Ein Viertel in Aufruhr - Gerda M. Neumann - E-Book

Ein Viertel in Aufruhr E-Book

Gerda M. Neumann

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Beschreibung

Frühsommer in London. Wangaris Ladeneröffnung ist ein voller Erfolg – die strahlenden afrikanischen Stoffe locken und inspirieren genauso wie Siras Gemälde, die aus den Ladenräumen eine Ausstellung entstehen lassen. Aber nicht alles mutet so frohgemut an wie dieser Aufbruch. Wie kam es zu den Schlägereien, die die nächtlichen Straßen von St. John's Wood in Aufruhr versetzten? Woher kommen die Gruppen seltsam gekleideter junger Leute, die durch ebendiese Straßen schlendern, sobald die Dämmerung fällt? Was hat es mit den Gerüchten von Kokain auf sich, die auf einmal durch alle Gespräche schwirren? Und dann ist da noch die Sache mit den Galerien der Nachbarschaft, in denen nicht alles der Kunst geweiht zu sein scheint. Als in Wangaris Bekanntenkreis ein Mord geschieht, ist das Maß voll. Sie bittet ihre Freundin Olivia um Hilfe. Schließlich hat sie schon mehr als einmal Licht ins Dunkel gebracht…

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ein Viertel in Aufruhr

TitelseiteImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Über die AutorinDie Olivia Lawrence-Fälle

Titelseite

Gerda M. Neumann

Ein Viertel in Aufruhr

Olivias achter Fall

Impressum

Copyright © 2024 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.Erstausgabe.Satz: Eleonore Neumann.Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.www.epubli.deVerlag: Gerda NeumannDruck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1

Erwartungsvoll bog Olivia in die High Street von St. John’s Wood ein. Die Luft war angenehm warm an diesem Maimorgen, der Himmel verhalten blau und sie selber voll quirliger Erwartung. Sie überquerte die kleine Seitenstraße und sah wenige Häuser entfernt Wangari Aulton ruhig wie eine Statue zwischen den sich bewegenden Passanten. Die Freundin stand da – beide Hände an den Hüften, die Ellenbogen nach hinten – und musterte die Fassade ihres neuen Geschäftes. ›Afrika‹, nur dieses eine Wort stand über der Eingangstür, genau wie bei ihrem kleinen Laden in der stillen Seitenstraße, den sie bis gerade eben betrieben hatte. Hier, hinter dem großen Schaufenster explodierten die Farben: Kleider, Röcke, Kissen, Taschen – ziemlich viele verschiedene Dinge, die man aus Stoff herstellen konnte, sah man auf einfachen Kleiderständern aufgereiht und in gelbe Regale eingeordnet. Olivia umarmte die Freundin, dann stellte sie sich neben sie und blickte an dem Haus hinauf. Sie sah die schmale, verwitterte Ziegelfassade über drei Stockwerke, die durch weiße Fensterumrahmungen aufgehellt wurde. Und hinter jedem der hohen schmalen Fenster leuchtete ein afrikanischer Stoff auf die Straße hinaus. Diese Vorhänge waren seitlich gerafft, als bildeten sie den Rahmen für die lichten Grünpflanzen davor. Doch in Wahrheit waren sie selbst das Ereignis. »Jedes Fenster hat einen anderen Stoff«, stellte Olivia fest, »es wirkt sehr dramatisch… und… durch die Pflanzen sehr friedlich. Wangari, diese Fassade ist aufregend schön! Komm, lass uns hineingehen, oder hast du hier noch etwas zu tun?« Drinnen herrschte die sprichwörtliche Ruhe vor dem Sturm. Eine schmale Frau in einem langen grün gemusterten Wickelrock und einem schwarzen T-Shirt stand aufrecht neben dem Tisch, der zum Einpacken und Kassieren diente, die Fingerkuppen fest auf die Tischplatte gedrückt. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einer Art Krone zusammengebunden. »Das ist Munira Oganda«, stellte Wangari sie vor. »Munira ist für alle Notwendigkeiten der Buchhaltung verantwortlich: Abrechnungen mit Lieferanten, Steuern und so weiter. Seit sie diese Seite meines Geschäftes in die Hand genommen hat, herrscht ständige Klarheit – kannst du dir vorstellen, was das für meine Ideen bedeutet?« Olivia streckte Munira die Hand entgegen, die zögernd und ernst ergriffen wurde. »Olivia«, fuhr Wangari mit der Vorstellung fort, »ist mit ihren Pullovern ständig um euch«. Sie zeigte auf den neuesten Entwurf, den sie hinter der Kasse drapiert hatte. »Oh, ich liebe Ihre Pullover!« meldete sich eine tiefe Stimme aus den Kleiderständern. »Ich bin Halima«, Olivia ergriff die ausgestreckte Hand und sah in ein lachendes Gesicht. Halima hatte ihre stattliche Gestalt in ein weites blaues Kleid mit gelb-schwarzem Muster gehüllt und einen Turban aus dem gleichen Stoff um den Kopf geschlungen. Und sie war ein Stück älter als die anderen hier im Raum. »Halima habe ich gewinnen können, nur noch für mich zu nähen«, erklärte Wangari. »Es erleichtert die Planung ungeheuer, sie sitzt oben an ihrer Nähmaschine und stellt die Röcke her, die wir hier gerade gebrauchen oder fertigt einen Rock in der richtigen Größe an, auf den die Kundin nie länger als eine Woche warten muss. Und wenn wir gerade keine neuen Röcke gebrauchen, näht Halima Kissenbezüge, Stoffbeutel – du glaubst nicht, wofür die Leute alles Stoffbeutel gebrauchen – oder auch mal ein Kleid. Für die heutige Eröffnung hat sie einen Ständer voll lässiger langer Blusen genäht, ein neues Angebot, ich bin sehr gespannt, wie sie ankommen«. Olivia wandte sich den Blusen zu, schob Bügel für Bügel weiter, nahm schließlich eine heraus und trat damit vor den Spiegel. »Sie sind perfekt! Ein Kleidungsstück, das fast jede Frau gerne hätte, aber nicht findet. Halima, wenn Sie diese Blusen zusätzlich in einfarbigen Stoffen anbieten, in allen Farben, in denen Sie Stoffe finden, werden allein diese Blusen den Laden tragen«. »Ich höre Olivias Stimme, kann das sein?« Schritte eilten die Treppe herunter, ein Wirbel schoss durch den Laden und zwei Arme schlossen sich fest um die zierliche kleine Gestalt von Olivia. »Ich bin so froh, dich zu sehen!« Schließlich gab Sira Olivia wieder frei und betrachtete sie mit dem ihr eigenen Strahlen, mit dem sie den ganzen Raum erhellte. »Deine Bilder habt ihr sicher auch schon aufgehängt, wo sind sie?« Olivia sah sich im Laden um. Munira trat zur Seite und Olivia entdeckte an der Rückwand des Ladens neben dem bodenlangen Spiegel vier kleine Bilder übereinander in hellen Holzrahmen: große Bäume in der afrikanischen Savanne mit Siras unverwechselbarem Strich. Sie betrachtete sie einen kurzen Moment, dann wandte sie sich zu Sira und Wangari um: »Wo hängen die anderen Bilder?« »Komm!« Sira wandte sich sofort dem Treppenhaus zu und zeigte mit einer stolzen Geste auf die gegenüberliegende Wand, an der eine Fülle von Bildern in verschiedenen Größen neben- und übereinander gehängt waren. Sie alle zeigten Obst und Gemüse in stillen, oft unerwarteten Kombinationen. Langsam ging Olivia die Treppe hinauf, von Bild zu Bild. Überrascht erkannte sie, dass sich der erste Eindruck von Überfülle zu Ruhe organisierte. Sie sah grüne Birnen neben lavendelfarbenen Astern, reife Äpfel zwischen dunklen Holunderbeeren, Bohnenschoten zwischen rankender Kapuzinerkresse, im Hintergrund mal ein Gartenbeet, mal ein Stück Mauer oder eine alte Kiste. »Ein Garten in Kent«, stellte sie verträumt fest. Sira stimmte zu. »Du erinnerst dich, dass ihr, du und dein Onkel Raymund, mir zuredeten, weitere Bilder von Rhias Garten zu malen, nachdem die, die sie für ihr Restaurant bestellt hatte, fertiggestellt waren. Rhia war damit einverstanden. In diesem Jahr habe ich zeitweise dort gelebt, es war arkadisch.« Olivia nickte. »So sieht‘s aus.« Sie standen auf dem Treppenabsatz des ersten Stocks, hier hing ein größeres Bild, es zeigte eine afrikanische Landschaft. An der Wand zum zweiten Stock hinauf hingen Bilder aus dem südlichen Simbabwe, vor allem von den bemalten Häusern der Ndebele, Olivias Onkel Raymund hatte ein ähnliches schon seit einigen Jahren in seinem Haus hängen. »Du kennst sie«, fand Sira, »komm«. Sie betraten den Raum, dessen Fenster zur Straße hinausgingen, sahen die afrikanischen Vorhänge von innen in neuer Fülle und die großen Pflanzen. Und mehrere Stellwände mit Gemälden. Olivia verschlug es den Atem. Ruhig stand sie davor und schaute, manchmal sagte sie etwas, manchmal erzählte Sira etwas zu einem der Bilder. Von unten aus dem Laden drang inzwischen Stimmengewirr herauf. »Wie ist dieser Reichtum überhaupt möglich? Wann hast du das alles geschaffen?« »Etliche Bilder hatte ich ja schon, das weißt du. Und als Wangari vor zehn Monaten dieses Haus kaufte und mich fragte, ob ich ihr zur Eröffnung so viele Bilder zur Verfügung stellen würde, dass sie eine Vernissage für mich ankündigen könnte, stand ich erst einmal völlig neben mir.« Sira lachte schallend. »Hat Raymund es dir nicht erzählt? Wir sprachen lange miteinander. Schließlich ließ er sich meinen Lieferanten für Malutensilien zeigen und erklärte dem Inhaber, das nächste Jahr hindurch benötigte ich sehr viel Material, er sollte mir alles geben und ihm die Rechnungen schicken. Kannst du dir meine Fassungslosigkeit vorstellen? Als ich mich davon erholt hatte, schöpfte ich den Mut, zu Rhia zu gehen. Sie war einfach begeistert und ich durfte mich völlig frei in ihren Gärten bewegen. Ja… und dann malte ich, phasenweise wie im Rausch. Ich hatte verstanden, dass das meine Chance war.« Olivia schwieg eine Weile, schließlich meinte sie: »Oh Sira, die Wirkung deiner Bilder ist so unmittelbar – das kann nicht nur mir so ergehen. Diese Ausstellung wird bestimmt ein Erfolg!« Sira antwortete mit ihrem warmen Gelächter. »Olivia, erinnerst du dich noch daran, dass du die Regale in der Bücherei von Howlethurst bunt streichen wolltest und mich mit ins Boot holtest? Damals veränderte sich mein Leben. Auf einmal war ich eine von euch.« Ein schrilles Auflachen drang aus dem Laden die Treppe hinauf und riss die zwei in die Gegenwart zurück. Wangaris Laden musste sich mit Menschen gefüllt haben, sie hörten viele Stimmen durcheinanderreden, sie hörten Gläser klirren und auch den leisen metallischen Klang von Bügeln, die über eine Stange geschoben werden. Sira ging zur Treppe und hielt den Atem an. Auf halbem Weg zum ersten Stock hinauf stand eine Frau unbestimmten Alters mit hochgesteckten rotschimmernden Haaren und schaute ihre Bilder an. Siras Blick verfing sich augenblicklich an dem ungewöhnlichen Farbverlauf des schlichten langen Kleides: Das dunkle Türkis des Oberteils sprang in der Taille zu einem hellen Ton und verlief in Schattierungen hinunter bis zum Saum, zu dem sehr dunklem Türkis eines tropischen Abendhimmels. Die Frau schaute die Bilder an und Sira die Frau. Olivia betrachtete die stumme Szene, entschloss sich dann, hinunter zu gehen. In ihrem Rücken hörte sie die Stimme der Freundin. »Ich bin Sira Dhalamini. Die Bilder sind von mir. Bitte kommen Sie herein…« das Weitere verschluckte der Trubel im Laden. Der Laden war tatsächlich sehr voll. Und da es für Olivia mit ihren ein Meter dreiundsechzig nicht gerade einfach war, den Überblick über einen mit Menschen bevölkerten Raum zu gewinnen, schob sie sich an der Wand entlang zu Munira, die sich nach hinten zurückgezogen hatte. »Kennen Sie diese Damen? Sind es Kundinnen von Wangari?« Muniras Blick schweifte unbeirrt über die Menge. »Die meisten schon, soweit ich das beurteilen kann.« »Aber?« »Der Laden ist ganz neu, alles ist so wunderschön, unsere Kollektionen eine Pracht, ich bin so stolz…« »Und?« Endlich löste Munira den Blick von den vielen Menschen und sah Olivia an, ernst, fast prüfend, so kam es Olivia zumindest vor. »Wangari schätzt Sie sehr.« Olivia beantwortete die Feststellung mit einem Lächeln. »Sira ist eine Freundin von Ihnen?« »Ja, das ist sie.« Munira schwieg. Olivia schaute wie sie den Menschen zu und grübelte über Muniras rätselhaftes Verhalten. ›Nun‹, dachte sie schließlich, ›sie ist neuen Menschen gegenüber offenbar recht vorsichtig, und somit auch mir gegenüber, über die sie sicherlich einiges weiß. Wird schon werden, wir haben ja Zeit.‹ Damit wandte sie sich den Besucherinnen um sich her zu. Da fast alle Sektgläser in der Hand hielten, waren sie auf eine Hand beschränkt, schon deswegen schoben sie die Röcke, Kleider und Blusen lediglich über die Stangen. Olivia erkannte, dass niemand die Absicht hatte, etwas zu kaufen. Und niemand schien Siras Bilder zu bemerken. Sie stieß sich von dem Regal in ihrem Rücken ab und ging auf zwei junge Frauen zu, die sich vor der offenen Tür zum Treppenhaus miteinander unterhielten. Sie stellte sich zu ihnen und in der nächsten Gesprächspause fragte sie: »Haben Sie die Bilder von Sira Dhalamini schon gesehen?« Die beiden jungen Frauen wandten sich ihr überrascht zu. Wangari, die Zeugin dieser kurzen Szene geworden war, hob ihre freie Hand und lächelte in die zahlreichen Gesichter, die sich ihr zuwandten. »Ich freue mich über so viele mir seit Langem bekannte Menschen. Ich freue mich sehr über die heitere Stimmung und wünsche mir, dass mein Laden immer anregend für Sie sein wird. Die schönste Überraschung dieser Eröffnung steht Ihnen noch bevor: die erste Gesamtausstellung der simbabwischen Künstlerin Sira Dhalamini.« Mit einer einladend-ausladenden Armbewegung gab sie den Durchgang zum Treppenhaus frei. Olivia hatte sich während der wenigen Sätze wieder zu Munira zurückgezogen. Sie beide sahen zu, wie mehrere der Besucherinnen Wangaris Aufforderung folgten. Und Olivia sah auch, wie Halima sich bedauernd von einer Kundin zurückzog, die jetzt mit ernsthaftem Interesse ihre Blusen musterte, und sich zum Treppenhaus durchschlängelte. Sie ging auf Halima zu, die sofort abwehrte: »Ich muss nach oben, ich habe zugesagt, den Raum mit den Bildern zu bewachen und Sira das Treppenhaus.« Olivia verstand. »Wenn das so ist, sollte ich den Raum oben übernehmen und Sie bleiben hier bei Ihren Kundinnen. Das ist, glaube ich, für uns beide das Richtige.« Es war ein eigenartiges Gefühl, stellte sie im Hinaufgehen fest, zu sehen, wie wildfremde Menschen sich über Siras Bilder unterhielten. Sira selbst stand oben, hatte alles im Blick und schien sich mit der ersten Besucherin in dem türkisfarbenen Kleid zu unterhalten, die vor den Bildern mit den Häusern der Ndebele stand. Als Olivia den Raum mit den größeren Gemälden betrat, fand sie sich mit einem Dilemma konfrontiert: Wie behielt man Menschen im Blick ohne deren Wohlbefinden zu stören? Viele Filmszenen gingen ihr durch den Kopf und etliche versuchte sie auf ihre Situation anzuwenden. Im Laufe der verstreichenden nächsten Stunden wechselten Sira und sie zwischen dem Treppenhaus und dem großen Raum ab und beantworteten die Fragen der Besucherinnen. Das unterhaltsamste Problem legte ihr eine Frau vor, die sich in die Gartenbilder verliebt hatte, deren Format aber zu klein fand für die Wand über ihrem neuen Sideboard. Olivias Vorschlag, ein Bild in dem von ihr gewünschten Format mit genau den Motiven, die ihr vorschwebten, mit Sira abzusprechen, taugte ihr nach einigem Zögern auch nicht, sie hatte sich für die drei vor ihr hängenden Bilder entschieden. »Dann«, schlug Olivia vor, »könnten Sie überlegen, wie zwei und zwei übereinander als eine Fläche gehängt Ihnen gefallen würden. Vielleicht gefällt Ihnen noch ein viertes Bild. Bei der Anordnung könnten Sie die Bilder auch immer mal wieder umgruppieren und das Auge neu reizen.« Hellauf begeistert suchte die Betrachterin sich ein viertes Bild und eilte aufgeregt zu Sira, um die ausgewählten Bilder für sich zu sichern. Neue Besucherinnen stiegen, die Bilder betrachtend, langsam die Treppe hinauf, während eine tiefe Männerstimme von unten aus dem Laden langsam Olivias Aufmerksamkeit auf sich zog. Er sprach in wohlartikuliertem Oxford-Englisch. Die Stimme schien sich mit einem anderen Mann zu unterhalten. Zwei Männer, die sich in diese Frauenenklave gewagt hatte. Neugierig geworden erreichte Olivia die Tür zum Laden und lehnte sich an den Türrahmen. Die tiefe Stimme gehörte zu Wangaris Lebenspartner Thomas Webster. ›Na endlich!‹ schoss es durch Olivias Kopf. Er war groß, schlank, Anfang Vierzig, trug eine helle Hose, ein Jackett in relativ hellem Blau und ein offenes gestreiftes Hemd, das die Farben von Hose und Jackett vereinte. Der Mann ihm gegenüber war genauso groß und schlank, von vergleichbarem Alter und doch ein klarer Gegensatz. Er trug eine alte Jeans und einen schwarzen Kapuzenpullover. Die Kapuze musste er gerade abgestreift haben, denn seine Haare standen wild in alle Richtungen. Im Türrahmen lehnend, die Treppe im Blick, fing Olivia einige Gesprächsfetzen der beiden Männer auf. Verwundert stellte sie fest, dass Thomas herauszufinden versuchte, warum der Kapuzenmann sich hierher verirrt hatte. Der schien keinen Anlass zu sehen, diese Fragen zu beantworten, war aber gerade auch nicht imstande, die unerwartete Situation beiläufig aufzulösen. Olivia stieß sich vom Türrahmen ab und begrüßte wenig später den insistierenden Thomas. Als sie sich dem Kapuzenmann zuwandte, erklärte er: »Dieser junge Mann scheint nicht zu wissen, warum er hier ist!« Olivia schaute den Kapuzenmann freundlich an. »Vielleicht darf ich Ihnen helfen, das herauszufinden. Darf ich Sie herumführen?« Sie lächelte Thomas zu und ging voran zur Treppe. Es war ein Glücksfall, stellte sich rasch heraus, dass die Ausstellung mit den Obst- und Gemüse-Stillleben begann. Olivia erzählte ihrem Begleiter von dem ungewöhnlichen Garten in Kent, der, von hohen Mauern umgeben, beinahe das ganze Jahr lang frisches Gemüse und Salat bereithielt. Und von den vielen Kräutern, die außerhalb der Mauern unter den Teesträuchern ihnen zusagende Plätze gefunden hatten. Der Kapuzenmann stellte Fragen und schon bald hatte Olivia es mit einem aufgeschlossenen Menschen zu tun. »Was ist das?« sie standen zwischen den Stellwänden mit den afrikanischen Landschaften. »Das ist die Erinnerung an Simbabwe. Sira Dhalamini hat ihre Kindheit dort verbracht.« Konzentriert und staunend schaute er Bild für Bild an. Zurück bei den ersten Bildern, sagte er fast leise: »Einmal war ich in Afrika, als Student, mit einer Exkursion in Kenia. Im Süden von Kenia. Die Landschaft ist überwältigend. Und diese Künstlerin sieht Afrika genauso wie ich in meiner Erinnerung.« Als der Kapuzenmann sich von Olivia verabschiedet hatte, traf er mit Wangari zusammen. Die beiden kannten einander. Sie unterhielten sich auf dem Weg nach unten, während Olivia an eines der Fenster trat und hinausschaute. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand die erste Besucherin von Siras Bildern, sie erkannte die Frau trotz des aufgespannten Schirmes an ihrem Kleid. Sie unterhielt sich mit einem älteren Herrn, wahrscheinlich über Wangaris Laden, denn er schaute herüber. Plötzlich fuhr der Schirm nach unten wie ein Schutzschild. Unmittelbar danach beobachtete Olivia, wie der Kapuzenmann quer über die High Street davonging. Langsam hob sich der Schirm wieder, während beide, die Frau und ihr Gesprächspartner, dem davongehenden Mann hinterhersahen. Kurz darauf verabschiedeten auch sie sich voneinander. Während Olivia ihnen abwechselnd nachsah, kam Amanda in ihr Blickfeld geeilt. ›Na endlich‹ schoss es Olivia ein zweites Mal durch den Kopf. Sie sauste die Treppe hinunter. Da stand Amanda, kühl, distanziert und höflich in einer Umgebung, die ihr sichtlich fremd war. Diskret musterte sie die anderen Frauen. Die, die jetzt am frühen Nachmittag stöberten, würden vielleicht sogar etwas kaufen. Eine von ihnen probierte gerade einen Pullover an, den Olivia entworfen hatte, Amanda entdeckte einen weiteren. Sie faltete ihn auseinander, fühlte die weiche Wolle, strich sanft darüber hin und legte ihn ein klein wenig ratlos wieder zurück an seinen Platz. »Weißt du, er ist wirklich schön. Keine Ahnung, warum ich mit Stricksachen noch immer Schwierigkeiten habe.« Olivia lachte: »Wenn mal ein richtig kalter Winter über England hereinbricht und draußen die Wasserrohre einfrieren, wirst du entdecken, wie wundervoll wohl und warm einem in guter Wolle ist.« Amanda drehte sich langsam um sich selbst. »Der Laden von Keith Aultons Tochter…« »So ist es. Hast du eine Ahnung, was ihr Vater seinerzeit dazu gedacht hat?« Amanda überlegte. »Nein, ich glaube nicht. Ich hatte allerdings in den letzten ein, zwei Jahren seines Lebens den Eindruck, dass er Afrika am liebsten völlig vergessen hätte. Dass ausgerechnet sein jüngstes Kind, die zarte Jerrie, die Farm ihrer Großeltern in den Hügeln von Kenia übernommen hatte, nahm er Kenia persönlich übel. Oh«, unterbrach sie sich, »dort hängen Bilder von Sira.« Die beiden Freundinnen gingen langsam von Bild zu Bild. Sie waren so vertraut miteinander, dass sie währenddessen kaum sprachen. Oben begrüßte Sira Amanda, ein wenig befangen von der eleganten Erscheinung, auch hatte sie Amanda noch selten getroffen. Die trat am Ende ans Fenster, schaute hinunter auf die Straße und kehrte entschlossen zu einem kleinen Gemälde zurück. Darauf sah man einen Baum mit weit ausgebreiteter Krone und in der Ferne eine schmale Frauengestalt in Rot. Die Sonne musste hoch über der trockenen Savanne stehen, denn Frau und Baum warfen nur ganz kurze Schatten. »Was erzählt dir das Bild?« »Das weiß ich eben nicht. Würde es Sira kränken, wenn ich es in die Küche hänge?« »Nein. Warum? Ich habe auch eines in der Küche hängen.« »Ja du, aber ich habe viele sogenannte leere Wände…« »Und da willst du es nicht? – Warum nicht? Ist es zu klein?« »Ich will es für mich! Ich will mit niemandem darüber sprechen.« Irritiert sah sie Olivia kurz an und dann wieder auf das kleine Gemälde. »Es will mit mir sprechen und noch höre ich seine Stimme nicht.« »Du könntest es auf deinen Schreibtisch stellen, ein guter Ort für eine Unterhaltung.« »Dort wird sein Platz sein, wenn wir ins Gespräch gekommen sind. Dann werde ich aufschreiben, was es mir erzählt – ich bin gespannt. Bis dahin werde ich es ansehen, während ich esse. Wenn ich allein esse, was ja vorkommt.« Sira hatte die Unterhaltung mit angehört und voll Freude wollte sie Amanda das Bild schenken. Diese großzügige Geste wurde nicht angenommen, doch der Blickwechsel zwischen den beiden Frauen erschien Olivia wie der Anfang einer Brücke zueinander. Der Nachmittag schritt voran, der Laden wurde leerer. Olivia unterhielt sich mit Halima. »Soll ich Ihnen etwas sagen? Ich werde mich nach guten, einfarbigen Blusenstoffen umsehen, es wurde mehrmals danach gefragt. Sie hatten recht. Würden Sie eine dieser Blusen hier tragen?« Behutsam schüttelte Olivia den Kopf. »Schauen Sie, wie klein ich bin, die afrikanischen Muster würden mich erschlagen«, sie lächelte. Halima musste darüber furchtbar lachen, aber sie verstand. Und dann schloss Wangari den Laden, Munira versorgte die Kasse und Ruhe breitete sich aus. Sie ließ sich auf den Stoffen und der Wolle nieder, umfing die Körbe mit den bunten Beuteln und die vereinzelten Schmuckstücke und senkte sich auf Siras Bilder. »Bitte«, brach Wangari irgendwann die Stille, »kommt alle mit hinüber zu mir. Dort warten kalte Platten und eine riesige Torte, um diesen besonderen Tag abzuschließen. Munira, bitte bring deine drei Kinder mit, wenn sie einverstanden sind. Schon damit Thomas nicht der einzige Mann ist.« »Ich habe noch einen Mann gefunden, der Thomas ebenfalls zur Seite springen kann«, klang Siras Stimme aus dem Treppenhaus. Sie schoss in den Laden, gefolgt von Leonard. »Ist das die Möglichkeit! Wo kommst du denn her?« entfuhr es Olivia. »Von oben, aus dieser wunderbaren Ausstellung zu Afrika. Über die Sira und ich uns in Ruhe unterhalten konnten, weil zu dieser späten Stunde niemand außer uns mehr dort war.« Olivia umarmte ihn vor lauter Freude. Wangari zog die Rollläden herunter und erklärte, einmal im Jahr dürfe man Unordnung hinter sich lassen und feiern! Grund genug gab es in ihren Augen.

Kapitel 2

Zwei Wochen später, der Mai hatte seine Mitte erreicht, sah Olivia sich wieder auf dem Weg zu Wangaris Laden. Dieses Mal war sie mit Marilyn verabredet, die Siras Bilder anschauen wollte. Sie hatte Marilyn Fleming vor einigen Jahren in Cat’s Rest kennengelernt, in jenem Wollladen, in dem sie die Wolle für ihre eigenen Pullover kaufte und auch die Wolle zu ihren Entwürfen für die Afrika-Boutique orderte, die Wangaris Strickerinnen dann verarbeiteten. Helen Campbell, die ihrerseits eine erfolgreiche Designerin für Strickmoden war, führte heute Cat’s Rest. Marilyn war Helens beste Freundin. Warum Marilyn Olivia brauchte, um Siras Bilder anzuschauen, war ihr bei dem kurzen Telefongespräch nicht ganz klar geworden, aber sie mochte Marilyn und hatte sie lange nicht gesehen. Also war sie jetzt hier. Pünktlich bog Olivia in die High Street ein und als sie nah genug war, erkannte sie Marilyn vor dem Schaufenster der Afrika-Boutique stehend. Ihre Erscheinung war leicht mollig und meist in gerade weite Kleider gehüllt. Marilyn liebte Sandtöne, heute mit indigoblauen Streifen. Olivia stellte sich neben sie und fragte: »Gefallen Ihnen die Muster?« »Olivia!« es folgte eine stürmische Begrüßung. »Ja, die Stoffe gefallen mir; ich habe sie geistig abgespeichert und kann mir vorstellen, irgendwann Entwürfe zu ihnen zu machen, entweder für die Bühne oder eventuell für eine Sommerkollektion. Aber jetzt möchte ich Siras Bilder sehen.« Wangari kam ihnen entgegen, sie hatte die Szene vor ihrem Fenster beobachtet. Als Olivia ihre Begleiterin vorstellte, verstand sie sofort. »Sie müssen Helens Freundin sein!« Herzlich drückte sie Marilyn die Hand und erläuterte: »Helen war in der letzten Woche hier. Sie hat sich alles in Ruhe angeschaut und es gefiel ihr. Es fühlte sich wie eine Art Ritterschlag an«, lächelte Wangari. »Und sie sprach von Ihnen und davon, dass Sie unbedingt Siras Bilder sehen müssten. Olivia wird Ihnen alles zeigen. Oben zwischen den Stellwänden ist es jetzt leider etwas enger, weil Halima in dem Raum arbeitet.« Olivia führte Marilyn ins Treppenhaus. Schweigend ging sie an den Obst- und Gemüse-Bildern entlang, um auf dem Treppenabsatz im ersten Stock nachgerade zu explodieren: »Genau das! Ganz genau solche Motive in genau diesen Farben brauche ich für die zwei Schaufenster! Olivia, meinen Sie, die Künstlerin würde sich auf so etwas Profanes wie Schaufensterdekoration einlassen?« Olivias Verblüffung war so offensichtlich, dass Marilyn sich zu einer Erklärung aufraffte. »Sie müssen wissen, ich habe eine Sommerkollektion mit weiten Röcken und Hemdblusenkleidern mit schwingenden Röcken und weite Blusen zu den Röcken und so weiter entworfen, alles in heiteren bunten Stoffen, die an einen Sommertag denken lassen, von ferne vielleicht auch an die beschwingte Mode der frühen Sechziger erinnern… die Boutique, die sie herausbringt, möchte diese Mode in Zusammenhang mit Garten ins Schaufenster stellen, aber nicht das übliche, ein Foto von Stourhead, Sie wissen schon, sondern moderner, aktiver. Und genau das sehe ich auf diesen Bildern und vor allem in diesem Pinselstrich. Dieser Pinselstrich hat die Kraft, die Dynamik, die wir in den Sechzigern empfanden – Helen erzählte mir schon davon, aber ich musste es selber sehen – Olivia, es gibt noch mehr Bilder, nicht wahr?« Erwartungsvoll drehte Marilyn sich um sich selber und wurde von Olivia sanft zwischen die Stellwände geschoben. Halima und Olivia begrüßten einander, Marilyn schwelgte in Begeisterung. Als sie die Stellwände abgegangen war, fasste sie mit beiden Händen nach Olivia. »Ich bin derart überwältigt, ich brauche jetzt einen Stuhl und einen Tee. Haben Sie die Zeit, mich zu begleiten?« Sie schwang einer plötzlichen Wahrnehmung folgend herum, drückte Halima beide Hände und eilte davon, die Treppe hinunter und hinaus an die frische Luft. Halima verabschiedete Olivia mit einem Augenzwinkern und nähte weiter. Olivia hielt auf dem Weg durch den Laden kurz inne: »Wangari, Marilyn und ich setzen uns nebenan vor der Konditorei in die Sonne. Ich komme auf alle Fälle zurück, wenn du nicht zu uns stoßen kannst.« Sie nickte den beiden Kundinnen, die Wangari gerade bediente, zu und eilte zu Marilyn. Schließlich kamen beide zurück. Marilyn wollte sich nun, da das Problem der Schaufensterdekoration einen entscheidenden Schritt vorangekommen war, auch im Laden umsehen. Mode und Theaterkostüme zu entwerfen war ihr Hauptberuf und die afrikanischen Muster hatten ihre Phantasie stärker erreicht, als sie sich zu Beginn zugegeben hatte. Als gerade keine Kundin im Laden war, fragte Wangari: »Olivia, erinnerst du dich an den Mann, dem du Siras Bilder gezeigt hast am Tag der Eröffnung hier?« »Du meinst den, den ich vor Thomas gerettet habe? Ja, was störte ihn eigentlich an dem Mann?« Wangari zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Er angeblich auch nicht. Thomas hat manchmal so insistierende Momente, wenn er glaubt, jemand befinde sich am falschen Ort. Ich habe ihm das schon gelegentlich als übergriffiges Ordnungsbedürfnis vorgeworfen, er nennt es eisern Hilfsbereitschaft. Nennen wir es einen Tick.« »Kannte er ihn denn?« »Nein. – Ich kenne den Mann flüchtig. Er ist spät abends häufig hier in den Straßen unterwegs genau wie ich, so begegnen wir uns und inzwischen reden wir auch miteinander. Er sah mich durch das Schaufenster und kam herein. So einfach war das. Außerdem: Warum sollte er sich einen neuen Laden nicht anschauen. Thomas schien ihm das nicht zu glauben. Aber, stell dir vor, er wurde in der Woche nach der Ladeneröffnung, also… vor genau zwei Wochen, einige Straßen von hier entfernt zusammengeschlagen und liegt nun im Krankenhaus. Ich habe davon im Bäckerladen nebenan erfahren.« »Trulys Söhne…« »Wie? Ach richtig, du kennst ihre Mutter aus Howlethurst, das ist für mich so absurd, dass ich es immer wieder vergesse. Aber ja, der Bäcker und der Konditor. Sie haben ein paar Tage später gesagt, dass es John Pierre wieder ganz gut geht, er aber noch im Krankenhaus bleiben muss. Ich wollte ihn besuchen, aber Thomas bat mich, es zu unterlassen.« »Wie rasch Männer eifersüchtig sind«, kommentierte Marilyn aus der Tiefe des Ladens. Kurz zeigten sich Falten auf Wangaris Stirn. Ohne auf Marilyns Bemerkung zu reagieren, fuhr sie fort: »Weißt du, es ist merkwürdig, seit jenem Vorfall gibt es immer wieder mal abends oder in der Nacht hier im Viertel große Unruhe durch viele junge Leute, die sich auffallend verhalten, auch ungewöhnlich gekleidet sind, gelegentlich scheint es auch eine Schlägerei zu geben, offenbar nicht so verheerend wie in John Pierres Fall, scheinbar musste kein weiterer Mensch ins Krankenhaus, aber davon zu hören fühlt sich nicht gut an.« »Du hast das alles nicht selber gesehen?« »Nein, durch die Ladeneröffnung hatte ich meinen Garten so sehr vernachlässigt, dass ich seine Pflege erst einmal nachgeholt habe. Es hat mir sehr gutgetan, in aller Ruhe mit meinen Pflanzen umzugehen.« »Verstehe. Glaubst du, die weiteren Schlägereien hängen mit dem ersten Fall zusammen?« »Es macht den Eindruck, nicht?« »Weißt du, was dieser John Pierre macht?« »Er arbeitet für die Stadt, für die sogenannte Grüne Abteilung. Wenn er hier im Dunkeln unterwegs ist, sucht er meist nach Fledermäusen, das macht er auch im Regent’s Park.« »Da hast du ihn auch getroffen?« »Die ersten Male sah ich ihn dort, glaube ich zumindest. Ich sah dort die gleiche Silhouette. Es war schon so dunkel, dass ich sein Gesicht in der Kapuze nicht sehen konnte. Hier in den Straßen helfen die Laternen«. »John Pierre…« »John Pierre Runford, sagen die Jungs von nebenan, heißt er.« »Warum schlägt man einen Fledermaus-Beobachter zusammen?« »Er hat oft ein Gerät dabei, das die Ultraschallfrequenzen der Fledermäuse aufnimmt, zu Tönen umwandelt und an sein Handy weiterleitet. Er trägt Kopfhörer und weiß dann sofort, wohin er schauen muss und welche Fledermausart es ist. Es könnte ein Missverständnis gewesen sein.« »Du denkst, wegen des Aufnahmegerätes«. Olivia nickte. »Bist du abends wieder draußen?« Wangari lächelte. »Ja schon, aber früher und unregelmäßiger. Ein bisschen ängstlich bin ich inzwischen. Und Mut, denke ich, kann auch dumm sein.« Marilyn nickte entschieden. »Wissen Sie, im unteren Chelsea, in der Nähe des Flusses, gab es im letzten Jahr eine Serie von Schlägereien. Plötzlich war es dann wieder vorbei. Keine von Helens Kundinnen hatte irgendeine Erklärung gehört, weder über die Ursache der Schlägereien noch über deren Ende. Ich denke mir, dass solche Phänomene zu einer großen Stadt gehören.« »Am Ende ist es so«, stimmte Wangari zu. ›Thomas bat mich, es zu unterlassen.‹ ging es Olivia auf der Rückfahrt durch den Kopf. So, wie Wangaris es gesagt hatte, klang es wie eine Bitte, hinter der sie Gründe ahnte. Es konnte gut sein, dass der inquisitorische Thomas mehr wusste – er war ein guter Journalist. Zuhause angekommen, griff Olivia entschlossen zum Telefon und drückte Richards Nummer. Ihr alter Freund hörte sich die wenigen Fakten an und versprach, sich darum zu kümmern.

Drei Abende später klopfte es an Olivias Tür, draußen stand Richard und klopfte seine Pfeife neben dem Buchsbaum aus. »Chief Inspektor Bates meldet sich zum Rapport«, erklärte er grinsend. Leonard zündete drinnen ein Feuer im Kamin an. In Olivias kleinem alten Haus in Fulham fühlte sich der Maiabend kühl an. »Richard, du kommst genau richtig!« teilte er mit. Der streckte sich auf seinem Stammplatz vor dem Kamin aus und erklärte: »Darauf habe ich gehofft. Bei uns wird im Mai nicht mehr geheizt. In meinem Büro übrigens auch nicht, da stört es mich auch nicht. Aber am Abend tut ein wärmendes Feuer ganz gut.« »Also zu John Pierre Runford. Das ›Pierre‹ ist die traditionelle Erinnerung an die hugenottische Herkunft seiner Familie, alle Jungen bekommen sie zu ihrem Namen dazu.« Richard holte ein Notizbuch aus der Jackentasche. Dieses war blau, da er den Fall nicht selbst bearbeitete, sonst wäre es braun gewesen. »Heute haben wir Montag, also vor zwei Wochen und drei Tagen wurde Runford in einer stillen eleganten Seitenstraße in St. John’s Wood zusammengeschlagen. Der Krankenwagen brachte den Bewusstlosen in die Notaufnahme. Es dauerte lang, bis er wieder zu sich kam, er hatte Kokain im Blut.« »Aha«. Mehr fiel Olivia dazu nicht ein. »Was weiter?« »Er behauptet, kein Kokain genommen zu haben. Er weiß auch nicht, wie er auf die Straße gekommen ist. Seine Erinnerung endet im Esszimmer von Freunden im Gespräch über Fledermäuse. Die Freunde wohnen in dem Haus, vor dem er auf der Straße gefunden wurde.« Olivia sah auf das blaue Buch in Richards Hand. »Was interessiert die Polizei an der Sache? Das Kokain?« »Damit fing es an. Der Arzt, den die lange Bewusstlosigkeit beunruhigte, stellte eine Verletzung am Hinterkopf fest, er vermutet, dass Runford auf eine stumpfe Kante, eine Stufe oder etwas Ähnliches aufgeschlagen ist und dabei das Bewusstsein verlor.« »Der Bordstein?« »Ja, damit begannen meine Kollegen, dann sahen sie sich die Stufen vor dem Haus an und anschließend läuteten sie bei der Haushälfte, aus der der Notarzt gerufen wurde. Die Dame des Hauses berichtete, sie hätten bei offenem Fenster, ihr Mann liebe Frischluft, ein Glas Wein getrunken, als ihr Mann durch Geräusche beunruhigt worden sei, eigentlich dadurch, dass es abrupt still wurde. Dann glaubte er mehrere Menschen laufen zu hören. Auf der Rückseite des Hauses höre man von der Straße nichts Genaues, erläuterte sie, dazu sei London auch nachts zu laut. Jedenfalls sei ihr Mann zur Straße gegangen und habe den jungen Mann gefunden, glücklicherweise.« »Das Letzte ist auf alle Fälle richtig. Fanden die Polizisten in dem Haus eine passende Stufe?« Richard grinste: »Die Dame führte meine Kollegen in das Arbeitszimmer ihres Mannes gleich neben der Haustür. Dort fand sich nichts Verdächtiges.« »Deine Kollegen wissen, woher der Anruf in der Notrufzentrale kam; wissen sie auch, wo die Freunde von Runford wohnen, mit denen er über Fledermäuse diskutierte?« »Ja, in der anderen Doppelhaushälfte«. Richard musste grinsen. Verdutzt sah Olivia ihn an. »Es kann alles so gewesen sein«, gab sie schließlich zu. »Was für Menschen bewohnen diese beiden Doppelhaushälften?« »Die Freunde, bei denen Runford zu Besuch war, sind der Direktor des Londoner Zoos und seine Frau, sie haben zwei Kinder, die aber in ihren Zimmern waren. In der anderen Hälfte wohnt der offizielle Sekretär des Zoos, das ist die führende Leitungsposition der Verwaltung, mit seiner Familie. Dieser Sekretär rief den Notarzt.« »Gab es weitere Gäste außer Runford?« Richard schaute in seine Notizen. »Runford sagt, er habe sich mit James, seinem Freund aus Oxforder Tagen, und der jetzigen Frau des Zoodirektors unterhalten. James sei der Sohn aus der ersten Ehe des Zoodirektors, folglich ist die jetzige Frau des Zoodirektors James‘ Stiefmutter. Später seien James‘ Schwester und zwei Freunde dazugekommen. Eine kleine Runde.« »Und wie passt der Kapuzenmann da hinein?« »Man lernte sich in Oxford kennen, Runford arbeitete einige Jahre im Zoo, bevor er ins Rathaus von London wechselte.« Olivia schwieg eine Weile. Als Summe ihrer Gedanken teilte sie mit: »Wisst ihr, es kann alles so gewesen sein und vermutlich stimmt das auch. Es will mir nur scheinen, als geistere ein Hauch von Absurdität zwischen den ganz normalen Sätzen herum.« »Ist Runford inzwischen entlassen?« wollte Leonard wissen. »Nein, er steht noch unter ärztlicher Aufsicht. Die Gehirnerschütterung war ganz schön kräftig.« »Und anschließend? Wird das Kokain Folgen haben, ich meine juristische?« Richard sah die Freunde ernst an. »Er wird mit einer mündlichen Verwarnung entlassen werden, für Runford ist der Fall damit abgeschlossen. Er wird das auch so sehen. Aber natürlich gibt es jetzt eine interne Akte. Meine Kollegen werden warten.«

Kapitel 3

»Mai ist ein herrlicher Monat!« Wangari drehte sich um sich selber, ehe sie einen Haufen verschiedenfarbiger Wollknäuele mitten auf den Rasen kippte. Wieder aufgerichtet schaute sie ruhig über Olivias kleinen Garten. »Er ist so liebenswürdig altmodisch… du verstehst das nicht falsch, nicht wahr?« »Nein, es stimmt einfach. Ich habe den Garten so gelassen, wie meine Großmutter ihn angelegt hat. Vielleicht pflanze ich mal etwas hinzu oder ersetze eine abgestorbene Pflanze durch eine andere, als vorher dort stand. Aber im Wesentlichen pflege ich ihren Garten.« Wangari strich sanft an blauen Akelei-Blüten entlang. »Wahrscheinlich ist das auch Liebe, es gibt so viele Spielarten von ihr.« Olivia musterte sie aufmerksam. Wangari bemerkte es. Sie streifte noch einmal die blaue Blüte, ging hinüber zu dem alten Apfelbaum und lehnte sich an seinen rauen Stamm. Während Olivia wartete, schoss ihr das Bild von Munira am Tag der Ladeneröffnung durch den Kopf und sie stellte eine vage Ähnlichkeit zu Wangari fest. Auch Wangari war schlank und groß und trug heute ebenfalls einen knöchellangen Wickelrock. Und doch… Bevor Olivia weiteren Gedanken nachhängen konnte, regte sich die schmale Gestalt, strich die langen, völlig glatten hellbraunen Haare nach hinten, die sie im Laden immer hochgesteckt trug, fing Olivias Blick auf und sagte: »Jerrie hat die Farm in Kenia verkauft – sie hat es ernsthaft gemacht!« In einem abgrundtiefen Seufzer versuchte Wangari, sich Befreiung zu verschaffen. »Sie sagte es mir und Kamante bei ihrem letzten Besuch hier in London vor einem Jahr. Kamante war im Februar noch einmal bei ihr… Und nun ist es vorbei. Es fühlt sich völlig unwirklich an.« »Warum hat sie das gemacht?« »Sie sagte, die politischen Verhältnisse begännen wieder unsicherer zu werden. Und sie sagte auch, dass die Schwierigkeiten für weiße Siedler damit sicher nicht einfacher werden. Ihr Verhältnis zu den Kikuyu, die auf und mit ihrer Farm leben, ist davon unbetroffen, aber wenn die Lage sich radikalisieren sollte, möchte sie ihre Kinder dann doch nicht dort aufwachsen lassen. Als sie es uns erzählte, sahen wir, wie verwundert sie selbst über diese Entwicklung ihrer Gefühle war.« »Wie stellt sich dein Bruder zu dieser Entscheidung?« »Kamante hat sich mit diesem Wissen alles noch einmal angesehen und sagte danach, er akzeptiere Jerries Entschluss völlig. Er ist sachlicher als ich, das hilft ihm sicher«, lächelte Wangari zögernd. »Nun ist alles ganz schnell gegangen. In spätestens sechs Wochen wird sie mit ihrer Familie hier sein.« »Und dann?« fragte Olivia sanft. »Dann wird es viel Trubel geben. Irgendwie werden wir alle in meinem Stall unterkommen. Jerrie und ihr Mann werden immer wieder weg sein, um sich Farmen anzusehen, nehme ich an. Jerries Traum ist eine Farm in den Hams, du weißt, diesem weichen, rollenden Land im südlichen Devon.« Wangari stieß sich entschlossen vom Apfelbaum ab und umkreiste nachdenklich die Wolle auf dem Rasen. Olivia schlenderte hinter ihr her: »Du kommst von Helen?« »Ja, richtig. Mein Auto quillt über von Wolle. Am liebsten würde ich alle Wolle hier auf dem Rasen auskippen und darum herumtanzen. Ich freue mich schon auf die vielen Pullover, die zum Herbst in meinem Laden liegen werden. Jedenfalls vorübergehend«, korrigierte sie sich, »dann will ich sie natürlich verkaufen.« Nach kurzer Pause fuhr sie fort: »Ich habe heute Helens Vorschlag angenommen, einfarbige dünne Pullover und Jacken im Stil der Twinsets der Sechziger, nur lässiger, in allen Farben, die in einem meiner afrikanischen Stoffe vorkommen, anzubieten. Jede Kundin kann sich ihre Kombinationen auswählen. Helen meint, man braucht im Grunde nur zwei Größen, jedenfalls für den Anfang. Sie wird den Kontakt zu einer Strickerei in Schottland herstellen.« Olivia sah die Freundin nachdenklich an. Wangari fuhr fort: »Eigentlich ist der Vorschlag nicht weit weg von deinem zu den Blusenstoffen, erinnerst du dich? Du sprachst von einfarbigen Blusen in allen erdenklichen Farben.« »Ja, tatsächlich. Für meine Wahrnehmung würde sich damit das Konzept deines Ladens verändern. Was sagst du?« »Das ist richtig und hat sich aus den Veränderungen der letzten Jahre ergeben. Mit meinem Anteil, den ich erst von Vater und dann von Mutter geerbt habe, konnte ich meinen Stall hinten in St. John’s Wood kaufen – das Wissen, nun nie mehr von dort weg zu müssen, war unbeschreiblich – und das Haus, in dem mein neuer Laden ist, habe ich auch so weit bezahlt, dass die Miete von Munira den Kredit bedient. Unglaublich, oder? Aber ich muss nun erwirtschaften, was ich brauche, zum Investieren und zum Leben. Die Sicherheit, die meine Eltern mir boten, der allzeit bereitliegende Notgroschen existiert nicht mehr. Das bedeutet, ich werde nur noch dann nach Afrika fliegen, wenn es mir notwendig erscheint. Die meisten Stoffe sind traditionell, ich kenne das Angebot inzwischen sehr gut und kann sie über das Internet bestellen. Ich habe mit dem neuen Laden sehr viele Stoffe auf Lager genommen und bin gespannt, ob das die Kundinnen anregt, sich ihre Garderobe selbst zusammenzustellen. Auch das ist ein neues Angebot.« »Phantastisch!« fand Olivia. Beim Tee im Garten überlegten sie weiter, wie man ein stehendes Angebot mit immer neuen Anregungen kombinieren konnte. »Was übrigens meint Thomas zu all dem?« »Die Immobilienkäufe findet er gut, von meinem Laden versteht er nicht viel, doch er ahnt immerhin, dass ich mich gerade vollständig unabhängig von ihm mache. Ich bin sehr froh darüber und ein wenig gespannt, ob es unsere Beziehung verändert.« »Da fällt mir ein: Thomas hat gehört, dass John Pierre Kokain im Blut gehabt haben soll. Und die Polizei ist mehr in St. John’s Wood auf Patrouille. Vielleicht hängen die neuen Schlägereien auch mit Rauschgift zusammen. Penelope hält das für gut möglich. Sie erkennt die Anzeichen von Kokainkonsum wohl ziemlich zuverlässig.« »Wer ist Penelope?« »Penelope Hobbs ist die rothaarige Frau in dem türkisfarbenen Kleid, die am Eröffnungstag als eine der ersten Gäste Siras Bilder anschaute. Ich kannte sie vom Sehen, sie ist häufig spät abends in meinen Straßen unterwegs, meist in Begleitung ihrer Katzen. Ich nenne sie bei mir die Katzenfrau.« Erstaunt stellte Olivia fest: »Du bist nicht mehr regelmäßig im Regent’s Park unterwegs?«