Warum wir zusammen sind - Martin R. Dean - E-Book

Warum wir zusammen sind E-Book

Martin R. Dean

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Beschreibung

Irma und Marc feiern ihren zwanzigsten Hochzeitstag, als sie erfahren, dass ihr gemeinsamer Sohn mit Irmas bester Freundin ein Verhältnis hat. Das bleibt nicht ohne Folgen für ihre Ehe, auch deshalb, weil Marc ein Geheimnis mit sich herumträgt, das nun noch schwerer wiegt. Als er mit seinem kleinen Architekturbüro auch beruflich in die Krise gerät und sich Irma weigert, ihm finanziell auszuhelfen, kommt es zum Bruch, und Marc flüchtet. Aber wovor, wohin? Und welchen Ausweg sucht Irma?Auch die anderen Paare in ihrem Freundeskreis tanzen auf Messers Schneide. Was hält sie zusammen? Liebe, Gewohnheit, Konkurrenz oder gar Feindschaft? Vor vielen Jahren haben sie alle beschlossen, in einem alten Hotel am Stadtrand ein Versuchslabor für die Zukunft einzurichten. Aber an die Zukunft will keiner mehr glauben, wo sich in der großen Welt alle Sicherheiten aufzulösen scheinen. Auch deshalb sucht jede und jeder für sich nach einer Antwort auf die Frage: Warum sind wir zusammen? Und mit wem?

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© 2019 Jung und Jung, Salzburg und WienAlle Rechte, einschließlich der Vervielfältigung, Veröffentlichung,Bearbeitung und Übersetzung, bleiben vorbehaltenUmschlagbild: © Nicolas Balcazar/EyeEmUmschlaggestaltung: BoutiqueBrutal.comeISBN 978-3-99027-167-4

MARTIN R. DEAN

Warum wirzusammen sind

Roman

Für Silvie

Die Ehe ist der Repräsentant des Lebens,mit dem du dich auseinandersetzen sollst.

Franz Kafka

Inhalt

Teil I: 1999

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Teil II: 2010 UND 2011

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Teil III: 2016

Kapitel 1

I

1999

1

Wie eine große Träne, die aus dem Winterhimmel gefallen war, lag die Kunsteisbahn vor ihr. Es war der letzte Tag des Jahres. Als Irma eintraf, zogen gerade noch einige Jugendliche ihre Runden, während die Eisreinigungsmaschine am Rand des Feldes bereits wartete. Nur noch wenige Stunden trennte sie vom nächsten Jahrtausend. Seit Wochen waren die Zeitungen voll von Weltuntergangsängsten, verbreitet von Sektenanhängern im Schwarzwald und neurotischen Durchschnittsbürgern, von all den Bangen, Verzagten, Aufgeregten und Paranoikern, die sich Erlösung erhofften. Auch Geschäftemacher witterten ihre Stunde und boten Kreuze aus Plexiglas feil, Leuchtreklamen gegen die Angst vor der Apokalypse, und gerne wurde die Bibel zitiert: »Und da geschah ein großes Erdbeben, und die Sonne wurde finster wie ein schwarzer Sack, und der ganze Mond wurde wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde.«

Die Spekulanten, Banker und Börsianer fürchteten sich dagegen vor dem weltweiten Ausfall der Computer. Auch Irmas Freundin Bea, die bei einem Lokalsender arbeitete, sagte einen Zusammenbruch der Kommunikationsnetze voraus, was Marc für unwahrscheinlich hielt. Die Nachbarn horteten Vorräte an stillem Wasser und Benzin, weil für den Tag danach ein Zusammenbruch der Wasser- und Treibstoffversorgung vorausgesagt wurde. Hochschwangere gingen die Treppen rauf und runter, um ein Millenniumskind zu gebären.

Irma war allein. Sie bereute es, Marc nicht in seinem Büro abgeholt zu haben, denn er war noch immer nicht da. Es war nicht das erste Mal, dass sie auf ihn wartete. Sie setzte sich auf die Bande der Eisbahn und schaute der ruhig kreisenden Maschine zu. Welche Entschuldigung er wohl diesmal hatte? Sie ärgerte sich, aber sie wollte ihm keine Vorhaltungen machen, nicht hier und vor den Freunden, die bald eintreffen würden. Sie schnallte sich die Schlittschuhe um und glitt mit einem leichten Beinschwung aufs Eis. Wenn das Vorankommen doch immer so mühelos wäre! Aber hatte sie bis jetzt nicht die richtigen Entscheidungen getroffen? Den schüchternen Architekturstudenten Marc geheiratet, ein Kind bekommen, ihre Karriere als Romanistin an der Uni abgebrochen, um Übersetzerin zu werden. Und richtig war auch gewesen, dass sie sich die Idee zu dieser besonderen Silvesterfeier von Alice nicht hatte ausreden lassen.

In diesem Augenblick tauchte Matti, ihr achtjähriger Sohn, an der Hand seiner Großmutter am Rand des Eisfeldes auf und rief nach ihr.

2

Gerade als Marc das Büro hatte abschließen wollen, war sein Computer abgestürzt, noch bevor er das dringend notwendige Back-up hatte durchführen können. Auf einmal war der Bildschirm eingefroren, und die Daten stürzten lautlos in den Orkus, die Pläne für das neue Altersheim ebenso wie seine Notizen für die Mensa des Schulhauses. Seine Mitarbeiter Tim und Gaby waren herbeigeeilt, und zu dritt standen sie in stiller Trauer vor dem Apparat, der Zeichengerät, Schreibmaschine, Ersatzgedächtnis und Kommunikationszentrum in einem war und den großen Knall nicht mehr erleben würde. Auch die letzten, noch nicht abgesandten Mails mit den besten Wünschen an seine Kunden waren für immer weg. Hilflos harrten die zwei Angestellten von Baumann & Partner, Architektur und Design mit ihrem Chef vor dem toten Fenster aus. Und Marc war schon eine halbe Stunde verspätet.

In dem Augenblick, als sich alle vornahmen, kein dummes Wort zu sagen, schneite Urs herein. Sein Kollege aus Studienjahren tauchte immer zur falschen Zeit auf. Obwohl Urs nicht zum »harten Kern« gehörte, um einen Ausdruck von Alice zu zitieren, hatte Marc ihn auch zur Silvesterfeier eingeladen. Er wollte sich nicht vorwerfen, ausgerechnet Urs im alten Jahrhundert zurückgelassen zu haben.

Marc warf einen Blick auf die Uhr. Nun war bestimmt auch Matti mit seiner Mutter Rosa auf der Eisbahn eingetroffen; das würde Irma milde stimmen.

Stört es euch wirklich nicht, wenn Brigitta dabei ist?

Marc schüttelte den Kopf und sah, wie unsicher Urs war. Nicht nur, ob seine Freundin zu dem Freundeskreis passte, sondern auch, ob sie für ihn überhaupt die Richtige war.

Dann bin ich froh, sagte Urs, ich hoffe, sie fühlt sich wohl.

Marc verabschiedete sich von seinen beiden Mitarbeitern und schwang sich aufs Rad, während Urs mit dem Auto fuhr. Er war fast eine Stunde zu spät und trat mit furchtbar schlechtem Gewissen in die Pedale. Er freute sich auf das Fest. Auf die widerborstige Alice und ihren stummen Ehemann Fred, die mit ihren Telefonaten und ihrer Kochkunst den Freundeskreis zusammenhielten. Auf Bea und Finn, der bestimmt einige Songs von Bob Dylan mitgebracht hatte, auf Evelyne, Irmas beste Freundin, natürlich auch auf Axel, den Starchirurgen, und die beiden, die mit einer großzügigen Spende wieder einmal das Catering bezahlt hatten, auf Annette und Anatol Vogel. Ob Mila sich mit Moritz aufs Eis wagen würden, das war nicht sicher. Bestimmt aber zog Irma schon ihre Runden.

3

Irma liebte diese Stunde zwischen Tag und Nacht, in der von den Dingen ein geheimnisvolles Licht ausging. Matti war nach zwei Runden auf dem Eis mit der Schwiegermutter nach Hause gegangen, und in der Zwischenzeit war Evelyne eingetroffen. Im Eisprinzessinnenkleid stand sie neben ihr, die sich in ihrem eleganten Hosenanzug gerade etwas steif vorkam. Sie war es gewöhnt, dass die kokette Evelyne sie ausstach. Marc hatte einmal gesagt, dass man ihre Sinnlichkeit entdecken musste, während Evelyne die ihre verschwenderisch verströmte.

Bei den Vogels ist Feuer unterm Dach, sagte Evelyne und zündete sich eine Zigarette an. Vergnügt blies sie Wölkchen in die kalte Luft. Annette hat rausgekriegt, dass Anatol ein Verhältnis mit dem kroatischen Hausmädchen hat.

Kaum zu glauben, sagte Irma.

Manchmal ist er einfach am Nachmittag mit ihr im Schlafzimmer verschwunden, wenn Annette nicht da war.

Und wie hat Annette reagiert?

Annette hätte sich am liebsten in ihrem Atelier eingeschlossen und einfach weitergemalt. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Anatol fremdgeht.

Die Frau ist mir ein Rätsel, sagte Irma.

Ich glaube, jetzt ist ihr doch der Kragen geplatzt. Aber es wäre schade, wenn sie heute Abend nicht dabei wären. Haben sonst alle zugesagt?

Finn kommt, sagte Irma. Mit Bea. Sie wusste, dass Evelyne einmal in den hageren Finn verliebt war, der seit Jahren an einer Dylan-Biografie arbeitete. Wahrscheinlich stieg ihr Puls noch immer, wenn sie ihn traf.

Und Axel bringt seine neue Flamme mit, ergänzte Irma.

Axel lässt nichts anbrennen, lachte Evelyne.

Selbst Moritz und Mila sind mit von der Partie.

Ich frage mich, ob bei denen immer noch alles so harmonisch ist, sagte Evelyne. Wenn’s da mal kracht, möchte ich nicht dabei sein. Neulich habe ich Mila mit einem anderen Mann in einem Restaurant gesehen.

Alice und Fred haben zugesagt, fuhr Irma fort, ohne die Kinder.

Irma war froh um Alices Hilfe. Die Therapeutin hatte die Organisation dieses Abends übernommen, nachdem sie erste Anzeichen von Überforderung bei Irma entdeckt hatte. Alice hatte immer alles im Griff, nur an Fred, der als Medientheoretiker tätig war, hatte sie sich die Zähne ausgebissen; der ließ sich nicht so einfach aus seiner Zurückhaltung locken.

Irma und Evelyne stießen an.

Auf dein Übersetzerdiplom, sagte Evelyne.

Auf dein Shiatsudiplom, sagte Irma. Hoffentlich werden wir auch von diesen Brötchen satt.

Du wirst es schon schaffen, glaub mir. Spezialisiere dich auf lebende Autoren, die sind interessanter als die toten.

Evelyne zog Irma an sich und umarmte sie, einer ihrer Gefühlsausbrüche.

Sie kannten einander seit Urzeiten. In den letzten Monaten hatte sich Evelyne etwas von ihr entfernt, ihr Leben war ins Schlingern gekommen. Sie hatte sich gleich mehrere Liebhaber gehalten, aber eines Tages, – Irma hatte es zwar vorausgesehen, aber nicht verhindern können, – hatte sie einen Zusammenbruch. Annette hatte sich um sie gekümmert, Anatol hatte ihr einen Unterschlupf in seiner Villa auf dem Hügel angeboten. Mit großem Aufwand hatte er ihr ein Zimmer eingerichtet. Evelyne hatte sich wie ein Kind in die Obhut des Ehepaars begeben. Marc war die Sache nicht geheuer gewesen. Schließlich hatte Irma mit Annette geredet, worauf Evelyne wieder in ihre alte Zweizimmerwohnung gezogen war.

Nun drängte Evelyne aufs Eis. Sie drehte gekonnt ihre Runden, bis Finn, der gerade gekommen war, zu ihr aufschloss. Irma zerbrach ein Sektglas. Sie war wütend auf Marc, der sich noch immer nicht hatte blicken lassen.

4

Marc hatte Irma vom Absturz des Computers erzählt und sie leidlich versöhnen können. Nun stand er mit Bea an der Bande und staunte über Evelynes eisläuferisches Können. Sie fuhr rückwärts, plauderte mit Finn, als sie auf einmal stolperte und fiel. Noch im Sturz fing Finn sie geistesgegenwärtig auf und hielt sie unter den Armen.

Er hat die Kraft eines Ziegenbocks, sagte Bea.

Finn trug ein Westernkostüm: weißes Hemd mit Weste, ein dick gefüttertes Jackett und einen Hut, der zu seinem Spitzbart passte, dazu beinenge Jeans. Er und die Eisprinzessin wirkten wie Figuren aus einem Fantasyfilm. Finn hielt Evelyne eng umfangen, während sie ihre Arme um seinen Hals wand, was von weitem aussah, als würden sie einander küssen. Eine harmlose Szene unter Freunden, und doch, das musste Marc zugeben, dauerte die Umarmung etwas zu lang.

Scheiße, was macht er da?, rief Bea plötzlich, und Marc sah ihr erschrockenes Gesicht. Bea hatte die Fassung verloren und Tränen liefen ihr über die Wangen. Finn hielt die verführerische Evelyne um die Hüften und zog sie an sich.

Scheißkerl, flüsterte Bea und wandte sich ab.

Die beiden da draußen haben’s gut, sagte Axel, der gerade gekommen war, und legte seinen Arm um Bea, die ihn wegschubste. Axel war der einzige in der Gruppe, der alle Frauen bei der Begrüßung umarmen musste.

Marc begab sich aufs Eis und schloss zu Evelyne und Finn auf. Finn verlangsamte seine Fahrt, löste sich von Evelyne, diese fuhr mit gerecktem Kinn allein weiter. Marc flüsterte Finn etwas ins Ohr, worauf dieser zur Bande zurückkehrte.

Danach saßen Bea und Finn abseits und rauchten, Bea hatte geweint. Wie viele Jahre hatte sie gebraucht, bis sie von der Seestadt zu Finn in die Rheinstadt gezogen war? Wie lange hatte sie Finn hingehalten, war schließlich in eine eigene Wohnung übersiedelt, wo sie nochmals zwei Jahre zugewartet hatte, bevor sie endlich mit ihm zusammengezogen war? In all der Zeit hatte Finn beharrlich um sie geworben. Doch in dem Augenblick, als ihre Zahnbürsten endlich im selben Becher standen, hatten sich die Rollen verkehrt. Nun war sie es, die mehr Liebe wollte.

Ona kommt in einer Viertelstunde, sagte Axel zu Marc. Er wirkte, wie meistens, ziemlich zufrieden mit sich. Seine dunkle Hornbrille flößte Vertrauen ein, er hätte auch Privatbanker sein können.

In drei Stunden geht die Welt unter, rief er gut gelaunt; als Norddeutscher verfügte er über einen wetterfesten Optimismus.

Wir hatten mit Julia gerechnet, sagte Marc.

Julia und ich sind in Scheidung, sie wollte nicht kommen. Ich hätte es mir auch nicht erlaubt, sie und Ona einzuladen. Ona ist eine außergewöhnliche Frau, sie arbeitet übrigens bei uns in der Klinik, als Anästhesistin.

Wie viel jünger als du?

Ich mache nicht noch mal denselben Fehler, Marc. Ona ist so alt wie ich. Geschieden und amerikanische Staatsbürgerin. Sie hat zwei Söhne in den Staaten.

Marcs suchender Blick entdeckte Irma draußen auf dem Eisfeld. Warum nahm sie seine kleine Verspätung so schwer? Er erkannte an ihrer leicht stockenden Bewegung, dass sie seine Blicke auf sich gespürt hatte, doch ließ sie sich nichts anmerken. Entschlossen begab er sich erneut aufs Eis. Das Flutlicht war angegangen und tauchte den Winterhimmel in tiefes Nachtblau, die kahlen Bäume bildeten eine scherenschnittartige Kulisse, und das Eisfeld verwandelte sich in einen glitzernden Spiegel. Irmas Haare flogen im Wind, langsam fuhr er ihr entgegen. Sie entfernte sich, als hätte sie ihn noch immer nicht bemerkt, und das ärgerte ihn, als wär’s ein böses Omen. Mutlos gedachte er umzukehren, als ihm der Betreiber der Eisbahn zu Hilfe kam und den ersten Song von der Playlist spielte, die sie gemeinsam zusammengestellt hatten. Es war nicht Dylans »Blowin’ in the Wind«, das sich Finn gewünscht hatte, auch nicht »Der Kommissar« von Falco für Axel, noch Marcs Favorit Lucio Dalla. Es war ausgerechnet Irmas »Sweet Nothings« von Brenda Lee. Bei den ersten Takten stockte sie plötzlich, drehte sich nach ihm um, als müsste sie noch immer auf ihn warten, wie sie die letzten Jahre auf ihn gewartet hatte. Er flog, mit scharf geschliffenen Kufen, in ihre Arme und küsste sie. »My baby whispers in my ear, he knows the things I like to hear (pst pst pst), mmh sweet nothings.«

5

Anatol und Annette wurden mit jener leicht knirschenden Herzlichkeit empfangen, mit der man jemandem den roten Teppich ausrollt. Irma reichte ihnen Champagnerkelche und küsste beide auf die Wangen. Nicht nur an ihrer Umständlichkeit, sondern auch an der flaumigen, beziehungsweise etwas ledernen Haut spürte sie, dass die beiden zehn Jahre älter waren als sie. Irma wehrte sich innerlich gegen das Gefühl, sich den Vogels gegenüber immer als Teenager zu fühlen.

Wir gehen nicht aufs Eis, sagte Anatol mit seiner hohen Kinderstimme. Sein Aufzug, karierte Hosen und eine dicke englische Weste bekräftigten seine Worte.

Eine Runde vor Mitternacht, flötete Evelyne.

Er ist ein Pferd, das nicht aufs Eis gehört. Wenn er sich das Bein bricht, hab ich ihn monatelang als Pflegefall, nein danke, sagte Annette. Sie trug einen teuren Nerz und ließ sich von Irma das Glas nachfüllen.

Wo ist meine Brille?, fragte Anatol. Die Brille, die du trägst, ist meine.

Es ist meine, nicht deine! Deine Brille ist so stark, dass mir übel wird.

Wenn sie ihre vergessen hat, zieht sie meine an, sagte Anatol.

So machen es doch alle: verlieren und anderswo klauen, sagte Annette zu Evelyne.

Urs kam hinzu und sagte, er müsse leider sofort wieder gehen, Brigitta weigere sich zu kommen, weil sie niemanden hier kenne. Sie wolle sich am letzten Tag des Jahres nicht fremd fühlen. Es tue ihm leid, er wünsche ihnen allen ein schönes Fest.

Das ist mein Lied!, rief Bea plötzlich aufgeregt, als »Dreams« von den Cranberries aus den Lautsprechern kam. Sie eilte aufs Eis, gefolgt von Axel, der Finn zuvorkam. Umständlich packte Finn seine Zigaretten aus und wippte zum Takt der Musik, während die letzte Nacht des Jahrtausends mit funkelnden Sternen über dem Eisfeld aufzog.

Wir gehen instabilen Zeiten entgegen, sinnierte Anatol vor sich hin. Er sog nachdenklich an seiner Zigarre und blickte auf die Eisfläche, als wäre sie seine Erfindung. Irma widersprach ihm nicht, Hauptsache, er zankte nicht weiter mit Annette rum. Diese kümmerte sich ums Catering, wie sie es auch an den Lese- und Klassikerabenden, die die Vogels unterm Jahr zu veranstalten pflegten, für gewöhnlich tat. So aß man seit Jahren immer dieselben Lachsschnitten, dieselben Wurstsandwiches und rohes Gemüse mit indischem Dip. Zum Schluss gab es immer dasselbe Eis, und alle taten so, als wären sie überrascht.

Plötzlich sah Irma eine unbekannte dunkle Frau an der Bande stehen und hörte Anatol auf Englisch fragen, ob er ihr helfen könne. Die Frau drehte sich überrascht um und sagte in gutem Schweizerdeutsch mit leichtem Akzent, sie suche Axel.

Ah, Sie sprechen ja Deutsch! sagte Anatol jovial.

Die Frau winkte Axel zu, der vom Eis herbeieilte, und beachtete Anatol nicht weiter.

Irma streckte der Frau die Hand entgegen. Bist du Ona?

Sorry, dass ich zu spät komme, entgegnete sie. Über ihr Gesicht huschte ein heller Streifen. Ich freue mich, du bist Irma. Axel hat mir von dir erzählt. Du bist das Herz des Freundeskreises?

Wäre ich gerne, lachte Irma. Das ist vielleicht eher Alice, die wirst du kennenlernen.

Seltsam, wie die Anwesenheit von Axels neuer Freundin sie beruhigte. War es, dass nun alle da waren, oder die Tatsache, dass Axel eine Frau eingeladen hatte, die Irma gefiel? Wieder kämpfte sie mit ihrem Verantwortungsgefühl, das weit über seinen Anlass hinausging. Sie erinnerte sich, dass Marc einmal gesagt hatte, sie fühle sich selbst für das Wetter zuständig.

Ich habe Schlittschuhe mitgenommen, damit ich mit Axel ins neue Jahrtausend fahren kann. Er macht alles mit Leidenschaft, fügte sie strahlend und ohne Zusammenhang hinzu.

Er macht alles groß, dachte Irma. Sie hoffte, dass Ona seinen Drang ins Grenzenlose nicht allzu heftig zu spüren bekommen würde. Sie wusste einiges über Axel, das seine jeweiligen Freundinnen nicht wussten. Aber vielleicht war es ja mit Ona anders.

Noch vier Stunden, sagte Marc im Ton einer offiziellen Ankündigung. Er liebte es, in fremde Rollen zu schlüpfen. An seiner Seite balancierte Mila gefährlich auf den Kufen.

Vier Stunden, ergänzte Irma, um alle Bindungen zu festigen, damit sie auch in Zukunft halten.

Tausend Jahre müssten sie halten, das wäre schön, sagte Mila. Moritz zupfte sie neckisch an der weißen Wollmütze, unter der ihre rostbraunen Haare hervorschauten. Zu Brahms Dritter Symphonie glitten die beiden dann ungelenk übers Eis, das offensichtlich nicht ihr Element war. Moritz’ roter Pullover und Milas gelber Hosenanzug leuchteten wie das Banner eines unbekannten Landes. Tatsächlich sind die beiden wie die einzigen Einwohner einer Insel, dachte Irma und setzte sich neben Marc. Leise suchte sie eine Berührung. Die Szenerie hatte durch das Musikstück einen Hauch von russischem Winterzauber bekommen. Mila und Moritz hatten mit ihrer Musikauswahl alle verblüfft. Diese Zumutung von Überzeitlichkeit, fand Irma, war bezeichnend für die beiden, die in anderen Dimensionen dachten. Von Anfang an war ihre Liebe mit einem Umweltengagement verbunden gewesen. Irma hatte miterlebt, wie der Bioingenieur der grünen Partei beigetreten und ein Jahr später kommentarlos wieder ausgetreten war. Mila hatte ihren sicheren Job als Chefsekretärin aufgegeben und bei Greenpeace in der Kommunikation eine schlecht bezahlte Stelle angetreten. Sie besuchten Seminare und Fortbildungskurse und waren in ihren Ansichten radikaler geworden, was zuweilen zu heftigen Auseinandersetzungen im Freundeskreis geführt hatte. Nicht nur Axel, sondern auch Annette und Anatol standen politisch auf der anderen Seite. Die Konsequenz, mit der Mila für ihre Ansichten eintrat, stand im Widerspruch zu ihrer Verletzlichkeit. Ihre Melancholie war wie ein dünnes Tuch um sie geschlungen. Marc hatte einmal gesagt, man müsse diese Frau sanft durchs Leben begleiten. Ob Moritz wirklich der Gefährte war, den sie brauchte? Stets hatte sie befürchtet, dass diese feingliedrige Frau dem bärbeißigen Moritz nicht ganz gewachsen war.

Ich muss etwas essen, murmelte Marc, sonst bin ich betrunken. Er erhob sich und ging zum Buffet.

Drei Stunden später stand die ganze Gesellschaft in der Mitte der Eisbahn. Axel zählte die Sekunden. Angespannt schauten Bea und Finn zu Boden, als würde sich um Mitternacht ein Spalt im Eis auftun. Unsicher blickte Irma zu Marc, ob ihm nicht in letzter Sekunde noch etwas einfalle, um vom Eis springen zu können. Evelyne flüsterte Fred zu, sie habe in einer Zeitschrift gelesen, Armageddon nahe, worauf Fred lauthals lachte.

Dann erklang aus der Stadt das Tuten eines Schiffshorns und Irma fühlte sich auf einen Dampfer versetzt. Aus den nächtlichen Nebeln tauchte mit spitzen Zacken ein Eisberg auf, der sich in den Bug des Schiffes bohrte und es wie eine Konservendose aufschlitzte. Alle ihre Ängste fanden zu einem Gefühl zusammen, das wie Übelkeit im Magen lag. Als sie das friedliche Glockengeläut einer benachbarten Kirche aus ihrer Vision riss, stand Marc vor ihr und wollte sie umarmen. Sie sah Axel, der mit Ona cheek to cheek übers Eis tanzte, während Anatol und Annette einander mit den Gläsern in der Hand umfangen hielten, Evelyne wie eine Bienenprinzessin vom einen zum anderen fuhr, um so viele Küsse wie möglich zu ergattern. Alice und Fred telefonierten mit den Kindern, und Bea und Finn zogen zu dem von allen akzeptierten Jahrhundertlied, »Age of Aquarius«, ausgelassen ihre Runden, vorbei an Mila und Moritz, die stumm Händchen hielten. Im Himmel über ihnen zischte und verglühte das Jahrhundert, vergingen die Aufbrüche und Neuanfänge und zerstoben die Utopien. Eine halbe Stunde später begab man sich zu einer Feuerstelle, um sich aufzuwärmen und die Gläser neu zu füllen.

6

Irma war nicht erstaunt, dass es Fred war, wie immer Fred, der die Sache pragmatisch sah und sein Blei als Erster in das kalte Wasser stürzte. Heraus kamen Klümpchen, runde, ovale, fantasievoll geformt und zuweilen miteinander verbunden.

Chaos, Chaos, das bedeutet nichts!, sagte Bea. Versuch’s nochmal.

Fred nahm die einzelnen Bleiklümpchen in die Hand. Für einen Menschen, der den ganzen Tag mit der Maus über den Bildschirm fuhr, hatte er sich eine beeindruckende Langsamkeit angewöhnt. Irma sah, wie sich Alice auf die Lippen biss. Sie hatte in den letzten Jahren an Gewicht zugelegt, und der Witz, die gerundeten Formen könnten damit zu tun haben, lag geradezu in der Luft.

Unsere Familie, sagte Fred.

Föten, warf Evelyne ein.

Mit Aline und Eliane sind wir vier, nicht mehr, entgegnete Alice schroff.

Unsere Familie wird sich vergrößern, sagte Fred bedächtig und rieb sich seine große Indianernase. Unsere Töchter kriegen noch Geschwister.

Alice wurde nervös.

Du redest in Rätseln, versuchte ihr Irma beizustehen.

Er hat einen speziellen Humor, sagte Alice.

Alice will wissen, ob du noch irgendwo uneheliche Kinder hast, sagte Axel.

Vielleicht sind es auch die Kinder, die wir eines Tages adoptieren werden, sagte Fred vergnüglich.

Fantastisch, entfuhr es Evelyne.

Alice verschluckte sich und hustete, sodass sie aufstehen musste, um etwas Wasser zu trinken.

F wie Finn, rief Irma.

Finn legte seine Stirn in Runzeln und machte ein angestrengtes Gesicht, als wäre die Bleikelle, die er ins Feuer hielt, zu schwer für ihn. Bea musste sich die Beine vertreten. Alice kam zurück und kuschelte sich an Fred.

Mit der Konzentration eines Schachspielers brütete Finn nun über seinem Bleiguss, der aus einem zusammenhängenden, vielfach verästelten, rhizomartigen Besenmuster bestand. Er zögerte. Finn war der einzige Nichtakademiker in der Runde, was ihn zuweilen verunsicherte.

Blutgefäße, konnte Axel nicht widerstehen.

Neue Vernetzungen, warf Bea ein, nachdem sie zurückgekehrt war. Deine Dylan-Biografie wird publiziert und ein Erfolg, du schreibst für Zeitungen und spielst in einer neuen Band.

Bea, wandte Irma ein, eigentlich ist Finn dran.

Ich sehe zwei Lungen, ineinander verwachsen, erhob Finn endlich seine krächzende Stimme. Er verstummte gleich wieder, leerte das Whiskyglas und legte den Kopf schräg, als würde er dem Rauschen des Wüstenwindes lauschen. Meine und Beas Lunge werden zusammenwachsen. Wir werden von derselben Luft leben.

Schön, sagte Annette und rang einen Schluckauf nieder.

Spinner, sagte Bea. Willst du mich durch Symbiose umbringen?

So hab ich’s nicht gemeint, wehrte sich Finn, und Bea warf ihm einen empörten Blick zu.

Entschlossen warf Axel sein geschmolzenes Blei ins Wasser. Es zischte lauter als bei den anderen. Heraus kam eine Art Glocke.

Meine Beziehung zu Ona ist wie ein schöner Glockenklang.

Eigenwillige Deutung, fand Mila.

Wir werden Kinder haben, sagte Axel und schaute zu Ona, die das Lächeln einer Sphinx im Gesicht trug.

Ein Haus mit Pool und eine Schar Kinder, einen Hund und, –

Ona nickte. Sie zog einen Klumpen mit Stachelfüßchen aus dem Wasserbad.

Ein Käfer, ein Glückskäfer, sagte sie und schaute Axel erfreut an.

Käfer heißt, dass eine Affäre bevorsteht, sagte Annette.

Wer sagt das?, fragte Marc.

Das sind die Deutungen, die man halt so kennt. Vielleicht ist das in Onas Kulturkreis anders, sagte Anatol.

Ona kommt aus demselben Kulturkreis wie wir, sagte Irma wütend.

Ein Augenblick der Peinlichkeit entstand, nicht länger, als jemand brauchte, um auszuatmen. Aus der Stadt war ein Martinshorn zu hören. Fahl schimmernd lag die Kunsteisbahn da, wie ein blindes Auge, undurchdringbar und sternenlos die Nacht. Irma hätte das Bleigießen am liebsten beendet, sie wollte nicht weiter in die Zukunft schauen.

Evelyne gebar eine Brezel, und keiner getraute sich, darüber zu reden. Nur Axel fragte, ob sie Hunger habe.

Halt doch mal den Mund, sagte Finn etwas zu schroff.

Lasst doch Evelyne reden, mischte sich Irma ein. Nichts war jetzt unnötiger als ein Streit zwischen den beiden Machos.

Ratlos starrte Evelyne auf die Brezel wie auf eine abgeschnittene Haarschlaufe ihrer Kindheit.

Ein Zeichen für Unendlichkeit, half Fred.

Wenn ihr mich fragt: Evelyne stehen Verwicklungen in der Liebe bevor, sagte Mila.

Ui, entfuhr es Irma, die als einzige darüber im Bild war, welchen Wirren Evelyne gerade entronnen war.

Ich wünsche mir, sagte Evelyne mit brüchiger Stimme, dass jeder jemanden hat, den er lieben kann. Dass es keine unglücklichen Paare mehr gibt. Dass alle, die lieben, auch geliebt werden. Und dass –

Hast du zu viel getrunken?, unterbrach sie Axel.

War doch schön gesagt, fand Annette, aber keiner hatte Lust, näher auf Evelyne einzugehen. Irma schaute zu Annette und Anatol.

Schau mal, wie du zitterst, sagte Annette. Sie packte Anatol am Handgelenk, während sie sich die Zigarette zwischen die Lippen klemmte.

Ich zittere nicht, du zitterst, sagte Anatol. Und wenn du nicht aufpasst, dann schüttest du mir noch das Blei auf die Füße.

Du mit Bleifuß, lachte Annette.

Wart doch, du ungeduldiges Reh.

Ich mag’s, wenn was läuft, keckerte Annette. Er hockt ja tagelang mit dem Golfschläger in der Ecke und wartet, bis der Ball zu ihm kommt.

Nun schüttet doch endlich das Blei ins Wasser, sagte Alice.

Das Zischen klang wie Spott. Lauter Klümpchen entstanden, die aussahen wie Löcher im All.

Penis, sagte Annette zu aller Überraschung und legte eines der Dinger auf ihre Handfläche. So viele kleine, muntere Kümmerlinge.

Du bist eine Gans, sagte Anatol. Das sind Münzen! Und weißt du, was die zu bedeuten haben?

Finn stand auf, um Bea ein wärmendes Fell um die Schultern zu legen. Anatol erhob sich und man hörte es förmlich an seinem Schnaufen, dass er etwas Wichtiges sagen wollte. So war er in den letzten Jahren immer aufgestanden, wenn er der Gruppe etwas zu verkünden hatte, ein Lyrikwochenende mit lesenden Schauspielern, einen Vortrag über unbemannte Flugobjekte oder einen Ausflug nach Stuttgart-Zuffenhausen ins Porsche-Museum.

Ich habe ein Grundstück am Stadtrand gekauft, fünfzig Hektar Land, ein altes Hotel. Leerstehend, frei zur Benutzung, ein Ort abseits der Betriebsamkeit. Ich würde euch diesen Ort gerne zur Verfügung stellen. Euch, mir, uns allen! Ich habe ihn Sanssouci getauft. Ein Ort, wo wir nachdenken und zu uns kommen, Neues ausbrüten, zusammen oder auch allein sein können.

Sanssouci klingt etwas fantasielos. Als ob wir dort keine Sorgen mehr hätten!, seufzte Annette.

Auch Irma gefiel der Name nicht besonders. Die meisten von Anatols hochfahrenden Projekten waren bisher ein Flop gewesen.

Muss das sein, sagte Axel und meinte, dass man den Zusammenhalt der Gruppe nicht zementieren sollte.

Ein Ferienhaus, wow! Können wir da hin, wann wir wollen?, fragte Evelyne.

Jedes Paar zahlt einen symbolischen Beitrag, sagte Anatol und brachte seinem Gesicht ein gewinnendes Lächeln bei. Jedes kriegt einen Schlüssel und so viele Zimmer, wie es braucht. Was ihr da macht, bleibt euch überlassen. Ach, Kinder, es hat mich wirklich nur einen Pappenstiel gekostet; ich musste die Gelegenheit beim Schopf packen, in die Zukunft zu investieren. Und heute Abend ist der richtige Anlass, es euch zu sagen. Ein Pächterpaar versorgt das Haus mit allem Nötigen, bewacht und unterhält es.

Er nuckelte vergnügt an der Zigarre.

Sind wir nicht zu alt für diese Art von Ferienkolonie?, mäkelte Axel. Ein Pfadfinderhaus für Vierzigjährige.

Ich find’s gut! sagte Marc. Weder zuhause, sagte er zu Irma, noch im Büro kann ich wirklich frei denken.

Wenn du meinst, sagte Irma.

Ich kenne die Gegend, sagte Bea versonnen. Man kann allein sein, kann eine andere werden, kann leer werden. Oder sich in eine Fee verwandeln.

Bist du doch schon, sagte Finn.

Und eure jährlichen Konzerte werden da stattfinden?, fragte Mila.

Auf jeden Fall, antwortete Anatol. Vielleicht verlegt Annette sogar ihr Atelier nach Sanssouci. Das wäre mir eine große Freude.

Wir könnten auch das Land bebauen?, fragte Moritz mit skeptischem Unterton.

Anatol nickte: Wenn ihr mit euren Anbaumethoden etwas zu unser aller Zukunft beiträgt! Das Hotel ist als Zukunftslabor gedacht. Seit Jahren wird unser Horizont nur noch enger. Die Utopien sind tot, die natürlichen Ressourcen immer knapper, der Klimawandel in vollem Gange. Dagegen müssen wir etwas tun. Und weil keiner weiß, was er tun kann, soll jeder in Sanssouci darüber nachdenken.

Du Gutmensch, foppte ihn Axel.

Wir recyceln heute ja nur noch Lebensformen.

Ja, es ist Wahnsinn, wie viel utopische Kraft das Internet abgesaugt hat, sagte Fred.

Wenn wir so weiterleben wie bisher, ist der Planet nicht mehr zu retten ist, rief Moritz laut und mit schwerer Zunge.

Schweigen, das mehr seinem schrillen Ton als dem Gesagten galt. Immer wenn Moritz aus sich herauskam, erschrak Irma ein wenig. Moritz war anders als sie, sie verstand ihn so wenig.

Anatol schwitzte, trotz der Kälte. Seine Augen traten hervor, sein Gesicht glühte im Schein des Feuers.

Wir müssen die Zukunft für uns zurückgewinnen, rief er mit dem Pathos von Moritz.

Du bekommst noch einen Infarkt, beruhige dich endlich! Annette zwang ihn, sich zu setzen.

Mein Geschenk an euch. Weil mir eure Freundschaft so viel gibt.

Irma sah Tränen in seinen Augen, oder irrte sie sich?

Nach Anatols Worten wollten Mila und Moritz nicht mehr beim Bleigießen mitmachen. Moritz stand auf und dankte Anatol überschwänglich. Er war sichtlich begeistert, so kannte man ihn nicht, beinahe außer sich. Er und Mila würden in den nächsten Tagen nach Sanssouci fahren, um mit dem Bebauen des umliegenden Landes zu beginnen.

Dort ist doch alles beinhart gefroren, amüsierte sich Axel. Nicht mal ein Grab kannst du da ausheben.

Moritz hob die Faust, packte Mila und ging. Man wusste nicht, war es eine Drohung oder eine Siegesgeste.

Langsam machte sich Irma ans Aufräumen. Sie schaute auf das Eisfeld, das dunkel dalag. Dann in den Himmel. Mit einem fahlen Schimmer im Westen ging die erste Nacht des Jahrtausends ihrem Ende entgegen.

II

2010 UND 2011

1

Rücken an Rücken saßen sie mit angezogenen Knien im Gras des botanischen Gartens in Montpellier. Irma lehnte sich an Marc. Bewegte sich dieser, drohte sie abzugleiten. Aber er atmete ruhig und hielt das Gleichgewicht. Beim Dösen kamen ihr die Embryonen in den Sinn, die sie gerade im anatomischen Museum gesehen hatten. Die Missgeburten waren zusammengewachsen zu zweiköpfigen Wesen mit glasigem Blick, eingelagert in Formaldehyd, Greise, schon bevor ihr Leben begonnen hatte. Un caprice de la nature, hatte die junge Direktorin mit der Unbekümmertheit einer Frau gesagt, die offenbar nicht Mutter war. Irma hatte sich sofort an einer Übersetzung der Redewendung versucht. Schließlich hatte sie sich betrübt von den unglücklichen Kreaturen abgewandt und das hinter Vitrinen liegende Operationsbesteck in den Blick genommen. Gebogene Zangen wie kryptische Schriftzeichen, Essbesteck für Marsmenschen, unhandliche Scheren, bizarre Röhrchen und Klammern, mit denen man früher Leiber aufgeschnitten und Siamesische Zwillinge getrennt hatte.

Wie fühlte es sich denn an, ein doppelköpfiges Wesen zu sein? War neben dem Rücken auch der Wille zusammengewachsen? Hatte man eine Wahrnehmung, spürte man einen Schmerz, oder war der Schmerz nur in einem Kopf, während der andere die Lust empfing? Wer traf die Entscheidungen, wer hatte sie auszuführen? Waren auch Marc und sie, nach zwanzig Jahren Ehe, zusammengewachsen zu einer Laune der Natur?

Vor ihr ließ sich eine Gruppe von Studenten nieder. Einige holten ihre Bücher hervor, andere legten sich blinzelnd in die Sonne. Sie musste an Matti denken, dessen Reifeprüfung im Herbst bevorstand. Kein Zweifel, dass er sie bestehen würde. Er war die Gelassenheit in Person und schlug ganz nach Marc. Das halbe Jahr in Boston war auf keinen Fall ein verlorenes gewesen; er war selbstbewusster heimgekehrt, sein Umgang mit Mädchen war entspannter geworden. Wenn er nur weniger Zeit mit Nico verbringen würde! Die beiden saßen nächtelang auf dem ausgebauten Dachboden, inmitten von Chipstüten, Colaflaschen und Schokoriegeln bei irgendwelchen LAN-Partys. Nicos Mutter wusste nicht einmal, wo ihr Sohn seine Zeit verbrachte. Und Marc schloss die Augen. Er überließ ihr die Erziehung – als wäre Matti nur ihr Sohn. Klar, sie verstand Matti in seiner Verpuppung besser und sie hatte den Bruch mit Melanie, seiner Freundin, mit ihm zusammen durchgestanden

Sie merkte, wie Marcs Atemzüge tiefer und tiefer wurden, Zeichen seiner stillen Flucht. Kaum kehrte man ihm den Rücken, driftete er weg, als hätte man ihm das Stromkabel gezogen.

2

Lichtsprenkel explodierten auf der Netzhaut unter Marcs Lidern. Warmes Licht des Südens. Dazu roch er den Geruch von Irmas Haut, der seit gestern Nacht, seit sie miteinander geschlafen hatten, an ihm haftete. Im Urlaub wurde sie leidenschaftlicher, während sie ihre Sinnlichkeit sonst hinter praktischen Sorgen und intellektueller Strenge verbarg.

Er öffnete die Augen, bewegte sich aber nicht, um das Gleichgewicht nicht zu gefährden. Drüben auf der Wiese steckte ein Student seine Zunge in den Mund einer Kommilitonin und knetete ihre Hinterbacken. Hingefläzt lagen sie im Gras und stärkten sich mit Küssen. Die Studentin passiv, lasziv und ganz auf Empfang; sie ließ den Kopf nach hinten fallen, er steckte seine Nase in ihre Achselgrübchen, sie kicherte, und schon war er mit der Hand unter ihrem Leibchen. Wie mühelos das alles vor sich ging! Als folgte das Geschehen einem Script, als hätte es die Selbstverständlichkeit eines Naturvorgangs. Die menschliche Fantasie konnte dieses Script zwar variieren und verzögern, aber zuletzt lief doch alles immer in dieselbe Richtung.

Da war auch er leider keine Ausnahme. Vor vier Wochen war es zwischen ihm und Evelyne passiert, als er die Sache mit Matti hatte klären wollen. Er verdrängte die Bilder der anhänglichen, beschwipsten und halb ausgezogen auf dem Sofa liegenden Evelyne. Einmal war keinmal. Obwohl es sogar zu einer jämmerlichen Wiederholung gekommen war. Er wusste nicht mehr, was er sich dabei gedacht hatte. Irma durfte nichts davon erfahren.

Er lenkte seine Gedanken auf die Ausstellung im anatomischen Museum. Eine Ansammlung von Abnormitäten, haufenweise verschrumpelte, verwarzte, an der Spitze blau verfärbte oder rostrot gefaltete Penisse, tropfende, von ekligen Auswüchsen verstopfte Wasserhähne, auf morbiden Kolben in lepröser Pracht hochgereckte Blütenkelche, aufgeschwollene, bleiche Würmer, elende Hautfortsätze, gerötete und kupierte Würstchen, die in einem mit schneeweißem Stoff ausgeschlagenen Futteral ruhten. Requiescat in pace, Beerdigung der nutzlosen Zwerge. Wie ihm diese Zipfel verkümmerter Männlichkeit auf einmal jede Kraft geraubt hatten! Wie eine Vorahnung lagen sie in den Vitrinen, geruchsfreie Wachsimitate, als wäre die Männlichkeit bereits ausgestorben, ohne Glorie dem Untergang geweiht.

Schläfst du? Irma bewegte sich, ließ ihn abgleiten und erhob sich. Dann stand sie vor ihm wie ein Turm in der Sonne.

Mir ist gerade eine Idee gekommen: Im Mai sind wir zwanzig Jahre verheiratet. Wollen wir das nicht mit einigen Freunden zusammen feiern?

Ihre Stimme vibrierte vor Lebenslust.

Silberne Hochzeiten feiert man erst nach fünfundzwanzig Jahren, entgegnete er.

Jede Liebesgeschichte braucht Zeitmarken, egal welche.

Sie tänzelte um ihn herum, und er ahnte, wie wichtig dieses Datum für sie war.

Meine Liebe, ich fürchte, die Zeit für die Vorbereitung ist zu knapp.

Sie schaute beleidigt an ihm vorbei, mit diesem leicht schrägen, zusammengekniffenen Mund, den sie immer hatte, wenn sie gekränkt war. Die Kränkung konnte sich noch immer in einem Lachen auflösen, oder sie konnte sich, als wäre ihre Lippe festgefroren, verhärten. Dabei hatten sie sich gestern Abend so gut über die Unterschiede und das Gemeinsame ihrer Berufswelten unterhalten. Hatten sich die Sorgen um Matti von der Seele geredet und nach Mitternacht fröhlich und angeheitert das Tanzbein geschwungen.

Zwanzig Jahre ohne Betrug, ohne Zerwürfnis oder Trennung – das muss gefeiert werden!

Gepeinigt blickte er an ihr vorbei in diesen perfekten Tag, den letzten Urlaubstag. Warmer Wind rauschte im Bambushain, durch das Gestrüpp des Gartens funkelte ein Teich im Sonnenlicht, als wäre er aus flüssigem Stein. Palmenblätter wetzten wie Schwerter aneinander, und der Nachmittag kroch träge an der verwitterten, löchrigen Mauer des Pflanzenhauses entlang. Eigentlich waren sie durch und durch glücklich.

Also gab er nach.

Also würde ihre Beziehung mit der Feier des zwanzigsten Jahrestages historisch werden. Man würde auf diese Zeit zurückblicken und das Geglückte vom Missglückten trennen. Immerhin: So ein Gedenktag war nicht mehr als eine Falte im noch jungen Gesicht ihrer Beziehung.

3

Sie war zurück in ihrem Haus und gleichzeitig noch immer in Montpellier. Draußen goss es aus Kübeln, und in den Alpen waren erneut Schneefälle angesagt. In der Küche lärmte Matti. Er hatte sie bei ihrer Rückkehr kaum begrüßt, sondern war mürrisch in sein Zimmer verschwunden. Der Dachboden, in den Marc die Koffer trug, war von allen LAN-Installationen geräumt. Wo und wie verbrachte Matti jetzt seine Zeit? Gerade eben hatte sie ein Buch über die Gefahren des Internets für Jugendliche gelesen, um sich besser gegen ihn zu wappnen.

Gegen Mittag stieß sie in der Küche mit ihm zusammen. Er stand in Unterhosen vor dem Kühlschrank, offensichtlich kam er gerade aus dem Bett. Hatte er denn keinen Unterricht? Die Mathestunden seien ausgefallen, sagte er, schlurfte an den Kochherd und machte sich an den Töpfen zu schaffen. Vor zehn Jahren, als er noch ein Kind mit breitem, offenem Gesicht und unstetem Blick gewesen war, hatte sie gedacht, er würde werden wie sie, ein Zitat von Marc und ihr gleichermaßen. Heute weckte sein Aussehen nur noch eine wehmütige Erinnerung an das Kind, das er einmal gewesen war. Immer mehr glich er einem Mann, der nach durchwachten Nächten und selbstgedrehten Zigaretten roch.

Irma öffnete den Kühlschrank und entdeckte auf den Fächern gelbe Zettel, auf denen ihre Namen standen. In Irmas Fach standen vereinsamt ein angebrochenes Gurkenglas sowie eine Konfitüre.

Was sollen diese Zettel?

Ich habe auf Clean Food umgestellt.

Aha, sagte sie vorsichtig. Und deshalb lässt du uns einfach verhungern? Kein Käse, nicht mal eine kalte Forelle.

Käse und Fisch sind tierische Produkte. Ma, ist dir klar, was es alles zu ihrer Herstellung braucht? Aus dieser Kette möchte ich aussteigen.

War das ein Schlüsselsatz? Ihr Sohn wollte aussteigen. Aussteigen woraus? Aus der Gesellschaft? Rebellieren? Offenbar war ihr Sohn jetzt so weit, die Welt neu zu erfinden.

Ich ertrage das Leid nicht mehr, das wir verursachen, weil wir Fleisch essen und Fisch und Eier. Wenn ich durch den Supermarkt gehe, gehe ich durch eine Leichenhalle. Stell dir vor, man würde Kinder zu Lyoner-Wurst verarbeiten.

Irma ließ die Kühlschranktür zufallen. Sie sah eine langwierige Diskussion auf sich zukommen.

Wozu kaufen wir denn Produkte mit Biolabel?

Du verstehst nichts, stöhnte er.

Er sprach ihr das Verständnis ab und war gleichzeitig beleidigt, dass sie ihn nicht verstand.

Sie wollte das Wiedersehen nicht mit einem Streit verderben. See you later, sagte sie leise und ging zurück in ihr Arbeitszimmer an ihren Computer. In der Mailbox lag das Angebot für die Übersetzung eines Romans eines bekannten französischen Autors, Philip Dupral. Was für eine Überraschung, Dupral hatte seit Jahren einen Stammübersetzer. War er erkrankt oder hatte er sich geweigert, das neue Werk zu übersetzen? Egal, sie durfte sich diese Chance nicht durch die Lappen gehen lassen. Sie hatte dem deutschen Verlag ihr grundsätzliches Interesse noch am Morgen gemailt, und im Gegenzug waren der Vertrag und das PDF mit dem ersten Kapitel eingetroffen. Man setzte ganz offensichtlich auf Dupral, dessen Ruhm sich in Frankreich in den letzten Jahren verbreitet hatte. Man würde ihr Kapitel für Kapitel zur fortlaufenden Übersetzung senden, das war außergewöhnlich. Dupral, so stand es in der Mail, gab seinerseits nur Kapitel um Kapitel an den französischen Verlag weiter. Niemand kannte das Ganze.

Du kannst mit mir essen, rief ihr Matti hinterher, als sie die Tür zum Arbeitszimmer hinter sich schloss. Ich koche etwas.

Immerhin! Er hatte sich also in ihrer Abwesenheit das Kochen beigebracht. Bis jetzt hatte er nur Würstchen in der Bratpfanne gequält.

Sie versuchte sich auf den Roman zu konzentrieren und blätterte sich durch das erste Kapitel. »Die Vergebung der Wünsche« schien eine interessante Lektüre zu sein, trotzdem schweifte sie bald wieder zu Matti ab. Was hatte seine plötzliche Hingebung zum Veganismus zu bedeuten? Verarbeitete er eine Enttäuschung? Hatte er eine Kränkung erlitten? Glücklicherweise rief Alice an.

Vegan kochen ist besser als sich zu ritzen oder andere Leute niederzumetzeln.

Alice lachte aus rauer Kehle. Wann immer es Probleme gab, war sie guter Laune.

Iss mit ihm, sei ein guter Kumpel, sagte sie.

Noch bevor sie das Kapitel zu Ende gelesen hatte, war sie wieder in der Küche. Es gab Paprika-Nuss-Paste auf Fladenbrot.

Aufwändige Sache, sagte sie und biss in die Scheibe Brot.

Paprikaschoten, Walnuss- und Mandelkerne, Knoblauch und Zwiebel, Zwieback.

Und wo hast du die Zutaten her? Sie bemühte sich um einen komplizenhaften Ton, als versuchte sie selber schon jahrelang, vegan zu kochen. Sie kaute langsam und gründlich. Die Paste hinterließ im Abgang einen faulig-nussigen Ton.

Zum Dessert unterhielten sie sich über Nahrungsmittel ohne tierischen Zusatz, also ohne Fleisch, Eier und Milch. Matti lobte die Intelligenz der Schweine (Ein Schwein erkennt sich im Spiegel, Ma!), und er forderte mehr Empathie mit dem Leiden der Tiere.

Die Produktion von Rindfleisch braucht mehr Energie als die von Käse, und Käse herzustellen ist weitaus umweltschädlicher, als wenn man Freilandtomaten züchtet.

Während er von Wasserknappheit, Sojabohnen und den schlimmsten Perversionen westlichen Konsumverhaltens redete, führte er die Gabel so gewandt zum Mund und kaute so diskret, als hätte er gerade einen Benimmkurs absolviert.

Gleich nach der Geburt sortiert man die männlichen Küken aus und vergast sie, wie in Auschwitz. Sie werden nur deswegen mit dem Tod bestraft, weil sie keine Eier liefern!

Seufzend schaute er aus dem Fenster und legte seine Hände auf das ungewaschene Tischset. Sie schwieg, obwohl sie einiges zu entgegnen gehabt hätte. Zum Beispiel, dass Menschen seit Urzeiten Tiere aßen, um zu überleben. Dass die Götter gefräßige Wesen waren und den Rauch von verbrannten Tieren verschlangen.

Hast du die Schokohasen gefunden, die wir für dich versteckt haben?

Sie hatte wie jedes Jahr an dem Ritual festgehalten, obwohl Matti schon viel zu alt dafür war. Verhätschelte sie ihn zu stark? Setzte er seinen Veganismus gar gegen ihre Fürsorglichkeit ein?

Ich kann keine Schokoladenhasen mehr essen, sagte er und lächelte schmal.

Er faltete seine Serviette, ein Gegenstand, dessen Existenz er bis vor kurzem nicht zur Kenntnis genommen hatte.

Was würde sie tun, wenn er in Sanssouci beim Hochzeitsfest auf all die Fleischesser losginge?

Wo treffen sich denn die Veganer dieser Stadt?

Im Manger et Penser, am Marktplatz.

Seid ihr viele?

Wir wachsen, wie ein Baum!

Unter den staunenden Blicken seiner Mutter räumte er mit routinierten Bewegungen das Geschirr in die Maschine. Dann kehrte er mit einem Handbesen die Krümel vom Küchenboden auf.

4

Bei zehn Grad und mit knurrendem Magen auf dem Fahrrad ins Büro zu radeln war seine Sache nicht! Von Frühling konnte hier noch keine Rede sein. Dazu kam, dass Matti ihn auf Diät gesetzt hatte. Auch Irma war noch immer latent beleidigt, weil er es bei den Vorbereitungen für das Fest an Elan fehlen ließ.

Vor dem Büro überfiel ihn die Unlust. Statt Betriebskantinen, Foyers und Schulhausgänge zu renovieren, hätte er lieber Innenräume entworfen, in denen Menschen sich wohlfühlten. Echoräume für die Seele, befreit von funktionalen und ökonomischen Zwängen. Die meisten seiner Kunden aber wollten so »natürlich« wie möglich wohnen, am liebsten in einem Blumenladen. Baccini, Snozzi oder auch Botta, seine Tessiner Vorbilder, hatten während seiner Studienzeit die Architekturwelt mit ebenso kühnen wie strengen Entwürfen begeistert. Zu dieser Ästhetik würde er sich nie vorwagen, auch wenn Irma noch so hartnäckig an ihn glaubte. Ihm fehlte es an vielem, er war zu wenig Künstler und auch zu wenig Geschäftsmann. Man wollte, dass er einen Uterus baute, man verlangte Gemütlichkeit, Wärme und Geborgenheit und keine formalen Experimente.

Die Pläne für das Altersheim Unter den Tannen müssten angepasst werden, klagte sein sichtlich gestresster Kollege Tim. Der Bauherr habe die Konzeption geändert und wolle eine neue Aufteilung der Räume. Begegnungszonen, altersgerechte Fitnessräume, einen Multifunktionsraum für Seniorenpartys und abschließbare Bereiche für alternde Paare.

Einen Darkroom für Achtzigjährige, sagte Gaby, aus dem Innenhof kommend, wo sie ihre erste Zigarette geraucht hatte. Sie streckte ihm eine Tüte entgegen, Croissant für den Franzosen, Marc gab ihr drei Küsschen auf die Wangen.

Dann lasst uns die Ärmel hochkrempeln, sagte er in Chefmanier.

Am Nachmittag besuchte er die Baustelle, studierte die neuen Entwürfe vor Ort und beschloss auf dem Heimweg, Irma am Abend mit einem Dreigangmenü zu verwöhnen. Jedes einzelne Produkt, das er im Supermarkt in den Einkaufswagen legte, war ein Protest gegen Mattis Regime und ein Geschenk an Irma.

Daheim wummerte Eminem durchs ganze Haus.

Er ist gleich weg, schrie Irma. Sie bereitete ein Lamm zu, knallte die Teller auf den Tisch, wütend und verzweifelt zugleich.

Wieso sagst du nicht Bescheid. Jetzt haben wir Lamm und Huhn.

Wir essen beides!, sagte sie finster.

Sei nicht albern, sagte er.

Das Huhn verschwand im Tiefkühler, Marc öffnete eine Flasche Sekt.

Auf unseren Hochzeitstag! Und auf deinen neuen Auftrag, sagte er und genoss es, sie überrumpelt zu haben.

Heuchler, sagte sie und küsste ihn.

Matti scheint zu viel Energie zu haben, seit er kein Fleisch mehr isst, sagte sie.

Immerhin ist er weg vom Computer, sagte er und war froh, dass sie ihn nicht nach der Arbeit fragte.

Ich wette, der Junge hat sich verknallt. Er rennt herum, als hätte er Schmetterlinge im Bauch.

Marc betrachtete Irma in ihrem neuen Kleid, das sie in Südfrankreich gekauft hatte. Er mochte dessen schlichte Eleganz.

Vielleicht werden wir bald eine junge Dame am Tisch haben, sagte sie.

Er hängt noch immer an Melanie.

Sie redeten weiter über Matti, nippten an ihren Gläsern. Marc fragte sie nach ihrer Übersetzung.

Könnte was Großes sein, dem Gefühl nach zu urteilen, auch wenn mir der Anfang allzu konventionell erscheint. Ein Mädchen vom Land haut ab in die Großstadt, so beginnen Entwicklungsromane auch heute noch. Mal abwarten, wie sich die Handlung weiterentwickelt und in was für Schwierigkeiten diese Chantal mit ihrem Lebenshunger gerät.

Nach dem Essen standen sie im Garten und rauchten. Sie blies den Rauch schräg nach oben, was so viel hieß wie: Ich bin zufrieden, dass du mir mein Fest lässt. Er zerrieb ein Blatt Zitronenminze zwischen den Fingern, als es an der Haustür klingelte.

Hat Matti wieder mal den Schlüssel vergessen?

Es war Evelyne.

Wollte nur schnell vorbeischauen, sagte sie zu Irma und winkte ihm zu.

Magst du ein Glas?, fragte er und starrte auf ihre hochhackigen Pumps, in denen sie auf der Türschwelle gefährlich schwankte.

Eins ist keins, sagte Evelyne, schnappte sich eine Zigarette und machte einen Schritt in den Garten hinaus. In ihren Pumps war sie noch größer und schlanker, ihre Haare zerzaust, als hätte sie sich mit jemandem gerauft.

Sie schaute durch ihn hindurch. Er hörte, wie ihr kurzer, dünner und enganliegender Rock an ihren Oberschenkeln rieb. Irma ging zu ihr hin, nahm sie stützend am Arm und setzte sie in einen Gartenstuhl. Dort schaute sie sich um, als würde sie erst jetzt begreifen, wo sie war.

Störe ich bei einer akademischen Diskussion?

Wir haben es uns gerade gemütlich gemacht, sagte Irma.

Brauchst du eine Decke?

Er brachte ihr eine Wolldecke, aber Evelyne riss sie sich von der Schulter.

Wo kommst du her?, fragte er.

Wenn ich das selber wüsste, seufzte sie. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das vorhin eine Party war oder schon eine Orgie.

Sie erzählte von koksenden Designern, kotzenden Mädchen, aber eigentlich schien sie keine Lust dazu zu haben.

Eine Nacht für Liebespaare, sagte sie plötzlich schwermütig und dehnte den Hals nach hinten.

Dafür ist es noch zu kalt, sagte Irma.

Ich musste Istvan wieder stoppen, sagte sie, völlig aus dem Zusammenhang gerissen, er schießt gern übers Ziel hinaus.

Sie kicherte.

Irma blies den Rauch ins Dunkel.

Was wäre wohl passiert, wenn ich geblieben wäre? Man kann sich dies und das vorstellen, sagte sie und grinste.

Wir sind alle geschlaucht von diesem langen Tag, sagte er. Ich kann dich nach Hause fahren?

Mit dem Alkoholpegel?, fragte Irma amüsiert.

Evelyne schleuderte ihre Pumps in den Garten und torkelte barfuß Richtung Liguster und Bambushain hinterher, bevor sie wie eine glucksende Nymphe im Dunkel verschwand.

Irma schaute ihn fragend an. Sie wird sich erkälten!