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Zwischen Licht und Schatten. Fesselnde Romantasy über Liebe, Macht und dunkle Entscheidungen »›Du bist das Licht in einer Nacht voll Schatten, Aly. Mein Licht. Mein Herz.‹« Alison muss ihre Gefühle für den Dämonen Gareth zur Seite schieben, während sie an seiner Seite für eine bessere Welt kämpft. Als Schlüsselträgerin soll sie das Tor öffnen, um die Dämonen in ihre eigene Welt zurückzustoßen. Doch ihre wachsende Nähe zum Dämonenkönig Dorian und ihre dunkle Mission stellen sie vor eine unmögliche Wahl: Kämpft sie für die Menschen, um ihre Familie zu rächen, oder folgt sie ihrem Herzen und bleibt bei Gareth? Inmitten von Verrat und Intrigen liegt das Schicksal der Welt allein in ihren Händen.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
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© Piper Verlag GmbH, München 2025
Redaktion: Wiebke Bach
Bei diesem Werk handelt es sich um die überarbeitete Wiederveröffentlichung des Titels »Ein Thron aus Knochen und Schatten« von Laura Labas erschienen 2017 im Drachenmond Verlag
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Covergestaltung: Guter Punkt, München
Covermotiv: Bilder unter Verwendung von Getty Images
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Cover & Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Der Jäger
7. Kapitel
Der Königsdämon
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
Die Hexe
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Der Jäger
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
Der Jäger
21. Kapitel
Die Seherin
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Der König
27. Kapitel
Der Jäger
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
Der Jäger
31. Kapitel
Der Königsdämon
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
Die Hexe
35. Kapitel
Die Seherin
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
41. Kapitel
Der Jäger
42. Kapitel
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
2005 – In den Rayons, nahe der neu gegründeten Stadt Billings
Tante Lucy hielt inne, hob ihr wettergegerbtes Gesicht gen Nachthimmel und wartete auf etwas, das mir noch verborgen blieb. Die Dunkelheit lag wie ein samtener Mantel um unsere Schultern und schien durch nichts durchbrochen werden zu können – doch da, einen Moment später schob sich der volle, satte Mond an den Wolken vorbei und tauchte die Stadt in silbriges Licht. Niemand außer uns war hier. Der Tod bewachte die Nacht. Die Häuser, in denen bis vor Kurzem noch Menschen gelebt, gelacht und gefeiert hatten, glichen leeren Höhlen. Leichen gar. Mich überzog eine Gänsehaut. Skelette eines vergangenen Zeitalters, das einst voller Licht und Leben gewesen war.
»Trödel nicht rum, Alison!«, wies mich Lucy streng zurecht. Sie hatte sich bereits zur nächsten Hausecke aufgemacht, während ich noch gedankenverloren ins Nichts gestarrt hatte.
Wir befanden uns in einer verlassenen Kleinstadt mit Einfamilienhäusern und verwilderten Gärten. Es gab eine einzige Einkaufsstraße und dieser näherten wir uns.
Ich schüttelte den Kopf, um ihn von diesen trostlosen Gedanken zu befreien, verspürte aber nur einen geringen Erfolg. Seit meinem Geschenk zu meinem vierzehnten Geburtstag vor einer Woche war nichts mehr, wie es einmal war. Lucy hatte mich, wie so oft vorher, zu einer Jagd mitgenommen und ich hatte das allererste Mal einen Schattendämon getötet. Natürlich nicht allein. Lucy hatte ihn zuerst niedergestreckt, damit ich ihm gefahrlos den Todesstoß versetzen konnte. Im ersten Augenblick hatte ich gezögert. Es war so viel Blut geflossen und dieses Mal hatte ich es nicht nur aus der Ferne gesehen. Noch immer spürte ich den warmen Lebenssaft an meinen Händen.
»Alison!«, keifte Lucy ungehalten, die viel mehr Kraft in ihrer Stimme besaß, als man ihr auf den ersten Blick zutrauen würde. Körperlich glichen wir uns sehr, nachdem ich in den letzten Jahren meiner Ausbildung deutlich an Gewicht verloren hatte. Ich aber besaß gewisse Rundungen, die auch nach Monaten des Trainings nicht verschwinden würden. Sie waren vielleicht noch nicht sonderlich ausgeprägt, aber sie entwickelten sich zu Lucys deutlichem Leidwesen. Sie lag mir ständig damit in den Ohren, dass ich beten sollte, keinen großen Busen zu kriegen, der mich im Kampf behindern würde.
»Ich komme ja schon«, zischte ich und schloss zu ihr auf, bevor sie einen prüfenden Blick auf die breite, asphaltierte Straße warf. Sie hatte mir mehrmals befohlen, auf Zeichen von Zivilisation zu achten, doch was ich auch tat, ich erreichte niemals ihr Level der Fährtenlese. Sie hatte eine unheimliche Begabung dafür entwickelt. Manchmal fragte ich mich, ob sie in dieser Gegenwart mehr zu Hause war, als sie es in der Vergangenheit ohne Dämonen je hätte sein können.
Meine Erinnerungen an die Zeit waren verschwommen, doch den abfälligen Ton meiner Mutter, mit dem sie damals über ihre von der Realität entrückten Schwester gesprochen hatte, hatte ich nie vergessen. Eine Schwester, die niemals still sitzen konnte. Eine Schwester, die paranoid war und in allem eine Bedrohung sah. Es stellte sich heraus, dass Lucy die Einzige von uns gewesen war, die mit dem Einmarsch der Dämonen halbwegs zurechtgekommen war. Wie hätte es auch anders sein können? Sie hatte sich ein Leben lang auf Bedrohungen wie diese vorbereitet.
»Da vorne.« Sie deutete mit einer Hand nach links, wo ein zerbrochenes Schaufenster einen ungehinderten Blick auf den Laden dahinter bot. Das unbeleuchtete Schild verriet, dass es sich einst um einen Sportbekleidungsladen gehandelt haben musste.
»Was ist denn?«, murmelte ich unruhig auf der Stelle tretend. Mir war trotz der milden Temperaturen, die in Kalifornien herrschten, kalt, da ich nur einen dünnen Pullover trug. Zuvor hatte ich meine Lederjacke vergessen und ich war zu stolz gewesen, Lucy zur Umkehr zu bewegen. Sie hätte mich nur wieder getadelt, da sie schließlich nie etwas vergaß. Auch heute war sie bis an die Zähne bewaffnet und trug ihre übliche Kleidung. Eng anliegende Jeans, feste robuste Stiefel, einen Rollkragenpullover und ihre widerstandsfähige Synthetikjacke. Alles natürlich in einem dunklen Grau, um so gut wie möglich mit der Dunkelheit verschmelzen zu können.
»Sieh genau hin«, befahl sie mir, während sie an der Hauswand lehnte, um deren Ecke wir schauten, anstatt mir normal zu antworten. Ihr dickes rotbraunes Haar hatte sie zu einem festen Zopf in ihrem Nacken gebunden, sodass keine einzige Strähne in ihr faltenfreies Gesicht fiel. Sie wirkte zeitlos. Körperlich sah sie kaum aus wie die vierzig Jahre, die sie zählte, doch in meinen Augen wirkte sie oftmals wie ein Kind, das sich inmitten seines liebsten Spiels befand und vorhatte zu gewinnen.
Ich unterdrückte ein Seufzen, da ich dieses Verhalten bereits gewohnt war. Keine Reaktion meinerseits würde dies ändern. Also kniff ich die Augen zusammen und starrte tiefer in die Finsternis, bis ich den Schatten im Laden erkannte. Er bewegte sich langsam, behäbig gar, als würde er eine Last mit sich schleppen.
»Dämon?«, flüsterte ich leise. Mit der Erkenntnis begann mein Herz plötzlich so schnell zu pochen, dass ich kaum atmen konnte. Mir brach der Schweiß auf der Stirn aus, mein Herz pumpte Adrenalin durch meine Adern und die leicht abfällige Gleichgültigkeit, die mich zuvor noch beherrscht hatte, war wie weggewischt. So war es immer.
Während der Zeit zwischen der Jagd fühlte ich mich meist wie ein normaler Teenager, zumindest bezeichnete mich Lucy als einen. Ich nörgelte. Ich war unausstehlich. Ich wollte ein anderes Leben. Sobald wir uns aber in der Nähe von Gefahr, von Dämonen befanden, spürte ich die Veränderung in meinem Körper. Der Anflug von Gefahr rückte alles Unwichtige in den Hintergrund, sodass ich mich allein auf meine Umgebung konzentrieren konnte. Für mich existierte nichts mehr außer den Dämonen. Denn dafür war ich noch hier. Dafür lebte ich noch. Um ihn zu finden und zu töten. Den Mörder meiner Familie. Ja, ich wusste, dass es zwei Königsdämonen gewesen waren, aber in meinem Kopf existierte nur einer. Derjenige, der die Strippen gezogen hatte. Derjenige, der mein Leben allein deshalb verschont hatte, damit ich in Schmerz und Verzweiflung untergehen würde. Das war sein Versprechen an mich gewesen und ich hatte es nicht vergessen. Es war das, was mich antrieb.
»Bist du bereit?«, fragte mich Lucy, die nichts von meinem inneren Aufruhr mitbekommen hatte. Sie war so ruhig wie eh und je. Ich bewunderte sie für ihre mentale und körperliche Stärke, obwohl ich ihr das niemals sagen würde. Sie würde ein Kompliment nicht zu schätzen wissen und als verschwendeten Gebrauch von Luft und Stimmbänder abstempeln.
»Nimm die Armbrust. Du weißt, was du zu tun hast.«
Ich nickte ernst. Eisern. Die Armbrust, die bis gerade noch an einer Halterung an meinem Rücken befestigt gewesen war, wog schwer in meinen Händen, obwohl ich mittlerweile einige Muskeln aufgebaut hatte. Vielleicht lag es auch an der Schwere der Situation.
Ich überprüfte, ob der Bolzen richtig eingeklemmt war, ehe ich mich neben Lucy positionierte und den Lauf auf den Laden richtete, darauf wartend, dass sich der Schatten nach draußen bewegte.
Es geschah viel schneller, als ich angenommen hatte. Der Schatten kletterte aus dem zerbrochenen Schaufenster, anstatt die Tür zu benutzen.
Eine Schweißperle blieb in meinen Wimpern hängen. Ich blinzelte nicht. Dann sah ich das Gesicht des Mannes, weiße Pupillen blickten in unsere Richtung. Das reichte für mich aus, den Abzug zu drücken und den Bolzen fliegen zu lassen. Der Schatten hatte keine Chance, da sich die Spitze der Waffe erbarmungslos in seine Brust bohrte. Sein Herz hatte ich allerdings verfehlt, das war mir trotz der Entfernung bewusst. Der Bolzen war zu weit rechts eingeschlagen.
»Seine Lunge«, schnaubte Lucy missbilligend und ich wusste, ich würde mir später noch mehr anhören müssen.
Der Schatten war auf seine Knie gefallen, konnte sich aber nicht lange aufrecht halten und kippte seitlich auf den harten Boden. Seine Hände umklammerten den Schaft, als würde er versuchen wollen, den Bolzen herauszuziehen.
Lucy und ich pirschten uns heran, immer in Erwartung, dass sich noch weitere Dämonen in der Nähe befanden und uns angriffen. Dieses Mal sollten wir Glück haben. Niemand anderes schloss sich unserer Gesellschaft an, als wir den sterbenden Dämon erreichten, der doch keiner war.
»Lucy?«, hauchte ich überwältigt von der Wahrheit, die sich erst allmählich an mich heranschlich. »Lucy …«
»Du konntest es nicht wissen …«
Jedes Mal, wenn Lucy einen Schattendämon getötet hatte, war er in seiner gewandelten Form geblieben. Niemand hatte sich bisher in seine normale menschliche Form zurückgewandelt. Das passierte einfach nicht. Es konnte also nur eines bedeuten …
»Er hatte … Seine Pupillen, sie waren doch weiß!«, stammelte ich und versuchte die Schuld von mir zu schieben, während der Mann unter mir gurgelnd die Augen öffnete, die blau waren. Leuchtend blaue Iriden und schwarze Pupillen. Keine Spur von Weiß.
»Es muss der Mond gewesen sein. Seine Augen sind so hell, da passiert so eine Verwechslung schon mal«, antwortete mir Lucy rational, ehe sie sich auf einem Knie abstützte und eine Hand um den Schaft legte.
»Was tust du da?«, rief ich mit Schrecken und viel zu laut. »Er ist ein Mensch! Wir müssen ihm helfen!« Ich wich dem Blick des Mannes aus. Er schien im Alter meiner Tante zu sein, doch sie war vollkommen unberührt davon.
»Ihm ist nicht mehr zu helfen. Sieh nur, seine Lunge ist bereits voller Blut. Er ertrinkt.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf seinen Mund, aus dem blutige Blasen hervorquollen. Der Mann zuckte unkontrolliert. »Willst du, dass er weiter leidet?«
Tränen hatten sich in meinen Augen gesammelt. Was ich wollte? Ich wollte das hier ungeschehen machen. Ich wollte in mein Bett. Ich wollte …
»Wir haben keine Zeit für deine Heulepisoden, Alison«, sagte sie barsch. »Also?«
Ich schüttelte den Kopf, unfähig etwas zu sagen. Meine Hände waren zu Fäusten geballt.
»Was? Drücke dich aus, Alison, wir sind nicht in einem Stummfilm.« Ich wusste zwar nicht, was ein Stummfilm war, aber ich erkannte den Sinn ihrer Forderung.
»Ich will nicht, dass er leidet«, sagte ich leise.
»Gut, dann tu was dagegen.« Ohne Vorwarnung zog sie den Bolzen heraus, als würde sie mir keine Zeit mehr geben, meine Entscheidung zu überdenken. Der Mann schrie auf, doch der Schrei endete in einem Gurgeln. Sein ganzer Körper zitterte, als würde er unvorstellbare Schmerzen erleiden. Panik durchfuhr mich, doch anstatt mich umzudrehen und fortzulaufen, kniete ich nieder, zog mein Waidblatt, eine Art großes Jagdmesser mit abgeschrägter Spitze, aus der Scheide und stieß ihm die Spitze zielsicher ins Herz. Sein Körper erschlaffte. Die Augen wurden glasig.
Manchmal hasste ich meine Tante mit jeder Faser meines Seins. Doch jedes Mal, wenn sie bisher diesen Hass in meinen Augen gesehen hatte, hatte sich eine verwirrende Zufriedenheit auf ihr Gesicht geschlichen. Als ob mein Training nur darauf ausgerichtet war, sie zu verabscheuen.
»Sehr gut. Nun …«, setzte sie an, bevor wir gestört wurden. Ein Junge, ungefähr in meinem Alter, stürzte aus dem Nichts hervor, schubste mich nach hinten und beugte sich über den nunmehr leblosen Körper.
»Dad!«, schluchzte er so laut und herzzerreißend, dass es mir einen Schauder über den Rücken jagte.
Ich saß auf dem sandigen Asphalt und beobachtete mit Entsetzen die Szene, die sich vor mir abspielte. Die kleinen Steinchen auf dem Boden schrammten über meine Ellbogen, mit denen ich mich nach seiner halbherzigen Attacke aufgestützt hatte.
O Gott. Ich war eine Mörderin.
»Alison!«, rief mich Lucy zur Besinnung. Sie packte mich grob an meinem Oberarm und zerrte mich hoch.
Es vergingen mehrere Sekunden, in denen ich nur den Jungen sah, der die Leiche seines Vaters umklammerte, als würde er dessen Seele zwingen wollen, im Körper zu verbleiben. Es zerriss mich innerlich.
»Wir können ihn nicht zurücklassen! Er ist allein.«
»Glaub mir, das Letzte, was er will, ist, mit der Mörderin seines Vaters zusammen zu sein«, erwiderte Lucy kühl. Daraufhin bedurfte es nicht mehr ihrer Gewalt, um mich fortzuzerren. Ihre Worte hatten den gewünschten Effekt, doch Lucy war noch nicht fertig. »Sollte mich jemand töten, warte nicht auf mich und kehre nicht zurück. Ich bin nicht deine Schwäche. Du hast keine Schwäche, Alison. Sei auf der Hut und lasse dich nie von deinen Emotionen beherrschen. Du brauchst weder Freunde noch Familie, du brauchst nur …« Sie stockte und bevor ich mir einen Reim auf ihre Worte machen konnte, wechselte sie das Thema und ihre Stimme wurde sanfter. Wir ließen die Hauptstraße hinter uns und bogen in eine enge Gasse ein. »Fehler passieren nun mal. In dieser Welt sind sie auf der einen Seite schwerwiegender und auf der anderen Seite einfacher.«
»Was meinst du damit?« Ich zitterte am ganzen Leib. Es fiel mir leichter, mich auf das Gespräch zu konzentrieren, als an das Geschehene zu denken. Es würde mich zerstören.
»Die Fehler, die wir nun begehen, wären früher ein Kapitalverbrechen gewesen. Heute aber sind es Fehler, die uns unser Überleben ermöglichen«, weihte sie mich in ihre Weisheit ein, von der ich nicht wusste, was ich von ihr halten sollte. »Du musst lernen loszulassen, Alison.«
»Was soll ich loslassen?« Stirnrunzelnd blieb ich neben ihr stehen. Wir hatten den Stadtrand erreicht und blickten nun die dunkle Straße entlang.
»Deine Menschlichkeit. Deine Gefühle. Dich selbst.« Sie sah mich an. »Du bist nicht mehr Alison Talbot.«
»Wer bin ich dann?« Meine Stimme war kaum mehr ein Flüstern. Ich spürte, dass dies die Antwort war, auf die ich die letzten zwei Jahre so sehnlichst gewartet hatte.
»Du bist Rache.«
»Ich bin …« … Rache. Es war eine unbegreifliche Offenbarung. Ich konnte sie nicht aussprechen. Zu groß die Überraschung. Zu frisch die Erkenntnis.
»Es gibt etwas, das ich dir zeigen muss, und ich glaube, ich habe kein Recht, es dir länger vorzuenthalten. Es ist deine Bestimmung.« Sie presste ihre Lippen einen Moment zusammen, als würde sie mit sich ringen. »Komm mit. Wir sollten hier nicht derart angreifbar stehen bleiben.«
Wir betraten das nächstgelegene Einfamilienhaus, sicherten es ab, und trafen uns dann in dem verstaubten Wohnzimmer.
In einem der Sessel sitzend rubbelte ich mit einem Tuch vergeblich das Blut von meinen Händen, bis ich es aufgab und die Verfärbung meiner Haut stattdessen nüchtern betrachtete. Wenn ich Rache war, dann war es legitim, Blut an meinen Händen zu haben. Das war meine Bestimmung.
»Sieh her«, bat mich Lucy mit einer so sanften Stimme, wie ich sie nur einmal, kurz nach meinem Auftauchen bei ihr, gehört hatte. Die meiste Zeit hatte sie mich mit ihrer schroffen Stimme angesprochen, die sie präzise zu nutzen wusste. Als wäre sie früher einmal in der Armee gewesen.
Ich tat wie geheißen, hob meinen Blick und betrachtete ihren flachen, nackten Bauch. Sie hatte sich ihrer Jacke und des Pullovers entledigt, und stand in ihrem BH vor mir. Tante Lucy deutete mit ihrem Zeigefinger auf eine bestimmte Stelle unter ihren Rippen. Eine kleine Erhebung war zu sehen.
»Das ist der Schlüssel, Alison«, flüsterte Lucy voller Ehrfurcht. »Der Schlüssel, um das Portal zur Welt der Dämonen zu öffnen.«
Verblüfft öffnete ich den Mund und versuchte, unter der Wölbung die Form eines Schlüssels auszumachen. Unmöglich. Mir war schon immer klar gewesen, dass sie sehr speziell war, aber das hier? Das überstieg alles.
»Die Tore, das Portal … sie können nur mit dem Schlüssel und dem Schloss geöffnet werden. Beide zusammen haben die Macht dazu. In den Achtzigern wurden die Tore das letzte Mal geöffnet und seitdem galt der Schlüssel als verloren. Es dauerte fast zwei Jahrzehnte, bis er wiedergefunden wurde. Einige Jahre später konnten die Portale endlich wieder geschlossen werden. Der Schlüssel wurde mir von der vorigen Trägerin anvertraut.« Ich hing an jedem einzelnen Wort. »Ich muss den Schlüssel beschützen, während er gleichzeitig mich beschützt.«
»Wie meinst du das?«
»Der Schlüssel darf niemals in die Hände von Dämonen gelangen. Die Tore dürfen nie wieder geöffnet werden. Es gibt bereits zu viele Monster hier. Wir können nicht noch mehr einlassen.« Ihre hellbraunen Augen bohrten sich eindringlich in meine. Ich erkannte, dass sie überzeugt war von dem, was sie da sagte. Aber wurde diese Geschichte dadurch wahr? Die Worte meiner Mutter kamen mir wieder in den Sinn. Lucy ist verrückt. Meine Schwester ist unfähig, Traum und Realität voneinander zu unterscheiden. Aber Lucy hatte recht gehabt. Im Gegensatz zum Rest der Welt hatte sie den Untergang der Welt, wie wir sie kannten, vorhergesehen.
»Wer hat diesen Schlüssel erschaffen? Woher stammt er?«
»Das konnte mir Minerva nicht sagen. Sie war die Trägerin vor mir und ihr war der Schlüssel von einer anderen Frau übergeben worden, die ihr ihre Identität nicht preisgegeben hatte.«
»Klingt alles sehr …«
»Das ist die Wahrheit, Alison. Solange der Schlüssel in mir existiert, kann er von niemandem gefunden werden. Ich beschütze ihn und er gibt mir Kraft und Stärke. Durch ihn bin ich zu einer besseren Kämpferin geworden. Und das Gleiche wird er für dich tun.«
»Was?«, stieß ich atemlos hervor. Ich sank tiefer in den Sessel, wollte mit ihm verschmelzen.
Lucy ließ sich nicht auf unnötigen Erklärungen ein, sondern befahl mir, mich obenrum freizumachen.
Ich erhob mich, zog Jacke und Pulli aus und fuhr mir frierend über die von Gänsehaut bedeckten Oberarme.
»Keine Angst«, versuchte mich meine Tante zu beschwichtigen, doch davon kam nichts bei mir an. Ich fühlte mich allein, hilflos, entblößt. »Gib mir deine Hand.« Es war mir unmöglich, mich ihr zu widersetzen und so streckte ich meine Hand aus, die sie über die Wölbung legte. »In naher Zukunft werde ich dir diesen Schlüssel überreichen, der dich genauso beschützen wird, wie er mich beschützt hat. Doch ich erlaube dir schon jetzt, ihn vorher einmal zu halten.«
Ich spürte die Wärme unter meiner Hand, die fast unerträglich heiß wurde, ehe meine Finger von etwas zurückgestoßen wurden und sich danach reflexartig um den hervorkommenden Gegenstand schlossen. Es war der Griff eines goldenen, blutbesudelten Schlüssels, den ich Stück für Stück hervorzog. Mir wurde schlecht.
»Weiter«, keuchte Lucy, als würde sie starke Schmerzen erleiden.
Nachdem ich den Schlüssel aus ihrem Körper gezogen hatte, schloss sich die Wunde rasend schnell.
Ich wog ihn unsicher in meinen Händen, prägte mir seine Form ein und staunte darüber, dass Lucy doch nicht gelogen hatte. Sie legte einen Finger unter meine Rippen. »Dort wirst du ihn später fühlen können. Glaub mir, es ist ein fantastisches Gefühl.«
Damit war der Augenblick der Untersuchung abgeschlossen. Lucy führte meine Hände, während wir den groben Schlüssel gemeinsam zurück durch ihre Haut schoben.
Zwei Jahre später würde es die meine sein. Es würde ein wenig ziehen, aber alles in allem nicht sonderlich wehtun, anders offenbar, als wenn man ihn herauszog. Ich würde spüren, wie sich etwas in meinem Körper veränderte, doch das Adrenalin, das durch meine Adern schoss, würde alles taub und verschwommen wirken lassen. Schließlich würde auch das Ende des Schlüssels verschwinden und die Wunde sich schließen. Etwas Blut würde zurückbleiben, zusammen mit der Wölbung, die ich Jahre zuvor das erste Mal bei Lucy gesehen hatte.
»Du bist nun die Hüterin, Alison. Der Schlüssel wird dir die Kraft geben, deine Rolle als Rache einzunehmen. Wenn du dein Ziel erreicht hast, gib den Schlüssel weiter«, würde sie sagen, als wüsste sie bereits, dass sie mit der Weitergabe ihren eigenen Tod besiegelte. Ein paar Monate später würde sie im Kampf gegen einen Schattendämon, den ich daraufhin für sie tötete, sterben.
Nun legte sie die Hände auf meine Schultern und wartete, bis ich ihren durchdringenden Blick erwiderte. »Aber was auch immer du tust, öffne niemals das Portal.«
»Niemals«, versprach ich ihr.
Rache. Ich bin Rache, hallte es in mir nach, und das erste Mal spürte ich bei dem Gedanken so etwas wie Angst in mir aufflackern.
Die Kutsche ruckelte heftig, als wir über die Pflastersteine fuhren. In wenigen Augenblicken würden wir den Marktplatz sehen, der zu dieser Uhrzeit ausschließlich von Menschen besucht wurde. Mittags gehörte ihnen die Stadt. Sie gaben sich der Vorstellung hin, dass es keine Dämonen gab.
Nur heute würden wir sie in ihrer Illusion stören, da vor und hinter uns mehrere Königs- und Schattendämonen auf Pferden ritten. Wir Novizen befanden uns in der ersten der drei Kutschen. Da man uns nicht in Begleitung von Dorian sehen durfte, hatte er die mittlere Kutsche für sich beschlagnahmt. In der letzten saß Eliza mit Bird und zwei weiteren verletzten Dämonen, die ihrer Pflege bedurften. Die anderen Bediensteten hatten in ihren dunkelgrauen Uniformen auf dem Kutschbock Platz genommen.
»Alison!«, wies mich Ophelia zurecht. Meine Hand hatte sich zum Vorhang bewegt. »Gareths Anweisungen waren klar. Wir dürfen unsere Gesichter unter keinen Umständen zeigen.«
Ich verschränkte die Arme und ließ mich zurück in den Sitz fallen. Ian und Hadley warfen Phi und mir neugierige Blicke zu. Es war nichts Neues, dass wir uns in den Haaren lagen, aber seit dem Kampf gegen die Kaskaden hatten wir uns auf einen vorübergehenden Waffenstillstand geeinigt.
»Sorry, hatte vergessen, dass du Gareth immer noch in den Arsch kriechst.« Normalerweise hätte ich sie mit Ignoranz gestraft, doch meine Nerven waren aufgrund unseres hastigen Aufbruchs zum Zerreißen gespannt. Es geschah nicht alle Tage, dass ich es schaffte, ein ganzes Volk gegen mich aufzubringen. Hoffentlich hatte Dorian recht und die Kaskaden würden uns nicht bis in die Stadt folgen.
Phi schnaubte. »Ach, komm schon, Aly«, entgegnete sie süffisant. »Damit kannst du mich nicht mehr provozieren. Ich weiß, was ich will, und wenn es dir nicht passt, sei ruhig.«
Blinzelnd erwiderte ich ihren energischen Blick. Das spitze Kinn hatte sie keck angehoben, während sich ihre blauen Augen in meine bohrten. Sprachlos wandte ich schließlich das Gesicht ab und widerstand dem Drang, ihr wie ein Kleinkind die Zunge rauszustrecken. Wie kam es, dass sie sich plötzlich erwachsener als ich verhielt?
Ich fragte mich, was sie sagen würde, wenn ich ihr von dem nicht ganz unschuldigen Kuss zwischen Gareth und mir erzählte. Nicht dass sich dadurch etwas geändert hätte, außer dass ich von mir selbst angewidert war.
»Es ist echt viel los hier draußen«, kommentierte Hadley, der den Vorhang auf seiner Seite ein Stück zurückgezogen hatte. Die Beschwerde lag mir bereits auf der Zunge, dass Phi ihn nicht ermahnte, als mir klar wurde, dass sie lediglich darauf wartete. Ihr kalkulierter Blick verriet mir immerhin so viel.
Miststück.
Ich beugte mich vor und hielt den braunen Vorhang auf meiner Seite zurück, ohne meinen Kopf zu weit rauszustrecken. Hadley hatte recht. Wir kamen nur sehr langsam voran, da die Menschenmenge Mühe hatte, sich in den engen Straßen aufzuteilen. Die Sonne hatte sich zwischen den Wolken hervorgekämpft, was die Massen erklärte. Jeder wollte den warmen Herbsttag genießen.
»Alison?« Hadley spielte mit seinen Dreadlocks, nachdem er den Vorhang wieder fallen gelassen hatte. Neugierig lehnte ich mich vor. »Sag mal, was hast du eigentlich vor, wenn das alles hier vorbei ist? Ich weiß von Bird, dass sie sich an einem sicheren Ort niederlassen möchte. Vielleicht sogar hier in Ascia. Aber was ist mit dir?«
»Was ist mit euch? Ich erinnere mich daran, dass mir recht unhöflich der Mund verboten wurde, als ich euch das letzte Mal danach gefragt habe.« Mein Blick huschte kurz zu Phi, doch sie nahm den dargebotenen Köder nicht an. Verdammt. Sie spielte mir ihre neu gewonnene Reife wirklich nicht vor. Oder sie konnte nur sehr lange daran festhalten.
»Ich brauche bloß Geld und Sicherheit. Phi möchte ihren Vater finden«, verriet er, bevor sie ihn aufhalten konnte.
»Du sollst mich nicht so nennen«, stieß sie wütend hervor, ehe sie sich abwandte.
»Sorry«, entschuldigte sich Hadley kleinlaut, der abgesehen von mir der Einzige war, der ständig ihren Zorn abbekam. Ian war Phis bester Freund, weshalb er oftmals spielerisch getadelt wurde. Bird war selbst für die Oberzicke ein zu leichtes Opfer und ich glaubte mittlerweile sogar fast, dass Phi die Jägerin ins Herz geschlossen hatte. Des Öfteren hatte sie Bird mit einem nachsichtigen Blick und einem freundlichen Lächeln bedacht. Also blieb nur Hadley als angemessenes Opfer übrig, nachdem wir Clay Dupont im Kampf gegen die Kaskaden verloren hatten. Ich hatte keine nennenswerte Beziehung zu ihm gehabt, die anderen aber hatten ihn viele Jahre gekannt.
»Ich will auch jemanden finden«, antwortete ich ausweichend, obwohl Hadley nicht weiter nachgebohrt hatte.
»Und Dorian soll dir dabei helfen?«, hakte überraschenderweise Ophelia nach, die wohl vergessen hatte, weiterhin beleidigt zu sein.
»Das ist der Plan, ja«, nickte ich. Mir war nicht klar, was mich dazu gebracht hatte, die Wahrheit zu sagen, außer vielleicht, dass wir doch ein Team waren. Das war etwas, womit ich noch lernen musste umzugehen. Aus diesem Grund behielt ich die Tiefe meiner Rachegelüste für mich. Evan hatte mich damals aus diesem Grund abgewiesen, da er nicht mit meinem Wunsch nach Vergeltung konkurrieren wollte. Bird war die Einzige, der ich mich bisher anvertraut hatte und die mich deshalb nicht anders ansah.
Schließlich ließen wir den Marktplatz und die Menschen hinter uns und fuhren die Auffahrt zum Rathaus hinauf. Ich zog den Vorhang komplett zurück und legte meine Unterarme auf die Fensterkante, während ich die gepflegten violetten Hortensienbüsche betrachtete. Eine leichte Brise umwehte mein Gesicht, als ich den Kopf auf meine Arme bettete.
Ich erhaschte das erste Mal seit unserer Abreise einen Blick auf Gareth, der von seinem dunkel gescheckten Hengst stieg und die Zügel einem Stallknecht reichte. Als ob er meinen Blick gespürt hätte, wandte er sich in meine Richtung und runzelte die Stirn. Was er wohl dachte? Ging ihm unser Kuss durch den Kopf? Oder hatte er das Thema bereits für sich abgehakt? Er hatte sehr deutlich gemacht, dass es sich lediglich um körperliche Anziehung handelte und ich keinen Aufstand deswegen machen sollte. Doch wie sollte ich nicht? War es nicht falsch, wenn er sich zu mir und ich mich zu ihm hingezogen fühlte? Er war ein Königsdämon und ich ein Mensch. So etwas sollte nicht passieren.
Den Kopf schüttelnd zog ich mich zurück, wartete, bis die Kutsche zum Stehen kam, und ließ dann den anderen den Vortritt. Plötzlich verspürte ich keine Eile mehr, auszusteigen.
Mein Team hatte sich im Foyer versammelt. Es hörte sich gerade die Wegbeschreibung eines Bediensteten an, der ihnen den Grundriss des Hauses erklärte.
Ich umfasste meine Tasche fester, als Gareth auf mich zukam. Er überragte mich um mehr als einen Kopf und wirkte in seiner schwarzen Reitbekleidung düster und gefährlich. Auf seiner unteren Gesichtshälfte hatte sich ein dunkler Bartschatten gebildet, der ihn noch attraktiver machte. In meinem Bauch kribbelte es und ich wünschte mir, Ophelia wäre an meiner Seite, damit ich mich über ihr Verhalten Gareth gegenüber lustig machen könnte. Immerhin würde ich dann nicht über mein eigenes nachdenken müssen.
»Dorian möchte mit uns sprechen«, verkündete er mit seiner akzentbehafteten Stimme, ehe er auf die Treppen zeigte.
»Uns?«, fragte ich, mich nach meinem Team umschauend, doch sie waren bereits verschwunden.
»Noah, dich und mich«, klärte er mich auf und setzte sich in Bewegung. Selbst ohne Ketten wusste er, dass ich ihm folgen würde. Was blieb mir auch anderes übrig? Ich hatte mit Dorian Ascia einen Pakt geschlossen, den es einzuhalten galt. Zudem brachte es nichts, davonzulaufen, da Dorian Gareth befehlen konnte, mich ausfindig zu machen. Dadurch, dass Gareth mir in regelmäßigen Abständen sein Blut eingeflößt hatte, um meine Trainingsverletzungen zu heilen, hatte sich mein Körper an ihn gebunden. Es erlaubte Gareth, mich immer und überall zu finden.
Gareth führte mich in den dritten Stock, wo sich Dorians Spielzimmer befand.
Noah und Dorian befanden sich bereits dort, als wir eintraten, und schienen tief in eine Unterhaltung versunken. Beide wirkten keineswegs so, als wären sie die gleiche Strecke wie ich gereist. Ich fühlte mich klebrig und erschöpft, und mir schmerzten vom Sitzen sämtliche Gelenke, aber die drei Männer sahen aus, als hätten sie sich gerade frisch herausgeputzt. Jeder war auf seine Weise attraktiv, wobei Dorian knapp fünfzehn Jahre älter aussah als die beiden Dämonen unter seinem Befehl. Ihnen allen war dieser sonnengeküsste Teint zu eigen, der es mir oft erleichtert hatte zu entscheiden, ob ich es mit einem Dämon oder einem Menschen zu tun hatte. Natürlich durfte man sich genauso wenig darauf verlassen wie auf den Akzent, den Noah als Einziger nicht aufwies. Er gehörte der ersten Generation Dämonen an, die hier auf der Erde geboren worden war. Wie er mir anvertraut hatte, war das kein Vorteil, da sein Vater sich sicher gewesen war, er würde menschliches Blut in sich haben. Es endete darin, dass Noah seinen Bruder durch die Hände seines eigenen Vaters verlor, ohne dass Dorian ihn hatte beschützen können. Mir schmerzte es noch immer, und das, obwohl er ein Schattendämon war. Ich wusste nicht, wie es dazu gekommen war, aber ich sah Noah als meinen Freund an. Umso schmerzhafter war die Ungerechtigkeit, die ihm widerfahren war, schließlich war die Angst seines Vaters vollkommen unbegründet gewesen. Und wenn man genauer darüber nachdachte … Schattendämonen besaßen ohnehin einen menschlichen Vorfahren. Wenn ich mich recht an die Legende erinnerte, so hatte die Dämonenhexe Morrigan zusammen mit Aeshma Königsdämonen gezeugt und als dieser ihrer überdrüssig geworden war, ließ sie sich von einem Menschen trösten. Daraus entstanden dann Schattendämonen …
»Gut, dass ihr da seid«, unterbrach Dorian sich selbst in seiner Unterhaltung und wartete, bis Gareth die Tür hinter uns geschlossen hatte.
Mein Blick wanderte zum riesigen Billardtisch in der Mitte des Raumes. Die Kugeln waren verschwunden. Dorian trat einen Schritt näher und verlangte dadurch erneut meine Aufmerksamkeit. Er wusste ganz genau, wie er sich gebärden musste, um verschiedene Reaktionen bei anderen auszulösen.
»Nun, da wir wieder hier sind, wird sich einiges ändern müssen«, begann er, schien jedoch einzig mit mir zu reden.
Ich ließ meine Tasche fallen, aber er reagierte weder auf mein despektierliches Verhalten noch auf das Geräusch, als sie schwer auf dem Boden auftraf. Ich für meinen Teil verzog das Gesicht. Mindestens zwei meiner Rippen waren nach wie vor angeknackst oder geprellt. In meinem Gesicht gab es mehrere blaue und gelbe Flecke, die mich aber nur bedingt störten. Nach unserem kurzen Gespräch im Camp hatte Gareth keinerlei Anstalten mehr gemacht, mich zu heilen.
»Ich erwarte von dir, dass du mehr Verantwortung übernimmst. Du bist die Anführerin, weshalb du mit deinen Trainern gemeinsam einen Plan entwickeln wirst. Der Kampf gegen die Kaskaden hat uns unsere Defizite schmerzhaft vor Augen geführt. Es liegt jetzt in deiner Verantwortung, dein Team besser auf solche und andere Begegnungen vorzubereiten. Außerdem steht noch nicht fest, wie lange ihr in Ascia bleibt. Was mich betrifft, ist dies für sehr lange Zeit unser letztes Gespräch.«
Mein Gesicht schien meine Verwirrung preiszugeben, da sich ein leichtes Lächeln auf Dorians Gesicht abzeichnete. Er wirkte plötzlich sehr väterlich. Das angegraute Haar trug noch dazu bei, auch wenn er in seiner Kleidung eher wie ein Geschäftsmann wirkte.
»Ich muss eine Verbindung zu dir zumindest weitestgehend verleugnen können. Deshalb erhältst du Befehle ausschließlich von Gareth und Noah. Noch Fragen?«
»Nein.«
»Also bist du einverstanden?«
Meine Mundwinkel zuckten. »Solange du mir gibst, was ich verlange, gehöre ich dir. Allerdings …« Ich blickte von Gareth zu Noah, da ich mir nicht sicher war, ob sie die Details meiner Abmachung mit Ascia kannten. »Wann wird es so weit sein? Wie lange werde ich mein Leben für dich riskieren müssen, bis ich bekomme, was ich will?«
Die Miene des Königs war regungslos, als würde er während seines Schweigens eine Lüge vorbereiten.
»Die Zeit wird kommen.«
»Nein!«, unterbrach ich ihn sofort. »Ich möchte einen Beweis haben. Eine Art … Zugeständnis, dass du dich an unsere Abmachung hältst.«
Ärger blitzte in seinen Augen auf, aber er rang sich ein Nicken ab. »In vier Monaten bekommst du einen Namen.«
Die Antwort bestätigte meine lang gehegte Vermutung. Er wusste längst, wer hinter der Ermordung meiner Familie steckte, doch er vertraute mir nicht. Er wollte nicht riskieren, dass ich ihn und die Mission verließ, sobald ich einen Anhaltspunkt besaß, wer die Verantwortlichen waren. Mit dieser Einschätzung lag er gar nicht mal falsch … Auch wenn ich meine Situation zu schätzen gelernt und die Ausbildung, die mir hier geboten wurde, angenommen hatte, vergaß ich nie, dass ich mich unter Feinden befand.
»Sonst noch etwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
Er entließ mich mit einem Nicken.
Ich bückte mich steif, hob meine Tasche auf und schlenderte ruhiger, als ich mich fühlte, aus dem Raum. Gareth zog die Tür zu und blieb bei Dorian und Noah.
Nach nur ein paar zurückgelegten Metern hielt ich mit pochendem Herzen inne. Es war vorbei. Ich konnte mir nicht länger vormachen, dass ich dem Königsdämon allein aus einer schwierigen Situation heraushalf. Nein. Es war ernst. Ich würde fallen, wenn Billings je Wind von mir und meinem Team bekäme, und Ascia würde nichts tun, um das zu verhindern. Ich hoffte bloß, dass ich nicht starb, bevor ich meine Rache bekam.
Ich legte eine Hand auf meine linke Seite. Gareth hatte vor so langer Zeit recht gehabt. Ich würde mit meinen Verletzungen nicht anständig trainieren können. Zudem trug ich nun auch die Verantwortung für das Training der anderen. Ich würde nicht zulassen, dass sie genauso endeten wie Clay. Wir dürften Königsdämonen unterlegen sein, aber weder Menschen, selbst wenn sie Kaskaden waren, noch Schattendämonen.
Es wäre ohnehin müßig, mich weiterhin gegen Gareths Blut zur Wehr zu setzen, da es mich bereits als die Seine beansprucht hatte. Eine Faust ballend fasste ich einen Entschluss und blieb weiterhin stehen.
Und dennoch … es war in meinem Leben bereits so viel geschehen, was ich nicht hatte beeinflussen können … Es fiel mir schwer, mich selbst und meine Entscheidungen zu akzeptieren, die teilweise nicht mal meine eigenen gewesen waren. Bis ich zwölf war, hatten meine Eltern für mich entschieden. Lucy hatte die Verantwortung nahtlos übernommen, bis ich fast mein siebzehntes Lebensjahr erreicht hatte, und danach … ja, die Zeitspanne, in der ich Teil der Gilde gewesen war, hatte sie mir gehört? War ich es gewesen, die die Jahre auf der Jagd verbracht und unzählige Schattendämonen getötet hatte, nur weil ich nicht an die wahren Personen herankam, die meine Wut verdient hatten? Ich war mir nicht mehr sicher, wie viel davon mir gehörte, und es war frustrierend.
Gareth riss mich aus diesen trübsinnigen und überwältigenden Gedanken, als er Dorians Zimmer verließ, um den König mit Noah allein zu lassen. Er schien nicht sonderlich überrascht, mich hier anzutreffen, oder er war wieder einmal gut darin, seine wahren Gefühle vor mir zu verbergen. Ich hatte die Veränderung nach der Bestattung durchaus bemerkt. Er wollte mich nicht mehr an sich heranlassen. Ich konnte nicht sagen, ob ich ihn gefühlsmäßig jemals berührt hatte, da er Menschen noch immer verabscheute. Er würde nicht mit der Wimper zucken, würde die Menschheit über Nacht ausgelöscht werden.
»Was ist?«
In dem Sonnenlicht, das durch das Fenster am Ende des Flurs trat, waren seine Augen heller, als ich sie je gesehen hatte. Meistens begegneten wir uns in der Nacht, außer wir absolvierten unser Spezialtraining, doch da gingen mir in der Regel andere Dinge durch den Kopf als seine Augen. Wie zum Beispiel, dass ich mich würde übergeben müssen, sollte er mich noch weitere zehn Meter antreiben.
»Ich brauche dein Blut«, sagte ich so gelassen wie möglich, obwohl ich innerlich vor Nervosität Purzelbäume schlug.
Er starrte mich an.
»Ich brau-«, setzte ich erneut an, doch er hob eine seiner vom Kämpfen gezeichneten Hände, um mich zum Schweigen zu bringen.
»Ich habe dich schon verstanden.« Sein Stirnrunzeln verriet allerdings, dass ich ihn mit meiner Forderung verblüfft hatte. »Normalerweise muss ich dich dazu zwingen.«
Ich nickte. »Das ist wahr. Aber meine Rippen sind mindestens geprellt und ich muss dafür sorgen, dass die anderen vernünftig trainieren. Das kann ich nur, wenn ich zu hundert Prozent dabei bin. Glaub mir, ich würde lieber etwas anderes trinken, aber da das Schlimmste jetzt ohnehin schon eingetreten ist …« Ich zuckte mit den Schultern.
»Das Schlimmste? Deine Bindung an mich.« Ich versuchte in seinem Gesicht zu lesen, doch seine Stirn hatte sich geglättet und gab nichts mehr preis. »Okay.«
Nachdem ich meine Tasche aufgehoben hatte, setzten wir uns schweigend in Bewegung.
Das Gewicht schmerzte, aber es hätte noch mehr wehgetan, wenn Gareth die Tasche für mich getragen hätte. Das hätte mein Stolz nicht verkraftet.
Wir erreichten das Zimmer, das ich auch das letzte Mal belegt hatte, nur dass es dieses Mal nicht leer war. Elle wartete auf mich und stürzte nun auf mich zu, um ihre Arme um mich zu schlingen.
Verblüfft ließ ich die Tasche fallen und erwiderte die Umarmung. Ich hatte ganz vergessen, wie gern ich die junge Königsdämonin hatte. Ich versuchte, mir meine schmerzenden Rippen nicht anmerken zu lassen.
»Hey.« Ich lächelte sie an, als sie mich losließ.
»Du bist zurück!«, rief sie unnötigerweise aus. Ihr hübsches Gesicht, das von samtigen braunen Locken umrahmt wurde, strahlte. Sie sah ihrer Tante Liliana unglaublich ähnlich. Dann entdeckte sie Gareth und das Lächeln erstarb. Ich wusste, dass sie großen Respekt vor dem düster dreinblickenden Königsdämon hatte, weshalb ich sie von ihrem Leid erlöste.
»Ich habe noch was zu erledigen. Vielleicht möchtest du bei Bird auf mich warten? Sie ist auch eine Jägerin, aber verletzt«, schlug ich vor. »Ich komme sofort nach.«
Sie nickte eifrig.
»Wirst du sie finden?«
»Ich frage jemanden«, antwortete sie zuversichtlich, drückte mich noch einmal kurz und verschwand dann in ihrem wehenden Kleidchen aus dem Zimmer. Ich fürchtete mich vor dem Tag, an dem sie erwachsen wurde und erkannte, dass eine Freundschaft zwischen Mensch und Dämon unmöglich war.
Ich stutzte. Aber war es das wirklich? Sah ich Noah nicht als meinen Freund an?
Gab es für mich nur einen Unterschied zwischen Königsdämonen und Schattendämonen, weil erstere direkt für den Tod meiner Familie verantwortlich waren? Ich hatte mir selbst stets gesagt, dass ich lediglich Jagd auf Schattendämonen machte, um zu trainieren und stärker zu werden, damit ich eines Tages einen Kampf gegen Königsdämonen gewinnen konnte. Bedeutete dies also, dass ich mich niemals mit Königsdämonen anfreunden könnte? Nicht einmal mit Elle?
»Soll ich dich mit deinen wichtigen Gedanken allein lassen oder können wir die Sache jetzt hinter uns bringen? Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, meldete sich Gareth verärgert zu Wort.
Ich rollte mit den Augen, schloss die Tür hinter mir und entledigte mich meiner schwarzen Lederjacke. Mein Blick blieb währenddessen auf Gareth gerichtet, der seine Jacke ebenfalls auszog. Er legte sie ordentlich aufs Bett und zog dann einen kleinen Dolch aus dem Gurt, der quer über seiner Brust lag.
Es faszinierte mich auf eine makabre Art und Weise, wie er die Klinge an seinem Unterarm ansetzte und sich selbst eine Verletzung zufügte, um die meinen zu lindern.
»Ich werde nicht so viel brauchen«, erklärte ich leise.
»Lass mich das entscheiden«, erwiderte er schroff.
Das Blut quoll rot und dickflüssig hervor, während ich mich Gareth näherte. Er hielt mir den Arm hin, den ich mit meinen Händen rechts und links neben der Wunde umfasste und dann an meinen Mund führte. Als der Lebenssaft meine Lippen benetzte, vergaß ich, dass es sich um Blut handelte, schloss meine Augen und genoss den Geschmack von Honig und Sommer auf meiner Zunge. Es war ein berauschendes Gefühl.
Gareth stand hinter mir. Trotz des Highs konnte ich die Wärme seines Oberkörpers spüren, der nur wenige Zentimeter von meinem Rücken entfernt war. Vielleicht war es bloß Einbildung, doch seine Nähe ließ mich erzittern.
»Das reicht.«
Gareth zog seinen Arm zurück. Anstatt beschämt die Augen zu schließen, wie ich es sonst immer tat, suchte ich aktiv seinen Blick und wurde nicht enttäuscht. Der seine verriet, dass in ihm ein ebenso emotionaler Sturm herrschte wie in mir. Er war nicht schnell genug, die Maske der Gleichgültigkeit aufzusetzen. Als es ihm endlich gelang, ging ich nervös ins Badezimmer, um zwei Handtücher zu holen. Ich reichte ihm eines für seine Wunde und nutzte das andere, um das Blut von meinem Mund zu wischen.
»Würdest du mir einen Gefallen tun?« Bei meinen Worten hielt er inne, sah mich aber nicht an. »Würdest du Clarke und Ty Bescheid geben, dass ich mit ihnen den Trainingsplan durchgehen möchte? Am besten nach dem Abendessen. Oder dem Frühstück. Ich habe vergessen, welchem Zeitplan wir hier folgen. Das gibt uns allen noch Zeit, uns etwas auszuruhen.«
»Was ist mit Noah?« Er gab mir das Handtuch zurück. Die Blutung war bereits gestillt.
»Ihm sage ich selbst Bescheid.« Ich lächelte unwillkürlich. »Kann ja nicht von dir verlangen, dass du dich meinetwegen in seine Nähe begibst.«
Kurz dachte ich, ihm ein Lächeln entlockt zu haben, doch da war der Moment bereits verstrichen und ich war mir sicher, Opfer einer weiteren Einbildung geworden zu sein.
»Wir treffen uns auf der Terrasse. Halte dich an den kürzesten Weg«, wies er mich an, bevor er davonschritt.
Ich stellte mich unter die Dusche, um mich zu beruhigen. Im Gegensatz zum Camp war das Wasser hier zwar eher lauwarm als heiß, aber es war allemal besser als in meinem Apartment. Dort hatte ich regelmäßig gar kein fließend Wasser gehabt.
Nachdem ich mich wieder sauber fühlte und nicht mehr den Eindruck hatte, Gareths männlichen Geruch auf meiner Haut zu tragen, stellte ich das Wasser aus und trocknete mich ab. Aus meiner Tasche holte ich die Salbe hervor, die mir Cleo mitgegeben hatte. Mit kreisenden Bewegungen rieb ich die wohltuende Creme auf mein Tattoo, das sich von meiner linken Schulter bis zu meinem Handgelenk zog. Es zeigte diverse Muster und Symbole, die mich vor bösen Zaubern schützten. Das Beste allerdings war, dass sie mich vor der Macht der Dämonen schützten. Schattendämonen konnten sich dadurch weder an meiner Aura bedienen noch war es Königsdämonen möglich, mich zu manipulieren. Leider besaß nur ich dieses Schutztattoo, da Gareth der Meinung gewesen war, dass keiner meiner anderen Jägerinnen und Jäger die Kraft dazu aufbringen konnte, um diese Prozedur zu überstehen. Dabei ging es nicht bloß um den Akt des Tätowierens, sondern um die Magie, die währenddessen von Cleo gewebt wurde.
Cleo stammte zur Hälfte von Kaskaden ab, weshalb sie ein bestimmtes Maß an Magie wirken konnte. Sie war aber bei Weitem nicht so mächtig wie ihre kuriosen Verwandten.
Nachdem ich mich in meine schwarzen Jeans, Stiefel und ein eng anliegendes Thermoshirt gezwängt hatte, machte ich mich auf den Weg zu Bird. Ich wusste nicht, wohin sie gebracht worden war, erinnerte mich aber daran, dass wir uns hier als Menschen unter dem Radar bewegen sollten. Also fragte ich einen der Königsdämonen, der mich bereits von meinem vorigen Aufenthalt kannte. Es war purer Zufall, dass ich ihn gefunden hatte, nachdem ich zuvor zwei fremden Dämonen ausgewichen war. Was auch immer Gareth von mir hielt, ich wollte meine Zusammenarbeit mit Dorian nicht gefährden, indem ich auf so etwas Einfaches wie diese Bitte keine Rücksicht nahm. Nein. Dann lieber die Unannehmlichkeit auf mich nehmen und mich versteckt halten, wenn es sein musste.
Nach kurzem Zögern wies er mich in die richtige Richtung, beschloss dann aber, mich sicherheitshalber zu begleiten, als würde ich sonst davonlaufen.
»Das ist euer Flügel.«
Verblüfft blinzelte ich und besah mir den Flur, den ich noch vor wenigen Minuten verlassen hatte. Mein eigener. Hervorragend. Wäre ich nicht so in Gedanken vertieft gewesen, wäre mir das schon vorher aufgefallen.
»Weißt du, in welchem Zimmer sich die Verletzte befindet?« Ich hatte nicht vor, an jede Tür zu klopfen und damit die anderen bei ihrem wohlverdienten Schlaf zu stören. Außerdem war ich mir sicher, dass Ophelia ziemlich unausstehlich sein würde, wenn ich sie weckte.
»Das hier.« Er deutete mit einem Nicken auf die zweite Tür links von uns, bevor er sich umdrehte und davonging.
Ich klopfte an der weißen Tür, ehe ich sie öffnete und langsam eintrat.
Elle begrüßte mich breit lächelnd. Sie saß auf der Kante des Doppelbetts, in dem Bird lag. Die Jägerin war blass und wirkte müde, aber sie war immerhin wach.
Im Zimmer stand die Luft, weshalb ich mich zunächst ans Fenster stellte und dieses aufzog. Der Tag war weiter vorangeschritten, aber neue Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Es wehte ein kühler Wind.
»Ist es okay für dich, wenn ich es offen lasse?«
»Ich bin durchaus fähig, etwas Kälte zu ertragen, Alison.« Bird schnaubte.
»Sorry.« Ich grinste und trat an ihre Seite. Elle machte mir Platz, sodass ich mich ebenfalls aufs Bett setzen konnte. Ich gab mich mit dem unteren Ende zufrieden und ließ mich neben Birds Füßen in den Schneidersitz fallen. »Wie geht es dir?«
»Viel besser. Die Fahrt war zwar anstrengend, aber ich erhole mich wieder. Eliza sagte, dass ich schneller heile, als sie angenommen hat, und dabei liegt der Kampf nicht mal zwei Tage zurück.«
»Du hast gute Gene.« Ich lachte. Bird stimmte mit ein.
»Was sind Gene?«, fragte Elle sofort und ließ uns verstummen.
»Äh …«, begann ich verwirrt, weil ich über das Sprichwort, das ich benutzt hatte, noch nie genauer nachgedacht hatte. »Ich glaube …«
»Das ist das, was uns Menschen und vielleicht auch euch Dämonen ausmacht«, sagte Bird und kam mir damit zu Hilfe. Ihre Augen wirkten nicht mehr so verschleiert und müde wie noch Momente zuvor. »Früher, als … nun ja, alles normal war, haben sich Wissenschaftler mit der Frage beschäftigt, wie wir Menschen uns zu dem entwickelt haben, was wir heute sind. Und was wir an unsere Kinder weitervererben.«
»Entstammt ihr nicht von Aeshma oder Morrigan?« Wie gebannt starrte Elle Bird an. Es wirkte fast so, als würde sie zum ersten Mal einen Menschen sehen.
Bird lachte freundlich. »In unserer Welt gibt es viele Religionen. Sie alle behaupten von sich, die einzig wahre zu sein, aber wer weiß das schon so genau? Nein, die Biologie kann neben dem Glauben existieren. Das ist meine Meinung. Beides kann wahr sein und …«
Sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden, da in eben jenem Moment die Tür aufgestoßen wurde und ein hochgewachsener Dämon mit schwarzem Haar und vor Wut glühenden Augen ins Zimmer stürzte. Mit einem Blick erfasste er den Raum, sämtliche Anwesende und Ausgänge. Ein Soldat, schoss es mir durch den Kopf, da ich diesen Blick nur allzu gut von Gareth kannte.
»Wo bist du gewesen, Elle?« Er baute sich vor uns auf. Elles Gesicht veränderte sich zu einer Maske aus Angst.
Es war unmöglich, den Beschützerinstinkt in mir niederzukämpfen, und so versuchte ich es erst gar nicht. Ich sprang auf und stellte mich zwischen sie und den bedrohlich wirkenden Königsdämon.
»Was denkst du eigentlich, wer du bist und was du hier tust? Einfach ungebeten hereinzuplatzen und dich derart aufzuführen!« Ich ließ meine Wut heraus, stemmte die Hände in die Hüften und machte keinerlei Anstalten, zurückzuweichen.
Seine Nase kräuselte sich einen Moment missbilligend, dann atmete er tief durch. Wahrscheinlich gab er sich Mühe, sich zu beruhigen, um mich nicht zusammenzuschlagen. Nicht dass ich es ihm leicht gemacht hätte, aber ich war froh, dass er anscheinend vernünftig genug war, auf Worte zurückzugreifen.
»Ich bin Elles Vater. Adam. Und wer bist du, Mensch?«
»Oh«, entschlüpfte es mir und ich überlegte schnell, was ich tun sollte. Ich versuchte mich daran zu erinnern, ob Elle ihren Vater mochte oder nicht, kam aber nur zu dem Schluss, dass sie kein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Bedeutete das, dass sie meinen Schutz nicht benötigte? »Ich bin Alison Talbot.«
Adam schnaubte. Die Wut verschwand aus seiner Miene, was mich nun endlich die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinen Geschwistern erkennen ließ. Es war seltsam, dass seine Haare im Gegensatz zu Lilianas und Dorians so dunkel waren. Vielleicht hatten Dorians aber auch dieses Schwarz besessen, bevor sich das Grau zwischen den dunklen Strähnen festgesetzt hatte.
»Hätte ich mir gleich denken können«, murrte er so leise, dass ich fast glaubte, mich verhört zu haben.
»Was soll das denn heißen?«
»Das soll heißen, dass es nur eine Person gibt, die es wagt, ihre Stimme gegen den Bruder des Königs von Ascia zu erheben«, konterte er, sich keineswegs zurücknehmend. Ich trat einen Schritt vor und musste meinen Kopf in den Nacken legen, um weiterhin den Blickkontakt zu halten. Er war sogar noch größer als Gareth. Es kribbelte in meinen Händen bei dem Gedanken, dass mich dieser Königsdämon im Handumdrehen töten könnte. Ich war mir fast sicher, dass er Fähigkeiten besaß, denen ich nichts entgegenzusetzen hatte.
»Ich habe mich nicht gegen dich gestellt, sondern vor Elle. Du hättest wer weiß wer sein können! Ich hätte nicht zugelassen, dass jemand deiner Tochter ein Haar krümmt. Also solltest du mir besser dankbar sein, anstatt mich zu behandeln, als wäre ich ein ungehorsames Blag.« Ich atmete tief ein und aus. Ich fühlte ein seltsames Schwindelgefühl in mir aufsteigen und das wurde nicht nur durch die Angst in mir hervorgerufen. Ich war es gewohnt, Streit mit Dämonen zu suchen, doch diese Situation war nur entstanden, weil ich eine Dämonin beschützen wollte. Und das war … verwirrend.
Adam hielt meinen Blick für eine weitere Sekunde, ehe er einen Schritt zurücktrat und sich dann durch sein Haar fuhr. Seine Schultern entspannten sich.
»Gut. Du hast recht. Ich entschuldige mich für mein Verhalten. Bist du zufrieden? Darf ich jetzt meine Tochter sehen?« In seiner Stimme klang ein Hauch Sarkasmus mit, sodass ich nicht glaubte, dass er die Worte ehrlich meinte.
Nickend wich ich zur Seite. »Ich wollte keinen Streit entfachen«, murmelte ich kleinlaut, jetzt da mein Zorn verpufft war. Ich beobachtete, wie Elle zu ihrem Vater trat.
»Ich wollte nur Hallo sagen«, sagte Elle sehr leise. Der Schock, den ich fälschlicherweise für Angst gehalten hatte, war mittlerweile verschwunden. Sie wirkte nur noch wie ein schuldbewusstes Kind.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass du in deinem Zimmer bleiben sollst, bis Lystra und ich unser Gespräch beendet haben?« Lystra. Ich erinnerte mich daran, dass sie Elles leibliche Mutter war. Kurz vor meiner Abreise von hier war sie wieder in Elles Leben getreten. Niemand schien darüber glücklich zu sein.
»Lass uns gehen.« Adam Ascia legte eine Hand auf ihre Schulter.
»Moment, könntest du mir einen Gefallen tun?« Er reagierte bloß, in dem er still hielt. »Könntest du Noah sagen, dass wir uns bei Sonnenuntergang auf der Terrasse treffen? Um Dinge zu besprechen?«
»Zu Befehl«, murmelte er. Ich konnte seinen Tonfall nicht deuten, als er mir einen letzten, nachdenklichen Blick zu warf.
»Du warst echt mutig«, rief Bird bewundernd aus. »Er hat mir gerade eine Höllenangst eingejagt. Ich weiß nicht, wie die süße Elle mit ihm zurechtkommt.«
»Sie liebt ihn«, sagte ich nur, da ich durchaus die warmen Gefühle in ihren Augen gesehen hatte. Sie hatte gewollt, dass er sich Sorgen um sie machte. »Ich denke, sie vermisst ihn bloß und versucht, durch Ungehorsam seine Gefühle zu testen.«
»Und du wusstest nicht, was Gene sind?« Sie lachte und ich stimmte mit ein. Es tat gut, einmal alles loszulassen und den Moment mit einer Freundin zu genießen, die ich fast verloren hätte. »Wann hast du … Psychologie studiert?«
»Das Gefühl kommt mir nur bekannt vor. Nichts weiter.« Ich winkte ab und schob die Erinnerung an meine Tante weit von mir. »Ich lasse dich jetzt allein. Wir müssen beide etwas Schlaf nachholen.« Wir umarmten uns und ich schlüpfte in mein eigenes Zimmer zurück.
Bis zum Treffen später hatte ich noch einige Stunden Zeit, auch wenn ich mir besser vorher überlegen sollte, was ich wollte. Ich war mir keineswegs sicher, dass meine Trainer davon begeistert waren, sich mit mir über den Stundenplan auszutauschen. Ob Dorian sie vorher davon in Kenntnis gesetzt hatte? Oder hatte Gareth ihnen von der Veränderung berichtet, als er sie um das verfrühte Treffen gebeten hatte? Jedenfalls hoffte ich, dass ich es nicht mehr tun musste. Das würde die ganze Angelegenheit unnötig in die Länge ziehen.
*
Liliana weckte mich, als sie am Abend mit einem Tablett in mein Zimmer kam, von dem ein köstlicher Geruch ausging.
»Habt ihr keine Bediensteten dafür?«, fragte ich, mir verschlafen die Augen reibend. Ich schlug die Decke zurück und schwang die Beine über die Bettkante.
»Doch, aber wir wollen deine … eure Anwesenheit schließlich soweit es geht unter Verschluss halten. Bedienstete tratschen furchtbar viel.« Das Gespräch fühlte sich leicht an und die Stimmung war entspannt, was kaum zu glauben war. In meiner Zeit im Camp hatten wir selten einen Moment allein miteinander verbracht, da ich durch das Training so eingespannt gewesen war. Wir hätten uns auch wieder voneinander entfernen können, wenn ich ihre Freundlichkeit am Anfang meiner Entführung vergessen hätte.
Nachdem ich gegessen hatte, zog ich meine Boots an und schnürte sie möglichst fest. Ich hatte es satt, Trainingskleidung zu tragen. Sie minderte bloß den Ernst der Lage. Wir trainierten, um schlussendlich zu überleben.
Ich blickte aus dem Fenster. Die Sonne würde bald untergehen. Der Wind hatte zugenommen, wie ich an den wankenden Wipfeln der hohen Tannen erkannte. Ich entschied mich für die Sweatshirtjacke, aber gegen die Lederjacke.
Den Weg zur Terrasse hatte ich mir damals, als ich während meines ersten Aufenthalts flüchten wollte, so genau eingeprägt, dass ich nicht anhalten musste, um jemanden zu fragen.
Um den Tisch, der sich mittig auf der mediterran angehauchten Terrasse befand, die rundherum von grünen Pflanzen, Hecken und Sträuchern eingefasst wurde, hatten sich bereits alle Verantwortlichen versammelt. Mehrere Gartenlichter trotzten dem schwindenden Sonnenlicht.
Noah und Gareth befanden sich so weit wie möglich voneinander entfernt. Während Gareth neben Ty und gegenüber von Clarke stand, hatte es sich Noah in einem Stuhl am anderen Ende des Tisches gemütlich gemacht. Das war so typisch, aber ich sollte glücklich darüber sein, dass überhaupt alle aufgetaucht waren. Nicht dass Dorian ihnen Ungehorsam hätte durchgehen lassen, aber trotzdem.
»Wir sind hier«, begann Ty. Er war im Gegensatz zu Clarke etwas bulliger, doch trotzdem unglaublich schnell und flink. Ich hatte schon das eine oder andere Mal die Ehre gehabt, gegen ihn zu kämpfen, und jedes Mal hatte ich von Gareths Blut geheilt werden müssen. Außerdem war er Elizas … Mann. Sie kannten sich seit mehreren Jahren und waren ungefähr im gleichen Alter, auch wenn Ty keinen Tag älter als vierzig aussah. Königsdämonen alterten meist bloß halb so schnell wie wir Menschen. Schattendämonen waren uns da ähnlicher.
»Was gibt es so Wichtiges an unserem Training zu ändern? Wir haben uns bereits ein paar Gedanken darüber gemacht, weißt du?« Er war gekränkt, dass ich sie hergebeten hatte, um unser Training zu besprechen. Das erstaunte mich mehr, als wenn er bloß der Meinung gewesen wäre, ein Mensch hätte sich nicht in die Angelegenheiten eines Dämons einzumischen.
»Das weiß ich.« Ich nickte bedächtig, um die Bombe zu entschärfen. Ty verschränkte brummend die Arme vor seinem breiten Oberkörper und warf Clarke einen Blick zu, als würde er sagen: Pass auf, jetzt kommt’s.
»Ich respektiere eure Arbeit, die ihr sogar trotz meiner … nur mäßigen Bereitwilligkeit hervorragend ausgeführt habt. Allerdings haben wir einen Menschen verloren, der nicht hätte sterben müssen. Clay Dupont«, sagte ich energisch. Ich sah jeden von ihnen nacheinander an, um sicherzugehen, dass sie verstanden. Clarke nickte und auch Noah neigte seinen Kopf leicht. »Ich schlage lediglich ein paar Verbesserungen vor, die ihr gern abschmettern oder annehmen könnt. Vielleicht können wir uns gegenseitig weiterhelfen.« Ich rieb mir übers Kinn. »Zuallererst will ich meine Waffen zurück. Alle«, begann ich mit der schwierigsten meiner Forderungen, doch sie war nicht verhandelbar.
»Alison«, sagte Gareth warnend neben mir, doch ich hob eine Hand. Er gehorchte überraschenderweise.
»Ich bin die Anführerin und obwohl ich in den letzten Wochen viel gelernt habe, so habe ich auch einiges wieder verlernt. Ich brauche meine Waffen an meinem Körper. Vor einem Monat waren sie noch wie zusätzliche Gliedmaßen für mich und das Gefühl brauche ich zurück, um mich zu hundert Prozent sicher zu fühlen.« Ich machte eine kurze Pause, damit sie die Worte sacken lassen konnten. »Ich verstehe, dass Dorian erst sein Einverständnis geben muss, aber ich rechne nicht mit Widerstand, wenn ihr dahinter steht.«
Clarke zog die Schultern hoch. Ty sah auch nicht so aus, als würde er uns an seiner Meinung teilhaben lassen und so blieb es an Gareth oder Noah. Schließlich war es Letzterer, der sich dazu äußerte.
»Sie hat recht. Ich weiß, was es bedeutet zu wissen, wo sich welche Waffe am Körper befindet. In einem schnellen Kampf kann dieser Umstand den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen.« Noahs Worte waren an die gesamte Runde gerichtet, aber natürlich fühlte sich nur einer angesprochen. Oder sollte ich besser sagen angegriffen?
»War klar, dass du das sagst«, antwortete Gareth missbilligend und verschränkte wie Ty die Arme. Er hatte ebenso wie ich auf Trainingskleidung verzichtet und trug stattdessen legere Jeans, die man in Duster oder Triste nicht kannte, und darüber ein schwarzes kurzärmeliges Shirt, das sich über seine wie gemeißelte Brust spannte. Er war in jenem Moment so verdammt heiß, dass ich fast den Gesprächsfaden verloren hätte. Aber nur fast.
»Ach ja?« Noah lehnte sich noch weiter in seinem Stuhl zurück, langsam und provokant. Er hob beide Augenbrauen, während er seine Hände auf seinen flachen Bauch legte. Ich hatte ihn in Gareths Anwesenheit noch nie so entspannt gesehen.
»Du schiebst die Verantwortung dieser Entscheidung einfach von dir und erwartest, dass wir uns schlussendlich mit den Konsequenzen beschäftigen!«
»Ich dachte, ich hätte mich gerade entschieden …«
»Oberflächlich, ja. Du schlägst es vor und rechnest damit, dass wir dem Vorschlag folgen, und wenn etwas schiefläuft, ziehst du dich aus der Affäre. Wie immer.«
Noahs Lächeln schwand. So wie ich den Schattendämon kannte, haderte er innerlich mit sich selbst, ob er aufspringen sollte, um Gareth an die Gurgel zu gehen. Er blieb jedoch sitzen. »Das ist falsch und …«
»Hört auf!«, zischte ich ungehalten und stützte meine Hände auf dem hölzernen Tisch ab. »Es wird keine schlimmen Konsequenzen geben. Ich werde nicht mit meinen Waffen durchs Haus laufen, um jemanden zu verletzen, fuck. Ihr solltet lernen, mir zu vertrauen.«
»So wie du uns vertraust?«, höhnte Gareth und richtete seinen missbilligenden Blick nun auf mich.
»Ich vertraue dem Wort eures Königs. Das sollte genügen«, erwiderte ich kühl und hielt seinem Blick stand.
»Schön«, gab er schließlich nach.
»Schön«, fauchte ich und richtete mich wieder auf. »Können wir zum nächsten Punkt kommen?« Ich hoffte wirklich, dass sie mich nicht bei jedem Vorschlag derart bekämpfen würden.
Niemand antwortete und jeder wich meinem Blick aus.
»Wir müssen das Kämpfen in der Dunkelheit trainieren Wir haben gegen die Kaskaden ziemlich übel ausgesehen. Ihr seid durch die Dunkelheit nicht beeinträchtigt, weshalb euch dieser Gedanke vermutlich noch nicht gekommen ist«, fügte ich an, um Ty nicht weiter zu kränken. »Es wäre von Vorteil, wenn wir lernen, unsere anderen Sinne zu schärfen, um uns nicht mehr allein auf unsere Sehkraft verlassen zu müssen. Ich zähle mich selbst dazu.«
Ty nickte. »Du hast recht. Es würde euch einen entscheidenden Vorteil bringen. Oder zumindest auf eine Ebene bringen.«