Schatten über Fehmarn - Gerda M. Neumann - E-Book

Schatten über Fehmarn E-Book

Gerda M. Neumann

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Beschreibung

Eigentlich beginnt Olivias Herbstwochenende vielversprechend. Zusammen mit ihrer Freundin Amanda fährt sie auf Einladung eines befreundeten Künstlers auf die Insel Fehmarn in der Ostsee und erfreut sich an Küste, Sand und Wellen. Doch dann erscheint der Künstler nicht zur Enthüllung seines neuesten Werkes und ein Journalist stolpert zwischen den Feldern über einen menschlichen Arm. Statt Ferien hat Olivia wieder einen Fall. Ein Detektivroman in der klassischen englischen Tradition von Dorothy Sayers und Edmund Crispin.

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Seitenzahl: 322

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Schatten über Fehmarn

TitelseiteImpressumKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24NachwortÜber die AutorinDie Olivia Lawrence-Fälle

Titelseite

Gerda M. Neumann

Schatten über Fehmarn

Olivias vierter Fall

Impressum

Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.»Schatten über Fehmarn« erschien zuerst 2014 im Prospero Verlag, Münster & Berlin.Satz: Eleonore Neumann.Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.Bild: Reiner Binkowskiwww.epubli.deVerlag: Gerda NeumannDruck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Kapitel 1

Olivia, schau! Siehst du da vorn die beiden Stahlbögen? Direkt in den Himmel… nein, sie beschreiben eine Kurve, neigen sich wieder nach unten… gleich einem Regenbogen…«    Olivia schaute durch die Windschutzscheibe und summte leise – wie als Antwort. Amanda horchte auf und begann nach kurzem Zögern zu singen »Somewhere over the rainbow… Way up high… hmm… dreams… hmm… Once in an lullaby…« sie seufzte lautlos. »…once in a lullaby… der Bogen neigt sich für eine geschenkte Spanne Zeit zurück in die Kindheit.« Sie schüttelte ihre langen Locken: »Olivia, da hinter den Bögen, die eigentlich zur Sundbrücke gehören, liegt Fehmarn!«    Olivia lachte. Seit Tagen, im Grunde seit Wochen, seit Amanda an die Tür ihres kleinen Hauses in London geklopft hatte, geisterte der Name dieser Insel wie ein Sesam-öffne-dich durch ihre Gespräche. Damals hatte die Freundin sie eingeladen, mit ihr auf die ferne Ostseeinsel zu fahren.    Amanda sang noch einmal leise den Liedanfang, bevor sie fortfuhr: »Fehmarn, für mich bedeutet das Sommerglück: Meer, Wind, Sonne…« sie seufzte schon wieder, dieses Mal nur fast unhörbar, »…und wundervoller weißer Sand, so viel du willst. Du kannst dich in ihn einbuddeln, du kannst mit nackten Füßen durch die sonnengewärmte Fülle schlurren wie durch Herbstlaub im Park – da trägt man dann allerdings Schuhe. Der Sand jedenfalls rieselt weich und warm seitlich an den Füßen nach hinten. Die werden schließlich so schwer, dass du nachgibst und selber hinuntergleitest. Du streckst dich aus auf dem warmen Sand und schließt die Augen. Und dann beginnen die Hände von allein wieder mit dieser warmen Formlosigkeit zu spielen, sie aufzuheben und durch die Finger rieseln zu lassen, bis der Wind sie wie eine leichte Fahne davonträgt. Ach, du wirst sehen, wie schön es dort ist.«    Inzwischen trat das Land seitlich zurück. Olivia war, als würde es nicht nur nach hinten sinken, sondern auch nach unten. Das schien die Freundin nicht zu empfinden, sie drängte nach vorn. »Jetzt sind wir über dem Meer! Und vor uns – siehst du das grüne Land? Das ist Fehmarn!« Amanda atmete tief durch. »Es ist so leuchtend grün wie es immer war, ganz als hätten wir Sommer und nicht Anfang Oktober.«    In der Tat sah Olivia grün: Land, soweit das Auge blicken konnte, jedenfalls solange man seitlich nach vorn sah. Auf alle Fälle in genügender Menge, um wieder festen Grund unter den Füßen zu gewinnen, und so flach, dass man das umgebende Meer doch keinen Moment vergaß. Dagegen hatten die Fehmaraner Bäume gepflanzt, konstatierte sie dankbar, schon vor Generationen. Eine alte Pappelallee nahm sie auf, schmal und hochaufragend.    Langsam steuerte Amanda ihren Wagen die gewundene Straße entlang: »Acht Kilometer ungefähr, hat Alexander gesagt, dann kommt ein Kreisel. Das ist nicht so lang, Kilometer sind keine englischen Meilen.«    »Nein, bei weitem nicht, du bist jetzt auf dem Kontinent. Zumindest alle Längen und Gewichte sind hier anders als daheim in England.«    »Das mit den Maßen stimmt. Aber den Kontinent haben wir schon wieder verlassen. Zumindest für die Fehmaraner ist ihre Insel ein eigener, der sechste Kontinent. Wenn sie aufs Festland fahren, sagen sie genau wie wir ›Wir fahren nach Europa.‹ Hier kommt der Kreisel, wir sollen geradeaus weiterfahren bis zum Ende der Straße.« Amanda hielt sich an die Anweisung ihres Freundes und rollte langsam in das kleine Städtchen, bis es geradeaus nicht mehr weiterging. »Schau links, die dicke, dicke rote Kirche!« Sie bog ab und rollte genauso langsam weiter: »Hier sieht es auch aus wie immer! Ich rechne es ja nicht gern vor, aber dennoch ist ein Viertel Jahrhundert vergangen, seit ich mit meinen Eltern hier die Sommer verbrachte. Im ganzen waren es vier – vier lange sonnige Sommer am Sand, im Sand, auf dem Sand und im Wasser. Ist es nicht schön?«    Vor Olivias Blick erstreckte sich eine breite kopfsteingepflasterte Straße und wieder alte Bäume auf beiden Seiten, hinter denen rechts und links kleine alte Häuser standen, weißgestrichene oder rote, mit kleinen Fenstern und grünen Türen. Sie sah letzte Rosen an einigen Hauswänden aufgebunden blühen. Ja, es gefiel ihr und sie sagte es auch. Amanda war unterdessen der Wegbeschreibung Alexanders folgend weitergefahren und weiter abgebogen und hielt nun vor einem weißen Haus mit blauer Tür und blauen Fensterrahmen. In dieser Straße standen hohe alte Linden, fast zu Säulen zurückgeschnitten, aber dank des leuchtend gelben Herbstlaubes doch Bäume.    Auf Amandas Klingeln hin öffnete sich die schwere blaue Tür und eine stattliche Frau mit kurzen braunen Haaren und lebhaften Augen streckte ihnen einladend die Hände entgegen. »Kommen Sie herein! Sie können gern Englisch mit mir reden, solange ich Ihnen auf Deutsch antworten darf. Wird das gehen? Ich bin Frau Nüßler.«    Sie traten in die Diele, ein flüchtiger Blick rundum zeigte ihnen weiße Wände, einen weißen Fußboden und ein weißgestrichenes Treppengeländer, der Teppich auf der Treppe war blau. Und Bilder, meist in hellen, oft heiteren Farben: Blumen, das Meer, der Strand und die dicke, dicke Kirche, an der sie vorbeigefahren waren.    Da Olivia sich umschaute, blieb Amanda nicht erspart, ihrerseits auf die herzliche Begrüßung zu antworten: »Ich darf mich vorstellen, mein Name ist Amanda Cranfield. Ich habe in der Schule ungern Deutsch gelernt, um so lieber in den Sommern hier auf Fehmarn. So weit es möglich ist, werde ich in Ihrer Sprache zu reden versuchen. Das ist,« sie fasste Olivia leicht am Arm und erreichte, dass diese mit einem verschmitzten Lächeln die Füße nebeneinander stellte und sich leicht vor Frau Nüßler verbeugte, »das ist meine Freundin Olivia Lawrence. Sie ist nur zur Hälfte Engländerin, ihre Mutter ist Österreicherin und dort spricht man, glaube ich, auch eine Art Deutsch.« Frau Nüßler lachte und griff nach Olivias nun ausgestreckter Hand. Die war aus dem weiten Ärmel eines großen, dunkelgrünen Rollkragenpullovers zum Vorschein gekommen. Dazu trug sie wie fast immer eine schmale, schwarze Hose und Ballerinas – ohne Schleifen. Schleifen waren an Olivia undenkbar, nicht nur auf den Schuhen. Umstandslos ging Frau Nüßler ihnen voran die blaue Treppe hinauf und zeigte ihnen ihre Wohnung. Mit der einladenden Aufforderung, jederzeit unten bei ihr anzuklopfen, verließ sie ihre Gäste.    Die Freundinnen sanken in die schweren Sessel und fühlten sich recht behaglich. Gelb und weiß waren die Farben des Wohnzimmers, dazu helles Holz mit mehreren Metern Büchern auf den offenen Brettern, vor einem der beiden Fenster ein gewaltiger Flaschenbaum und Bilder an den Wänden in der gleichen leichten Farbigkeit wie unten in der Diele. Olivia betrachtete sie nachdenklich: »Sie sind auf eine unprätentiöse Weise schön, nicht wahr? Wer sie wohl gemalt hat?«    Amanda drehte sich nach dem Strand über ihrem Kopf um: »Keine Signatur. Vielleicht hat Frau Nüßler sie gemalt, an langen dunklen Winterabenden, wenn draußen der Sturm tobt und den Regen gegen die Scheiben treibt… Im Winter möchte ich, glaube ich, nicht hier leben.«    »Obwohl wir alles haben, was man für einen längeren Aufenthalt braucht: diesen Wohnraum, spürst du den dicken Teppich unter deinen Füßen? Ein Schlafzimmer – so groß, dass ich darin Handstandüberschlag machen kann, wenn mich der Wunsch danach überfallen sollte, ein Bad, in dem zu allem Überfluss auch noch eine Waschmaschine steht, und eine Küche, in der man vermutlich ein vollständiges Mahl zubereiten könnte. Sie wirkt jedenfalls sehr vollständig und irgendetwas muss ja hinter den vielen Türen sein. Um das Glück komplett zu machen, bin ich so klein, dass ich beim Kochen mit der Schräge über der Arbeitsfläche auch nicht in Konflikt käme. Es lässt sich gut aushalten hier,« schloss sie die Bestandsaufnahme.    »Wir sind in Burg auf Fehmarn!« Amanda sprang auf. »Im Moment fühle ich mich, als würde mir die ganze Welt gehören.«    »Vermutlich fühlt man sich so, wenn einem für einen glücklichen Augenblick die Kindheit zurückgegeben wurde. Was möchtest du mit diesem Glück beginnen?«    Amandas Augen wanderten aus dem Fenster und zwischen den gelben Lindenblättern hindurch ins Weite. »Lass uns eine Runde um den Marktplatz drehen. Dabei kann ich meine Erinnerung spazieren führen und wir können Fischbrötchen kaufen, viele und verschiedene. Wenn deine hausfraulichen Gefühle draußen im frischen Wind andauern, könnten wir Kaffee kaufen und du kochst ihn dann. Starker heißer Kaffee gehört unbedingt zu Fischbrötchen, eigentlich mit Sahne und einem Schuss Rum, aber letzteres ist vielleicht unklug – wir wollen mit dem Tag ja noch mehr machen. Komm!«

So spazierte Olivia Lawrence aus Fulham, einem friedlichen Londoner Stadtteil an der Themse, durch das noch viel friedlichere Burg. Die Breite Straße hieß nicht nur so, sie war es auch. Sie gingen auf der Seite mit dem hohen Gehsteig, der hinter den Bäumen mit einer an die vier Meter breiten Schräge zu Straßenmitte abfiel. ›Ich komme mir vor wie auf einem Deich‹, stellte Olivia bei sich fest, ›und die Steine, die die Schräge halten, sind sicherlich vom Meer so rund gewaschen, am Strand gesammelt und hier dicht an dicht wie Kopfsteinpflaster aufgebracht – völlig unbrauchbar, um darauf zu gehen. Weder auf diesen kleinen Buckeln noch auf den Grashängen der Deiche draußen am Strand sollte man gehen, so ist das wohl, das dürfen nur die Schafe und übermütige Kinder.‹    »Olivia,« unterbrach Amanda ihr schweigendes Erinnern und die Gedanken der Freundin, »der Himmel ist so blau und der Wind so weich und wir haben noch fast einen halben Tag für uns,« sie blieb stehen und deutete mit einer leichten Kopfbewegung nach rechts, »hier in diesem Hotel treffen wir uns heute Abend mit Alexander. Ich nehme mal an, er bringt seine beiden Malerfreunde auch mit. Wir wissen jetzt, dass wir bei zügigem Tempo vermutlich fünf bis sieben Minuten von unserer Wohnung bis hierher brauchen statt einer halben Stunde wie jetzt. Lass uns die Ortsbesichtigung abbrechen, alles notwendige zum Essen kaufen, dazu eine Landkarte. Und während du dich in unserer Küche einlebst und Kaffee kochst, stelle ich eine Inselrundfahrt zusammen.«    Das sagte sich so dahin. Amanda kniete eine weitere halbe Stunde später auf dem weichen Teppich, die Arme auf den Wohnzimmertisch aufgestützt und ließ ihre Augen über die Dörfer und die Küstenlinien laufen. Je länger sie das betrieb, desto mehr gerieten ihre Erinnerungen mit jenen Ortsnamen und Stränden in Konflikt, die sie vergessen hatte. Etwas weniger unternehmungslustig biss sie schließlich in das erste Fischbrötchen.    Als das Schweigen anhielt, machte Olivia behutsam einen Vorschlag: »Wir sollten zuallererst an den Sandstrand fahren. Wo ist er?«    »Ganz nah. Im Süden der Insel.«    »Wunderbar. Wir können dort einen Strandspaziergang machen oder aber, wenn dir das dann besser gefällt, ein Küstenstück im Osten, im Norden und zuletzt im Westen aufsuchen und uns immer vorstellen, was hinter dem Wasser liegt.«    »Das ist gut! Das machen wir.«

Weit streckte sich das Land rechts und links der Straße. Amanda steuerte ihr dunkelbraunes Mercedes-Cabriolet langsam voran, was nicht häufig vorkam.    »Schau mal, da links hinten fährt ein Auto am Horizont…« Olivia war geneigt, das, was sie gerade sah, für einen Taschenspielertrick zu halten.    »Warum nicht, da verläuft sicher die nächste Straße.«    »Wenn du das sagst… Es ist wirklich ein flaches Land. Das nächste Dorf heißt Neue Tiefe. Richtig wohnlich klingt das in meinen Ohren nicht.« Häuser tauchten auf und waren vorbei. »War das alles?« erkundigte Olivia sich überrascht.    »Ja, alles. Was erwartest du? Fehmarn hat zweiundvierzig Dörfer. Wenn man die Einwohner von Burg abzieht, bleiben ungefähr achttausend Leute dafür übrig. Wenn du’s mit Arithmetik versuchst, wirst du rasch einsehen, was du erwarten darfst.«    Sie fuhren bereits wieder auf einem Damm. Links der Straße grasten Pferde auf Weidestücken, die wie Halbinseln ins Wasser ragten, so weit hinaus und so hinein verflochten, dass es Süßwasser sein musste, sonst würden die Pferde das Gras nicht fressen. Irgendwie beruhigte dieser Gedanke Olivia. Rechts waren ernstere Mengen Wasser zu sehen. Sie kamen erneut zwischen Häuser, ziemlich viele sogar und drei Hochhäuser. Amanda parkte ein und stieg aus. »Im Sommer gibt es hier mehr Touristen, oder Badegäste – ein schönes deutsches Wort, nicht wahr? – als Einheimische, jedenfalls hier in Burgtiefe. Komm!«    »Der Strand! Da vorn! Weißer weicher Sand, so weit du sehen kannst…« Amanda verstummte. Zügig ging sie den befestigten Strandweg entlang bis zum nächsten Holzsteg. Er führte zwischen Dünen hindurch und endlich ganz direkt in den Sand.    Olivia blieb ein wenig zurück und ließ die harten schmalen Blätter des Strandhafers durch ihre Finger gleiten. Gräser gefielen ihr, wo immer sie wuchsen und hier am Meer, wo sie das Land gegen Wasser und Sturm verteidigten, empfand sie so etwas wie Respekt vor der Lebenskraft und Durchhaltefähigkeit der Pflanzen. Schließlich ging auch sie weiter vor, nahm eine Handvoll Sand auf und ließ ihn ganz langsam durch die Finger rieseln. Das wiederholte sie wieder und wieder. Beide Hände griffen in die weiche Fülle und boten sie dem leichten Wind zum Spiel an. »Deine Erinnerung hat Recht, dieser Sand ist perfekt. Ich wüsste nicht, wo man an Englands langen Küsten so etwas finden könnte.«    Das war das größte Kompliment, das Olivia Fehmarn machen konnte, Amanda wusste das und freute sich. »Schau,« rief sie und streckte beide Arme aus, »wie weit du laufen kannst und der Sand hört nicht auf.«    »Sollen wir? Nach rechts oder nach links?«    Nachdenklich und prüfend schaute Amanda in beide Richtungen und dann aufs Meer hinaus. »Ich vermute, beides nicht…«    »Geradeaus ins Wasser hineinzuspazieren, wäre mir zu nass… Ist die graue Linie dort am Horizont Land?«    »Ja, das ist Mecklenburg. Ich glaube, dein Vorschlag von den vier Himmelsrichtungen entspricht meiner lästigen Unrast mehr als ein Strandspaziergang, selbst eine herzhafte Wanderung würde mich nur unruhig machen. Wie blödsinnig man sein kann! Also: auf nach Osten!« Sie ließen noch manche Handvoll Sand durch die Finger gleiten, während sie zum Holzsteg zurückgingen.    Trotz ihrer Unruhe steuerte Amanda langsam über die schmalen Straßen. Beide schauten über das weite Land. Viele Feldränder wurden von Kopfweiden gesäumt. Mit ihrem Herbstlaub standen sie wie durchsichtig in der flachen Weite. Zwischendurch tauchte Burg am Horizont auf. Die sturmtrotzende Kirche überragte die roten Dächer wie eine Festung. Wieder war ein Dorf zu Ende und eine Straße dehnte sich vor ihnen, bis erneut eine Lindenallee sie aufnahm.    »Dieses Land ist so flach, dass ich den Bäumen für ihren Schutz richtig dankbar bin,« stellte Olivia fest. »Eigentlich verstehe ich nicht, warum das Meer nicht einfach darüber hin braust, zumindest in einer Sturmnacht.«    »Die letzte Sturmflut liegt hundertfünfzig Jahre zurück. Warum soll das Wasser auf das Land fließen, wenn es einfacher darum herum strömen kann?«    »Weil das Land so flach ist!«    »Das Land, aber nicht die Küste. Gleich wirst du staunen.«    Sie gingen auf einen schmalen Waldstreifen zu. Amanda bestand auf dem Titel ›Wald‹, Olivia hätte sich eher für ›Hain‹ entschieden, schließlich sah man zwischen den Stämmen hindurch das Meer. Und dann war sie wirklich überrascht. Ein Pfad wand sich zwischen den Bäumen nach unten, er führte unbestreitbar abwärts. Sie traten ins Freie auf ein steiniges Stück Land hinaus. Dahinter lag das Wasser. Mit leisen glucksenden Geräuschen schlug es gegen die Steine, zog sich zurück und kam wieder, ohne Pause und ohne Hektik, beruhigend und freundlich. Sie gingen zwischen Land und Wasser dahin. Olivia schaute zu den Bäumen hinauf, sie standen zehn, wohl auch zwölf Meter über ihr. »Eine richtige Steilküste – die Überraschung ist dir gelungen!«    »Ja, nicht wahr?« Amanda löste den Blick vom Land und wandte sich zum Wasser. »Dieses Mal siehst du kein Land am Horizont, vor dir liegt die freie Ostsee, frei bis hinüber nach Riga und St. Petersburg. Die weite Welt der Hanse, wenn du gerade Lust haben solltest, dir große Segelschiffe und alte Hafenstädte vorzustellen… Und hinter dir eine Steilwand, die sich den Winterstürmen entgegenstellt. Gar so ausgesetzt, wie du zu glauben scheinst, ist diese Insel gar nicht.«    Auf dem Rückweg nahm Olivia den ein oder anderen Stein auf und drehte ihn in der Hand. »Hier könnten die Straßenbauer von Burg ihre Steine gesammelt haben, es gibt genug davon. Baden kann man hier allerdings weniger, oder?«    »Nein, deswegen ist es hier auch im Sommer ziemlich leer, und zum Wandern ziemlich schön. Manchmal sieht man Angler, sie stehen sogar im Wasser, so flach läuft das Land hier unter die Meeresoberfläche.«    »Für Schiffslandungen gänzlich ungeeignet… Eigentlich schade, als Kulisse für Seeräuber könnte ich es mir ganz gut vorstellen.«    Die Karte und ihr Kompass lenkten sie weiter nach Norden. Dieses Mal standen sie auf einem Deich. Dass die Insulaner eine solche Schutzmaßnahme für notwendig gehalten hatten, wertete Olivia als einen erleichternd menschlichen Zug an ihnen. Der Strand vor ihr war eine Mischung aus Sand, Steinen und Algen, und hinter dem Wasser sah man wieder Land, deutlich näher als Mecklenburg.    »Das ist Dänemark, die Insel Lolland. Es gibt den Plan zu einer Brücke zwischen hier und drüben… Die Leute streiten über…« Amanda verstand ganz plötzlich, was der Sonnenstand ihr mitteilte. »Das ist jetzt gleichgültig. Lass uns weiterfahren. Da wir nun mal dabei sind, möchte ich dir auch die Westküste zeigen und das Licht schwindet ähnlich wie der Sand zwischen den Fingern. Ganz klein ist Fehmarn eben doch nicht. Beruhigend?«    »Schon irgendwie. Dieses Burgtiefe auf Sand ins Wasser gebaut weckt den Bergbauern in mir, der Wasser lieber trinkt als hineingerät.«    Der Deich schützte die Insel auch im Westen. Hier grasten sogar Schafe auf ihm und landeinwärts wuchsen in seinem Windschatten niedrige Kiefern. Endlich zeigten sich wieder kleine Kobolde in Olivias Augenwinkeln: »Fehmarn wird nicht untergehen, ich sehe es jetzt selbst – wozu gehören die weißen Häuserblocks dort am anderen Ufer?« Ihr ausgestreckter Arm wies nach Süden.    »Das muss noch Heiligenhafen sein, also das Festland von Schleswig-Holstein. Und wenn du dir eine gerade Linie etwas rechts an der untergehenden Sonne vorbei denkst, triffst du auf Angeln, ein hügeliges Stück von Schleswig-Holstein und die Heimat jener Abenteurer, die in tiefer Vergangenheit aufbrachen, England zu besiedeln.«    »Die Angelsachsen… Amanda, ich beginne allmählich den Namen der Skulptur zu verstehen, die dein Freund für diese Insel geschaffen hat: ›Fehmarn, eine Brücke in Europa‹, ein Denkmal in des Wortes engster Bedeutung: Denk mal – darüber nach. Auf die vielen Steinblöcke voller Namen, die überall in Dörfern und Städten aufgestellt sind, trifft diese Bezeichnung weniger zu, sie müssten Erinnerungsmale heißen, die präzise Übersetzung des englischen ›memorial‹.    »Apropos England. Auf der Rückfahrt muss ich dir noch eine Geschichte erzählen.« Während sie auf Burg zufuhren und in ihrem Rücken die Sonne unterging, begann Amanda: »Spring in Gedanken zurück in die Jahre 1945/46. In London tagt eine Konferenz, um das besiegte Deutschland in Besatzungszonen aufzuteilen, neunzehn Monate lang. Dabei hätten es zwei weniger werden können, aber der russische Botschafter hatte sich an Fehmarn festgebissen. Die Kornkammer in der Ostsee wollte er auch noch haben. Doch der englische Unterhändler erkannte Fehmarns strategische Lage: Die Russen hätten sich weit in den Nordwesten bis vor die Küste Dänemarks geschoben. Das wog noch schwerer als das Getreide. Und Lord Strang führte die Geschichte ins Feld: Seit Jahrhunderten gehörte Fehmarn zum Norden, mal zu Dänemark, dann zu Holstein, immer abwechselnd, aber niemals zu Mecklenburg. Er blieb stur, obwohl die britische Regierung ihm freie Hand gegeben hatte. Und eines schönen Tages ließ der russische Botschafter seine Forderung fallen, als wäre sie nie ernst gemeint gewesen. Fehmarn verdankt Lord Strang zweiundvierzig Jahre in Freiheit! Auch wenn die Insulaner selbst diese Tatsache erst fünfzehn Jahre später herausfanden.«    »Genau genommen verdankst du diesem Diplomaten die schönsten Sommerferien deiner Kindheit,« spann Olivia die Geschichte fort.

Kapitel 2

Eine Stunde später stiegen die beiden Engländerinnen die Stufen zum Hotel im Zentrum von Burg hinauf. Amanda übernahm die Führung. Der Raum, den sie hinter einem kurzen Gang und einer weiteren Tür betraten, nahm sie mit abendlich gedämpfter Beleuchtung auf. Er war lang und schmal, lang auch die Bar, neben der Amanda stehen blieb. Ihre Augen streiften über die hohen kleinen Tische nach links bis zu den beiden Fenster, hinter denen die Straßenlaternen den Markt draußen beleuchteten, über die hohen Tische an der gegenüberliegenden Wand zurück: kein bekanntes Gesicht. »Alexander ist noch nicht da. Also setzen wir uns an einen der niedrigen Tische dort gegenüber der Bar und essen etwas Warmes, bis er kommt.«    Sie nahm mit dem Rücken zur Wand Platz, den Eingang wie beiläufig im Blick. Der sie umgebende Raum wirkte vollständig dunkelrot, doch bei genauerem Hinsehen standen die Möbel auf Parkett und die Wände waren hell gestrichen. Amandas Hand glitt über den Bezugstoff neben sich: »Blutroter Alcantara… wie es hier vor fünfundzwanzig Jahren aussah, habe ich vergessen.«    »Natürlich. Warum sollte ein Kind sich für Inneneinrichtung interessieren… Da Alexander Hyde nicht da ist, erzähl mir genauer von seinem Denkmal, bis er kommt, magst du?«    »Es gibt nichts zu erzählen, da muss ich dich leider enttäuschen, ich kenne es so wenig wie du. Die feierliche Enthüllung findet morgen statt, das weißt du. Vielleicht gerät der Festakt zu einer eigenen Überraschung, Offizielles liegt Alexander wenig. Seine Auftraggeber, eine hiesige Bürgervereinigung, wird sich vermutlich genau das vorstellen, Reden und Blasmusik und die örtliche Presse. Wir werden sehen, wer von beiden sich durchgesetzt hat.« Amanda spürte das Lachen in sich aufsteigen.    »Dann erzähl mir von ihm: Wie sieht er aus, was für ein Leben führt er?«    »Willst du nicht lieber wissen, was für Kunst er macht?«    »Später, wenn noch Zeit ist. Bilder schaue ich mir eigentlich lieber an als sie mir beschreiben zu lassen.« Ihr alter Übermut blitzte in Olivias Augen auf. In diesem Raum mit seinem gedämpften Licht, der leisen Musik und heißem Tee vor sich, der Bar kehrte sie in doppelter Weise den Rücken zu, hatte sie das Meer vorübergehend vergessen – so schien es Amanda zumindest.    »Also gut. Er ist ungefähr so groß wie ich, also für einen Mann eher klein, und sehr schmal. Da seine Bewegungen leicht und flink sind, erinnert er mich immer wieder an einen Vogel. Manche halten seine Bewegungsweise für nervös, ich glaube das aber nicht. Ich habe ihm manchmal bei der Arbeit zugeschaut. Auch wenn er ruhig und konzentriert ist, bewegt er sich in dieser vogelhaften Weise. Seine Augen sind graublau und seine Stirn sehr weiß, darüber stehen braune Haare in die Luft, weil er beim Denken und beim Reden immer mit den Fingern hindurch fährt.«    »Und wie kam er ausgerechnet nach Fehmarn?«    »Zufall, glaube ich. Und eine Neigung zu kleineren Inseln als England eine ist. Als ganz junger Maler hat er einige Jahre in der Südsee gelebt. Dann war er wieder da, malte Stadtbilder wie ein Wahnsinniger, als wollte er sich in London hinein wühlen… bis er nach Fehmarn verschwand. Er hatte bei einer Ausstellung in irgendeiner Galerie im Westend Felix Picard kennengelernt. Der ist Deutscher, verbringt seine Sommer seit ewig hier auf der Ostseeinsel und erzählte ihm davon. Das, was Alexander sich beim Zuhören vorstellte, schien genau zu passen. Er fuhr hin, blieb den ganzen Sommer und kam in den folgenden wieder.«    »Kennst du diesen Felix Picard?«    Die Antwort beschränkte sich auf ein leichtes Kopfschütteln. Amanda sah zum Eingang. Da sie schwieg, wandte Olivia sich um, schließlich sollte man wissen, was sich im eigenen Rücken abspielt. Ein großer Mann um die Vierzig hatte den Raum betreten und stand nun neben der Bar wie sie selbst vorhin. Als erstes fielen ihr die tiefen, braunen Augen auf, die langsam über die Gäste wanderten, dann die schmalen, festgeschlossenen Lippen und der kurzgeschnittene dunkle Bart. Obwohl die Haut wettergebräunt zu sein schien, es war wirklich nicht sehr hell hier im Raum, war er bestimmt kein Seemann. Schließlich löste er seine Rechte von der Thekenkante und kam auf ihren Tisch zu, obwohl nichts in seinem Blick darauf hingedeutet hatte, dass er sie anders wahrnahm als jeden anderen Gast.    »Entschuldigen Sie, bitte, warten Sie womöglich auf den Maler Alexander Hyde?« Die Worte kamen leise und langsam.    »Ja, so ist es.« Amanda hatte ihm den nächsten Satz überlassen wollen, doch in das fragende Abwarten der sehr dunklen Augen ergänzte sie dann doch: »Kennen Sie ihn?«    »Ja, durchaus. Er ist ein Freund von mir. Ich heiße Felix Picard.« Nach einer förmlichen Begrüßung setzte er sich zu ihnen. Olivia empfand es beinahe als Ehre, so dramatisch wirkte seine scheue, etwas bedächtige Art auf sie.    »Sie sind zum verabredeten Zeitpunkt hier, also sind Sie sicher, dass Alexander auch kommen wird, darf ich das annehmen?« Sorgfältig setzte er die Worte hintereinander.    »Ja, natürlich. Wir sind seinetwegen von London gekommen!«    Er nickte zögernd: »Darf ich weiter fragen, wann Sie zuletzt von ihm gehört haben?«    »Fragen dürfen Sie das schon… da muss ich nachdenken…« Amanda griff nach ihrer Tasche und Olivia, die Felix Picard ungeniert beobachten konnte, da seine Augen gebannt an Amanda hingen, stellte fest, dass er seine Unruhe nur schwer bezähmen konnte. Amanda zog eine steife Karte heraus und drehte sie um: »Dies ist die offizielle Einladung zur Enthüllung, auf der Rückseite stehen Ort und Zeitpunkt unseres privaten Treffens hier – und hier sind wir. Der handschriftliche Teil ist vom 13. September.«    »Nichts von einem Besuch in London?«    »Doch, er schreibt: ›Sollte ich vorher für drei Tage in London sein, melde ich mich.‹ Das hat er nicht getan. Also ist er wohl hiergeblieben.«    »Nein, das ist er nicht! Also muss er in London gewesen sein.«    »Das glaube ich nicht. Ich habe dringend versucht, ihn zu erreichen, weil ich ziemlich kurzfristig beschlossen habe, mit dem Auto zu fahren. Wir hätten gemeinsam reisen können.«    »Das wäre für ihn zu spät gewesen, vielleicht war er schon wieder weg, als Sie ihn zu erreichen versuchten.«    »Wieder nein, so kurzfristig habe ich auch nicht geplant. Wir verbrachten einen Tag in Brüssel und einen in Hamburg. Mit Alexander im Auto wären wir durchgefahren – aber was sollen all diese Fragen? Ist Alexander denn nicht hier?«    »Nein. Ich habe ihn schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.«    Amanda musterte ihren Tischnachbarn aufmerksam: »Vielleicht hat ihn das Aufstellen der Skulptur in den letzten Tagen so sehr in Anspruch genommen, dass er für nichts sonst Sinn hatte?« Instinktiv versuchte sie, ihn zu beruhigen.    »Die letzten Tage haben Juro Kienhardt und ich damit verbracht, diese Skulptur aufzustellen. Hoffentlich ist er mit dem Ergebnis zufrieden. Er macht am liebsten alles selbst, auch das Hängen seiner Bilder für Ausstellungen. Deshalb wollte er ja zu diesem ungünstigen Zeitpunkt unbedingt nach London. Und deswegen sind wir ernsthaft beunruhigt über sein Ausbleiben. Es gibt keine Erklärung dafür.«    »Ich verstehe.« Amanda schwieg. Da die anderen es auch taten, fragte sie nach einer Pause: »Wer ist Juro Kienhardt?«    »Juro ist Maler wie wir, der dritte im Bunde und der einzige, der das ganze Jahr über auf Fehmarn lebt. Er und seine Frau haben Alexander nicht mehr gesehen, seit ich nach Köln gefahren bin, vor vierzehn Tagen; seit fünf Tagen bin ich wieder da, aber keine Spur von ihm.«    »Wissen Sie, wo in London seine Ausstellung stattfinden soll? Wir könnten in der Galerie anrufen.«    »Darauf bin ich nicht gekommen… Nein, den Namen habe ich vergessen. Es gibt aber eine große Kiste in seinem Zimmer, in der alle Korrespondenz landet. Allerdings würde ich nie an seine Sachen gehen.« Seine Lippen schlossen sich noch fester aufeinander als zu Anfang und die Kuppen seiner gespreizten Finger drückten so fest gegeneinander, dass die Nägel hell wurden.    Olivia beobachtete, wie Picards Unruhe sich in dem kurzen Gespräch zu Angst wandelte. Sie kannte beide Männer nicht, konnte ihre Nervenstärke nicht einschätzen, verstand aber ohne Schwierigkeiten das Widerstreben von Felix Picard, letzte Handgriffe und Entscheidungen am Werk des anderen vornehmen zu müssen. »Steht die Skulptur jetzt und gibt es noch etwas zu tun?« riss sie ihn aus seinen Gedanken.    Picard sah sie an, zum ersten Mal seit der Begrüßung: »Für morgen ist alles fertig. Alle wissen schon seit Wochen, was sie machen sollen. Alexander kann sehr gut organisieren und er wollte ja zwischendurch noch nach London. Seine Plastik blieb bis zum letzten Moment in der Scheune, in der er sie gearbeitet hat, deshalb mussten Juro und ich diesen Teil der Vorbereitungen nun stellvertretend übernehmen.«    »Also gibt es im Moment nichts mehr zu tun?«    Picards Augen hingen an dem tatenlustigen Gesicht. Er schien nachzudenken. Endlich fragte er zurück: »Was meinen Sie damit?«    »Nun, ich sehe zwei Probleme: einmal die offizielle Denkmalsenthüllung morgen und die Abwesenheit der Hauptperson bei diesem Ereignis. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, kann der offizielle Teil wie vorgesehen ablaufen, man muss lediglich darauf verzichten, dem Künstler die Hand zu drücken. Oder wollte er eine Rede halten?«    »Um Himmels willen, nein!«    »Gut. Bleibt zweitens die Frage, wo er steckt. Ich überlege, ob wir heute Abend noch etwas unternehmen können, um das herauszufinden? Zum Beispiel in der Londoner Galerie anrufen. Wir haben eine Stunde Zeitverschiebung, Galeristen sind oft spät dran.«    »Zwischen dem Telefonat und uns stehen ein paar Hürden, die uns Zeit kosten werden,« warf Amanda ein. »Scharf betrachtet, dient alles, was wir heute Abend noch unternehmen könnten, der eigenen Beruhigung. Ich verstehe Alexanders Fernbleiben zwar nicht, will aber hoffen, dass er selbst es uns morgen erklärt. Er hat solange an diesem Werk gearbeitet. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er dessen Enthüllung verpasst.«    Picard sah sie eine Weile grübelnd an. Schließlich lösten sich die Fingerkuppen voneinander und er stützte die Hände auf den Tisch, als wolle er aufbrechen. »Sie haben Recht, für heute müssen wir den Dingen ihren Lauf lassen. Und morgen ist auch noch ein halber Tag für seine Anreise.« Er erhob sich: »Ich gehe jetzt nach Hause. Juro erwartet noch Nachricht von mir. Und da Alexander seit einigen Wochen bei mir wohnt, werde ich am besten dort auf ihn warten. Wir sehen uns morgen am Strand von Burgtiefe.« Er verneigte sich ein wenig altmodisch und ging, ohne sein Bier angerührt zu haben.    Amanda sah ihm nach und schwieg. Olivia wandte sich wieder ihren Matjesheringen zu und zog die mittlerweile kalten Kartoffelstücke durch die Marinade. Irgendwann wurde ihr die Stille zu viel: »Ein so wortkarger Abend gebiert leicht Gespenster,« teilte sie freundlich mit.    Die Augen der Freundin kehrten vom Eingang zurück. »Weißt du, dieser Mensch, dieser Felix Picard, bewegt sich so langsam, dass mir die gelegentlich auftauchende Vorstellung, Künstler seien Narren, eingefallen ist.«    »Hoffen wir, dass er beides ist – Künstler und Narr, denn Narren sind weise.«    »Er schien besorgt, hast du das gesehen?« Amanda ließ diese Bemerkung leichthin zwischen sie fallen.    »Als er kam, brachte er Hoffnung mit, als er ging, hatte er Angst,« bestätigte Olivia. »Und du, wie siehst du die Lage?«    Amanda sah die Freundin einen Moment an, dann schien sie sich einen Ruck geben zu müssen: »Ich habe auch Angst, um ehrlich zu sein. Bis Picard kam, schien alles in Ordnung. Solange er bei uns saß, habe ich mich auf ihn konzentriert. Aber wenn du mich jetzt geradeheraus fragst… Es ist einfach so: Für Alexander sind zwei Dinge im Leben wichtig, seine Kunst und seine Freunde. Im vorliegenden Fall vernachlässigt er sie gleich beide. Also stimmt wirklich etwas nicht.«    »Wie ist Alexander? Ist er gut für Überraschungen? Ist er sprunghaft, unzuverlässig?«    »Ich weiß es nicht. Wir sehen uns, auch wenn er in London ist, nicht so häufig. Aber selbst wenn er so wäre, doch nicht zu diesem Zeitpunkt!«    »Wieso bist du so sicher, dass er nicht in London war?«    »Alexander ist so altmodisch wie du und hat keinen Telefonanrufbeantworter. Da ich es aber wirklich schön gefunden hätte, gemeinsam nach Fehmarn zu fahren, habe ich seine Zugehfrau angerufen, als er nie abhob. Sie ist mittlerweile so etwas wie sein guter Hausgeist geworden, kümmert sich um sein Atelier und seine Post, wenn er nicht da ist und erst recht, wenn er da ist. Sie ist ganz sicher, dass er nicht mal für eine Nacht in London war. Und sie wüsste es bestimmt.«    »Das Flugpersonal streikt gerade nicht, bleibt nur noch ein Unfall…«

Kapitel 3

Der neue Morgen entwickelte sich nach nebelverhangenem Zögern zu einem strahlenden Blau. Olivia hatte sich mit der Landkarte besprochen, dabei eine weitere Steilküste und einen nahe daran gelegenen Parkplatz entdeckt. Dort am Meer unter diesem enorm blauen Himmel spazieren zu gehen, musste unbedingt ein Vergnügen sein, überzeugte sie Amanda schließlich. Und wieder rollten sie über das flache Land. Im Auto herrschte Schweigsamkeit. Olivia summte leise, aber auch der Regenbogen war mit einem Ende auf Fehmarns flachem Grün aufgekommen, Amanda schien sie nicht einmal zu hören. So versuchte Olivia, sich mit den Kopfweiden zu unterhalten. Die dicken Stämme mit ihren tiefgefurchten Rinden und den lichten Laubkugeln darüber gefielen ihr und sie stellte sich vor, welche bizarren oder drohenden Gestalten sie in der Dämmerung annehmen mochten. Die Bäume ihrerseits schienen kein Gespräch mit ihr zu wollen, sie standen in trauter Reihe nebeneinander und waren sich selbst genug. So kam es ihr jedenfalls gegen Ende der kurzen Fahrt vor.    Ruhig gingen sie am steinigen Strand entlang, zu ihrer linken ein dunkles blaues Meer, das mit nahezu lautlosem Plätschern an die Steine leckte, und zu ihrer Rechten eine weiße Steilküste, über deren oberen Rand Gras und Brombeerranken wuchsen, darüber ein Himmel in dem gleichen Blau wie die Fahne von Fehmarn.    »Was für ein unglaublich schöner Herbsttag!« Es roch nach Algen und nassem Sand. Olivia griff nach einem kleinen flachen Stein und versuchte, ihn über die glatte Wasserfläche springen zu lassen. Zu ihrer eigenen Überraschung gehorchte er dem Befehl ihrer Hand einmal, zweimal, dreimal, dann sank er hinunter. Sie drehte sich zu Amanda um. Deren lange, blonde Haare rührten sich leicht im Wind. Aufrecht stand sie vor der Weite der Ostsee und sah sehr schön aus. Doch schien sie sich ihrer selbst heute nicht bewusst zu sein. Immerhin reagierte sie auf Olivias Blick.    »Hoffentlich entwickelt der Tag sich weiter so strahlend… Entschuldige, ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Ich hatte unbewusst fest mit einem Anruf von Alexander zum Frühstück gerechnet. Wohl weil er ausblieb, kam mir das weite flache Land heute kahl, leer und trostlos vor. Und ähnlich fühle ich mich… irgendwie… lächerlich, nicht?«    »Nein, durchaus nicht. Seinetwegen bist du hergekommen, und er ist nicht da. Das allein reicht schon, um einem die Stimmung zu verderben. Normalerweise wärest du jetzt ärgerlich, das wäre immerhin gesund. Stattdessen hat Felix Picard dich mit seiner Angst angesteckt.«    »Sie ist unbehaglich, das kann ich dir sagen!« Amandas Blick kehrte von der Wasseroberfläche zurück. »Vor der Sonne ist heute ein riesiger grauer Schirm aufgespannt. Selbst die Lichtflecken auf dem Wasser glitzern mich bösartig an… als wollten sie stechen.«    »Dann beachte sie nicht mehr. Komm, lass uns vorlaufen und schauen, was es hinter der Biegung zu sehen gibt.«    Entschlossen ausschreitend kamen sie bis zum Leuchtturm von Staberhuk, Amandas ausgestreckter Arm zeigte nach oben. Dort stand der schwere Turm hinter Weißdorngestrüpp gegen den Himmel, er ragte noch einmal so hoch auf wie die weiße Küste, auf der er stand. In Olivias Gesicht blitzte ein kurzfristiges Vergnügen auf: »Das deutsche ›huk‹ in seinem Namen meint Ecke,« legte sie dar, »die Niederländer haben dieses Wort auch, sie schreiben es bereits mit oe und hinter dem Kanal in England heißt es dann ›hook‹, wie Captain Hook in ›Peter Pan‹ mit seinem Haken statt der einen Hand. Es gibt viele Brücken, die man über Europa schlagen kann. Der Name der Skulptur, die wir heute zu sehen bekommen werden, gefällt mir sehr.« Sie drehte sich herum und streckte den Arm aus: »Und der Streifen dahinten am Horizont – Land?«    »Land. Wieder Mecklenburg. Die geographischen Realitäten sind ziemlich stabil, jedenfalls an der Länge eines Menschenlebens gemessen.« Auf Amandas Gesicht zeigte sich ein leichter Glanz, ähnlich dem auf dem gekräuselten Meerwasser. Immer noch ziemlich schweigsam, doch einträchtig machten sie sich auf den Rückweg.

In ihrer Küche unter der Schräge aßen sie eine Kleinigkeit, deren Herstellung Olivias Kochkunst nicht weiter strapaziert hatte. Die Stimmung der Freundin stellte dagegen eine echte Herausforderung dar. Üblicherweise betrachtete Amanda die Mitmenschen mit dem distanziert klugen Blick der Schriftstellerin, neigte dazu, alles um sich her zu Material für ihre Romane zu verarbeiten. Der Wirklichkeit so unmittelbar ausgeliefert wie jetzt hatte Olivia sie nur selten gesehen. Sie dachte an die sehr dunklen Augen und die fest geschlossenen schmalen Lippen von Picard, an sein langsames Sprechen. Alles an ihm zeugte von großem Ernst, der offensichtlich umstandslos die vielen Schichten zwischen Amanda und der Welt überwunden hatte. So war seine Angst auch zu ihrer geworden. Deshalb saßen sie hier in den bergenden Wänden des Nüßlerschen Hauses, erreichbar, ohne das jemand das wollte. Warten war ganz schlecht.

Zwei Uhr mittags. Burgtiefe. Die Wiese. Die beiden Engländerinnen standen auf grünem Rasen, etwas abseits der vielen redenden, rufenden und lachenden Menschen, die sich um das weißverhüllte Ding am Ufer sammelten. Ebenfalls abseits, nah an der Wasserkante, stand ein großgewachsener Mann, dessen sichtliche Neugier auf die zusammenströmenden Leute seinem abgesonderten Standort widersprach. Auch hier Wasser ringsum, Olivia stellte es eher beiläufig fest, dieses Mal das gegenüberliegende Ufer sehr nah, es war die andere Seite der Bucht, also auch Fehmarn. Sie sah dort einen großen roten Speicher mit Treppengiebel, ansonsten nicht viel, denn die Wasserfläche zwischen den beiden Inselufern trug eine Flotte von Fischkuttern, mit hoch hinauf gespannten Wimpelketten, als liefen sie noch unter Segeln.    Irgendwo schlug eine Schiffsglocke vier Glasen. Das Stimmengewirr verebbte. Ein barhäuptiger Mann in dunkelblauem Mantel, weißes Hemd und Krawatte leuchteten hochoffiziell daraus hervor, räusperte sich. »Liebe Freunde, wir haben uns hier im Zeichen der Brücke versammelt. Nicht im Zeichen der Belt-Brücke, die als zukunftsweisender Schatten am anderen Ende unserer Insel für kontroversen Diskussionsstoff sorgt, sondern im Gegenteil und am entgegengesetzten Ufer im Zeichen gegenwärtiger und vergangener Brücken. Vergangen ist die Künstlervereinigung ›Die Brücke‹, deren herausragendster Vertreter Ernst Ludwig Kirchner vor achtzig Jahren vier Sommer auf unserer Sonneninsel verlebte. Zahlreiche seiner bedeutendsten Bilder entstanden hier und zeugen heute in den Museen der Welt von Fehmarns Schönheit. Von ihm führt eine Brücke der Tradition zu unseren gegenwärtigen Malern Juro Kienhardt, Felix Picard und Alexander Hyde.« Auf seine einladend auffordernde Geste hin traten Kienhardt und Picard neben ihn. Freundlicher Applaus grüßte die beiden Künstler. Fest griff Amandas Hand in Olivias Ärmel.    »Eine Gruppe weltoffener Fehmaraner, die sich den Namen ›Brücken – heute‹ gab…« Olivias Augen flogen über die Menschen und umkreisten Felix Picard und Juro Kienhardt. Beide starrten in das Gras schräg vor ihren Schuhspitzen und hörten aufmerksam zu. Allerdings blieben ihre Mienen unbewegt bei jeder Anspielung, die die anderen Zuhörer zum Schmunzeln oder Lachen brachte. Der Griff in ihrem Ärmel wurde noch fester. »Er ist nicht gekommen.« Olivia schüttelte bestätigend den Kopf.    »Auf Fehmarn zu leben, bedeutet, Brücke zu sein zwischen den Völkern Europas. Als Insel in der Ostsee zwischen den Ländern des Kontinents und Skandinaviens ist Fehmarn mehr als ein Schatten unter der Vogelfluglinie, es ist eine handelnde und verbindende Realität. Damit diese Bedeutung sowohl uns selbst als auch unseren zahllosen Gästen immer vor Augen steht, gab unsere Bürgervereinigung ›Brücken – heute‹ bei unserem großen Künstler Alexander Hyde eine Skulptur in Auftrag, die dies aufs Schönste darstellt – davon bin ich überzeugt und so gespannt wie wir alle auf das, was sich nun enthüllen wird!« Der Bürgermeister zog mit leichtem Grinsen eine Polizeipfeife aus der Manteltasche und blies kräftig hinein.    In der allgemeinen Überraschung hörte niemand das Flügelschlagen eines großen Schwarmes weißer Vögel, der aus dem Nirgendwo kommend über die Köpfe dahin schwirrte und sich auf das weiße Ding hinab senkte. Eine halbes Hundert dressierter weißer Tauben streckte seine Krallen nach dem leichten Schleier aus und flog mit ihm davon. Gleichzeitig tönten die Nebelhörner aller Fischkutter so laut und so fabelhaft disharmonisch, dass der Rest der Feierlichkeit in lauten Jubel überging. Die Vorsitzende der Bürgervereinigung trat an die nun allen sichtbare Skulptur, sie strich über einen himmelstürmenden Stahlbogen und wandte sich um. Die Nebelhörner tuteten weiter und weiter, Jubel und Zurufe hielten an, bis sie lachend mit den Karteikarten ihrer vorbereiteten Rede winkte, sie in ihre Jackentasche versenkte und mit weitausgreifenden Armbewegungen einlud, näherzukommen und anzuschauen, was es da nun Neues gab.    Die Menschen stürmten nach vorn, der Bürgermeister schüttelte Hände und die Flucht von Kienhardt und Picard wurde vereitelt. Amanda und Olivia standen nun noch ein wenig weiter abseits.    »Wer hat sich bei diesem Festakt durchgesetzt, Hyde oder die Fehmaraner, was glaubst du?« Olivia sah noch hinüber. »Die Skulptur wirkt sich wie die Flöte des Rattenfängers von Hameln auf die Menschen aus und das nahe Wasser bietet sich an, die Höhle zu ersetzen.«    »Du vergisst, das die Menschen hier mit Wasser bestens vertraut sind. Sie lassen sich nicht einfach hinein locken und Kinder sind sie auch nicht. Als Engländerin oder zumindest als halbe solltest du dem Meer geneigter gegenüberstehen.«    Olivia lachte: »Ich liebe das Meer, wenn ich auf den Kreidefelsen von Kent oder an der Küste von Cornwall stehe. Du weißt das. Das Problem hier ist eher das Land, es ragt nicht wirklich aus dem Meer auf. Ich spüre noch immer die Sorge, dass die Ostsee einmal vergessen könnte, das es da ist und einfach darüber hin spült.«