Ein Tag und ein ganzes Leben - Sander Kollaard - E-Book
NEUHEIT

Ein Tag und ein ganzes Leben E-Book

Sander Kollaard

0,0

Beschreibung

Der holländische Himmel am frühen Abend Zusammen hören sie Beethoven und sitzen am Kanal: Henk und sein Hund Schurk sind beste Freunde. Als Schurk sterben muss, erkennt Henk, dass das Leben noch mehr bereithält, zum Beispiel eine neue Liebe. Ein Tag aus dem Leben von Henk van Doorn, 56, geschieden, Krankenpfleger. Man könnte seinem Leben ein Armutszeugnis ausstellen, denkt Henk manchmal. Wäre da nicht sein Hund und treuester Begleiter Schurk. Ein Kooikerhondje, eine alte holländische Hunderasse, wie auf den Gemälden aus dem Goldenen Zeitalter. Als sich herausstellt, dass Schurk in absehbarer Zeit sterben wird, muss Henk sich entscheiden: Will er in Trauer versinken oder leben? Doch dann lernt er Mia kennen, die aussieht wie Patti Smith, nach Gewürzen duftet und auf einem Hausboot lebt... Ein tröstlicher, ein warmherziger Roman über das gewöhnliche Glück, das das Leben lebenswert macht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 208

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




SANDER KOLLAARD wurde 1961 in Amstelveen geboren und lebt seit 2006 mit seiner Familie in einem ehemaligen Pfarrhaus in Schweden. Im Jahr 2015 veröffentlichte er seinen ersten Roman. Sein Roman »Ein Tag und ein ganzes Leben« wurde 2020 mit der wichtigsten Buch-Auszeichnung der Niederlande gewürdigt, dem Libris-Literaturpreis.

BETTINA BACH übersetzt seit 2002 aus dem Französischen und Niederländischen, zuletzt Marente de Moor, Astrid Roemer und Maryse Condé.

MEIKE BLATNIK übersetzt seit 2006 Literatur aus dem Niederländischen ins Deutsche, zuletzt Kathleen Vereecken.

Ein Tag aus dem Leben von Henk van Doorn, 56, geschieden, Krankenpfleger. Man könnte seinem Leben ein Armutszeugnis ausstellen, denkt Henk manchmal. Wäre da nicht sein Hund und treuester Begleiter Schurk. Ein Kooikerhondje, eine alte holländische Hunderasse, wie auf den Gemälden aus dem Goldenen Zeitalter. Als sich herausstellt, dass Schurk in absehbarer Zeit sterben wird, muss Henk sich entscheiden: Will er in Trauer versinken oder leben? Doch dann lernt er Mia kennen, die aussieht wie Patti Smith, nach Gewürzen duftet und auf einem Hausboot lebt … – Ein tröstlicher, ein warmherziger Roman über das gewöhnliche Glück, das das Leben lebenswert macht.

SANDER KOLLAARD

Ein Tag und ein ganzes Leben

Roman

Aus dem Niederländischenvon Bettina Bach und Meike Blatnik

kanon verlag

Für Jona & Floris

Im Schweiße deines Angesichts

wirst du dein Brot essen,

bis du zurückkehrst zur Erde,

denn von ihr bist du genommen.

Denn Staub bist du, und

zum Staube wirst du zurückkehren!

Genesis 3:19

Inhalt

Ein Tag und ein ganzes Leben

Quellen

Das Herz schlägt, denkt Henk beim Aufwachen, und das Blut fließt. Das ist bei näherer Betrachtung das Vernünftigste, was sich darüber sagen lässt.

Ein seltsamer Gedanke und ein ungewöhnlicher Start in den Tag und für sein erwachendes Bewusstsein, aber ein Start ist es: Alles Weitere folgt. Bei diesem ersten Gedanken drängen sich neue Koordinaten auf: der Ort, an dem er sich befindet (sein Schlafzimmer), die Uhrzeit (zwischen acht und neun) und das Wetter (sonnig). Aber ganz bei der Sache ist er nicht. Die neuen Koordinaten kommen angeschlurft wie verschlafene Teenies, die sich mürrisch, mit säuerlicher Miene, an den Frühstückstisch setzen, schmollend, weil ihnen schon wieder ein neuer Tag vorgesetzt wird. Mit etwas Abstand betrachtet Henk, noch immer träge und schwerfällig auf seiner Matratze, die neuen Koordinaten: dass heute Samstag ist; dass es Schurk, der wohl etwas Falsches gefressen hat, gestern Abend nicht gut ging; dass er später seine Nichte Rosa anrufen muss, weil sie Geburtstag hat. Die Informationsdichte wird größer und damit auch sein Bewusstsein für den Mann, der er ist. Henk van Doorn, Intensivpfleger, sechsundfünfzig Jahre alt.

Als er auf die Uhr sieht, merkt er, dass Informationen nicht immer zuverlässig sind. Es ist erst kurz nach sechs. Das wirft die Frage auf, ob er sich noch mal umdrehen und die Augen zumachen soll und so die mittlerweile gesammelten Informationen einem neuen Schlaf übergeben. Ein verlockender Gedanke, aber zu spät. Inzwischen ist eine kritische Masse erreicht, von allen Seiten stürmen neue Informationen auf ihn ein, nicht so verhalten wie diese Teenies, sondern wie die jungen Kühe, die er vor ein paar Tagen auf der Weide gesehen hat und die ihm und Schurk hinterm Zaun aufgeregt und übermütig gefolgt waren, bis er einen Schritt auf sie zu gegangen war, buh!, sie kollektiv einen Schritt zurückmachten und ihn danach aus ein paar Metern Abstand in einem Halbkreis feuchter Mäuler und verträumter Augen anstarrten – etwa so, wie die Koordinaten von dem noch immer im Bett liegenden Mann ihn jetzt anstarren.

Das Herz schlägt, hört er wieder, und das Blut fließt. Er stellt fest, dass der Gedanke ein Überbleibsel des Gesprächs ist, das er gestern Abend am Ende seiner Schicht mit einer neuen Kollegin geführt hat, einer jungen Frau, deren Namen er schon wieder vergessen hat. Sie hatten darüber gesprochen, was dem Herzen alles angedichtet wird: dass man in ihm Geheimnisse verbergen kann; dass es in die Hose rutschen, vor Liebe überfließen oder beängstigend kalt sein kann. Alles Blödsinn, hatte die Frau entschieden gesagt, in einem Ton, der sie ihm unsympathisch machte. Blödsinn. Das Herz ist eine Pumpe. Es schlägt, das Blut fließt, fertig.

Jetzt kommt er in Bewegung. Er dreht sich auf den Rücken und streckt sich. Sonnenlicht fällt herein und macht voll Überschwang deutlich, dass Sommer ist. Genau genommen Juli. Die Hundstage. Es ist schon seit Tagen schwülwarm; welk hängt das Grün an den Bäumen, die, erschlagen von der Hitze, still am Straßenrand stehen; Straßen und Geschäfte sind verlassen, die Leute machen Urlaub. Henk nicht, weil es niemanden gibt, mit dem er Urlaub machen könnte, und er will um keinen Preis mit einer Gruppe Singles in das »antike Griechenland«, das »gastfreundliche Gambia« oder die »geheimnisvolle Antarktis« reisen, wie es ihm sein Bruder empfohlen hat. Dann lieber sterben. Herrgott noch mal, denkt er plötzlich aufgebracht, was ist das nur mit Freek? Warum meint er, ich hätte ein Problem? Und das Problem müsse gelöst werden? Ohne es zu merken, ballt er seine behaarten Fäuste auf der Bettdecke, und wie so oft verflucht er seinen kleinen Bruder: Freek ist ein ängstlicher Mann und kann nicht mit Abweichungen von der üblichen Ordnung umgehen. Seiner Ordnung. Aber Henk passt nicht in seine Ordnung. Henk ist geschieden: falsch. Henk ist Single: falsch. Henk fährt nicht in den Urlaub: falsch. Und die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Keine Kapitalanlagen: falsch. Kein Audi: falsch. Keine Eigentumswohnung: falsch. Nicht dreimal wöchentlich im Fitnessstudio: falsch. Seine Fäuste nehmen die Bewegung seines Herzens auf und pumpen seine Wut wie schwarzes Blut durch die Adern, und er wird vergiftet – seine Liebe zum Leben, seine Vitalität. Er ruft sich zur Ordnung. Wut tut ihm nicht gut. Sie macht ihn bitter und unattraktiv. Sie macht ihn älter. Es würde ihn nicht wundern, wenn er davon sogar zunimmt. Und das ist definitiv nicht seine Absicht.

Saskia: So heißt seine neue Kollegin. Sie ist zierlich, hat blond gefärbte Haare und einen durchdringenden Blick, und Henk weiß, wie sie ihn sieht: ein erschöpfter, zu dicker alter Mann, der nicht auf der Höhe der Zeit ist. Ein Dinosaurier. Die besten Jahre hinter sich. Umgekehrt weiß sie nicht, wie er sie sieht: ein Grünschnabel. Mehr Wissen als Erfahrung. Mehr Energie als Vernunft, etwa so wie die jungen Kühe. Ihr Gespräch gestern Abend war in der intimen, beschaulichen Atmosphäre entstanden, die manchmal am Ende einer Abendschicht wartet, vor allem, wenn niemand unter ihrer Aufsicht gestorben ist. Womöglich würden die armen Teufel dann in der nächsten Schicht sterben, oder in der übernächsten, aber fürs Erste lebten sie noch. Sie hatten ordentliche Arbeit geleistet. Sie saßen im Stationszimmer und tranken Kaffee und sprachen über das Herz. Ein erstaunliches Organ, hatte er gesagt, es stellt unsere tiefsten Gefühle dar. Blödsinn, hatte Saskia gesagt. Nichts als Gefühlsduselei.

Dann denkt er an Groucho Marx und muss lachen. I intend to live forever or die trying. Sein Lachen vertreibt die Gereiztheit. Er streckt sich noch einmal und richtet sich auf, ein langes, freies Wochenende liegt vor ihm. Nicht schlecht. Die Sonne fällt auf den verwitterten Holzboden und auf seine selbstgebauten Bücherregale aus Birkenholz. Hier wohnt er seit seiner Scheidung vor drei Jahren. Im Erdgeschoss des Hauses in der Nieuwstraat wohnt ein griesgrämiges älteres Ehepaar, er bewohnt die oberen zwei Stockwerke. Sein Schlafzimmer im zweiten Stock hat Aussicht auf die Nachbarhäuser und ein Sammelsurium kleiner Gärten, Schuppen und schmaler Straßen. Von zwei Seiten fällt Licht in den Raum, ohne dass jemand hereinschauen kann, und so kommt es ihm vor, als schwebte das Zimmer über der Stadt. Es ist seine Baumhütte, sein Ausguck. Er fühlt sich dort auf angenehme Weise gelöst. Dort ist er frei, erlöst von Aufmerksamkeit, weit weg von der Aufregung, die zwischenmenschlicher Umgang mit sich bringt. Sein Blick schweift zum Bücherregal, zu den Büchern, die er in- und auswendig kennt und die ihm Stück für Stück etwas bedeuten. Da, der orangefarbene Rücken, das ganz dünne da, ein großartiges Buch. Er hat es im Jahr seiner Scheidung gelesen. Lydia konnte nichts damit anfangen, und vielleicht hat das den Ausschlag gegeben: Jemand, der dieses Buch nicht großartig findet – das geht gar nicht.

Er setzt sich zurecht, mit den Gedanken wieder woanders, weiter vorn, an der Spitze seines Lebens. Jetzt geht es schnell. Die Informationen kleben und klumpen zusammen und verleihen ihm allmählich ausreichend Substanz. Er kann aufstehen. Und er steht auf, angetrieben von Lebensfreude, lächelnd beim Gedanken an den freien Samstag, der wie ein Kind vor ihm her hüpft.

***

Henk ist ein bedächtiger Mann. An sich eine gute Eigenschaft, findet er und nimmt seine Unfähigkeit hin, schnell, wortgewandt oder schlagfertig zu reagieren. Aber manchmal stört es ihn doch, wie gestern Abend mit Saskia. Sie hatte geredet, er zugehört. Er versuchte ein paar Mal, zu differenzieren oder etwas einzuwenden, doch sie ging nicht darauf ein. Ihre Sturheit war es, die ihn gestört hatte. Er mag keine Menschen, die zu sehr auf etwas beharren, schon gar nicht, wenn sie jung sind – jungen Menschen stünde es gut an, wenn sie sich bewusst wären, dass sie eine beschränkte Perspektive haben.

Gut, sie war stur, aber hatte sie deswegen unrecht? Was hätte er gesagt, wenn ihm eine angemessene Erwiderung eingefallen wäre? So etwas wie: Natürlich ist das Herz eine Pumpe, Saskia, aber ist es nicht auch mehr, wie alle anderen Körperteile? Der Körper eignet sich einfach, um unsere Gedanken und Gefühle darzustellen: Wir führen andere an der Nase herum. Stärken jemandem den Rücken. Es juckt uns in den Fingern. Und wenn wir verliebt sind, weitet sich die Brust und wir sagen, dass uns das Herz überläuft. Körperliches mündet ganz von selbst in Sprache, auf nichts anderes habe ich hingewiesen. Ich frage mich: Was genau stört dich daran? Warum sollte der Körper nicht für Metaphern herhalten dürfen? Was meinst du mit Gefühlsduselei? Ich glaube, ehrlich gesagt, dass du das selbst nicht weißt. Keine Ahnung hast. Deine Sturheit und die vielen, vielen Wörter, die Wiederholungen und wie du meine Erwiderung ignorierst, sind kein Ausdruck von Überzeugung, sondern von jugendlicher Unbedarftheit. Du hast dich abreagiert, den Druck, den unsere Arbeit nun mal mit sich –

Ich bin achtundzwanzig. Das ist nicht gerade jugendlich.

Das ist nicht immer eine Frage des Alters. Aus meiner Sicht bist du jung, Saskia, weil du nicht nachdenkst. Du äußerst Gefühle, die du nicht wirklich verstehst, gibst ihnen die erstbeste Bedeutung, die dir in den Sinn kommt, und so wirst du sie los. Aber davon mal abgesehen –

Also hör mal!

– davon mal abgesehen, Saskia, das gebe ich zu, ist das ein interessanter Punkt. Das Herz pumpt, das Blut fließt. Wir sind nun mal ein Ding. Oder besser gesagt: ein biologisch animiertes Ding. Meiner Meinung nach ist das schlicht ein Sachverhalt, aber erstaunlich viele Menschen wehren sich dagegen. Bloß ein Ding! Wie kann man das nur behaupten! Wie kalt und freudlos! Diese Abwehr ergibt sich aus dem Gedanken, dass wir mehr sind als bloß ein Ding. Dass wir eine Seele haben, oder einen Geist, einen inneren Gott, etwas Edles oder Besonderes, das uns über die schnöde Materie erhebt. Da hallen die Jahrhunderte nach, als wir uns für etwas Besonderes gehalten haben, für die Krone der Schöpfung oder den logischen, strahlenden Endpunkt der Evolution. Aber heute wissen wir es besser. Nichts und niemand hat uns beabsichtigt, gewollt oder erdacht. Nichts macht uns notwendig. Anders als viele andere finde ich diese Erkenntnis herrlich. Befreiend. Wir können tun und lassen, was wir wollen, und sind demzufolge wirklich frei, sind nicht an einen Heilsplan oder eine Bestimmung gebunden. Du hast also recht, Saskia, wir sind ein Ding –

Meine Worte!

Deine Worte, und ich stimme dir zu. Wir sind aus Staub und Zeit gemacht, wie Borges schreibt. Weißt du, wer Borges war? Vermutlich nicht. Staub und Zeit. Ich bin etwas, was schon seit Abermillionen Jahren existiert und was zu meinem großen Glück 1961 diese konkrete Gestalt angenommen hat. Mit meinem Tod wird es sie wieder verlieren. Keine schönen Aussichten, finde ich – trotz aller offensichtlichen Mängel hänge ich an meiner Gestalt –, aber vielleicht wird sich ja dieses oder jenes Teilchen von dem Ding, das jetzt meinen Namen trägt, irgendwann in anderen Gestalten wiederfinden, als Katze zum Beispiel, oder als Wolke, als Roman oder als Kuss. Ist das schnöde? Ist das kalt oder herzlos? Im Gegenteil, es liegt geradezu Grandeur darin. Grandeur: Dahinter verbirgt sich eine mächtige und mitreißende Geschichte, die –

Aber gut, Henk hat eben keine angemessene Erwiderung parat gehabt. Er ist ein bedächtiger Mann. Er denkt lieber nach, bevor er spricht, und zahlt manchmal einen Preis dafür. Gestern Abend auf dem Nachhauseweg hat er das Gespräch mit Saskia von Neuem geführt, aber Saskia war nicht mehr da. Niemand war da, und obwohl er sich der Reprise mit einigem Vergnügen widmete, drängte sich die Einsamkeit dieses Gedankenspiels nachdrücklich auf. Er fuhr über die A9 und nahm die Ausfahrt Driemond und folgte dem Kanal und bog dann links ab, rechts ab, nach Weesp hinein, geradeaus über das Kopfsteinpflaster dem Rathaus entgegen, das sich massig vor dem Sommernachthimmel abhob, dann rechts auf die Gracht.

Kurz und gut, er war allein.

***

Dem Hund geht es nicht gut. Schurk folgt ihm, wie immer, aber ganz bei der Sache ist er nicht. Ab und zu bleibt er stehen, hechelnd, lustlos hängt ihm die Zunge einigermaßen vorwurfsvoll aus dem Maul.

»Komm schon, mein Junge!«

Er versucht, einen munteren Ton anzuschlagen, hört aber seine eigene Besorgtheit. Schurk geht es nicht gut. Er erkennt den Hund nicht wieder. Nicht wirklich. Er ist wie ein Fremder für ihn. Umgekehrt hat er den Eindruck, dass auch er für Schurk zu einem Fremden geworden ist. Weg ist die Selbstverständlichkeit, mit der der Hund normalerweise auf ihn reagiert und ihn ansieht und offenbar immer weiß, wo er ist und was er will. Die gegenseitige Entfremdung verrät, was wirklich los ist: Schurk ist krank. Er ist nicht alt oder müde, es liegt nicht an der Hitze, er hat nichts Falsches gefressen, nein, er ist krank. Das geht mit Krankheit einher: Sie vertreibt uns aus der Normalität und macht uns zu Fremden. Die Selbstverständlichkeit dessen, wer und was wir sind, wird zerstört. Die Intimität wird beschädigt. Und so stehen sie sich an einem Abgrund gegenüber und sehen sich an, Henk mit einem Gefühl lähmender Angst und Schurk mit, tja, woher soll Henk das wissen?

Aber er gibt nicht auf. Der Hund darf den Mut nicht verlieren. Er muss ihm helfen, in die vertraute Welt zurückzukehren. Er muss an seiner Rolle festhalten, damit Schurk ihn erkennt. Er ist der Bestimmer. Er ist der Mann mit dem entschlossenen Schritt, der mit der abgemachten Leine schwingt. Der Mann, dem immer etwas einfällt, zum Beispiel das: »Na komm!«

Er joggt los, immer an der Vecht entlang. Schurk liebt es zu rennen, das weiß er. Rennen ist aufregend. Rennen heißt, ein Bösewicht muss gefasst werden oder ein Ball geholt oder Beute apportiert, also rennt der Hund gern hinter ihm her, bellend, aufgeregt, voller Leben.

Es ist viel zu heiß, um sich ernsthaft ins Zeug zu legen, merkt Henk bereits nach wenigen Metern, aber Schurk braucht das Gewohnte, es gibt kein Zurück, also trabt Henk tapfer weiter. Er hat Joggingsachen an. Er trägt eine Sporthose und ein altes, verwaschenes T-Shirt, das er irgendwann bei einer Tombola des Betriebsrats gewonnen hat. Mit dem BR ganz vorn! Seine Laufschuhe sind schon seit über einem Jahr so gut wie neu und verraten einiges über seine Disziplinlosigkeit. Gelegentlich führt seine stetige Gewichtszunahme zu dem frommen Wunsch, regelmäßig joggen zu gehen (und überhaupt weniger zu essen und definitiv die Finger von Käsewürfeln zu lassen und unbedingt alkoholfreie Tage einzulegen und auf gar keinen Fall Zucker in den Kaffee zu tun), aber jedes Mal gibt er nach drei, vier Anläufen wieder auf. Das Leben ist zu kurz, redet er sich ein, man muss es genießen. Und wenn du nicht joggen gehst, wird es noch ein bisschen kürzer, redet ihm Freek dann ein, in der Wirklichkeit oder in Gedanken.

Er rennt. Er schwitzt. Er wartet auf das leise Ticken der Hundepfoten auf dem Asphalt, auf Bellen, aber nichts passiert, und als er sich umdreht, sieht er, dass Schurk ihm nicht gefolgt ist. Der Hund liegt im Gras am Straßenrand. Henk bleibt stehen, geht zurück und kniet sich neben Schurk, findet keinen Halt in dessen Blick. Was ist nur los? Er streicht ihm über den Kopf und nimmt ein seidenweiches Ohr zwischen Daumen und Zeigefinger, wie er das gern tut.

»Ach, mein Junge …«

»Er hat bestimmt Durst«, hört er plötzlich eine Frauenstimme.

Henk zuckt zusammen. Als er sich umdreht, wird ihm bewusst, dass er seine Umgebung kaum wahrgenommen hat, so sehr war er mit Schurk beschäftigt. Eine Frau steht neben einem hüfthohen schmiedeeisernen Tor, hinter dem ein mit Waschbetonplatten gepflastertes Grundstück liegt, das zu einem Hausboot gehört. Unordentlich sieht es da aus. Ein Stapel Abrissplanken liegt herum, so alt und verschlissen, dass sie ganz grau sind. In einer Ansammlung von Blumentöpfen, Konservendosen und Kochtöpfen stehen Pflanzen in unterschiedlichen Stadien pflanzlichen Wohlergehens – von üppig blühend bis völlig verdorrt. Der Weg ist von einem abgewrackten alten Mofa verstellt, drumherum liegen Ersatzteile und Werkzeug. Auch die Frau ist nicht mehr die Jüngste. Früher muss sie schön gewesen sein, schätzt Henk, aber das ist schon eine Weile her. Mit Frauen gehen die Jahre härter ins Gericht als mit Männern. Nein, korrigiert er sich, nicht die Jahre, sondern die Männer gehen mit Frauen härter ins Gericht als mit sich selbst. Henk betrachtet sich als Feministen und freut sich deshalb über die gedankliche Korrektur, aber eine ärgerliche Konsequenz seiner Haltung ist, dass jeder Gedanke über Frauen ihn verunsichert – er ist schließlich ein Mann. Genau das passiert jetzt. Plötzlich überspülen ihn Gedanken über das Unrecht, das Männer Frauen antun, und er versäumt es zu reagieren. Das macht aber nichts. Die Frau hat nur Augen für den Hund.

»Oje«, sagt sie, »der Arme.«

Schurk hockt auf den Hinterbeinen, die Vorderläufe hat er lang nach vorn gestreckt. Er hechelt. Seine Zunge sieht blass aus, wie ein alter Spüllappen. Die Frau dreht sich um und kommt kurze Zeit später mit einer Wasserschale zurück, die sie dem Hund hinstellt. Schurk reagiert nicht. Er schaut zu Henk. Henk schiebt die Schale etwas näher zu ihm.

»Da, für dich.«

Jetzt trinkt der Hund ein paar Schlucke, erst nur pflichtbewusst, dann energischer. Er richtet sich sogar auf. Von einem Moment zum nächsten fegt sein Schwanz begeistert durch die heiße Juliluft.

»Gut so, mein Junge, gut so.«

Die Frau kniet sich jetzt auch hin, und plötzlich sitzt Henk mit einer fremden Frau am Ufer der Vecht. Wie unangenehm. Sie ist ihm zu nah – er spürt ihre Wärme, riecht ihren Körpergeruch – am liebsten würde er aufstehen, die Anspannung abschütteln. Tut er aber nicht, sie könnte es für unhöflich halten. Zuerst sollte eine gewisse Kontaktaufnahme stattgefunden haben. Er streicht dem trinkenden Hund über den Kopf.

»Das hat er anscheinend gebraucht, vielen Dank.«

»Es ist aber auch wirklich höllisch warm heute.«

»Es soll der wärmste Juli sein seit 1897.«

»Ja, Klimawandel und so.«

Jetzt ist es okay, wenn er aufsteht. Schurk schlabbert immer weiter. Lag es wirklich nur daran, dass er ihm zu wenig zu trinken gegeben hat? Wie gerne würde er das glauben, aber die Sorge lässt sich nicht ganz beiseiteschieben. Trotzdem atmet er auf. Das Wasser der Vecht riecht leicht faulig, aber nicht unangenehm. Weiter weg flimmert die Luft über der Straße von der Hitze, die im Lauf des Tages alles lahmlegen wird. Es wäre vielleicht vernünftig, wenn er –

Moment mal! Er findet die Frau anziehend. Er ist nicht aufgestanden, weil sie ihm zu nahegekommen ist, sondern, weil sie ihn erregt. Darüber wundert er sich. Es ist schon ewig her, dass er so unmittelbar auf eine Frau reagiert hat, und offenbar erkennt er die eigene Erregtheit nicht mehr – das Ziehen in den Hoden, den Penis, der sich ähnlich ungeduldig bemerkbar macht wie Schurk manchmal. Henk schaut auf ihren Scheitel hinunter, der sich dunkel vom helleren Grau abhebt. Der Kragen ihres blauen Kleides fällt hinten am Nacken auf und gibt den Blick auf ihren Rücken frei. Er registriert, dass sie keinen BH trägt, und spürt, wie die Ungeduld seines Penis immer drängender wird – zu dem Drang wird, sich im Gras an die Frau zu drücken, zum Beispiel, sie auszuziehen, und sie, tja, nein, das geht natürlich nicht. Erschreckt tritt er einen Schritt zurück, auf die Straße. Im nächsten Augenblick rast ein Rennradfahrer dicht an ihm vorbei. Henk spürt den heißen Luftzug und nimmt einen süßlichen Geruch wahr, Körperöl vielleicht, dann hört er das Surren von Reifen auf Asphalt. Der Beinahe-Zusammenstoß hat den Radfahrer aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Mann, der Henk zu spät gesehen hat, reißt den Lenker zur Mitte der Straße herum, verliert das Gleichgewicht, schlingert, fängt sich aber wundersamerweise wieder und setzt seinen Weg unversehrt fort. Trotzdem ist er wütend. Er dreht sich um und zeigt Henk den Mittelfinger. Henk verschlägt es kurz die Sprache, denn es war absolut keine böse Absicht von ihm, höchstens ungeschickt, außerdem ist nichts passiert, was regt sich der Kerl also auf, was für eine bescheuerte Reaktion, was für ein Arschloch, und richtig, jetzt hebt auch er die Hand, mit gestrecktem Mittelfinger, in einem typisch männlichen Reflex, eingeflößt vom Gift seines Testosterons.

***

Die Wohnung liegt seltsam ruhig und verlassen da. Nach all der Helligkeit draußen wirkt sie geradezu düster. Henk fühlt sich unwohl, fast wie ein Einbrecher, und das mag der Grund für sein ungewöhnliches Verhalten sein. Er reißt den Kühlschrank mit einem Ruck auf. Zerrt so kraftvoll an der Buttermilchpackung, dass der Karton reißt, trinkt und knallt das leere Glas zurück auf die Anrichte. Als er wieder Luft holt, drängt sich ihm eine Erinnerung auf. Ihm ist nicht danach, aber ihm bleibt keine Wahl, also Augen zu und durch. Vor ungefähr fünf Jahren kam er auf dieselbe Weise nach Hause, nicht hier natürlich, sondern in Amsterdam, an einem ähnlich warmen Tag. Zu einer ungewöhnlichen Uhrzeit: Er war zur Arbeit gegangen, hatte sich krank gefühlt und war wieder nach Hause zurück. Die Wohnung in der Rivierenbuurt lag genauso ruhig und verlassen und düster da wie seine Wohnung heute, doch dann hatte er gemerkt, dass er nicht allein war. Von oben kam Gekeuche und Gestöhne. Er erkannte Lydia, nicht aber den Mann, mit dem Lydia ganz offensichtlich gerade Sex hatte. Während er die Treppe hochging, fragte er sich, wen er da auf frischer Tat ertappen würde. Einen Nachbarn, wie sich herausstellte. Arie. Arie war klein und stämmig. Arbeitete bei der Gemeinde. Henk hielt ihn für ein selbstgerechtes Arschloch. Aries Hintern war, wie er unschwer erkennen konnte, schneeweiß und merkwürdig unbehaart, vor allem im Vergleich zu dem übermäßig behaarten Rücken und den Oberschenkeln. Es kam wenig Muskelmasse zum Einsatz, denn sie rammelten – sofern Rammeln das treffende Wort war – ohne große Überzeugung. Dennoch sorgte Lydia für die notwendige Geräuschkulisse. Sie stöhnte und schnaufte und zog die Beine so weit wie möglich an, während sich ihr Becken unter dem weißen Hintern drehte und wand. Perplex hatte Henk den Dingen ihren Lauf gelassen und unten am Küchentisch gewartet, bis sie fertig waren. Erträglich wurde die Erinnerung nur durch all das, was sich auf Aries Gesicht abspielte, als er auf dem Weg nach unten, noch mit dem richtigen Sitz seiner Klamotten beschäftigt, Henk am Küchentisch entdeckte. Aries Gesicht spiegelte die unterschiedlichsten Gefühle: Ein Triumphgefühl, das Männer wie Arie nach außerehelichem Sex haben; das unangenehme Bewusstsein, erwischt worden zu sein; ein schnelles Abschätzen möglicher Komplikationen (handgreifliche Auseinandersetzung mit Henk, Ärger zu Hause); Gereiztheit, weil er in diese Situation geraten war, und so weiter. Henk fällt es immer noch schwer, den daraus resultierenden Ausdruck genau zu beschreiben. Bei verwirrt fehlt die nötige Spur Scham. Unbehaglich? Sprachlos? Unbeholfen vielleicht noch am ehesten. Wie auch immer, wenige Augenblicke später tauchte Lydia auf, und ihr Ausdruck war einfacher zu lesen: Sie war entrüstet.

»Was machst du denn hier?«

»Mir gehts nicht gut. Ich fühle mich krank.«

»Am helllichten Tag?«

»Ja.«

»Hättest du nicht vorher anrufen können?«

Na ja, ganz so verlief das Gespräch nicht, aber doch so ähnlich. Es war seine Schuld, dass sie in einer derart unangenehmen Situation war. Trotzdem war ihre Ehe in diesem Moment noch keineswegs verloren gewesen. Ehebruch ist Ehebruch, dumm, dreist, aber irgendwie verständlich, denn wir sind bloß Dinge, alles in allem also kein Grund für eine Ehe zu scheitern. Henk war auch nicht immer treu gewesen. Er vermutete, dass Lydia das wusste, aber dachte wie er und ihm im Stillen verzieh, und darum tat er das seinerseits auch. Heute, im Nachhinein, wird ihm allerdings klar, was eigentlich passiert war. Er hatte ihr nie verziehen. Seht doch: Er ist noch immer wütend. Und so hatte er sich völlig kindisch verhalten: Er hatte sich von der Idee verführen lassen, dass er großmütig war, ein Mann, der verzeihen konnte, aber –

An dieser Stelle unterbricht er sich. Was passiert ist, ist passiert, denkt er bestimmt. So bestimmt, dass er den Gedanken laut ausspricht: »Was passiert ist, ist passiert, aber jetzt ist es Zeit zu duschen.«