Ein Stück von mir - Petra Eirainer - E-Book

Ein Stück von mir E-Book

Petra Eirainer

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Beschreibung

Es ist die Nacht vor Nikolaus: Marius liegt in seinem Bettchen und schreit. Petra Eirainer findet ihren sechs Monate alten Sohn schweißgebadet. Direkt am nächsten Morgen fährt sie mit ihm ins Krankenhaus - am Abend erhält sie die schockierende Diagnose: Ihr Sohn hat eine Leberzirrhose und nur noch wenig Zeit zu leben.

Petra ist am Boden zerstört, doch sie gibt die Hoffnung nicht auf. Sie kontaktiert einen Spezialisten und erfährt, dass eine Transplantation der letzte Ausweg ist, um Marius zu helfen. Sofort stellt Petra sich als Spenderin zur Verfügung, obwohl sie weiß, dass die Operation auch für sie Risiken birgt. Aber das ist ihr völlig gleichgültig - sie würde alles tun, um das Leben ihres Sohnes zu retten.

Die Bücher aus der Reihe »Erfahrungen und Schicksale - Wahre Geschichten über Krankheit, Tod und Abschied« schildern dramatische Lebensgeschichten echter Menschen. Sie geben Einblicke in schwere Schicksalsschläge, aber spenden zugleich Mut und Hoffnung.



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Seitenzahl: 280

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungKAPITEL 1Die NachtKAPITEL 2Im KrankenhausKAPITEL 3HoffnungKAPITEL 4AufatmenKAPITEL 5Die Zeit danachKAPITEL 61993KAPITEL 71994KAPITEL 81995KAPITEL 91996KAPITEL 101997KAPITEL 111998KAPITEL 121999KAPITEL 132000KAPITEL 142001KAPITEL 15Ein Stück von mir

Über dieses Buch

Es ist die Nacht vor Nikolaus: Marius liegt in seinem Bettchen und schreit. Petra Eirainer findet ihren sechs Monate alten Sohn schweißgebadet. Direkt am nächsten Morgen fährt sie mit ihm ins Krankenhaus – am Abend erhält sie die schockierende Diagnose: Ihr Sohn hat eine Leberzirrhose und nur noch wenig Zeit zu leben. Petra ist am Boden zerstört, doch sie gibt die Hoffnung nicht auf. Sie kontaktiert einen Spezialisten und erfährt, dass eine Transplantation der letzte Ausweg ist, um Marius zu helfen. Sofort stellt Petra sich als Spenderin zur Verfügung, obwohl sie weiß, dass die Operation auch für sie Risiken birgt. Aber das ist ihr völlig gleichgültig – sie würde alles tun, um das Leben ihres Sohnes zu retten.

Über die Autorin

Petra Eirainer lebt mit ihrer Familie bei München. Nach 24 Jahren seit der ersten Lebertransplantation hat Marius 2015 auch eine zweite überstanden. Er ist heute 27 Jahre alt und es geht ihm gut.

Petra Eirainer

EIN STÜCK VON MIR

Eine Mutter schenkt ihrem Kind zum zweiten Mal das Leben

Aufgezeichnet von Sabine Eichhorst

BASTEI ENTERTAINMENT

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Copyright © 2004 by Bastei Lübbe AG, Köln

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung eines Motives © shutterstock: Tomsickova Tatyana

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-5771-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Marius und Fabian.Wir freuen uns über jeden Tag mit euch.

KAPITEL 1

Die Nacht

Die Mutter

Es war ein Weinen, mitten in der Nacht, das mich weckte. Ein Jammern und Klagen, schmerzerfüllt und erschreckt, wie ich es nie zuvor gehört hatte. Ein Weinen, das mir Angst einjagte, mich fast noch im Schlaf aufspringen ließ.

Marius lag in seinem Bettchen. Ich schob die Decke beiseite und hob ihn heraus, nahm ihn in den Arm und ging ein paar Schritte auf und ab. Es war dunkel, und draußen fegte ein kalter Wind durch die kahlen Bäume. Die Windel fühlte sich trocken an, und dass er Hunger hatte um diese Zeit, wäre ungewöhnlich; normalerweise schlief Marius nachts durch. Ich schaukelte ihn sanft, doch mein Sohn ließ sich nicht beruhigen, die Tränen liefen über sein Gesicht. Ich nahm ihn mit ins Schlafzimmer, das hatte bislang immer geholfen. Unter der warmen Bettdecke kuschelte Marius sich an mich. Er hatte sich offensichtlich nicht verletzt, es gab auch keine Anzeichen für Blähungen, eine Kolik oder einen Schnupfen. Ich wusste nicht, was ihm fehlte.

Aus der Schublade des Nachttischs zog ich ein Thermometer und schob es Marius in den Mund. Kein Fieber, nicht einmal erhöhte Temperatur. Doch Marius weinte unablässig weiter und ließ sich durch nichts beruhigen. Er weinte so heftig, dass sein Gesicht bereits rot anlief. Ich legte die Hand auf seine Stirn. Sie hätte sich warm anfühlen müssen; stattdessen stand Marius der kalte Schweiß auf der Haut, am ganzen Körper. Konnte ein sechs Monate altes Baby bereits eine Blinddarmentzündung bekommen? Oder kamen doch schon die ersten Zähne? Ich stand auf, ging in die Küche und kochte Fencheltee mit Kümmel. Marius nuckelte ein paar Schlucke aus seinem Fläschchen, dann verzog er den Mund, und ein neuer lang gezogener Schrei beendete die kurze Stille. Ich war ratlos.

Den Rest der Nacht wachte ich neben ihm. Ab und zu ließ das Schreien nach, und jedes Mal dachte ich, wir hätten es überstanden. Doch im nächsten Augenblick schwoll das Weinen wieder zum Gebrüll an. Es war ein verständnisloses, verzweifeltes Weinen, ein Weinen, das wie ein Hilferuf klang, und jedes Mal klammerte Marius sich an mich. Das kleine Wesen erwartete, dass ich ihm half, etwas gegen das Übel, das ihn quälte, tat …

In Gedanken spielte ich alle Möglichkeiten durch: Unseren Kinderarzt mochte ich morgens um drei Uhr nicht aus dem Bett klingeln. Am Ende war es doch nur eine Blähung? Und im Krankenhaus im Ort war man auf Kinder nicht eingestellt. Außerdem schreckte mich die Vorstellung, mein Baby möglicherweise dort lassen zu müssen. Ich stand auf und kochte noch eine Kanne Fencheltee. Mit Fabian wäre ich damals mitten in der Nacht in die Klinik gefahren; beim ersten Kind ist man als Mutter nervöser, unsicherer. Jetzt beschloss ich, bis zum Morgen zu warten.

Die Stunden vergingen, quälend langsam und zäh.

Der Vater

Es war die Nacht auf den 6. Dezember, ich bin mir ziemlich sicher. Am Nachmittag wollten wir mit der Oma Nikolaus feiern; am Ende wurde es ein freudloses Fest.

Dabei war Marius vom ersten Tag an ein ausgesprochen fröhliches Kind gewesen, so fröhlich, wie ich noch nie ein Kind gesehen hatte. Wenn er morgens aufwachte, lachte er. Selbst wenn man ihn aufweckte, lachte er – ein Lachen, das nicht nur auf seinen Lippen, sondern auch in seinen Augen lag. Sein großer Bruder Fabian, der ein richtiger Wildfang war, stieß einmal beim Spielen den Kinderwagen um, in dem Marius schlief. Andere Babys hätten geschrien und wären wohl kaum zu beruhigen gewesen in ihrem Schrecken. Doch unser Jüngster lachte einfach …

Umso ungewöhnlicher war es, dass Marius diese ganze Nacht hindurch weinte. Er war partout kein Schreikind. Selbst wenn er Hunger hatte, wurde er still und fröhlich, sobald man ihn fütterte. Im Laufe der Nacht ging Marius’ Weinen schließlich in ein konstantes Brüllen über. Gegen Morgen lag unser Sohn dann still und regungslos im Bett, nur die Tränen liefen ihm unentwegt übers Gesicht. Wir waren ratlos. Und mit einem Baby kann man ja nicht einmal sprechen! Das Einzige, was mir auffiel, war ein seltsamer Geruch. Das war nicht mehr dieser vertraute feine Babygeruch, den ich wahrnahm. Eher etwas, was mich an süßlich-faulige Äpfel denken ließ. Ich reagiere empfindlich auf alles, was unangenehm riecht, doch führte ich den Geruch darauf zurück, dass Marius am ganzen Körper schweißnass war. Deshalb verlor ich nicht einmal ein Wort darüber.

Am Morgen jedoch hatten seine Haut und seine Augen einen seltsamen gelblichen Farbton angenommen. Müde und beunruhigt machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Meine Frau fuhr mit Marius zum Kinderarzt.

Die Mutter

Die Praxis war noch geschlossen, als ich um Viertel vor neun mit einem teilnahmslosen Marius im Arm die Stufen hinaufstieg. Ich klingelte. Die Sprechstundenhilfe öffnete. Ohne zu zögern, ließ sie uns hinein und lotste uns am Wartezimmer vorbei direkt ins Sprechzimmer. Ich weiß nicht, ob sie eher Marius oder mir ansah, dass es ernst war.

Am Nachmittag zuvor war ich bei der Frau unseres Kinderarztes eingeladen gewesen. Als ich Marius nach dem Kaffeetrinken wieder anzog, entdeckte ich, dass seine Haut einen ungewöhnlichen Farbton hatte, ein leichtes Gelborange, ähnlich, wie wenn ich vor dem Sommerurlaub Betacarotintabletten schluckte oder Karottensaft trank. Wahrscheinlich, dachte ich, lag es am Karottenbrei. Ich nahm mir vor, unseren Kinderarzt später darauf anzusprechen. Als ich jetzt in dem leeren Sprechzimmer saß, mein Kind, das geradezu unheimlich still war, auf dem Schoß, machte ich mir Vorwürfe.

Irgendwann, während wir Mütter plaudernd den Kindern beim Spielen zusahen, hatte der Kinderarzt plötzlich im Flur gestanden; die Praxis und die privaten Räume grenzen nämlich unmittelbar aneinander. Er war in Eile, doch ich hatte die Gelegenheit genutzt.

»Können Sie kurz einen Blick auf Marius werfen? Er hat seinen ersten Karottenbrei bekommen, und jetzt sieht er selbst ein bisschen aus wie eine Karotte …« Ich schob die Ärmel seines geringelten Pullovers hoch. »Kann es sein, dass Marius keinen Karottenbrei verträgt?«

Der Arzt antwortete nach einem kurzen Blick auf Marius: »Ja. Nein. Kann sein …«, und wühlte hektisch in der obersten Schublade einer alten Eichenholzkommode. Dann fand er, was er suchte, ein schmales Buch, dessen Einband verblichen war, als habe es zu lange in der Sonne gelegen. »Es ist möglich, dass Marius keine Karotten verträgt. Das kann ich so auf die Schnelle nicht feststellen. Beobachten Sie ihn!« Im nächsten Moment klappte die Tür, und der Kinderarzt war wieder verschwunden. Ich ging zurück ins Wohnzimmer. Marius strampelte, und ich setzte ihn auf den Boden zu den anderen Kindern. Mit bunten Bauklötzen bauten sie einen himmelhohen Turm, der jeden Moment einzustürzen drohte. –

Im Flur der Praxis klingelte das Telefon. Ich blickte zur Tür, dann auf meine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger zog langsam seine Kreise. Meine Augen brannten. Marius rührte sich nicht. Er wirkte, als hätte er aufgegeben. Seit mehr als zehn Stunden hatte er nichts gegessen und kaum etwas getrunken. Stumm sah er mich an, sein Blick schien zu sagen: Tu etwas!

Nun fand ich es unverantwortlich, dass ich mich am Tag zuvor mit einer Antwort zwischen Tür und Angel zufriedengegeben hatte. Warum war ich nicht mit Marius in die Praxis gegangen? Hätte der Arzt ihn untersucht, wäre die Diagnose gründlicher ausgefallen. Wir kannten unseren Kinderarzt seit langem, er hatte schon Fabian behandelt, und wir waren immer zufrieden gewesen.

Um drei Minuten vor neun hallten draußen Schritte durch den Flur. Die Stimme der Sprechstundenhilfe klang spitz. Ich hörte den Kinderarzt etwas sagen. Das Telefon klingelte erneut, und im selben Moment läutete es an der Tür.

Dann betrat der Kinderarzt das Sprechzimmer.

»Guten Morgen.«

»Guten Morgen. Marius ist krank. Ich weiß nicht, was los ist, aber es ist ernst. Er hat die ganze Nacht geweint.« Ich übergab dem Arzt mein Baby; ich ließ ihm nicht einmal Zeit, seinen Kittel zuzuknöpfen.

Der Arzt fuhr mit einer Hand über Marius’ Stirn und bettete ihn auf die Untersuchungsliege. Marius streckte seine Arme nach mir aus. Ich hielt ihm einen Finger hin, den er fest umklammerte. Der Kinderarzt schob Marius’ Hemdchen hoch und betrachtete ihn prüfend.

Dann kam seine Diagnose, schnell und klar.

»Ihr Sohn hat Gelbsucht. Die Symptome sind eindeutig.« Mit den Daumen schob er Marius’ Augenlider hoch. Die Augäpfel leuchteten gelb wie zwei Quitten. »Sie müssen ins Krankenhaus, sofort.«

Die Fahrt nach München schien endlos. Dabei ist München nur knappe fünfzig Kilometer von dem Ort entfernt, in dem wir wohnen. Dennoch kam mir die Strecke an diesem Vormittag wie eine Odyssee vor.

Ich bin eine schlechte Autofahrerin, vor allem, wenn ich mich in einer Großstadt zurechtfinden soll. Schon auf der Autobahn regnete es in Strömen. Links und rechts huschten Schilder, Bäume und Autos vorbei. Alles, was ich sah, schien unwirklich. Ich war aufgeregt. Und je näher wir München kamen, umso nervöser wurde ich. Als ein Lastwagen zu einem plötzlichen Überholmanöver ansetzte, musste ich abrupt bremsen.

Marius lag in seinem Kindersitz auf der Rückbank, die Augen geschlossen. Ich war nicht sicher, ob er schlief. Er war so still, und obwohl mir diese Ruhe große Sorgen machte, war ich in diesem Moment doch froh darüber. Sie half mir, mich auf den Verkehr zu konzentrieren. Ich war angespannt. Hätte Marius angefangen zu weinen, oder wäre ihm nur sein Schnuller heruntergefallen – ich hätte spontan auf der Standspur stoppen müssen. Ich streckte den Arm aus und versuchte mit einer Hand, Marius zu streicheln. Ich hatte Angst. Ich fühlte mich sehr verlassen.

Ich gab Gas und wechselte die Spur, doch im nächsten Moment kam von hinten ein Fahrzeug mit Lichthupe angerast. Also scherte ich wieder ein. Ich wünschte, Stefan wäre bei uns. Doch er hatte einen Termin; in der Firma hatte ich eine Nachricht hinterlassen. Ich griff nach der Tasche auf dem Beifahrersitz, zog einen Riegel Schokolade heraus und schob ihn in den Mund. Seit dem Frühstück hatte ich nichts gegessen. Es kam mir vor, als seien wir bereits seit Stunden unterwegs. Meine Mutter würde Fabian von der Schule abholen und sich am Nachmittag um den Jungen kümmern; ich hatte sie angerufen, bevor wir losfuhren. Ich verstellte den Rückspiegel und suchte mit dem Blick Marius’ Gesicht. Ich hoffte, dass er keine Schmerzen hatte. Er schien weder Hunger noch Durst zu verspüren.

Diese Ruhe war beängstigend.

»Hab keine Angst, mein Schatz. Gleich sind wir da, und alles wird gut.« Ich fragte mich, wem ich da Mut zusprach, meinem Sohn oder mir selbst. Ein Transporter überholte mit hoher Geschwindigkeit, und das dabei aufspritzende Sprühwasser raubte mir die Sicht. Ich schaltete die Scheibenwischer auf höchste Stufe. Der Tag war so grau, als hätte irgendwo irgendjemand beschlossen, einen passenden Rahmen für diese Fahrt zu schaffen.

KAPITEL 2

Im Krankenhaus

Das Klinikgelände hat die Ausmaße einer Kleinstadt, und ich war froh, als ich einen Wegweiser entdeckte, der mich zum Parkplatz A-3-Ost führte. Ich parkte unser Auto neben einem Luxuswagen. Er schillerte und glänzte, als sei er soeben vom Fließband heruntergerollt, und in einer plötzlichen, absurden Anwandlung fragte ich mich, ob sein Besitzer wohl schon alle Plastikhüllen und Schutzfolien entfernt hatte. Dann nahm ich Marius aus seinem Kindersitz, griff mit der freien Hand nach meiner Tasche und schlug die Autotür mit dem Fuß zu.

Ein grüner Pfeil wies den Weg zur Anmeldung. Eine resolute Schwester schob ein Formular und einen Kugelschreiber über den Tisch. Was immer auch im Leben geschieht, selbst wenn die Situation noch so brenzlig ist: Bevor einem geholfen wird, muss man wohl erst der Bürokratie seinen Tribut zollen. Ohne eine Miene zu verziehen, bestand die Frau darauf, dass ich, mein krankes Kind im Arm, zuerst das Formular ausfüllte. Hektisch kritzelte ich Buchstaben in enge Felder.

Auf der Station ging dann alles sehr schnell. Eine Schwester nahm mir Marius aus dem Arm, eine andere griff nach dem gelben Durchschlag des Anmeldeformulars, das ich noch in der Hand hielt. Ehe ich mich versah, war die fremde Frau mit meinem Sohn hinter einer Milchglastür verschwunden; das Geräusch des zuschnappenden Türschlosses hallte durch den Flur. Im nächsten Moment wandte sich auch die andere Schwester ab und verschwand wortlos in einem der angrenzenden Zimmer. Das gelbe Anmeldeformular blitzte bei jedem Schritt aus ihrer Kitteltasche.

Ich starrte auf die Milchglastür. »UNTERSUCHUNG – BITTENICHTEINTRETEN« stand in großen Lettern an der Scheibe. Ich ließ mich auf einen Stuhl neben der Tür sinken, überrumpelt und erschöpft, und spürte, wie mir die Tränen kamen. An der Wand hing eine verblasste Tafel mit Brandschutzbestimmungen.

Ich weiß nicht, wie lange es dauerte, bis sich die Milchglastür wieder öffnete. Es war erneut eine andere Schwester, die jetzt mit Marius auf dem Arm auf den Flur trat.

»Frau Eirainer?«

»Das bin ich.« Ich schluckte. Meine Stimme klang fremd in diesem kahlen Gang.

»Kommen Sie bitte mit«, sagte die Schwester. »Wir müssen Ihrem Kind Blut abnehmen.« Sie lief den Flur entlang. Ich folgte ihr unsicher, als gehörte ich nicht wirklich dazu. Marius’ Kopf lehnte reglos an der Schulter jener fremden Frau.

Sie stoppte vor einer anderen Milchglastür, auf der in den gleichen fetten Lettern »LABOR 1« stand. Ein kurzes Klopfen, und eine ältere Frau mit grauem Haar und Mundschutz öffnete.

»Kommen Sie bitte«, sagte die Schwester. Sie steuerte auf eine schwarze Liege in der Mitte des Raumes zu. Ein wenig unsanft schob sie Marius’ Ärmel hoch. Das Kind ließ widerstandslos alles mit sich geschehen. Die ältere Schwester bereitete die Instrumente vor, und ich starrte auf ihre faltigen Hände und die silbergrau glänzenden Gegenstände. Ich kam mir vor, als sei ich eine unbeteiligte Dritte. Eine aus reiner Freundlichkeit geduldete Hospitantin.

Nur langsam löste sich meine innere Starre.

»Ich möchte meinem Sohn die Hand halten. Er soll spüren, dass ich in seiner Nähe bin, wenn Sie ihm die Kanüle setzen.« Die Krankenschwester warf mir einen missbilligenden Blick zu, doch da ihre grauhaarige Kollegin unmerklich nickte, trat sie einen Schritt zur Seite. Ich griff nach Marius’ Hand. Klein und kühl lag sie in meiner.

»Es ist nur ein kleiner Pikser«, sagte die ältere Krankenschwester, und ihre Worte klangen durch den Mundschutz wie gefiltert, ein wenig dumpf. Als ich sah, wie sich die erste Spritze mit Blut füllte, wurde mir einen Augenblick lang übel.

Später saß ich mit Marius auf dem Schoß auf dem Flur. Wir warteten. Abwechselnd erschienen verschiedene Schwestern. Sie holten Marius zu Untersuchungen. Ich kann heute nicht mehr sagen, was man alles mit meinem Kind anstellte: Marius wurde von Kopf bis Fuß untersucht, aber nur in den seltensten Fällen hielt man es für nötig, mich, seine Mutter, einzubeziehen. Wozu diese ganzen Tests gut waren, war mir damals auch nicht klar. Schließlich hatte unser Kinderarzt doch schon die ganz eindeutige Diagnose Gelbsucht gestellt.

Manchmal sagte eine der Schwestern: Wir machen jetzt eine Sowieso-Untersuchung, oder: Wir müssen die XY-Werte Ihres Kindes ermitteln. Ich verstand nichts von alledem. Mir fehlte die Kraft, mich wieder und wieder aufzulehnen, zu fragen, mich einzumischen, energisch darauf zu bestehen, mein Kind begleiten zu dürfen. Eine lähmende Mischung aus Angst und Erschöpfung ergriff immer mehr Besitz von mir.

Irgendwann suchte ich ein Telefon und rief meine Mutter an. Stefan hatte sich bereits mit ihr in Verbindung gesetzt. Er wusste, dass wir im Krankenhaus waren. Ich fragte nach Fabian.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte meine Mutter. »Es ist alles in Ordnung. Wir spielen ›Mensch ärgere dich nicht‹.« Im Hintergrund hörte ich Fabian rufen: »Oma, komm …!« Ich spürte, wie mein Herz einen Satz machte. Die Unbeschwertheit meines Ältesten machte mich froh.

»Ich rufe später noch einmal an, wenn ich Genaueres weiß. Die Schwestern äußern sich nicht, und einen Arzt habe ich bislang nicht zu Gesicht bekommen. Ich habe keine Ahnung, wie lange wir noch hier bleiben müssen und was eigentlich los ist.«

»Kopf hoch, Kind«, sagte meine Mutter. Ich nickte. Sie meinte es gut.

Auf dem Weg zurück entdeckte ich einen Kaffeeautomaten, wo ich mir einen Becher Kaffee holte. Eine Putzfrau zog einen Wagen voller Eimer und Plastikmülltüten hinter sich her. Eine Tüte hatte sich aus ihrer Halterung gelöst und schleifte über den Fußboden. Die Frau schien es nicht zu bemerken. Oder es störte sie nicht.

Es war bereits Mittag, als eine Schwester den Flur herunter auf uns zugelaufen kam.

»Frau Eirainer?«

»Ja.« Außer mir und meinem Sohn saß niemand hier.

»Kommen Sie bitte mit. Auf der Station ist jetzt ein provisorisches Einzelzimmer frei. Ihr Kind muss hierbleiben.« Als wäre ich blöd – aber vielleicht habe ich sie auch etwas fassungslos angeschaut –, fügte sie hinzu: »Gelbsucht ist eine ansteckende Krankheit. Diese Kinder muss man isolieren.«

Diese Kinder … Es klang, als habe Marius die Pest.

Das Zimmer war karg und praktisch eingerichtet: eine Liege, ein Nachttisch, ein Stuhl und ein schmaler Kleiderschrank. An der Wand zwei Bilder von Bernhardinern. An beiden Querseiten des Raumes befanden sich Fenster, durch die man in die Nachbarzimmer sehen konnte. Es mussten mindestens acht Zimmer sein, die in einer langen Reihe aneinandergrenzten. Einige Kinder lagen ruhig in ihren Betten, wahrscheinlich schliefen sie. Andere hatten Besuch und spielten mit ihren Eltern. Im Nachbarzimmer wusch sich eine Krankenschwester gerade die Hände.

Die Schwester, die mir erklärt hatte, mein Kind müsse isoliert werden, war anschließend mit Marius in den dritten Stock hinaufgegangen. Mich hatte sie aufgefordert, im Zimmer zu warten. Nein, aus organisatorischen Gründen ginge es leider nicht, dass ich bei der Untersuchung dabei war. Was für »organisatorische Gründe« das sein sollten, mochte sie nicht sagen. Seither saß ich in diesem fremden Raum, starrte auf eine leere Liege und wartete auf meinen Sohn. Ich hatte Angst. Ich hatte tausend Fragen.

Ich stand auf und zog die Vorhänge an den Fenstern zu den Nachbarzimmern zu. Ich wollte niemanden sehen. Nicht das Elend der anderen und nicht ihr Glück – von dem man hier ja nie wusste, wie stabil es war. Ich ging umher. Setzte mich. Stand auf, ging wieder umher, zog die Vorhänge auf. Die Zeit kroch dahin wie eine betäubte Schnecke, so unfassbar langsam. Mein Körper war erschöpft und schwer. Gern hätte ich mich auf die leere Liege gelegt und geschlafen.

Nebenan schrie ein Kind, und ich sah, wie seine Mutter hektisch nach einer Nierenschale griff. Im nächsten Moment musste sich das Mädchen übergeben. Ich schaute durch das Fenster auf der anderen Seite. Dort las ein Vater seinem Sohn aus einem Märchenbuch vor. Der Junge hatte schütteres Haar, und ich fragte mich, welche Krankheit wohl seinen kleinen Körper im Griff hatte. In dem Moment blickte der Vater auf, und unsere Blicke kreuzten sich. Er nickte mir zu, und ich meinte, etwas Aufmunterndes in seinem Gesicht zu sehen. Ich lächelte zurück, und der Vater fuhr fort, seinem Sohn vorzulesen. Daneben lag ein Mädchen, das der Geschichte ebenfalls zuhörte; sie hatte niemanden an ihrem Bett sitzen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ein Kind sich wohl fühlte, wenn es allein in einem Krankenhaus zurückgelassen wurde, umgeben von Menschen, die es nicht kannte, ohne ein vertrautes Gesicht, eine bekannte Stimme.

Ein schepperndes Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Eine Schwester kam herein. In einem Arm hielt sie Marius, mit der freien Hand schob sie einen Infusionsständer neben sich her. Ich nahm ihr Marius ab und bettete ihn auf die Liege. Er sah aus wie ein Häufchen Elend. Diese unheimliche Ruhe der vergangenen Stunden war noch steigerbar gewesen: Nun wirkte Marius absolut apathisch. Sein kleiner Körper zeigte keine Regung.

»Ich komme später noch einmal«, sagte die Schwester, nachdem sie den Infusionsständer neben der Liege installiert und zwei weitere Beutel daran befestigt hatte. Eine klare Flüssigkeit sickerte durch einen farblosen Schlauch in die Adern meines Sohnes. An der rechten Hand hatte man ihm eine Kanüle gelegt.

Bald fiel Marius in einen bleiernen Schlaf. Ich beugte mich über ihn und streichelte seine kühle, zarte Babyhaut. Sein Atem war fast nicht zu spüren. Das Bild meines schlafenden Sohnes war mir sonst so vertraut – jetzt erinnerte mich sein Anblick an eines dieser Suchbilder, in denen ein Fehler versteckt ist.

Es herrschte Totenstille.

Lange saß ich da und beobachtete meinen schlafenden Sohn. Seinen schmächtigen Körper, sein mattes, gelbes Gesicht. Was wird aus dir werden, Kleiner? Wann bist du wieder gesund?

Draußen wurde es langsam dunkel. Ich stand auf und zog die Vorhänge zu. Ich schirmte uns ab von dem Leid links und rechts, von den vielen kranken Kindern, von ihren besorgten Eltern. Die Welt schrumpfte, sie wurde kleiner und kleiner, bis sie nur noch die Größe einer schwarzen Krankenhausliege hatte. Alles konzentrierte sich auf mein Kind, auf seine Krankheit. Ich musste meine Kräfte sammeln, um Marius zu helfen. Ab und zu fielen mir die Augen zu. Ich hörte, wie das Blut durch meinen Kopf sauste, es rauschte an meinen Ohren vorbei wie ein Wasserfall. Gleichzeitig spürte ich die Kraft einer Löwin.

Es muss etwa vier Uhr gewesen sein, als eine Schwester kam und die Infusionsbeutel überprüfte.

»Haben Sie schon eine Antwort aus dem Labor bekommen? Wann erfahre ich, was mit Marius ist?«

»Sie müssen sich gedulden, Frau Eirainer. Die Untersuchungen sind noch nicht ausgewertet. Der Doktor wird später mit Ihnen sprechen.« Sie war jung, und ich fragte mich, ob sie wohl Kinder hatte. Wusste sie, wie es eine Mutter auf die Folter spannte, wenn man ihr ihr Kind wegnahm, es wiederbrachte, es wieder mitnahm, irgendwohin? Ahnte sie, wie beängstigend und zermürbend es war, wenn niemand ein Wort darüber verlor, wie es um dieses Kind stand und wie es weitergehen würde? Ich ließ mich auf den Stuhl neben Marius’ Liege sinken und nahm seine Hand. Er schlief. Er schien meine Berührungen nicht zu spüren. Ausharren. Du musst ausharren, dachte ich, durchhalten, alles wird wieder gut. Zum zweiten Mal an diesem Tag fühlte ich mich völlig verloren.

Als später eine Krankenschwester zum Fiebermessen kam, suchte ich ein Münztelefon und rief meine Mutter an.

»Stefan ist auf dem Weg«, sagte sie, und wahrscheinlich konnte man sogar in ihrem fernen Wohnzimmer hören, wie mir ein Stein vom Herzen fiel.

Als ich den tristen Flur zurücklief, entdeckte ich einen Wegweiser, auf dem KANTINE stand. Ich holte mir einen Kaffee. Mit dem Pappbecher in der Hand eilte ich weiter. Ich fand aber den Weg, den ich gekommen war, nicht mehr und irrte umher. Ein Pfleger wies mir den Weg. Ich musste das Gebäude verlassen und einen Hof überqueren. Es war kalt, es regnete, und ein garstiger Wind trieb Laub und eine leere Einkaufstüte vor sich her.

Ich fror und lief noch schneller.

Der Vater

Damals arbeiteten wir in der Heilig-Geist-Kirche in München an der Marmortreppe zum Hochaltar. Meinen Kollegen fiel auf, dass ich unkonzentriert war. Sie fragten, was los sei. Ich hatte in der Zwischenzeit erfahren, dass der Kinderarzt Marius mit Verdacht auf Gelbsucht ins Krankenhaus eingewiesen hatte. Wann immer sich eine Möglichkeit ergab, rief ich meine Schwiegermutter an. Doch sie antwortete jedes Mal, Petra wisse noch nichts, keiner der Ärzte habe sich bisher geäußert. Also stürzte ich mich in die Arbeit und versuchte, meine Unruhe zu verdrängen; doch die Gedanken ließen mich nicht los. Ich hatte ein sehr ungutes Gefühl.

Nach Feierabend bat ich eine Kollegin, mich am Krankenhaus abzusetzen. Als ich über das Gelände lief und die Kinderstation suchte, war ich ausgesprochen nervös. Ich folgte den grünen Hinweisschildern – bis ich irgendwann vor der Augenklinik stand. Ich fragte einen Pfleger nach der Kinderstation.

»Folgen Sie den blauen Schildern.« Ich wunderte mich, denn am Empfang hatte man eindeutig »grün« gesagt. Ich zog meinen Schal fester um den Hals und folgte den blauen Wegweisern. Lief durch den kalten Regen, vorbei an Menschen, deren Gesichter ich kaum wahrnahm. Schließlich stand ich vor der Hals-Nasen-Ohren-Klinik. Ich fluchte leise, schüttelte den Regen ab und ging hinein. Drinnen schlugen mir drückende Wärme und dumpfe Stille entgegen. Kein Mensch war zu sehen. Ein Schalter, an dem »INFORMATION« stand, lag verlassen da, jemand hatte einen handgeschriebenen Zettel an der Scheibe befestigt: »Komme gleich wieder«. Ich rief »Hallo!«. Meine Stimme verhallte, nichts rührte sich. Eilig lief ich den Gang entlang, drückte auf Türklinken, doch alle Türen waren verschlossen oder hatten einen Knauf, sodass man sie von außen gar nicht öffnen konnte. Die einzige Tür, die sich öffnen ließ, war die zum Damenklo. Verwirrt und wütend schlug ich die Tür wieder zu und lief zurück zum Ausgang. Zwei Krankenschwestern kamen mir entgegen, und ich fragte sie, wie ich zur Kinderstation käme.

»Die Kinderstation?«, fragte die eine und sah mich an, als hätte ich sie nach dem Weg zum Mond gefragt.

»Ja …« Meine Stimme flatterte, doch mein Ton war barsch.

»Die Kinderstation liegt im Ost-Bereich«, antwortete die andere Schwester. »Hier befinden Sie sich im Nord-Bereich.«

»Im zweiten Stock finden Sie einen Auskunftsschalter. Dort kann man Ihnen einen Plan geben. Damit finden Sie sich besser zurecht«, sagte ihre Kollegin. Im nächsten Moment waren sie verschwunden. Ich drückte ungeduldig auf den Knopf des Fahrstuhls; Sekunden später hastete ich bereits zu Fuß die Treppe hoch. Auch hier war der Auskunftsschalter verwaist. Wütend lief ich zurück zum Ausgang.

Draußen folgte ich einem Schild, das den Weg zur neurologischen Abteilung wies. Es war gelb und daher falsch, aber immerhin stand dick »OST« darauf. Also musste zumindest die Himmelsrichtung stimmen. Ich fluchte – längst nicht mehr leise. Kurz vor der Neurologie entdeckte ich ein Schild, auf dem »KINDERSTATION/OST« stand. Ich stürmte hinein, so schnell, dass ich über den Abtreter stolperte, der sich in der Tür verklemmt hatte. Ich fand ein Schwesternzimmer und fragte atemlos nach meiner Frau und meinem Sohn.

»Ihre Frau ist im zweiten Stock«, sagte eine Krankenschwester. Ich rannte los. Oben angekommen, stand ich auf einem langen Flur. Nirgendwo war jemand zu sehen. Dabei war es später Nachmittag, es hätte Hochbetrieb herrschen müssen. Im nächsten Moment trat eine Schwester aus einem der Zimmer. Ich stürzte auf sie zu.

»Ihre Frau und Ihr Sohn sind im ersten Stock.«

Ich sah sie an. Ich zählte still: einundzwanzig, zweiundzwanzig … Es half nicht. Ich brüllte los. »Weiß denn in diesem gottverdammten Laden niemand Bescheid!? Ich will zu meiner Frau, zu meinem Kind! Jeder schickt mich woandershin. Treppe rauf, Treppe runter – bin ich denn im Irrenhaus?«

»Nun regen Sie sich mal nicht so auf. Eine Etage tiefer, und Ihr Problem ist gelöst.« Ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, drehte sie sich um und verschwand. Ich stürzte die Treppe hinunter. Ein weiterer langer, leerer Flur. Eine Putzfrau kam mir entgegen. Sie schüttelte den Kopf, als ich auf sie zusteuerte, und ging wortlos mit ihrem Eimer in der Hand den Gang entlang. Ich starrte ihr nach, bis die Glastür hinter ihr ins Schloss fiel, und rang um Fassung.

Ein Arzt erschien in der Tür, hinter der eben noch die Putzfrau verschwunden war. Ich schluckte und fragte, wo ich meine Frau und meinen Sohn fände. Er rief einen Namen, und eine junge, hübsche Schwester steckte den Kopf aus einer der zahlreichen Türen.

»Könnten Sie dem Mann bitte helfen?«, sagte der Arzt, mit dem Daumen auf mich deutend, und ging weiter. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschten über das Linoleum.

»Wo finde ich meinen Sohn und meine Frau?« Ich spürte, wie mir der Schweiß den Rücken hinunterlief.

»Eirainer? Zimmer 112.« Sie deutete auf eine grüne Tür. Ich stand direkt davor. Als ich das kühle Metall der Türklinke in meiner Hand spürte, schlug mir das Herz bis zum Hals.

Drinnen lag Marius auf einer Art fahrbarer Liege. Meine Frau saß auf einem Hocker, den Kopf an die Streben der Liege gelehnt. Saß dort wie erstarrt, wie eingefroren. Marius lag in demselben gelben Strampelanzug da, in dem er am Morgen das Haus verlassen hatte. Wie unberührt.

Zum zweiten Mal verlor ich die Nerven.

Ich entsinne mich noch, dass ich entgeistert fragte: »Was ist los, warum tut hier niemand etwas?« Dann erinnere ich mich an nichts mehr – nur dass ich losbrüllte, innerhalb kürzester Zeit die halbe Station zusammentrommelte und nichts und niemanden verschonte. Eine Viertelstunde später lag mein Sohn in einem Bett auf der Intensivstation. Wahrscheinlich wäre er dort ohnehin gelandet; wahrscheinlich hätte es keines hysterischen Vaters bedurft. Doch in diesem Augenblick, als ich in der Tür stand und Petra und Marius anstarrte, überfiel mich eine ungeheure Panik. Nahm denn niemand in diesem Riesenbetrieb mich, mein krankes Kind und meine erschöpfte Frau ernst? Dass bereits zahlreiche Untersuchungen stattgefunden hatten, dass Petra alles Nötige veranlasst hatte, wusste ich nicht. Es war dieser Strampelanzug, der alles auslöste. Dieser Anzug, so gelb. Und mein Sohn darin, beinahe ebenso gelb. Und nichts geschah. Zumindest schien es so.

Bis heute sehe ich dieses Bild vor mir, es hat sich in meine Erinnerung gebrannt.

Nachdem Marius auf die Intensivstation verlegt worden war, gingen Petra und ich hinaus ins Treppenhaus. Leise erzählte sie, dass hier bislang niemand eine Diagnose gestellt hatte. »Warten«, hatten all die Schwestern und Pfleger und Doktoren immer wieder gesagt. »Sie müssen sich gedulden und warten.«

Ich nahm sie in die Arme.

»Fahr nach Hause«, sagte meine Frau, als sie sich wieder aus meiner Umarmung löste. »Kümmere dich um Fabian. Hier kannst du nichts tun. Ich werde hier bleiben und darauf drängen, dass sie mir irgendein Bett oder eine Liege geben.« Ich wollte widersprechen, aber ich merkte, dass ich gar keine Argumente hatte. Außerdem wirkte Petra fest entschlossen.

»Ich bleibe bei Marius«, sagte sie. »Zur Not schlafe ich auf dem Fußboden.« Schweren Herzens machte ich mich auf den Weg. Zu Hause warteten Fabian und die Schwiegermutter. Erst jetzt fiel mir wieder ein, dass Nikolaus war. Es wurde eine stille Feier.

Die Mutter

Die Welt zerbarst am frühen Abend.

Marius schlief, schwer und reglos, seit Stunden war er nicht mehr aufgewacht. Für einen Moment stahl ich mich aus dem Zimmer und eilte zur Toilette. Auf dem Rückweg fing mich ein Arzt ab.

»Frau Eirainer?« Ich zuckte unwillkürlich.

»Ja?«

»Wir haben jetzt alle Werte aus dem Labor vorliegen.« Sein weißer Kittel leuchtete, er schien das helle Neonlicht der Flurbeleuchtung zu reflektieren.

»Ja …?«

»Nun …« Er räusperte sich, zog ein Stofftaschentuch hervor, putzte sich die Nase, faltete das Taschentuch und schob es wieder in die Tasche seines Kittels. »Eine Gelbsucht ist nur ein Symptom. So eine Krankheit hat eine Ursache. Darum haben wir Marius’ Leberwerte eingehend studiert.«

»Ja, und …?« Seltsamerweise tat der Mann mir leid. Er wirkte, als habe es ihn erwischt, als sei in einem Team von Kollegen ausgerechnet er heute Abend derjenige, der hinausmusste, um besorgten Müttern unangenehme Diagnosen mitzuteilen. Es war nicht zu erkennen, ob er irgendeinen höheren Rang bekleidete und deshalb dazu befugt war, solche Gespräche zu führen.

»Nun, Frau Eirainer, es tut mir leid …« Er spuckte jedes Wort aus wie eine bittere Frucht.

»Ja?« Ich sah in sein Gesicht, als fände ich dort die Antwort auf all meine Fragen.

»Marius’ Leber ist vollkommen zerstört. Ihr Sohn wird sterben.«

Einen Moment lang stockte mir der Atem, und ich stand da wie gelähmt. Dann setzten ganz, ganz langsam einzelne Funktionen wieder ein.

»Ist Ihnen nicht gut?« Ich hörte seine Stimme, die gegen das Rauschen in meinen Ohren ankämpfte. Mein Mund bewegte sich. Die Lippen waren trocken. Mühselig schoben sich Worte heraus, eines nach dem anderen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie einen ganzen Satz bildeten. Ich sagte: »Das glaube ich nicht.«

»Wir haben uns alle Befunde genau angesehen.« Seine Stimme klang jetzt bestimmt und routiniert. »Bei einem Kind in diesem Alter besteht keine Überlebenschance. Es tut mir sehr leid, Frau Eirainer.« Die Worte hallten durch den Flur. Irgendwo klingelte eine Alarmglocke. »Ich komme später noch einmal vorbei«, hörte ich ihn sagen und sah ihm nach, während er den Flur entlangging und auf der Herrentoilette verschwand. Ich öffnete die Tür zu Marius’ Zimmer, blieb mit dem Rücken an die Wand gelehnt stehen. Minutenlang. Versteinert. Als wäre dies nicht mein Körper, setzte ich mühsam einen Fuß vor den anderen. Blickte auf meinen schlafenden Sohn, in ein weiches, gelbes Kindergesicht. »Das glaube ich nicht« – wie ein Echo rollten die Worte durch meinen Kopf. Meine Finger umklammerten die Streben der Liege. Obwohl in seinem Körper ein Krieg tobte, sah Marius ganz friedlich aus.

Wie konnte dieses Kind sterben?

Als die Schwester kam, starrte ich noch immer auf mein Baby. Unvermittelt spürte ich eine Hand auf meinem Arm, und eine Stimme sagte: »Sie müssen jetzt gehen.« Ich starrte die Schwester an. »Sie müssen jetzt gehen«, wiederholte sie mit ruhiger Stimme.

»Nein«, sagte ich.

»Frau Eirainer, seien Sie vernünftig.«