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Was wäre, wenn wir die Welt nicht mehr nur mit den Augen der Weißen Mehrheit sehen würden? Wenn die Menschen, die zu uns kommen, plötzlich eine Geschichte hätten und wir über die Buntheit unserer Lebenswelt nicht mehr aus dem Staunen herauskämen? Martin R. Dean führt uns mit der »Kreolisierung« seines Blicks in eine Welt, in der das Eigene untrennbar mit den fernen Heimaten verwoben ist. Er spürt den Echokammern des Andersartigen nach und verbindet, wie er es auch in seinen Romanen macht, das Fremde mit dem Eigenen. Er fragt, wie die Black-Lives-Matter-Bewegung subtil unsere Denkweise verändert hat und was aus dem Fernweh wird, wenn der Massentourismus überall falsche Heimaten implantiert. Und er erzählt die Geschichte, wie aus ihm ein «Schweizerschriftsteller» wurde.
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Seitenzahl: 213
Veröffentlichungsjahr: 2025
Martin R. Dean
Essays
Atlantis
Foto: © Michael von Graffenried, espacemvg.com
Konterfei – Vier Jahre nach der Veröffentlichung meines ersten Romans tauchte mein Gesicht – inmitten schreibender Kolleg*innen[1] – auf einem Plakat auf, das seinen Ursprung an den Solothurner Literaturtagen hatte. War das der Beweis, dass ich nun Schriftsteller geworden war?
Das Plakat, das der Fotograf Michael von Graffenried mit Polaroidfotos seines Projekts »An die Wand gestellt« gestaltete, gleicht einem Fahndungsfoto der Schweizer Literaturszene: Die darauf Abgebildeten sind weiß, in der Überzahl männlich und haben viel Haar im Gesicht. Immerhin, ich war nun verdächtig, derselben Gilde anzugehören wie Rolf Niederhauser, Janine Massard, Reto Hänny oder Ilma Rakusa. Aber was hatte ich mit Adolf Muschg, Peter Bichsel oder einer Erica Pedretti gemein? Gehörte ich nun einfach zur Familie?
Natürlich ist es kein Familienfoto, obwohl es unter den Schreibenden zahlreiche Filiationen, Querverbindungen, Einflussnahmen und Lager, also viel Verwandtschaften und Animositäten gibt.
Von heute aus gesehen will mir scheinen, als hätte ich mich auf diesem Foto eher versteckt als gezeigt. Ich war der einzige Farbige unter den Schreibenden, aber das fiel gar nicht auf, weil die meisten auf den Polaroids etwas zerzaust und bohemienhaft dreinschauten. Ich tarnte mich mit einem dicken Schnurrbart und hätte ein Jenischer sein können. Oder ein Mexikaner, Grieche oder Spanier. Das Label Schriftsteller enthob mich weiterer Fragen.
Hatte ich je Schriftsteller werden wollen?
Wie wird man Schriftsteller, wenn man in einem bildungsfernen Arbeiterhaus, innerhalb einer bikulturellen Einwandererfamilie aufwächst? Woher nimmt man die Disziplin, Hunderte von Seiten vollzukritzeln, wenn es niemanden gibt, der es einem vormacht?
Mein Werdegang erscheint mir heute wie ein einziger Zickzackweg. Aber ist er nicht vielmehr geradlinig in seiner Notwendigkeit, den Verwechslungen zu entkom-men?
1982 erschien in der Zeitung anlässlich der Publikation meines Romanerstlings Die verborgenen Gärten ein Foto von mir, und ich erschrak. Ich starrte auf das Bild und fragte mich, was die Leute denken würden, wenn sie das Gesicht dieses jungen, schnauzbärtigen und südländisch aussehenden Mannes sehen würden? Konnte einer, der so aussah, überhaupt als Schriftsteller gelten? Musste man über diese Anmaßung nicht lachen, so wie zehn Jahre früher ein Lehrer gelacht hatte, als ich auf die Frage nach meiner Herkunft mein Dorf im Wynental genannt hatte?
Ich empfand Scham.
Das Bild setzte sich in meinem Bewusstsein fest. Ich mied den Spiegel im Bad. Und dann stellte ich auf einmal fest, dass ich nicht mehr hinausgehen mochte. Wenn ich nach draußen ging, sah ich mein Gesicht in den Schaufenstern oder anderen spiegelnden Glasflächen. Ich schloss mich in der Wohnung ein und bat meine Freundin, die Einkäufe und Erledigungen für mich zu übernehmen, ohne dass ich mich ihr erklärte. Ich stand am Fenster wie einer, der Hausarrest hatte.
Ging ich dennoch hinaus, hatte ich das Gefühl, dass mich die Passant*innen erkannten und in mir einen sahen, der wider besseres Wissen Schriftsteller geworden war. Wenn ich durch die Straßen ging, schüttelten die Leute leise den Kopf oder drehten sich stirnrunzelnd nach mir um.
Ich hatte eine Blickphobie ausgebildet.
Fuhr ich über Land, dann nur mit vollgetanktem Wagen, um mich nicht den Blicken der anderen auszusetzen. Die ländlichen Zonen mit ihrer eingesessenen Bevölkerung, die auf alles Fremdartige abwehrend reagierte, wurden für mich No-go-Areas.
Hielt ich mich dennoch einmal auf dem Land auf, dann nur in Gesellschaft. Ging ich mit einem Freund spazieren, nahm ich mit Erstaunen wahr, wie frei er mit den Leuten sprach, wie selbstverständlich er in einem Wirtshaus ein Bier bestellte. Allein betrat ich keine Wirtshäuser. Ich fühlte mich von den Blicken am Stammtisch verfolgt, mir schmerzte schon nach kurzer Zeit der Nacken. Draußen bellten mich die Hunde an. Jahrzehntelang tauchten bissige Hunde in meinen Träumen auf.
Ich suchte einen Psychiater auf und war überzeugt, dass er mir, wie alle anderen, nicht glauben würde. Er würde meine Behauptung, wonach ich auf der Straße angegafft wurde, als Einbildung abtun. Ich schilderte ihm, wie ich an der Kasse des Supermarktes abschätzig behandelt wurde, wie mir Leute mit dem Einkaufswagen in die Beine fuhren. Oder wie ich an der Theke des Metzgers oder in einer Bar unsichtbar wurde. Ich sagte ihm, dass es mir mein Selbstverständnis raubte, dauernd auf Englisch angesprochen zu werden.
Er hörte mir ebenso verwundert wie aufmerksam zu. Mit der Zeit entnahm ich seinem gelegentlichen Nicken, dass er mir glaubte. Dabei ging es mir doch keineswegs leicht von den Lippen, von solchen Dingen zu erzählen.
Schließlich überraschte er mich mit der Frage, warum ich mir das alles gefallen ließe. Warum ich mich nicht gegen diese Anfeindungen wehrte. Ich war perplex und wusste nichts zu antworten.
Aber sein Einwand wühlte mich auf. Nach dieser Sitzung war mir so, als wäre eine schwerwiegende Diagnose widerrufen worden. Die Decke der Depression war durchlöchert, die Sonne schien durch die Ritzen. In der ersten Bäckerei, an der ich vorbeikam, kaufte ich mir ein Schokoladenbrötchen, und der dunkle, süße Geschmack an meinem Gaumen erfüllte mich mit einem Wohlgefühl.
Die Fußfesseln, als die ich den gegen mich gerichteten Rassismus empfand, waren nicht mehr so schwer, wenn andere sie wahrnahmen oder gar beim Tragen halfen. Manchmal hatte ich die Fesseln kaum gespürt, dann wieder hatten sie mich nicht nur am Vorankommen, sondern am aufrechten Gang gehindert. Ich war mir bewusst, dass es Millionen gab, die mit diesen Fußfesseln leben mussten.
Der runde Ball ist noch lange kein Globus – Meine Jugendzeit in den Jahren 1966 bis 1976 verbrachte ich in der Kantonshauptstadt, wo ich die Bezirksschule besuchte und dem lokalen Juniorenfußballverein beitrat. Mit dem schwarz-weißen Trikot und den mit Noppen versehenen Kickerschuhen glich ich einem jener nicht weißen Fußballer, die nun immer häufiger im Fernsehen zu sehen waren. Es verstand sich von selbst, dass ich dem Fußballverein beitrat – nicht dem Gesangsverein, nicht dem Tennisclub oder dem Naturschutzverein, in denen es keine Ausländer gab.
Da ich wegen meines Aussehens im Ruf stand, auf dem Feld schnell und gefährlich zu sein, sorgten die Trainer der gegnerischen Mannschaft immer dafür, dass ich gut bewacht wurde. Es war ein schmeichelhaftes Vorurteil, denn in Wahrheit war ich ein mittelmäßiger und lahmer Spieler, nur balltechnisch einigermaßen versiert. Aber das Vorurteil passte in das Narrativ, nach dem wir alle nicht weißen Spieler als Ausnahmekönner einschätzten. Eusébio, der Star am portugiesischen Fußballhimmel, wurde von den Sportreportern immer Schwarzer Panther genannt und brachte, so schien uns, genau diese animalische Geschmeidigkeit mit seinen Dribblings zum Ausdruck. Meine Freunde behaupteten steif und fest, dass Schwarze andere Muskelfasern besäßen als Weiße und deshalb schneller laufen könnten. Bilder, die mich im Mannschaftsdress zeigten, lösten oft den Aufruf rassig aus. Ist ein rassiger Kerl einer, der gut aussieht, oder doch einer, der einer anderen Rasse angehört?
Ich blieb im Juniorenfußballclub allerdings lange der einzige Farbige. Ein Junge aus der Nachbarschaft rief mich Kongo, sobald ich den Rasen betrat; auch er hielt mich für einen besonders gerissenen Spieler. Als ich ihm diesen peinlichen Übernamen auszureden versuchte, wechselte er die Anrede: Nun nannte er mich Stift. Damit aber bezeichnete er mich gerade als das, was ich nicht war: als Lehrling. Der Lehrling war er, ich aber ging auf die Bezirksschule, was er sehr wohl wusste. Dass der Stift dennoch einmal zu meinem Arbeitsutensil wurde, konnte er nicht ahnen.
Ich war vierzehn oder fünfzehn Jahre alt, als ich ein Vorbild fand. Nicht Eusébio aus Portugal, sondern Raimondo Ponte, der, wenig älter als ich, mit seiner Mutter aus Neapel in die Schweiz gekommen war und kurzzeitig in meine Mannschaft eintrat. Ponte spielte einen eleganten Fußball; er konnte sehr schnell rennen, ohne dass seinem Körper die Anstrengung anzusehen war. Fintenreich drehte er seinen Körper durch die Abwehrreihen, wobei der Ball beim Dribbeln förmlich an seinem Fuß zu kleben schien. Ponte war einer der ersten, der damals beim FC Aarau Wunderkind genannt wurde. Sein aus Italien eingewanderter Vater war als Schuhmacher nach Windisch gezogen, bis Raimondo 1963 in die Schweiz nachzog und zum ersten Mal das Wort Tschingg hörte. Die Schweiz hatte sich bereits an die Gerüche der italienischen Küche gewöhnt, und an die scheinbare Emotionalität der Südländer, die in fortschrittlichen Kreisen als feuriges Temperament durchging. Doch dann, 1968, reichte James Schwarzenbach von der Nationalen Aktion seine Initiative gegen die Überfremdung von Volk und Heimat ein, und die Stimmung gegen die Ausländer kippte ins Aggressive.
Die Initiative und die darauffolgende Abstimmung ließ die bereits fremdenfeindliche Atmosphäre in Hass, Beschimpfung und Gewaltausbrüche ausarten. Der Historiker Thomas Buomberger beschreibt das typische Stammtischgespräch der damaligen Zeit so:
Es ist eine verdammte Lüge, wenn immer wieder behauptet wird, wir hätten diese Fremdlinge als Dauerniederlasser nötig. Es gab einfach mal eine Schweiz ohne dieses Gesindel. Die Fremden gehen uns so lange nicht auf die Nerven, als sie Kanalisationsgräben ausheben, Fenster putzen und in Großrestaurants Gläser und Teller spülen.[2]
Ich hielt mich für einen Teil der Überfremdung. Die italienischen Mitbürger*innen, auch die Familie von Raimondo Ponte, wurden durch die Stimmung im Land angegriffen. Dass sich abgesehen von mir auch alle Gastarbeiter*innen nicht mehr willkommen fühlten, lag auf der Hand. Während Ponte auf dem Fußballplatz bella figura machte, stagnierte sein Körperwachstum, was die Öffentlichkeit zur Frage veranlasste, ob er zu Hause wohl zu wenig zu essen kriege.[3] Pontes Vater besuchte daraufhin den Fußballplatz nicht mehr. Vom späteren Nationaltrainer Köbi Kuhn, der offenbar Spieler mit Migrationsgeschichte gern auf der Ersatzbank ließ, erzählte Ponte, dass er ihn stets zu verunsichern suchte. Ich dachte, du läufst mehr, soll er zu ihm gesagt haben. Köbi Kuhn wurde später, als Trainer der Nationalmannschaft, zu Köbi National erkoren. Ponte selbst machte Karriere, indem er den FC Aarau verließ und zum Verein Grasshoppers ging, danach Schweizerischer Nationalspieler und zuletzt Trainer und Sportchef wurde.
Wer die Unwillkommenskultur der Schweiz ebenfalls zu spüren bekam, war die italienische Familie Cesare, deren vierjährige Tochter Paula von meiner Großmutter gehütet wurde. Sie alle saßen auf gepackten Koffern, um bei der Annahme der Initiative das Land zu verlassen. Die Schwarzenbach-Initiative vergiftete das Jahrzehnt, indem sie die Bevölkerung in zwei Hälften teilte, von denen die eine unzweifelhaft nicht in unser Land gehörte. Um der Überfremdung einen Riegel zu schieben, verlangte die Initiative, dass der Ausländeranteil in der Schweiz 10 % nicht übersteigen dürfe. Bei Annahme hätten 350000 Arbeiter*innen das Land vom einen Tag auf den anderen verlassen müssen. Darüber wurde im Vorfeld mit kruden, rassistischen Argumenten gestritten, denn viele hielten die Italiener für faul, unsauber und diebisch. Den Blicken und Äußerungen vieler Einheimischer konnte ich entnehmen, dass sie auch mich für faul, unsauber und diebisch hielten.
Tagebücher – Mit sechzehn trat ich aus dem Fußballclub aus, ließ mir die Haare wachsen und rauchte die erste Zigarette. Ich begann Tagebuch zu schreiben. Daraus wurde schnell ein morgendliches Ritual. Täglich saß ich vor den leeren Seiten und schrieb auf, was sich ereignet hatte oder was mir aufgefallen war. Hatte ich eine Seite gefüllt, glaubte ich gelebt zu haben. Schreibend schaute ich in den Spiegel. Das Ich, das ich entwarf, war im Vergleich zum Abbild, das mir im realen Spiegel entgegenschaute, unscharf, vage und durchlässig, also insgesamt erträglich. Allmählich wuchs ich beim Tagebuchschreiben mit mir zusammen, komplettierte meine Identität. Mit wachsender Übung gingen Tagebucheintragungen, Reisenotizen und Lektürekommentare ineinander über. Ich brachte mein Leben in eine andere Form, kreierte mir eine zweite Existenz. In den Aufzeichnungen ging ich auch ins Gericht mit mir, haderte mit Entscheidungen und jammerte drauflos. Das Tagebuch war Zeuge für und gegen mich, es beglaubigte die Echtheit des Erlebten. Hatte ich vergessen, etwas festzuhalten, war es nicht passiert. Das Tagebuchschreiben schuf Realität.
Im Tagebuch wurde der Außenblick auf mich manifest. Ich war jetzt jemand, der sein Leben unter stete Beobachtung stellte. Damit gewann ich Distanz gegenüber den Zuschreibungen. Das Tagebuchschreiben verhandelte die Zuschreibung, entwarf ein mögliches, denkbares eigenes und alternatives Ich. Aber es entfernte mich natürlich vom direkten Leben und bescherte mir das Joch einer lebenslänglichen Zögerlichkeit.
Aus den Tagebuchnotizen wuchsen nebenbei Kurzgeschichten, kuriose Parabeln, absurde, kafkaeske Beschreibungen und monströse Phantasiestücke. Im Gymnasium trat ich mit diesen Stücken an meinen Deutschlehrer heran. Christoph S. hatte meine Klasse zur Lektüre von Thomas Manns Tonio Kröger geführt, und es war unschwer auszumachen, dass er mich mochte. Er war Mitte dreißig und trug meistens einen dicken, formlosen roten Pullover und eine Brille mit schwerem Rand. Wie ein Unidozent schritt er zwischen den Schulbänken auf und ab, so geradlinig, dass man befürchten musste, er hinterlasse einen Graben im Parkett. Er war anders als andere Lehrer, kein Prahler und kein Machtmensch, kein Blender und keiner, der sich selbst inszenierte. Er flüsterte, er nuschelte, aber was er sagte, hörte sich immer wie eine Anklage gegen das Establishment an. Christoph S. war unser Verbündeter. Eben erst von einer zehnjährigen Anstellung in Kairo zurückgekommen, hatte er Mühe, sich in die Schweizer Gesellschaft einzugliedern. Er lebte mit einer Balletttänzerin zusammen, die über Georg Simmel dissertierte. Meine Geschichten gefielen auch ihr.
Nach bestandener Matura würde mir Christoph S. ei-nen Roman schenken, der zu meinem Lieblingsbuch würde: Hans Henny Jahnns Perrudja. Ich würde mit einem Freund nach Florenz fahren, das Buch in meinem Rucksack. Während der langen Fahrt würde ich ununterbrochen lesen, ebenso in den verrauchten Bahnhöfen, auf harten Parkbänken und nachts im Bett. Während mein Freund die Stadt erkundete, wäre ich in einer anderen Welt unterwegs, in der Welt des schwachen, aber phantasievollen Menschen:
In diesem Buch wird erzählt ein nicht unwichtiger Teil der Lebensgeschichte eines Mannes, der viele starke Eigenschaften besitzt, die dem Menschen eigen sein können – eine ausgenommen, ein Held zu sein. Manche Leser werden deshalb herausfinden, die männlichen Züge haben nur eine schwache Prägung an ihm gefunden. (…) Da es nunmehr entschieden ist, dass ich die Geschichte des mehr schwachen als starken Menschen schreibe; und manche vielleicht willens sind, trotz der mehr ungewissen als gewissen Moral zu lesen, wird die Forderung gegen mich erstehen, den Feigling, wie man sagen wird, oder den Untüchtigen, mit dem Beginn seines Eintritts in das Leben zu schildern.[4]
Ich würde mir einbilden, dieser Untüchtige zu sein. Ich bin, würde ich mir sagen, dieser schwache Mensch. Ich würde auf der Pritsche einer billigen Pension in Florenz liegen, draußen klatschte der warme Regen aufs Dach, der Geruch gerösteten Kaffees läge in der Luft – und würde gleichzeitig im hohen Norden sein, bei den Abenteuern Perrudjas, verliebt in seine Geliebte Signe. Am Ende des Urlaubs würde ich mich mehr schwach als stark fühlen.
Folgerichtig würde ich ein Studium der Deutschen Literatur beginnen. Noch einmal sechs Jahre später würde ich die Universität mit einer Magisterarbeit über Hans Henny Jahnns Roman Perrudja abschließen: »Der Tanz des Lebens im Schatten des Todes. Die Strategien von Körperhaltung und Identitätsverlust in Hans Henny Jahnns Roman Perrudja«. Und ich würde sie bei dem Mann einreichen, der die Arbeit verschuldet hatte: Christoph S., der nicht mehr mein Gymnasiallehrer, sondern jetzt mein Dozent an der Universität wäre. Und der darauf drängen würde, dass ich mich dem Schreiben zuwenden sollte.
Der Postbote – Als Student hatte ich mich schon weit von meinem illiteraten Ursprungsmilieu entfernt. Mit elf war ich von meinem Dorf im Wynental in die Kantonshauptstadt gezogen und damit der Enge meines Großelternhauses und dem Tabakstaub entkommen. Ich wurde nun der Sohn meines Stiefvaters, des Oberarztes an der Klinik. Teil der Mittelschicht, in deren Alltag ich hineinwuchs. Mein Leben als vermeintlicher Arztsohn währte indes nur bis zu den Sommerferien des zweiten Jahres der Bezirksschule, als meine Freunde aus Amsterdam mit langen Haaren und den Uniformen von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band zurückkehrten. Ihr Anblick gab mir einen Stich, ich ließ mir ebenfalls die Haare wachsen und kaufte mir einen ausgeblichenen Regenmantel, hörte Jimi Hendrix und rauchte Haschisch. Damit stieg meine Beliebtheit bei den Mädchen in dem Maße, wie sie bei den Lehrern sank. Meine langhaarigen Freunde lehnten alles Patriotische als spießig ab, aber aus einem anderen Grund als ich. Sie wollten sein wie die Hippies, die sie im Fernsehen gegen den Vietnamkrieg protestieren sahen. Ich wollte nur weniger auffallen. Es fühlte sich besser an, den Schimpftiraden der Lehrer oder des Hauswarts als Langhaariger denn als Ausländer ausgesetzt zu sein. So hörten meine Freunde und ich die Musik von Woodstock und fuhren am Wochenende in ein Appenzeller Bauernhäuschen, um unseren Träumen einer klassenlosen Gesellschaft nachzuleben.
Im Urlaub arbeitete ich als Postbote. In der Morgendämmerung, noch zur Nachtstunde, holte ich die Postsäcke am Bahnhof aus dem Zug – wie die Posträuber es in dem gerade laufenden Kultfilm Gentlemen bitten zur Kasse gemacht hatten –, um sie dann, sortiert nach Straßen, in die Briefkästen der Häuser zu werfen. Es war eine romantische Arbeit, denn ich stellte ja auch Liebesbriefe zu. Ich erfreute die Empfänger*innen, indem ich mit Geschenkpaketen an den Haustüren klingelte oder einer alten Frau die monatliche Rente brachte, was sie mir mit einem Schoggistängeli vergalt. Auf meiner Route lag auch das Haus meiner damaligen Freundin. Madeleines Küsse vom Vorabend begleiteten mich auf meiner morgendlichen Tour. Ihr Vater war ein hohes Tier im Militär und hielt einen scharfen Hund. Als ich aus Angst vor dem Hund einen militärischen Einrückungsbefehl statt in den Briefkasten vor die Türschwelle warf und der Brief in hohem Bogen abseits im Gebüsch landete, sodass der Oberst seine Pflicht versäumte, war es mit meiner Karriere bei den eidgenössischen Post-, Telefon- und Telegrafenbetrieben vorbei.
Im letzten Jahr vor der Reifeprüfung zog ich in das mit Büchern vollgestellte Haus meines Freundes Reinhard, dessen Vater Deutsch- und Philosophielehrer und dessen Mutter Philanthropin war. Ein Künstler-Dichter-und-Denker-Haus, in dem ich am Mittwochnachmittag an einem Philosophiekränzchen teilnahm. Es war meine erste Berührung mit einer Familie, in der Bildung und Literatur selbstverständlich waren, in der die Namen der Dichter und Dichterinnen beim Mittagessen ganz selbstverständlich fielen und Bücher befreundeter Schriftsteller*innen diskutiert wurden. Im großelterlichen Tubakhuus meiner Kindheit hatte es keine Bücher gegeben, außer der Bibel meiner Großmutter Erna Meta und dem Eulenspiegelkalender. Hier nun drehten sich die Gespräche um Romane, um Briefwechsel, Epochen und ihren Stil, um die Prägung, die Kultur zum Lebensinhalt machte, es ging um den Sinn von allem. Und der Sinn, das war das Credo in diesem Haus, bestand nicht im Überleben, sondern im Nachdenken über das richtige Leben.
Animula vagula blandula – Das Gymnasium war ein einziges Versprechen auf mehr Denkfreiheit. Das Denken, dessen ich mich in einigen Fächern befleißigen musste, konnte die alltäglichen Einschränkungen überwinden und den beengenden Griff meiner Herkunft lockern; im Reich des Geistes war alles vorläufig und verhandelbar.
Die Gipfel dieser denkerischen Selbstermächtigung bildeten die Lateinstunden, in denen wir die Verse von Kaiser Hadrian, Animula vagula blandula / hospes comesque corporis, durchnahmen. Meine Klasse hatte diese Verse nach dem Willen des Lateinlehrers auswendig lernen müssen, par coeur, wir mussten sie Silbe um Silbe durchkauen, wir mussten sie riechen, hören, schmecken und atmen. Wir mussten die Verse tanzen. Der Meister dieser extravaganten Zeremonien war ein mageres Männchen, das seine chronischen Rückenschmerzen und seine schwächliche Körperkonstitution mit einem schelmischen Lächeln überspielte, dessen Bewusstsein ungeheure Welten in sich barg. Sein Spott über alles Körperliche, das uns, wie er behauptete, nur begrenze, verblüffte mich dermaßen, dass ich selbst meine wiederkehrende Kränklichkeit vergaß.
Bei diesem Lateinlehrer, dessen Bruder ein bekannter Schriftsteller war, war das Denken hohe Kunst; es war wie fliegen und tauchen. Es bedeutete, ein Experimentierfeld der Selbstauslegung und des Weltverständnisses zu entfalten. Gelangte ein Schüler oder eine Schülerin nach einem langen Weg des Nachdenkens zu einer Erleuchtung, quittierte er dies mit einem knappen, begeisterten Ausruf und machte eine Pirouette.
Stets das Wesentliche im Blick, spürten wir dem Kern der Dinge nach. Das Leben war voll von Überflüssigem und Irrwegen. Zu sich selbst gelangte man nur durch die Anstrengung des Denkens, dessen sich nun jeder und jede in der Klasse befleißigte. So erlebte ich Stunden voller Konzentration: Heidegger kam zu Besuch, Hölderlin saß in der hintersten Bank, und die beiden Großen, Vergil und Horaz, spazierten am Fenster vorbei. Schließlich näherte sich der Zeitpunkt, wo wir drei Wochen lang nur noch diese berühmten Hadrian’schen Verse unter die Lupe nahmen, bis wir in ihnen wohnen konnten. Diese Lektionen wurden zum Kunstwerk, getaktet und strukturiert nach unseren geistigen Fähigkeiten. Wie aufregend das war, eine Erkenntnis zu haben und zu begreifen, wie andere Jahrhunderte vor uns gedacht hatten! Wir begriffen: Denken konnte uns und die Welt verändern. Denken war der Königsweg zu unserem Selbst.
Phantasie an die Macht – Die Ausbildung eines Innenraums der Phantasie wäre ohne den örtlichen Filmclub undenkbar gewesen. Seine wöchentlichen Treffen fanden in einem düsteren, mit Plüschsesseln ausgestatteten Kino statt. Dort sah ich Tod in Venedig von Visconti und spürte die Kraft einer Sphäre, in der es nur um die Anziehungskraft des Schönen ging. Die Protagonisten verzehrten sich nach etwas Imaginärem, das nur in ihrer Einbildung existierte. Tarkowskis Stalker gewährte mir Einlass in eine menschenleere, phantastische und geheimnisvolle Zone der Introspektion. Es ging in Stalker um etwas Namenloses, das die Grenzen meiner Vorstellungskraft sprengte, ja, vielleicht ging es um nichts anderes als um die Macht der Phantasie an sich. Die Filme blieben nicht auf der Leinwand, sondern sickerten in den Alltag ein; auf dem Weg zur Schule war ich in der »Zone« unterwegs, und wenn ich mich mit den Hausaufgaben abmühte, wälzte ich mich gleichzeitig im Sand des Death Valley aus Zabriskie Point.
Danach standen die Filme von Alain Tanner und Claude Goretta auf dem Programm. Die Menschen in diesen Filmen sahen aus wie wir, hatten lange Haare, trugen alte Regenmäntel, rauchten ununterbrochen, tranken billigen Wein und diskutierten nächtelang über das bessere Leben. Sie rebellierten gegen das Spießertum, und wir holten bei ihnen ein Lebensgefühl ab, das zu unserem Alltag passte. Auch wenn noch keine nicht weißen Figuren in diesen Filmen vorkamen, wären sie innerhalb des Gezeigten denkbar gewesen; People of Color – sogenannte PoCs – hätten sich in diesen Filmen wohlgefühlt. Es waren Filme, die mich farblos machten, es gab keinen Unterschied mehr zwischen meinen Freunden und mir. In diesen Westschweizer Filmen tauchte zum ersten Mal eine unordentliche Schweiz auf, in deren Häusern die Aschenbecher voller Kippen waren und auf deren Straßen klapprige Occasionsautos fuhren. Tanners Städte waren grau, öde und glanzlos, aber in den Augen der Filmrebellen leuchtete die Lebenslust nur umso intensiver.
Die Filmhelden wurden unsere Alltagshelden. In Der Salamander sahen wir zum ersten Mal, wie ungerecht werktätige Menschen behandelt wurden, und meinten zu begreifen, was es heißt, ausgebeutet zu werden. Die hübsche Nomadin Rosemonde, die das Fleisch wütend und trotzig aus der Wurstmaschine quellen ließ, beharrte trotz widriger Arbeitsbedingungen auf ihrer Würde. Sie blieb schön in ihrer Widerständigkeit und ihrer Sturheit. Ihre beiden Liebhaber Paul und Pierre, einer davon Jean-Luc Bideau, waren unsere Idole. Wenn Bideau in Die Einladung von Goretta durch den Garten tanzte und seine Bürokolleg*innen auf die Schippe nahm, hob er die Unterschiede zwischen nicht weiß und weiß auf und ersetzte sie durch spießig und alternativ. Bideaus Lebenslust verspottete die bigotten Lebensformen und sprengte das Korsett der Klassengesellschaft. Dass es auch andere Lehrer gab als verklemmte Musterschweizer, sah man im Film Jonas, der im Jahr 200025 Jahre alt sein wird dank der Figur Paul, der beim Tranchieren einer Leberwurst den Marxismus erklärte. Und als Die Rückkehr aus Afrika in die Kinos kam, begeisterten uns Françoise und Vincent, die statt nach Afrika auszuwandern in ihrer leer geräumten Wohnung blieben und sich liebten. Ihre Lust auf das Fremde hatten sie in die Lust auf ihre Körper verwandelt.
Love Letters – Mitten in diesen Bilderrausch brach die Liebe ein. Ich begegnete L. und machte meine erste sexuelle Erfahrung. Ich lernte L. während der Skiferien in Kandersteg kennen, und statt uns auf die Bretter zu stellen und die Hänge hinabzusausen, verschwanden wir in ihrem Schlafzimmer und sahen fünf Tage lang den tanzenden Schneeflocken vor dem Fenster zu. L. war die Cousine meines Freundes Beat, der, wie es in der Klasse hieß, in allem weiter war als wir. Ein mutiger Rebell voll boshafter Einfälle, der die Lehrer mit seinen Eskapaden zur Verzweiflung trieb. Später wurde er Delphin- und dann Löwendompteur.
Ich saß bei Beats Cousine L. im abseits vom Elternhaus gelegenen Holzverschlag, wir hatten eine Flasche Wein geöffnet und redeten und redeten, draußen fiel dichter Schnee, bis sich L. plötzlich über mich beugte und mir mit einem Kuss den Mund verschloss. Bis dahin hatte ich noch niemanden geküsst. Was überfiel mich hier Unerhörtes, Ungestümes und Unerklärliches? Das Küssen, ja, das Küssen mit L. ging erst mal wie von selbst. Unsere Lippen fanden ohne Anleitung zueinander, unsere Zungen tasteten sich in die Mundhöhle des anderen, und allmählich versank ich in einer kribbeligen Verwirrung, einem feinen Hagel von Glückmomenten. Dass L. ihre Zuneigung zu mir so offen zeigte, hatte ich nicht geahnt. Wir wälzten uns angestrengt auf ihrem Bett, schöpften zwischendurch Atem, setzten uns auf und redeten weiter, zündeten Kerzen an und schmusten wieder, alles in einer Endlosschlaufe von »Let It Bleed« von den Stones. Höre ich dieses Stück heute, werde ich wie ein Photon in jenes Holzzimmer zurückgebeamt, rieche wieder die Holztäfelung, sehe den fallenden Schnee vor dem Fenster und spüre die Spinnweben von L.s roten Haaren in meinem Gesicht.
Fünf Tage und Nächte dauerte diese Expedition, in der ich durch den Stoff jeden Zentimeter ihrer Haut erkundete, wo sie mich in eine synästhetische Verwirrung küsste, in eine delirante Verschmelzung: Take my arm, take my leg, bleed on me …
Wofür ich mich damals schämte? Für meine Unerfahrenheit. Als ich L. beim Abschied fragte, ob sie jetzt ein Kind bekommen würde, schüttelte sie sich vor Lachen und sagte, da müsse schon mehr passieren. Erheblich mehr!
Es war das Jahr 1970, die Beatles sangen »Let It Be«, Jimi Hendrix starb, und The Sun in Großbritannien steigerte die Auflage mit dem Abdruck eines nackten Page Three Girls