Ein Stück Himmel - Martin R. Dean - E-Book

Ein Stück Himmel E-Book

Martin R. Dean

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Beschreibung

Ein Unfall führt zwei Freunde nach Jahren wieder zusammen: den Arzt Florian Füssli und den Künstler Samuel Butt, der nach einem Sturz gelähmt ist. Florian will seinen Freund aufrichten und gleichzeitig die Gründe für ihre Entfremdung verstehen. Während Samuel zwischen Überschwang und Verzweiflung einen Sinn im Weiterleben sucht, quält sich der pflichtbewusste Florian mit Selbstvorwürfen. Beide umkreisen einander mit Fragen: Warum ist Samuel als Künstler gescheitert? Ist er das wirklich? Warum hat Florian kein Glück in der Liebe gefunden? Wie viel ist ein »halbes Leben« wert? Und was heißt das überhaupt? Wie geht man mit Verlusten um? Und was ist eigentlich damals in Rom passiert? Auf einer Reise nach Portugal bricht alles auf. Und der nächste Schritt kann Untergang bedeuten oder Erlösung. Ein Stück Himmel stellt existenzielle Fragen nach Freundschaft und Liebe, Leben und Tod, nach Nutzen und Grenzen der modernen Medizin - ein ebenso beklemmender wie leichtfüßig erzählter Roman mit einem verblüffenden Showdown.

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Martin R. Dean

Ein Stück Himmel

Roman

atlantis

Vulnerando sanamus.

Inschrift an der Alten Chirurgie Gießen

Das Leben ist nie ohne Einschränkungen.

Wolfgang Schäuble in: Die Zeit, 51/2019

Erster TeilSturz vom Apfelbaum

Als Florian sich in die Schlange vor der Passkontrolle im Flughafenterminal einreihte, brach vor ihm ein Mann zusammen. Eben noch hatte er ihn mit seiner Partnerin scherzen sehen, im nächsten Augenblick waren ihm die Knie weggesackt. Die Frau neben Florian, deren eingeknickte Körperhaltung ihn auf eine Hüftarthrose schließen ließ, stieß einen leisen Schrei aus und wich zurück. Wie alle anderen Leute auch. Sie bildeten einen Kreis. Der Gefallene gehörte nicht mehr zu ihnen, er war kein Reisender mehr. Ohne Vorwarnung war das hinter der Routine des Alltags lauernde Tödliche hervorgetreten. Jeder musste damit rechnen, dass er eine Krankheit in sich trug, die plötzlich ausbrechen konnte. Gesundheit war ein Ausnahmezustand. Florian kannte aus seiner gut zwanzigjährigen Tätigkeit als Arzt das Entsetzen, wenn diese andere Realität sich zeigte. Die Reaktionsmuster waren ihm bekannt: Panisch flüchteten sich die einen in Gleichgültigkeit, während die anderen zwischen Hilfslosigkeit und Abscheu schwankten.

Der Mann lag schon zehn, vielleicht zwanzig Sekunden am Boden. Von der Rolltreppe erklang das Weinen eines Kindes. Niemand rührte sich. War er tot? Mit einem Toten hatte keiner gerechnet. Niemand war bereit, sich jetzt, kurz vor Mittag, aufhalten zu lassen, jeder wollte so schnell wie möglich nach Hause. Die Partnerin des Mannes kniete am Boden, und Florian hörte ihr Flehen: »Max, sag doch was!« Nicht laut, sondern eindringlich, fast flüsternd. Die Frau war in Florians Alter, um die fünfzig, trug ein grau gesprenkeltes T-Shirt und Jeans; ihr Körper war untrainiert. Am Handgelenk baumelte ein Lederbändchen, wie man es auf Straßenmärkten kaufen kann, ein Urlaubssouvenir. Sie streichelte das Gesicht des Mannes.

Florian löste sich aus der Starre und eilte nach vorne. Er griff nach dem Handgelenk des Mannes und wusste sofort, dass es sich um einen Herz-Kreislauf-Stillstand handelte: Bewusstlosigkeit, Atemaussetzer, Zyanose. Der Mann lag gekrümmt in seitlicher Lage am Boden und war nicht ansprechbar. Sein Herz pumpte nicht mehr genug Blut in den Körper, der Kreislauf war zusammengebrochen, die Organe wurden nicht mehr mit Sauerstoff versorgt. Florian drehte den Mann auf den Rücken, prüfte, ob seine Atemwege frei waren, und kniete sich neben ihn. Indem er den Handballen im unteren Drittel des Brustbeins ansetzte und den Thorax mit achtzig bis hundert Komprimierungen pro Minute bearbeitete, wollte er sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen. Gleichzeitig bat er die Frau, mit der Mund-zu-Mund-Beatmung zu beginnen. Florians Hemd klebte nass auf der Haut. Er hörte eine ferne Kinderstimme singen, und das Pumpgeräusch verband sich mit dem Rattern eines Rollkoffers über Bodenschwellen. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Dauerte die Sauerstoffunterversorgung zu lange, waren Hirnschäden zu befürchten. Die Frau schwitzte und weinte, während sie Max beatmete.

Dann spürte Florian, wie die Atmung stockend wieder einsetzte. Das Bewusstsein des Mannes kehrte langsam zurück, er schlug die Augen auf. Florian kannte diesen ungläubigen Blick, wenn Menschen aus tiefer Abwesenheit ins Leben zurückkehrten. Nun traf auch der flughafeninterne Sanitätsdienst ein. Florian erhob sich. Jemand klatschte, und für einen Moment erfasste ihn ein Schwindel. Immer wenn er müde war, lösten sich die Geräusche von den Dingen. Er glaubte, das Scheppern des Lüftungsschachts stamme von einem Tablett voller Gläser. Benommen trat er zurück in die Schlange, als könnte er damit einen Realitätswechsel vollziehen, als träte der Alltag wieder in sein Recht.

Er hatte diesen Max vor dem Tod gerettet. Aber für wie lange? Vielleicht würde Max auf dem Nachhauseweg bei einem Verkehrsunfall sterben. Dann hatte ihm Florian nur einige Minuten geschenkt. Oder seine Partnerin würde erkranken und sterben, und der Rest seines Lebens stünde im Zeichen dieses Verlustes, vielleicht derart, dass er gar nicht mehr würde weiterleben wollen.

Florians Kniescheiben schmerzten. In der rechten Hüfte spürte er einen Stich wie von einem langen dünnen Messer und schloss die Augen. Wann war er zuletzt in einem Fitnesscenter gewesen? Die Geräusche um ihn herum verebbten, er hörte die Stimme des Muezzins in Sarajewo, wo er gerade vier Tage verbracht hatte.

Während er zusah, wie die Sanitäter Max in eine Nische des Terminals trugen, flohen seine Gedanken nach Sarajewo. Nach seinem Vortrag zum Thema »Schmerzmindernde Maßnahmen in der operativen Medizin« war er auf dem Heimweg in ein Museum gegangen, in dem die Gräueltaten von Srebrenica gezeigt wurden. Ein Bild hatte ihn ins Herz getroffen: Es zeigte zwei Hände über einem dunklen Acker. Eine Totenhand, die hilfesuchend nach der behandschuhten Hand eines Retters griff. In Wahrheit war es umgekehrt.

»Alles in Ordnung?«, fragte der Beamte an der Passkontrolle und musterte ihn.

»Alles in Ordnung«, sagte Florian, während der Blick des Beamten über seinen zerknitterten Anzug und sein gelbes verschwitztes Hemd glitt, gelb wie Azeton. Der Beamte gab ihm den Pass zurück, und Florian sah seine abgekauten Fingernägel.

Anschließend stand er erschöpft bei der Gepäckausgabe. Jenseits der Glaswand sah er die Abreisenden bei der Sicherheitskontrolle, gürtellose Wesen auf Socken, mit der einen Hand gequält den Hosenbund hochziehend, in der anderen die Schuhe, unterwegs zum Duty-free-Shop, wo sie eine kleine Belohnung erwartete.

Er schnappte sich seine Reisetasche und trat ins Freie, wo ihn die Hitze überraschte. Am Kiosk beim Ausgang fiel ihm die entblößte Schulter einer Frau auf, tiefe Sommerbräune. Er palpierte in Gedanken das Schulterblatt und spürte einen Anflug von Zärtlichkeit. Als sich die Schulter umdrehte, erblickte er das Gesicht einer Fremden. Er hatte sich von der Handbewegung täuschen lassen, mit der sie eine Wasserflasche aus dem Regal genommen hatte; sie hatte ihn an Yvonne erinnert.

Im Taxi erschienen am gegenüberliegenden Rheinufer die weißen Roche Tower, die beiden Protzbauten der Pharmaindustrie, Fassaden und Glasfront in gleißendem Sonnenschein. Alles hierzulande sah aus, als wäre es mit Photoshop nachgebessert worden. Dahinter kalte Verlustangst, der Geruch herzloser Sauberkeit. Er glaubte diesen Fassaden nicht, war nicht einverstanden mit dem soliden Chromstahl, dem matt schimmernden Asphalt, empfand eine widersinnige Sehnsucht nach kaputt geschossenen Häusern.

In der Mailbox waren die üblichen Werbemails der Pharmafirmen und der Dienstplan für nächste Woche. Sein Chef sandte Urlaubfotos vom Swimmingpool eines Luxushotels. Volle zwei Wochen hatte er sich freigenommen, um jetzt im weißen Morgenmantel wie ein Immobilienmakler in die Kamera zu lächeln. Für Florian sah er aus wie ein Burn-out-Opfer des über die Kliniken hereingebrochenen Rentabilitätsprinzips.

Eine pupillengroße haarige Spinne kroch über seinen Jackettärmel. Er schüttelte den Arm, sodass sie auf dem Hosenbein landete, wo sie sich weiter hinab zu seinen Socken bewegte. Florian krempelte die Hose hoch und erwischte die Spinne gerade noch, ehe sie seine Kniekehle erreichte.

Nun steckten sie im Stau. Es war Donnerstag, vielleicht auch Freitag Mitte Juni, früher Nachmittag. Er fröstelte, draußen herrschten gegen dreißig Grad. Hatte er Fieber? Nein, er fror vor Müdigkeit. Sein Freund Stefan Bircher fragte in einer Mail, wie der Vortrag angekommen sei. Man hatte ihm aufmerksam zugehört, und das Feedback war, wie man so sagte, »ermutigend« gewesen. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl gehabt, medizinisches Wissen sinnvoll weitergegeben zu haben. Aber dann hatte die Routine des Kongressbetriebs wieder alles zugedeckt.

Ein Kind auf einem Roller fuhr dicht am Taxi vorbei und ruckelte über ein Schlagloch. Die Passanten warfen Schatten auf das Pflaster, und hinter Florians Stirn sammelte sich tiefe Müdigkeit, er schaute auf die Uhr, deren Sekundenzeiger träge im Rund drehte. Der Fahrer fluchte leise. Es ging ein paar Meter vorwärts, und Florian sah ein Fitnesscenter, in dem Frauen und Männer sich auf dem Laufband abarbeiteten. Arme und Beine in maschinengleicher Rotation, Todesfürchtige. Der Impuls, sich bis zur Unverwundbarkeit zu stählen, hatte sich ins Herz der Gesellschaft gefressen. Aber ihr Traum war auch sein Traum: die Menschheit trotz zunehmender Zivilisationskrankheiten gesünder zu machen und das Leben zu verlängern.

Das Handy klingelte, und instinktiv glaubte er, Yvonnes Stimme zu hören, aber es war Sumitra, die Anästhesieassistentin.

»Kannst du kommen?«, fragte sie. »Wir haben hier einen akuten Notfall. Rückgratverletzung. Christian wäre dran, aber sein Bub ist mit dem Fahrrad gestürzt. Und die anderen Anästhesisten sind am Anschlag.«

»Ich bin so was von erledigt, Sumitra. Ich bin auf dem Weg vom Flughafen nach Hause. Mir tun alle Glieder weh.«

»Und Reto nimmt das Telefon nicht ab. So we need you!«

Sie lachte.

Er stellte sich die schmalgliedrige Inderin vor, wie sie mit dem Finger auf ihn zeigte. Sumitra hatte noch nie Anzeichen von Erschöpfung gezeigt.

»Ich habe fast zwei Tage nicht geschlafen«, murmelte er erschöpft. »Ich muss unter die Dusche!«

»Florian! Es ist wirklich dringend!«

Er nannte dem Taxifahrer die Adresse der Klinik und wollte sich die restliche Fahrzeit etwas Schlaf gönnen. Aber kaum hatte er den Kopf ins Polster der Rückenlehne gepresst, waren die Gespenster von Sarajewo wieder da. Hatte es die Schüsse wirklich gegeben, die ihn Nacht für Nacht aus dem Schlaf gerissen hatten? Drei Nächte derselbe Traum. Diese Stadt hatte ihn tief und tiefer sinken lassen, er war wie im freien Fall, wie vor drei Jahren, als Yvonne und er sich getrennt hatten, da hatte er monatelang nicht mehr durchschlafen können. Jetzt saß die Müdigkeit wie ein kalter Keil hinter seiner Stirn.

Er stellte seine Reisetasche in eine Ecke des Büros, streifte mit einem kurzen Blick das Foto von Yvonne auf dem Schreibtisch: Yvonne am Strand von Cagnes-sur-Mer, die Beine halb im Wasser und ein glückliches Lächeln im Gesicht. Drei Minuten später würde sie wütend ins Meer springen. Wegen eines Streits, dessen Grund er längst nicht mehr wusste, während das Bild der Frau, die sich voll bekleidet in die Wellen warf, in seinem Gedächtnis haften geblieben war.

Er nahm eine Packung Ritalin aus der Schublade.

Im Umkleideraum zog er sich aus und schlüpfte ins flaschengrüne Operationsgewand. Wie immer ließ er auf der Schwelle zum OP alles zurück, was ihn an die Welt draußen erinnerte. Er fühlte sich wacher, das Gewand gab ihm Sicherheit. Im OP war er nicht mehr Florian, der immer noch unter der Trennung von seiner Frau litt, sondern Dr. Füssli, der konzentriert an seinen Monitoren den Schlaf des Patienten überwachte. Florian brauchte Rituale, sie gaben ihm Halt, ein Gefühl von Dauer im rasenden Weltlauf, den als Fortschritt zu bezeichnen purer Euphemismus war. Selbst auf Reisen klammerte er sich an seine kleinen Alltagsrituale.

In keimfreier Kleidung und sterilen Gummischuhen, mit Haarhaube und Mundschutz betrat er den Schockraum. In seinem Arbeitsbereich als Anästhesist gab es grundsätzlich zwei Modi: Entweder verlief alles ruhig und routiniert, oder es kam zu Komplikationen, dann ging es sofort um Leben und Tod. Dass Letzteres der Fall sein könnte, spürte er sofort, als er das Gesicht von Noemi, der neuen Assistenzärztin, sah.

»Rückenmarksverletzung«, sagte sie. »Man hat ihm ein Korsett angezogen, er hat sich gewehrt. Man hat ihm gesagt, er solle sich nicht bewegen, das würde alles nur noch schlimmer machen. Aber der Patient ist renitent.«

Er warf einen Blick auf den Mann, blieb als Erstes an dessen markantem Kinn hängen und erschrak. Nicht nur das Kinn, auch der Rest des Gesichts gehörte jemandem, den er sehr gut kannte.

Samuel!

Sein Freund Samuel Butt, Sam, sein Jugendfreund, der auch sein Erwachsenenfreund war. Samuels langer Körper ragte um etliche Zentimeter über den Schragen hinaus.

Seit etwa drei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Auch Samuel hatte ihn erkannt, trotz seiner Berufskleidung. Aber nichts in seinem Blick ließ darauf schließen, dass er sich freute. Sam hatte sich kaum verändert, er war noch immer schlaksig, fast dürr. Aber etwas Neues war in seinem Gesicht lesbar, Härte, vielleicht Bitterkeit.

»Hallo, Sam«, sagte Florian. »Was ist passiert?«

»Ich bin vom Apfelbaum gefallen«, sagte Sam und verzog das Gesicht.

Das klang wie ein Witz. Als wären Apfelbäume klassische Unfallorte. Florian war sicher, dass Samuel diesen Apfelbaum erfunden hatte, so wie er immer geflunkert hatte, wenn ihm etwas unangenehm war.

Wenn er als Junge eine Verabredung vergaß, behauptete er gern, der Zug hätte Verspätung gehabt oder der Reifen seines Fahrrads wäre platt gewesen. Oder später, wenn man ihn nach seiner Arbeit fragte: Ein Windstoß hätte sein großes Tierbild im Atelier zerstört, dabei sah man auf den ersten Blick, dass er es selbst mit wütenden Strichen ruiniert hatte.

Florian leitete die Vorbereitungen für die Anästhesie ein. Gott sei Dank war Sam mit einem Spineboard und einem Beckengurt immobilisiert. Die grobneurologischen Untersuchungen waren unauffällig. Grichting, der Chefarzt, kam hinzu. Er studierte die Röntgenbilder und entschied in Florians Sinn, nämlich, auf der Stelle zu operieren. Grichting war der König unter den Chirurgen. Alle hatten Respekt vor ihm. Wortkarg und mit einem Ausdruck unerlöster Traurigkeit schnitt er die Körper auf und operierte so, wie Federer Tennis spielte: elegant, präzise und erfolgreich. Ein begnadeter Chirurg, ein Künstler.

»Wir sollten nicht zu lange warten«, sagte Noemi. »Er hat schon etliche Zeit dagelegen, bis man ihn gefunden hat.«

Grichting schaute fragend zu Florian.

»Zweiundfünfzig, vom Baum gestürzt und mit dem Gesäß direkt auf eine Wurzel«, sagte Noemi. »Zustand insgesamt gut, Kreislauf stabil.«

Samuels Körper wies außer einer leichten frontalen Rissquetschwunde keine weiteren Traumata auf. Trotz der Verletzung waren die Atemwege frei, die vesikulären Atemgeräusche beidseits normoton und normokard, Glasgow-Koma-Skala bei 15, Extremitäten intakt. Die gravierenden Verletzungen lagen im Bereich der Lendenwirbel, Fraktur LWK5. Grichting umkreiste mit seinem Montblanc-Füller wie mit einem Zauberstab die Stelle auf dem Röntgenbild.

»Wir sollten versuchen, die Wirbelsäule zu stabilisieren. Vielleicht ist der Wirbelsäulenkanal nicht betroffen.«

Samuel hatte seine Augen aufgerissen und bewegte bei jedem Wort Grichtings lautlos die Lippen, als wären es Verse eines Gedichtes, das er auswendig lernen musste. Florian sah, dass er litt. Wenn er gekonnt hätte, wäre er aufgestanden und hätte sich aus dem Staub gemacht. Wäre aus der Klinik geflohen, aus der Stadt, hinaus in die Welt, so wie er es immer schon gemacht hatte. Ein notorisch Flüchtender.

»Das kriegen wir wieder hin«, flüsterte Florian. »Ich gebe dir jetzt eine Narkose, bei der du gut träumen kannst, und steuere dich sicher wie ein Pilot durch die OP.«

Samuel Butt grinste wie ein Bub.

Nachdem Florian ihn in den Schlaf versetzt hatte, drehte man ihn vorsichtig in die Bauchlage und polsterte ihn aus. Der Operateur setzte den Bildverstärker auf Lendenwirbel LWK4 und 5 und auf Sakralwirbel SWK1, markierte und desinfizierte die abgedeckte Haut, was Florian immer an die Markierung von Rindern erinnerte.

Lag es an seiner Müdigkeit, dass er glaubte, man könne Sams Körper nicht verletzen? Als Grichtings Skalpell die Haut seines Freundes aufschnitt, musste er wegschauen. Florian spürte den Schnitt am eigenen Körper. »Indem wir verwunden, heilen wir.« Dieser Schnitt durchdrang die ganze Kultur. Und er wusste, dass jemanden verletzen hieß, ihn zu schädigen. Aber die Entwicklung der Medizin hatte ihn gelehrt, dass verletzen auch heilen bedeuten konnte. Als er wieder hinschaute, hatte das Blut Samuels Körper besudelt, seine dunkle seidenglatte Haut. Noemi stillte das Blut, während die Elektrokauterisation das Gewebe zerstörte. Es roch nach verbranntem Fleisch.

Florian bewunderte Grichting, der das Skalpell mit akribischer Genauigkeit führte; kein Zweifel verunsicherte seine Hand. Während die Bilder der Lendenwirbel auf dem Kontrollschirm aufschienen, brachte er mit leichtem Schwung, als bastelte er an einem Meccanobaukastenteil, die Schrauben an, mit denen die Wirbel stabilisiert wurden.

Danach verfiel Florian in einen Sekundenschlaf, in dem er Samuel aus einem See steigen sah. Sam schüttelte sich die nassen Haare aus dem Gesicht, hob den knochigen Ellbogen und zündete sich eine Zigarette an. Dann legte er sich neben Florian ins Gras und streckte seinen langen Körper aus. Dank diesem geschmeidigen Körper hatte man Samuel im Schulsport zunächst jenen Respekt gewährt, den man ihm, dem Eigenbrötler, sonst versagte. Beim Tanzen, wo er sich leicht und flüssig zu bewegen wusste, hatten ihn alle beneidet.

Mit einem leisen Seufzer, als wäre er traurig, trat Grichting nun einen Schritt zurück und prüfte, ob die Schrauben hielten. Alle im Team schienen aufzuatmen. Grichting legte noch zwei mit der entsprechenden Lordose versehene Stäbe und verband sie mit den Schrauben; damit würde der frakturierte Wirbel überbrückt und das gebrochene Rückgrat stabilisiert werden.

Florian konnte sich vor Müdigkeit kaum noch halten und musste ein paar Schritte machen.

In der Zwischenzeit wurde Samuel zugenäht, und man schob den Narkotisierten in den Aufwachraum. Dort würde ihn sein neues Leben erwarten. Welches von seinen Gliedern er nach der OP noch würde bewegen können, war nicht vorauszusehen.

In der Kantine holte sich Florian einen Espresso und studierte den Einlieferungsbericht. Man hatte Rippenfrakturen rechtsseitig festgestellt, dorsalseitig Costa 11 und 12.

Samuel konnte klettern, er war körperlich gewandt. Florian kannte seine Fähigkeiten seit der Schulzeit, als sie zusammen Fußball gespielt hatten. Vom Apfelbaum gefallen?

Vier Pflegerinnen, die sich zum Nachtdienst einfanden, ließen sich wie eine gurrende Taubenschar am Nebentisch nieder. Der Geruch von starkem Kaffee versetzte Florian zurück in seine Jugend. Neben ihm am Küchentisch saß Gerda Butt, Samuels Mutter, eine resolute Frau mit Bürstenhaarschnitt. Sie zog an einer griechischen Zigarette mit schmalem Mundstück, trank schwarzen Kaffee und redete über Politik, aber ganz anders als Florians erzkonservativer Vater. Gerda empörte sich über die Kernkraftwerke, deren radioaktives Abfallmaterial noch immer kein Endlager gefunden hatte und bestimmt auch nie eines finden werde. Sie erzählte von den Anti-AKW-Märschen, die diesen Unsinn stoppen würden. Gerdas Engagement hatte ihm imponiert. Wie auch sonst alles. Bei den Butts war nämlich alles anders als bei den Füsslis, die Butts hatten ein offenes Haus und die halbe Welt kam zu Besuch, darunter auch berühmte Jazzgrößen. Künstler griffen mit farbbefleckten Fingern gierig nach den Nuss- und Birnentorten, die Gerda buk, und ein Lyriker trug nach Mitternacht, wenn alle genug getrunken hatten, mit Pathos seine Gedichte vor. Gerda hatte in einem Künstlerhaus gearbeitet und dort viele Freunde gefunden. Nach der Schule war Florian gern zu dem Häuschen am Stadtrand gefahren, um mit Samuel und den Künstlern und Musikern abzuhängen. Nur widerwillig schwang er sich spätabends aufs Rad, denn erst dann begannen die Jam-Sessions. Meistens fuhr er wütend bergauf zur Füssli-Villa.

Als er älter wurde, mischte er sich in die Küchendiskussionen ein. Und Gerda nahm ihn ernst und diskutierte mit ihm wie mit einem Erwachsenen. Bald gab sie ihm den Übernamen »der Philosoph«. Er empfand es als Auszeichnung. Gerda verstand etwas von Politik und war belesen. Ihr Mann, ein Komponist, war vor Jahren auf einer vereisten Straße mit dem Auto ins Schleudern gekommen, in eine Mauer geprallt und gestorben. Samuel war das Ergebnis einer flüchtigen Begegnung mit einem Fremden, über den sie sich ausschwieg.

Noch heute erinnerte sich Florian an jedes einzelne Detail in dem Häuschen. Dort gab es keine Geschirrspülmaschine, und trotzdem standen die Teller und Tassen sauber auf der Ablage. Es gab keinen Fernseher, und trotzdem war Gerda immer informiert. Was sie kochte, schmeckte viel besser als das, was bei den Füsslis auf den Tisch kam. Spaghetti, griechische Gerichte wie Moussaka, Fisch und Brot mit Oliven. Wenn keine Gäste da waren, saß Gerda nachts über ihren Heften, die sie mit Bleistift vollkritzelte. Sie schrieb an einem Theaterstück, und das schon ihr halbes Leben. Einmal im Monat übernachtete sie außer Haus, um die Jungs am Morgen mit duftenden Brötchen aufzuwecken.

Als Sam und er einmal von einer Fete betrunken zurückkehrten und er sich auf den Teppich übergab, holte ihn seine Mutter, Frau Dr. Füssli, im Cabriolet ab und überreichte Gerda eine Schachtel Luxemburgerli, die diese umgehend in den Mülleimer warf. Florians Mutter Hanna war unterkühlt und tat immer ein wenig vornehm. Sie fasste ihn nie an und wich Berührungen aus. Er konnte sich an keine einzige Umarmung erinnern. Selbst als er krank im Bett gelegen und sich erbrochen hatte, hatte sie ihm nicht die Hand auf die Stirn gelegt, sondern seinen Vater gerufen, der ihn verarzten musste. Gewundert hatte er sich darüber erst, als er sah, wie Gerda mit Sam umging.

Manchmal kamen auch Mädchen ins Häuschen am Stadtrand, Nichten von Gerda, Töchter ihrer Freundinnen. Und Gerda hatte viele Freundinnen. Die Mädchen saßen am Küchentisch und schäkerten mit Sam.

Eines Abends saß auch Alma am Tisch, eine etwas hochnäsige Schülerin aus der Parallelklasse, deren Lachen Florian verzauberte, trotz der Doppelreihe Kupferdraht auf ihren Zähnen. Florian redete und redete, bilderreich, symbolisch verklausuliert, ein verbaler Strauß Trockenblumen für die Unnahbare. Offen hätte er ihr seine Gefühle nicht zeigen können. Sobald Alma ihn anschaute, setzte eine Art inneres Zittern ein, ein kaltes Fieber. Und Almas zartes, von schwarzen Haaren gerahmtes Gesicht strahlte ihm ein unabänderliches »noli me tangere« entgegen, das seine Hemmungen vervielfachte. So lautete die Verhinderungsdiagnose seiner Jugend auf pudor extremis, eine in entscheidenden Augenblicken prompt einsetzende Lähmung, Selbstzerknirschung vor jeder Tat, verbunden mit Schweißausbrüchen und einem Gefühl, als säße er hinter Glas.

Ganz anders Sam, der auflebte, sobald ein weibliches Wesen den Raum betrat. Er hätte Sam abschauen können, wie er Mädchen mit wenigen Sätzen um den Finger wickelte und mit selbstverständlichen Gesten beeindruckte. Wie er einen melancholischen Gesichtsausdruck aufsetzte, damit sie sich um ihn sorgten. Wie unbefangen er körperliche Nähe herstellte.

Florian trank seinen Espresso aus und ging in sein Büro, vorbei an den Zimmern der Kranken, die mit Schlafmitteln stillgestellt worden waren. Er sehnte sich nach einem Schimmer hellen Tageslichts und starrte aus dem Fenster. Draußen auf dem Parkplatz sah er Schatten tanzen, aber es war nur der im Wind schwankende Ast der großen Linde.

Er fragte Sumitra nach Samuel Butts Utensilien. Es gab nichts außer einem Rucksack, dessen Inhalt bereits inventarisiert worden war. Der Rucksack, den Sam schon seit Ewigkeiten hatte: ein altertümliches Teil aus hellbraunem Sacktuch mit dünnen Lederriemen, außen drei kleine Taschen, die man zuschnallen musste. Bleischwer, selbst wenn er leer war. In einer Seitentasche steckten eine Zahnbürste, eine ausgequetschte Zahnpastatube und ein italienisches Wörterbuch in Miniformat. Zusammengeknüllte Unterwäsche. Eine Regenjacke und ein halbes Dutzend dicker schwarzer Hefte mit Zeichnungen. Florian blätterte in einem: Gesichter und menschliche Gestalten, mit leichter Hand hingeworfene, mit Kohlenstift skizzierte Körper.

Vom Rucksack ging ein starker Geruch aus, als wäre Sam jahrelang unterwegs gewesen. In einer Außentasche steckte der rote Schweizer Pass, abgegriffen und zerkratzt. Das Bild zeigte Sam, wie er vor zehn Jahren ausgesehen hatte: langes Pferdegesicht mit großen Augen, weltfremder Blick, struppige lange Haare und ein trotzig aufgeworfener Mund.

Drei Jahre hatten sie sich nicht mehr gesehen. Sam war nach Rom gegangen, und Florian und Yvonne hatten sich getrennt. Der eine Verlust hatte den anderen verdeckt, deswegen hatte er Samuels Verschwinden gar nicht wirklich bemerkt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie sich noch recht regelmäßig gesehen, hatten Ausflüge gemacht, auch mal kurze Reisen nach Paris oder Mailand, waren im See schwimmen gegangen. Sie hatten dieselben Landschaften, dieselben Künstler und dieselbe Musik gemocht. Leider zuweilen auch dieselben Mädchen. Sie gaben sich Bücher und diskutierten darüber. Vor drei Jahren aber hatte Sam die Freundschaft wie ein Kerzenlicht ausgehen lassen. Aus Rom war kein Anruf mehr gekommen, und Florian, im Karrierestress und in der Ehekrise, war zu beschäftigt gewesen, um nachzuhaken.

Florian sah noch den Nierentisch im orangen Lichtschein der Bar an ihrem letzten gemeinsamen Abend. Sie waren zu viert, und das Eis schmolz in den Gläsern. Sam saß neben der zehn Jahre jüngeren Christine, die sich an seiner Schulter vom Tanzen ausruhte. Christine war die letzte seiner Eroberungen gewesen. Oft waren Yvonne und er mit den beiden unterwegs gewesen, in einem schwankenden Gleichgewicht, waren ins Kino gegangen oder essen und danach tanzen. Und er hatte geglaubt, das Glück währe ewig.

Stetigkeit kannte der Künstler Butt nur in der Arbeit. Ansonsten gehörte das Kommen und Gehen wie seine schlaksige Gestalt mit den hängenden Schultern und der ausgetragenen Jacke zu seinen Charakteristika. Gern hockte er in Kneipen mit anderen Tunichtguten, die den ganzen Abend palaverten und austeilten und dann kurz vor Schluss noch ein Bier bestellten, obwohl sie längst genug intus hatten. Männer, die die Hälfte ihres Lebens mit Abbrüchen, Abstürzen und Fluchten verbracht, die eine Familie verlassen hatten und in wechselnden Bekanntenkreisen verkehrten. Da war er dabei, ohne je wirklich dazuzugehören. Er versteckte sich bei diesen Leuten. Und dann verschwand er einfach von der Bildfläche und tauchte Wochen später ohne Ankündigung wieder auf. Wenn Florian ihn fragte, wo er gewesen sei, zuckte er bloß mit den Schultern. Oder er setzte sich hin, drehte eine Zigarette, sagte »Marokko« oder »Spanien« und bekam einen weiten Blick.

Florian betrachtete den Rucksack: Sams Ansprüche ans Leben waren immer bescheiden gewesen, außer wenn es um seine Freiheit ging. Die Freiheit, die konnte ihm nie grenzenlos genug sein.

Aber da war noch etwas anderes. Der bittere Geschmack von Pech. Zu den Fehleinschätzungen und Missgeschicken, die Samuel immer wieder unterlaufen waren, hatte sich nun ein Unfall gesellt. Und Sam schien allein zu sein, niemand hatte sich seit der Einlieferung gemeldet. Florian fragte sich, was passiert war. Wie viel Blödsinn musste man in einem Land wie der Schweiz anstellen, um seinen Besitz auf das Volumen eines Rucksacks zu reduzieren?

Aber Sam war kein Opfer, dafür war er viel zu eigensinnig. Florian hatte ihn immer als Solitär gesehen, auf dem Rücken eines Gletschers hergetragen. Wäre er ein Tier gewesen, dann eine Giraffe, die allein über Weideland trabte.

Sumitra holte ihn aus seinen Gedanken.

»Gerade ist Harry eingeliefert worden. Er liegt auf der IPS und …«

Sumitra ließ den Satz in der Luft hängen.

Florian wusste nicht, wer Harry war. Vielleicht der Gynäkologe, der ihm unlängst unangenehm aufgefallen war?

»Schweres Schädel-Hirn-Trauma.«

Florian schluckte, seine Ohren waren seit der Landung noch immer verschlossen.

»Ist das der Sportfanatiker? Rötliche Haare, und jeden Tag vor dem Dienst eine Stunde Mountainbike?«

»Ja, Harry Merz. Er hatte einen schweren Motorradunfall. Hirntot«, sagte Sumitra.

Was hieß, dass seine Organe noch lebten und zur Rettung eines anderen Patienten infrage kamen, falls Merz sie für die Transplantation freigegeben hatte. Jetzt fiel es Florian ein: Merz war ein junger Gastroenterologe, der sich durch einen rüden Umgangston mit dem Personal auszeichnete.

»Er will seine Organe spenden! Wir sollten die Entnahme sofort machen.«

»Ohne mich«, wehrte Florian ab. Es war kein guter Zeitpunkt für eine Transplantation, weil die personelle Decke jetzt dünn war.

»Nur noch diese eine Sache, Flo«, bettelte Sumitra. »Sonst ist niemand da. Uwe wäre bereit. Er sagt, ich müsse nur noch dich überzeugen. Es war Harrys letzter Wille, seine Organe zu spenden. ›Organe in bestem Zustand‹, hat er gesagt. Darauf kam es ihm wohl an.«

Sumitra lächelte.

Florian kannte Sumitras Umsicht, sie hatte sichergestellt, dass alle anderen bereits versammelt waren. Kein geringes organisatorisches Unterfangen, deswegen würde sie auch nicht aufgeben. Auf dem Weg in den OP erzählte sie, dass sich Harry eine Aufsichtsbeschwerde wegen überrissener Versprechungen eingehandelt hatte, die er einer Patientin mit schweren Funktionsstörungen gemacht hatte.

»Statt auf den hippokratischen Eid hat er wohl aufs Bankkonto geschworen«, sagte Florian.

Sie erreichten den OP, wo der Tote bereits auf sie wartete. Das Team nickte Florian zu. In seinen Ohren knisterte es, der Müdigkeitsschmerz hinter seiner Stirn glühte jetzt stecknadelgroß. Er betrachtete den daliegenden Körper und hatte das Gefühl, dass dieser zitterte, eine Folge seiner Erschöpfung. Er legte den Katheter und starrte auf den Bildschirm. Die Linien und Diagramme machten ihn noch schläfriger. Wie viel hätte er darum gegeben, sich kurz hinlegen und wegdösen zu können! Der Schlafmangel setzte seine professionelle Kontrolle herab, und er spürte, dass er emotional wurde. Das hier war Harry, Harry Merz, nicht sein Freund Samuel Butt. Das hier war tote Materie, ein Gestorbener. Die Amygdala, die Königin der aufgeblasenen Gefühle, bestieg ihren Thron, um ihn zu verwirren.

»Die Organe sind tatsächlich in gutem Zustand«, sagte Sumitra.

Harrys Gesicht war noch nicht abgedeckt, sein Brustkasten hob und senkte sich sacht.

»Das Nierenteam aus Berlin ist unterwegs«, sagte Sumitra. »Das Herz geht nach Saloniki, die in Budapest wollen die Kniegelenke.«

»Weiß Eurotransplant Bescheid?«, fragte er.

»Bereits seit der Einlieferung.«

»Und der Hirntod?«, fragte er mit Blick auf Harrys rosige Gesichtshaut.

»Zweifelsfrei«, sagte Sumitra.

Uwe, der Leiter des Teams, und sein Assistent Tobias nickten. Hirntod war kein medizinischer Fakt, sondern eine Übereinkunft, die man benötigte, um die Organe in brauchbarem Zustand zu entnehmen.

Uwe zog Luft ein. Wie in einem Restaurant vor dem Eintreffen der Gäste lagen die Instrumente bereit. Er bedeckte Harrys Gesicht mit einem Tuch, und Tobias murmelte, er hoffe, dass man sich diesmal besser mit den Griechen verständigen könne.

Wie spät war es eigentlich? Florian war, als sei er schon seit Ewigkeiten wach. Die Zeit staute sich, die Griechen waren im Anflug, das Rotorenflappern des Helikopters über den Dächern war bereits zu hören.

Warum saß Sam mit seinen zweiundfünfzig Jahren auf einem Apfelbaum? Was hatte er dort zu suchen?

Uwes Messer zeichnete eine feine Spur in Harrys Haut. Er vollzog den Kocher-Kragenschnitt, einen kranial-konkaven Querschnitt in den Hautspaltlinien der Halsvorderseite oberhalb der Jochgrube, zwischen den Kopfnickerwülsten in Höhe des Ringknorpels.

Uwe liebte es, mit wenigen langen, glatten Schnitten die Brust aufzuschneiden, nach der Vorgabe von Virchow, der sich selbst einen Anhänger der großen Schnitte genannt hatte. Nur mit großen Schnittflächen, so pflegte Uwe Virchow zu zitieren, könne man das Körperinnere präzis öffnen, wogegen kurze und feine Schnitte zu einer Technik gehörten, die noch aus den anatomischen Theatern und den Präpariersälen stamme. Dort habe übrigens der junge Virchow gelernt, sein Messer wie eine Schreibfeder zu fassen. Im Obduktionssaal, wo die Zeit dünner sei, müsse eine andere Messerführung her.