihr Körper ist bereit für den Zugriff – aber angesichts einer Familienangehörigen überfällt sie offenbar eine Art Beißhemmung.

Sie sagt nichts.

Ich greife auch nicht ein.

Wir stehen da wie die letzten Trottel.

Fast muss ich über mich und Maria lachen.

Fast.

2. Kein Strandhotel

Maria peitscht ihren alten Mini One mit leise wimmernden Reifen aus dem kurvigen Parkhaus. Jade sitzt hinten, ihr Rollkoffer steht neben ihr auf dem Sitz, weil er nicht in den kleinen Kofferraum passt. Ich würde mich auf so engem Raum verpflichtet fühlen, ein paar freundliche Worte mit meinen Gastgebern zu wechseln, zumal wenn ich vierzehn Tage bei ihnen wohnen wollte und erst recht, wenn es meine Verwandten sind.

Jade nicht.

Sie ist hoch konzentriert, aber nicht auf uns.

Ihre Ohren sind mit ihrem Handy verstöpselt, sie schreibt eine SMS nach der anderen. So was wie «Hi, Sönke und Maria sind echt o.k., ich freue mich auf die Zeit mit ihnen»? Wohl kaum.

Maria schweigt und blickt stur geradeaus auf die Piste. Sie muss ihre Niederlage in der Flughafenbar erst einmal verdauen. Ich streichele ihre Hand und ernte ein schiefes Lächeln. Die nächsten zwei Wochen könnten für Maria und mich unter Umständen sehr lang werden. Unser Kind auf Zeit haben wir uns etwas geschmeidiger vorgestellt, aber was soll’s, Jade ist eben ein ganz normales pubertierendes Mädchen, und wir sind die Erwachsenen.

 

Bis zur letzten Fähre in Dagebüll ist nicht mehr viel Zeit. Langsam wird es dunkel. Auf der Autobahn ist zum Glück nicht viel los, so kommen wir mit Marias Dauervollgas ungehindert bis Rendsburg. Dort wird die Autobahn auf eine hohe Brücke über den Nordostseekanal geführt, hier gilt Tempo 80. Doch das hält Maria nicht davon ab, einen Polizeiwagen mit 120 zu überholen.

«Dringender Einsatz», knurrt sie.

Das sehen ihre Kollegen anders.

Jedenfalls klebt der Polizei-Opel sofort hinter uns, auf dem Display unterhalb des blinkenden Blaulichts leuchten in eindringlichem Rot die Worte «STOP. POLIZEI».

«Oh nee!», stöhnt Maria, «nicht jetzt.»

Sie fährt auf den Parkplatz kurz vor der Brücke, der Polizeiwagen klebt beharrlich an unserer hinteren Stoßstange. Von der lärmenden A7 mal abgesehen, ist der Parkplatz einer der schönsten Aussichtspunkte Norddeutschlands: der Blick geht in die flache grüne Landschaft bis zum Horizont, im Nordostseekanal unter uns zieht ein schneeweißes, russisches Kreuzfahrtschiff vorbei, dessen Namen ich wegen der kyrillischen Buchstaben nicht entziffern kann. Ein paar Passagiere schwimmen auf dem Oberdeck im beleuchteten Pool; sie schauen zu uns herauf.

Maria springt aus dem Mini und eilt mit federnden, großen Schritten auf die beiden runden Mittvierziger zu, beide mit hoher Stirn und schwarzen Lederjacken. Es muss alles schnell gehen, wir haben noch eine Dreiviertelstunde, dann ist die letzte Nachtfähre weg. Draußen hängt das letzte Licht dieses Tages. Maria hat sich keine Jacke angezogen, weil sie davon ausgeht, dass der Verstoß unter Kollegen schnell zu regeln ist. Plötzlich erfasst sie eine Windbö und wirbelt ihre Haare erst zur Seite, dann senkrecht nach oben. Zusätzlich beulen sich ihre weiten Hosen auf Maximaldicke, was sie wie ein Michelin-Männchen aussehen lässt.

Die beiden pummeligen Zivilbeamten tragen beide weiße Hemden und Jeans, sie sehen sich ähnlicher als viele Brüder.

«Maria, Maria, Maria», singt der eine Beamte.

«Hallo, bloody Mary», ergänzt sein Kollege.

«Moin Piet, hallo Volker.»

«Lang ist’s her.»

Man kennt sich wohl von früher, als Maria bei der Autobahnpolizei in Neumünster war. Eine erneute Windbö fährt den Kollegen in den Rücken und bastelt ihnen eine lächerliche Resthaarfrisur. Maria, die ihnen gegenübersteht, sieht aus, als müsste sie gegen Fahrtwind kämpfen. Alle drei drehen sich im selben Moment synchron weg, es sieht aus wie ein eingeübter Tanzschritt, nun weht der Wind für alle von der Seite.

«Jungs, sonst ja immer gerne, aber heute hab’ ich es eilig.»

«Das war zu merken!»

So viel zu Marias lockerer Ansage, unter Polizisten gäbe es keine Strafzettel.

«Also, Kollege …», protestiert Maria, «wegen der paar Kilometer …?»

Er schüttelt den Kopf.

«Wir müssten mal die Dame auf dem Rücksitz sprechen.»

Maria zuckt zusammen.

«Wieso das?»

Ich steige aus, um Jade hinten rauszulassen. Sie zieht sofort eine Hassfresse auf.

«Ein Anruf bei meinem Vater, und er lässt den fiesesten Anwalt der Stadt von der Leine», stellt sie klar, bevor die Polizisten auch nur ein Wort sagen können.

Maria und ich ahnen nicht im Geringsten, worum es gehen könnte.

«Als ihr vorbeigezogen seid, hat sie uns den Stinkefinger gezeigt», sagt Volker.

«Und?», pampt Jade ihn an.

Maria nimmt ihre Kollegen beiseite.

«Die Kleine habe ich von Kollegen aus Hamburg aufgedrückt bekommen», lügt sie, «Intensivtäterin, sie soll zu uns auf die Insel, um wieder auf Spur zu kommen, als letzte Chance.»

Das will Volker nicht glauben: «Du und Kuschelpädagogik?»

Maria versucht das Ganze abzukürzen: «Bei dem Register, das die hat, würde jedes Verfahren im Sand verlaufen, das könnt ihr vergessen.»

Volker überlegt einen Moment, dann gibt er sich einen Ruck.

«Wenn du meinst.»

Er nickt seinem Kollegen zu.

«Du bist ja bald wieder bei uns», freut der sich.

Was meint der denn damit?

«Davon wüsste ich aber», erwidert Maria, meinen Blick meidend.

«Du stehst fest bei uns im Dienstplan, ab Monatsanfang!»

«Sagt wer?» Ihre Stimme bewegt sich in einer viel raueren Lage als vorher.

«Hugo Boss.»

«Da irrt der Chef.»

Was soll denn das? Wieso steht Maria im Dienstplan der Autobahnpolizei?

Wenn sie versetzt würde, hätte sie mir das gesagt. Oder?

Piet wendet sich an Jade: «Nächstes Mal bist du fällig, verlass dich drauf.»

Nach dieser leeren Drohung gehen die beiden zurück zu ihrem Polizei-Opel. Ich klemme mich auf den Rücksitz des Mini, Jade soll ab jetzt vorne sitzen, damit Maria sie im Blick hat.

«Hast du sie noch alle?», bricht es aus ihr heraus.

Jade fummelt ungerührt an ihrem Handy herum und will sich wieder die Ohrhörer einstöpseln.

«Aber jetzt gilt Handyverbot!», weist Maria sie zurecht.

Macht zwar keinen Sinn, aber Jade hält sich erstaunlicherweise ohne Widerspruch daran.

Ich sitze hinten und sage gar nichts.

Es ist unmöglich, die letzte Fähre noch zu bekommen. Aber Maria will das offenbar immer noch nicht einsehen. Als wir von der Autobahn auf die dunkle Landstraße abbiegen, überholt sie die Autos vor uns in Zweier- und Dreier-Einheiten. Ich muss dringend mit ihr über die Versetzung reden! Aber nicht im engen Wagen von hinten, bei diesem Tempo, während Jade vor mir sitzt.

 

Am Hafen von Dagebüll strömt salzige Nordseeluft in meine Nase. Die weißen Kronen auf den Wellen sehen in der Dunkelheit aus wie schneebedeckte Berge, die ins Tanzen geraten sind. Von drüben senden die Lichter der Inselhauptstadt Wyk ihre Strahlen übers Wasser.

Unser Heimatplanet – endlich!

Euphorie kommt trotzdem nicht auf, denn die letzte Fähre hat gerade den Hafen verlassen und tuckert ohne uns Richtung Wyk. Ohne den Zwischenfall auf der Kanalhochbrücke hätten wir es gerade so geschafft.

Hätten.

Vielen Dank, Jade!

Zwischen 23:00 und 5:00 ist die Insel nicht erreichbar. Ein Hotel für die paar Stunden zu nehmen, wäre Verschwendung, also legen wir uns einfach auf den Deich. Besonders kalt ist es nicht, es riecht nach Erde und Gras, mit einer zarten Note von Schafskot, letztere verdränge ich nur mühsam.

Maria schmiegt sich eng an mich.

«Wieso weiß ich nichts von deiner Versetzung?»

Nach der Schule hat Maria Föhr verlassen und wurde Polizistin in Neumünster, weil es ihr auf der Insel zu eng wurde. Wegen einer Verfolgungsjagd, bei der der Verfolgte nicht nur einen Unfall baute, sondern sich auch noch als unschuldig herausstellte, wurde sie nach Föhr zurückversetzt. Für Maria die Höchststrafe. Erst als wir zusammenkamen, konnte sie sich wieder auf die Insel einlassen. Dachte ich zumindest bis gerade eben.

«Es war ein Fehler, es dir nicht zu sagen, ich weiß. Weißt du, nach meiner Strafversetzung habe ich wie eine Irre darum gekämpft, wieder wegzukommen von Föhr, …»

Maria schaut mich traurig an.

«… und als ich dich kennengelernt habe, wollte ich das wieder rückgängig machen. Blöderweise ist das bei denen in Kiel untergegangen. Ich rede morgen mit Gerald über den Widerspruch, dann nehmen die das zurück, da bin ich sicher!»

Gerald Brockstedt ist ihr Revierleiter.

«Und wenn nicht?»

«Das wird morgen geregelt», murmelt Maria.

Die Dienstpläne bei der Autobahnpolizei sagen bis jetzt das Gegenteil.

Eine frische Brise kommt auf. Maria und ich fangen an zu frieren, auf Übernachtung in der freien Natur waren wir nicht eingestellt. Jade hingegen wickelt sich schweigend in ihren schwarzen Ledermantel, der tagsüber viel zu warm war, aber jetzt genau richtig ist. Der Wind nimmt erstaunlich schnell zu. Von der See schieben sich heftige Wassermassen heran, die die Flut nicht ablaufen lassen, trotz Ebbe steigt der Pegel, statt zu fallen.

Irgendwann lässt der Wind sämtliche Hunde aus dem Zwinger und hetzt sie auf uns. Die Böen greifen uns von allen Seiten an, auf dem Deich ist es nicht mehr auszuhalten. Wir suchen uns ein windgeschütztes Plätzchen hinter dem «Strandhotel», aber es nützt nichts, die Hunde finden uns auch dort.

«Ich habe keine Lust mehr», brülle ich gegen den Sturm, «wir nehmen uns ein Zimmer!»

Das hätte mir früher einfallen sollen; alles ist schon geschlossen.

Also zwängen wir uns in den Mini.

Leider ist dieses Lifestyle-Auto nicht nur vom Namen her das Gegenteil eines Campingbusses.

Zur drangvollen Enge kommt das emotionale Reizklima.

Maria weiß, dass sie einen Fehler begangen hat, sie hätte mit mir über die drohende Versetzung reden sollen. Zusätzlich ist sie sauer auf Jade, und ich bin es auch.

Jade wiederum ist aus unerfindlichen Gründen sauer auf uns beide. Wirklich schlafen kann niemand, alle halbe Stunde meldet sich irgendein akut abgeknickter Körperteil, aber es hilft ja nichts.

3. Die sprechenden Steine

Der kipplige Seegang bei der Überfahrt nach Föhr kommt mir wie eine zusätzliche Schikane vor. Obwohl sich die wütenden Wellen mit den weißen Schaumspitzen in der klaren Morgensonne optisch hervorragend machen.

Nur, was nützt das, wenn an Bord die Kaffeemaschine kaputt ist?

Im Salon setzen wir uns an einen Tisch, Maria macht sich auf der Sitzbank lang und nimmt meinen Schoß als Kopfkissen: Ich lasse meinen Kopf auf die Tischplatte sinken, genau wie Jade. Das ist zwar nicht bequem, aber im Vergleich zum Mini schon ein Fortschritt. Gerade, als ich etwas eingenickt bin, weckt mich ein Kellner, um mir mitzuteilen, dass die Kaffeemaschine wieder geht. Ab da kann ich endgültig nicht mehr einschlafen.

Die «Uthlande» zieht kurz vor Föhr hart nach Steuerbord und fährt ein Stückchen parallel zur Wyker Seepromenade, wo Oma wohnt. Föhr präsentiert sich an diesem Morgen wie die Kulisse eines Werbefilms, die Sonne arbeitet jeden Mauervorsprung mit warmem, hellem Licht heraus, die Fensterscheiben werfen die Strahlen glitzernd wie helle Sterne zurück.

 

Dann tuckert die Fähre langsam zum Fähranleger und wird festgemacht. Sonst drängen sich hier Passagiere und Touristen zwischen voll bepackten Autos. An diesem Morgen sehe ich nur einen einzigen Lastwagen und eine einsame Frau, der Hafen gehört um diese Zeit sich selbst.

Als wir näher kommen, erkenne ich die Frau: In einem roten Hosenanzug, mit frischem Make-up und blond gefärbten, kurzen Haaren, knackebraun wie immer, steht unsere Oma da und winkt uns zu.

Jade, Maria und ich winken zurück.

Das ist wirklich Oma!

Wie immer viel zu auffällig und Generationen zu jung gekleidet für ihre 76 Jahre. Aber immer voller Energie und Unternehmungslust. Woher weiß sie, dass wir auf der ersten Morgenfähre sind?

Großes «Hallo» am Kai, als wir auf dem Hafenparkplatz aus dem Wagen springen. Oma umarmt ihre Enkelin Jade und drückt sie, so doll sie kann. Jade lässt es sich ohne Protest gefallen. Dabei haben sich Oma und sie bisher nur ein paar Mal in Frankfurt getroffen.

«Jade, mien seuten Deern …!»

«Süßes Mädchen» trifft es vielleicht nicht ganz präzise, aber was soll’s.

«Moin, Oma, schön dich zu sehen», begrüßt Jade sie.

Respekt, so viel nette Worte hatte sie für uns nicht.

Dann schlingt Oma ihre Arme um Maria und mich.

«Woher wusstest du, dass wir um diese Zeit ankommen?», frage ich.

Oma legt ihren strengen Gouvernantenblick auf.

«Petersen hat mich angerufen, als ihr in Dagebüll an Bord gegangen seid.»

Ich schaue zur Brücke hoch. Den grauhaarigen Kapitän Petersen kenne ich vom Sehen, er singt im örtlichen Shantychor «Die Knurrhähne», die zu jedem Hafenfest auftreten.

«Kinder, jetzt frühstücken wir erst einmal, oder was denkt ihr?»

Sie deutet auf den großen Picknickkorb zu ihren Füßen.

«Frische Brötchen, Krabben, Marmelade, alles dabei. Jade, du magst doch Krabben?»

«Bestimmt.»

Die Müdigkeit ist bei uns allen verflogen.

Außer bei Maria, die blöderweise gleich Tagschicht hat. Die Arme gähnt, was das Zeug hält. Das wird hart für sie.

Maria nimmt mich beiseite und umfasst meine Hüften.

«Mach dir keine Gedanken, Sönke», flüstert sie. «Wir bleiben zusammen in unserem Haus.»

Das höre ich natürlich gerne. Aber macht sie sich da nichts vor?

«Falls du nicht versetzt wirst.»

Maria legt ihre Wange an meine Wange.

«Mach dir keine Sorgen. Bis heute Abend ist das geklärt.»

Sie gähnt erneut und gibt mir einen Kuss.

«Ich koche uns was!», verspreche ich.

Dann verabschiedet sich Maria von Oma und Jade und schlendert zum Polizeirevier, das direkt gegenüber am Sporthafen liegt. Bis heute Abend entscheidet sich Marias Schicksal auf der Insel, und ich kann nichts tun außer warten.

 

Oma steigt in den Mini, und wir fahren nach Nieblum. Das kleine Reetdachhaus, in dem Maria und ich wohnen, ist umgeben von einem verwilderten Grundstück. Es besitzt nur zwei Zimmer und einen halb fertigen Wintergarten, der mit einer durchsichtigen Plastikplane abgedeckt ist. Auf dem Dach liegt frisches Reet, das Arne letzten Winter aufgetragen hat. Als ich die Tür öffne, rieche ich noch ein bisschen das Avocadobad, das Maria vor unserer Abreise zum Hamburger Flughafen genommen hat.

«Wir haben gedacht, du schläfst im Schlafzimmer. Ist das o.k.?»

Jade sagt gar nichts, sondern inspiziert misstrauisch den Raum. Ein frisch bezogenes Bett, ein Kleiderschrank, die Fenster nach Norden, sodass sie nicht vorzeitig von der Sonne geweckt wird. Ach ja, über dem Bett hängt eine Urlandschaft in Tonfarben, Oma hat uns dieses Bild ihres Lieblingsmalers Stefan Brée aus Hannover zum Einzug geschenkt.

Jade schmeißt ihren Koffer aufs Bett.

«O.k.?», frage ich noch einmal.

«Für zwei Wochen wird es gehen», kommt von ihr.

Sie tut so, als hätte ich ihr gerade einen Pappkarton über einem Lüftungsschacht angeboten. Langsam mache ich mir ernsthaft Sorgen. Föhr bietet unter anderem das Wattenmeer, riesige Himmel, tolle Strandbars, Bootstouren und vieles mehr. Alles grandios und einzigartig, aber das scheint Jade kein bisschen zu beeindrucken. Zwei Wochen!

«Sag mal, Jade, wie nennt sich die Mode, die du trägst?»

So direkt darf wohl nur Oma fragen.

«Gothic.»

«Und was bedeutet das? Darfst du kein Fleisch essen? Oder betest du zum Satan?»

Jade lacht (tatsächlich, sie lacht!).

«Mit Geistern liegst du gar nicht so falsch. Wir beschäftigen uns mit der dunklen Seite des Lebens.»

Mit Oma redet Jade ganz normal.

«Tod und Vergänglichkeit?»

«Ja.»

«In deinem Alter?», wundert sich Oma. «Das ist ungewöhnlich. Ich muss mich mit 76 ja langsam für die Abreise klar machen, aber ihr doch nicht! Trotzdem, ich finde das nicht schlecht, besser als Saufen.»

Jades Bier am Flughafen will ich jetzt mal nicht verpetzen.

«Und wo trefft ihr euch so? Ich meine, über so was quatscht man ja kaum bei McDonalds oder im Supermarkt.»

«In Frankfurt gibt es Super-Friedhöfe mit alten, tollen Gräbern und großen Mausoleen. Da hängen wir die ganze Zeit ab.»

Oma schaut Jade an und überlegt.

«Weißt du was, mien Deern? Wir holen zum Frühstück noch ein paar Verwandte dazu.»

«Wie meinst du das?», mische ich mich ein, «Arne und Regina schlafen noch.»

Arne ist, wie gesagt, gleichzeitig mein Onkel und Marias Adoptivvater, und Regina ist meine Tante.

«Die meine ich nicht.»

«Wen dann?»

Sie zieht sich ihre Jacke an.

«Kommt, wir machen ein Picknick!»

«Draußen ist Sturm, Oma.»

Der Wind pfeift heftig ums Haus.

«Aber es ist nicht kalt.»

Ich kapiere immer noch nicht.

«Willst du auf den Deich?»

«Nein, zu unseren Verwandten. Nach Süderende.»

Sie zwinkert mir zu.

Darauf hätte ich auch gleich kommen können.

Oma hat sofort den Platz im Sinn gehabt, an dem Jade mit Sicherheit auf Föhr andockt.

Also wieder rein in den Mini. Die Bäume biegen sich im starken Westwind. Oma freut sich über den Sommersturm, plaudert über den letzten Winter, als Föhr wochenlang verschneit war, und fragt Jade nach der Schule.

Wie es eine ordentliche Oma so tut.

Nach einigen Kilometern Schweigen rückt der mächtige, alte Kirchturm von St. Laurentii in Süderende näher. Das massive, trotzige Gotteshaus wurde im 13. Jahrhundert erbaut und ist umgeben von einem dichten Wald. Um das Kirchengebäude herum befindet sich einer der ältesten Friedhöfe der Insel. Wir stellen den Wagen vor der Friedhofsmauer ab. Der Wind pfeift wild durch die Bäume und schüttelt sie heftig durch.

Wir gehen durch ein kleines Tor auf den Friedhof. Ich trage den Picknickkorb, Jade die Decke und Oma die Thermoskanne mit frischem Tee, den ich eben gekocht habe.

«Das hier ist nicht irgendein Friedhof», sagt Oma. «Diesen solltest du besser kennen als alle anderen.»

Jade blickt sie skeptisch an.

«Fast alle, die hier liegen, haben etwas mit dir zu tun», erkläre ich.

Jade ist wie elektrisiert, auch wenn sie sich bemüht, es nicht zu zeigen.

 

In meiner Kindheit gab es keinen Verwandtenbesuch auf Föhr ohne einen Rundgang auf dem Friedhof von St. Laurentii. Auf den Grabsteinen kann man unsere Familiengeschichte über mehrere Jahrhunderte zurückverfolgen. Wir halten an der letzten Ruhestätte von Brar Riewerts, an dessen weißem Stein oben die Symbole Kreuz, Herz und Anker – für Glauben, Liebe, Hoffnung – prangen.

«Der heißt wie ich!», freut sich Jade.

«Kein Zufall, mien Deern. Wenn wir den ausbuddeln würden, wären Teile seiner DNA mit deiner und meiner identisch», erklärt ihr Oma.

Jade schaut mich an.

«Echt?»

Man nennt die Grabsteine auf diesem Friedhof die «sprechenden Grabsteine», es war hier Brauch, auf ihnen die Lebensgeschichte der Verstorbenen einzumeißeln. Die Inschrift auf dem Stein, den ich Jade zeige, kenne ich von unseren unzähligen Besuchen auswendig:

Brar Riewerts

An dem Fuße dieses Denkmals liegt das Verwesliche der beiden Eheleute Brar Riewerts und seine Frau Antje Ketelsen. Ersterer ist am 22. Juli 1768 in Oldsum geboren, 1791 in den Ehestand mit der 1771 geborenen Antje Ketelsen aus Süderende getreten. Er war vom 15. bis zum 40. Lebensjahre ein mit dem Glück des Herrn gesegneter Seefahrer und führte 15 Jahre lang verschiedene Schiffe als Kapitän nach Grönland und Westindien. Den Eheleuten wurden 4 Kinder geboren, wovon 2 im Alter von sieben und eines im Alter von neun starben. Nach seiner Zeit als Kapitän führte der Verstorbene strebsam seinen Hof in Oldsum, bis ihn der Todesbote am 5. Dezember 1849 im gesegneten Alter von 81 Jahren in die Ewigkeit mitnahm. Seine Frau Antje lebte im Witwenstand noch zwei Monate und drei Tage, bis sie ihm am 9. Februar folgte.

Auswärtige staunen immer, dass Föhr, schon lange bevor es diesen Begriff überhaupt gab, ein «Global Village» war. Die Seeleute fuhren von hier aus mit Schiffen um den ganzen Globus und brachten Geschichten, fremde Speisen und Getränke mit. Der typisch friesische Tee zum Beispiel stammt ja auch nicht vom Anbau auf dem Deich.

Jades Blick bleibt erschüttert an Brar und Antje Riewerts’ Grabstein haften. Sie schaut drein, als würde sie sich gut an die beiden erinnern. Es ist eines, in Frankfurt mit Freunden nach Betriebsschluss auf Friedhöfen herumzuhängen und düstere Musik zu hören, vielleicht Gedichte vorzulesen oder Briefe an die Toten zu verfassen. Etwas komplett anderes ist es, direkten Anschluss zu den Toten zu bekommen wie auf diesem Friedhof.

«Ich kann ihre Energie spüren», flüstert Jade.

«Das ist die Kraft der Riewerts!», sagt Oma und wendet sich an mich: «Was meinst du, Sönke, mein Lieber, sollen wir hier frühstücken oder drüben bei Matthias?»

«Bei Matthias ist immer mehr Stimmung», finde ich.

«Du hast recht, Sönke. Kommt, Kinder.»

So ganz sicher bin ich mir nicht, ob es nicht ein Sakrileg ist, auf einem Friedhof zu picknicken. Andererseits sind wir unseren Vorfahren auf diese Art wirklich sehr nah.

Also breiten wir die Picknickdecke vor dem Grab von Matthias Petersen aus, der aus Omas direkter Linie stammt. Oma hat Teller in Friesischblau dabei, selbst gekochte Marmelade, backfrische Brötchen und Krabben. Sie gießt den dampfenden Tee in große Pötte.

Sie freut sich, es ist genau der richtige Ort, um ihre Enkelin zu beeindrucken, Jade kann ihren Blick nicht von dem Grabstein vor uns lassen:

Matthias Petersen,

geb. in Oldsum den 24. Dec. 1632

gest. den 16. Sept. 1706.

Er war in der Schifffahrt nach Grönland

sehr kundig, wo er mit unglaublichem Erfolg

373 Wale

gefangen hat, sodaß er von da an

mit Zustimmung aller den Namen

«Der Glückliche»

annahm; und dessen Frau

Inge Mathiesen

geb. den 7. Oct. 1641

gest. 5. April 1727.

«Falls du dich bei Greenpeace bewerben willst, solltest du den besser verschweigen», frotzelt Oma.

Plötzlich muss sie gähnen.

Irgendetwas scheint ihr schlagartig alle Energie aus dem Körper zu ziehen. Ihre Lippen werden weiß, sie lässt sich rücklings auf die Picknickdecke fallen.

«Alles klar, Oma?», frage ich besorgt. «Oder soll ich einen Arzt holen?»

«Nein, nur einen Moment …», stöhnt sie und schiebt sich eine weiße Pille in den Mund.

Jade und ich schauen uns ratlos an.

«Ich habe uns nachher bei einem Malkurs angemeldet», raunt sie heiser, während sie die Augen geschlossen hält.