Die Furt von Windermere Grove - Gerda M. Neumann - E-Book

Die Furt von Windermere Grove E-Book

Gerda M. Neumann

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Dieser Detektivroman erlebt seine dritte Einführung in den Buchmarkt. Nachdem er erfolgreich als "Die Furt" und "Windermere Grove" seine Leser fand, sollten nun unter dem Titel "Die Furt von Windermere Grove" zwischenzeitliche Verwirrungen aus dem Weg geräumt sein. Ausgerechnet der Neffe des Hausherrn von Windermere Grove wird mit einer Leiche im Arm gefunden, in der Furt eines abgelegenen Weilers in Norfolk. Seine Anwältin engagiert Olivia Lawrence, eine Journalistin aus London, um ihn zu entlasten. Ihre Ermittlungen führen Olivia in eine überschaubare Gesellschaft auf dem Lande, in der jeder jeden zu kennen glaubt. Wer von ihnen könnte ein Motiv für den Mord an der Frau des Arztes haben? "Agatha Christie würde huldvoll nicken. Ein Krimi zum Genießen – an dunklen Abenden mit einem Glas Rotwein oder eben mit einer Tasse Tee." – neues deutschland

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Die Furt von Windermere Grove

TitelseiteImpressumKarte von Windermere GroveKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Über die AutorinDie Olivia Lawrence-Fälle

Gerda M. Neumann

Die Furt von Windermere Grove

Olivias zweiter Fall

Impressum

Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.Alle Rechte vorbehalten.Unter dem Titel »Die Furt« zuerst 2011 in der Edition Octopus, Münster erschienen.Unter dem Titel »Windermere Grove« 2013 im Prospero Verlag, Münster & Berlin erschienen.Satz: Eleonore Neumann.Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.www.epubli.deVerlag: Gerda NeumannDruck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Karte von Windermere Grove

Skizze von Windermere Grove

Kapitel 1

Wie groß ein kleines Haus klingen kann, wenn alles still ist‹, dachte Leonard, ›und leer wie eine taube Nuss.‹ Er nahm die Brille ab und rieb sich den Nasenrücken, als schon der nächste Ruf des Türklopfers dem ersten folgte. Olivia war sicherlich zu Hause, das wusste er, und einmaliges Klopfen galt ihr, ein Doppelschlag würde ihn meinen. Als kurz hinter dem Hall des zweiten ein dritter Ruf durch das stille Haus knallte, beschloss er, sich stellvertretend gemeint zu fühlen, und stand auf.    In dem herbstlichen Samstagnachmittag stand eine große, schlanke Frau in einem gelben Chanel-Kostüm vor der Tür und warf gerade lange, aschblonde Locken nach hinten.    »Ich muss Miss Lawrence sprechen, es ist einigermaßen dringend«, antwortete sie auf Leonards höfliche Begrüßung.    »Sie kennt Sie?« konnte er nicht umhin, zurückzufragen. Er wusste bestimmt, dass er diese Erscheinung noch nie bei Olivia gesehen hatte.    »Nur flüchtig. Dennoch! Ich bin Laureen Gaynesford.«    Leonard trat mit eine höflichen Geste beiseite und öffnete die Haustür ganz.

An der rückwärtigen Mauer des langen schmalen Gartens stand ein uralter Apfelbaum, er mochte bald hundert Jahre alt sein. Noch immer trug er Äpfel. Und wenn sie inzwischen auch sehr klein waren, pflückte Olivia sie doch gewissenhaft und verteilte sie in alten, flachen Spankörben im Haus. Bis Ende November wurden sie rotwangig und begannen, von Tannenzweigen und Lebkuchen zu erzählen, auch wenn sie in den letzten Jahren einen eher modrigen Duft verbreiteten.    Die Kiste mit der Ernte dieses Herbstes stand etwas abseits im Gras. Olivia hatte feste Gartenhandschuhe übergestreift und prüfte mit der Säge in der Hand, wo sie die beiden kränklichen Äste am besten aus dem Baum heraus-nehmen sollte, als das ungewohnte Geräusch hoher Damenabsätze auf ihrer Terrasse sie für den Augenblick davon abbrachte.    Die schlanke gelbgekleidete Gestalt, aufrecht und fremd, brachte die Erinnerung an Greystone Manor zurück, ein kleines Herrenhaus in den Hügeln von Buckinghamshire, das der Bildhauerin Viktoria Gaynesford gehörte. Die alte Dame hatte Olivia vor einem halben Jahr gebeten, ihre Monographie für die Kunstzeitschrift ›Arts and Artists‹ zu schreiben. Olivia hatte angenommen und einige Tage im Herrenhaus gewohnt und war dabei in die Aufklärung eines Mordfalles hineingeraten. Im Speicher des alten Hauses über Figuren von Viktoria Gaynesford gebeugt, war zwischendurch eine schlanke Gestalt in schwarzem Anzug an ihr vorbeigesaust, die Lady Gaynesford im Nachhinein als die zukünftige Frau ihres Sohnes vorgestellt hatte.    Während die Erinnerungen im Geiste an ihr vorbeizogen, hatte Olivia Gartenhandschuhe und Säge ins Gras gelegt und stand nun vor ihrem Gast: »Lady Laureen, Sie bringen keine schlechten Nachrichten aus Greystone Manor?« Laureen verneinte. »Dann freut es mich, Sie zu sehen!« Sie sah auf ihre Hände: »Ich fürchte, ich muss mich erst waschen, bevor ich Ihnen die Hand geben kann.«    Gemeinsam betraten sie das Wohnzimmer, in dem Leonard gerade ein Feuer im Kamin entfachte. »Mr Kilpatrick«, stellte sie ihn vor.    Als Olivia mit sauberen Händen und frischer Kleidung zurückkam, fand sie die beiden in lebhafter Unterhaltung vor einem fröhlichen Feuer sitzen. Die Besucherin hatte herausgefunden, dass Leonard an der London School of Economics lehrte und schnell gemeinsame Bekannte entdeckt. Ruhig setzte Olivia sich dazu und folgte dem Gespräch. Schließlich verstummte es und Laureens Augen blieben an ihr hängen. Sie sagte kein Wort.    »Welche interessanten Fälle gibt es unter den neuen Verbrechen?« Olivia war neugierig, ob sie den Grund für Laureens Besuch richtig einschätzte.    »Mr Hobart, Anwalt aus Windermere Grove in Norfolk, hat mich um die Verteidigung seines Neffen gebeten, angeklagt wegen Totschlag oder Mord an Charlotte Hewitt, Frau des Arztes in eben jenem kleinen Ort in Norfolk.«    »Warum hat er sie denn aus diesem Leben hinausbefördert?«    »Er tat es gar nicht.«    Die Menschen in der kleinen Runde schwiegen und für eine Weile hörte man nur das Zwiegespräch von Holz und Flammen aus dem Kamin.    Schließlich ergänzte Laureen: »Mein Klient beschwört, Charlotte Hewitt bereits tot aufgefunden zu haben.«    »Und sein Onkel glaubt ihm nicht?«    »Oh, ich hoffe doch, obwohl er ein alter Fuchs ist, der niemals zu viel sagt. Halten wir einfach fest, dass er mir den Fall übertrug, um seinen Neffen frei zu bekommen – Tatsache ist, dass Charlotte Hewitt mit einem stumpfen, runden Gegenstand niedergeschlagen wurde, mit dem Gesicht in die Furt fiel und umgehend starb. Der Schlag war so schwer, dass sie wohl kaum mehr atmete, als Nase und Mund unter Wasser gerieten, so weit der polizeimedizinische Befund.«    »Und wie sieht diese Furt aus?«    »An der Stelle, an der der kleine ruhige Fluss die womöglich noch ruhigere Straße kreuzt, ist sein Bett mit roten Ziegelsteinen gepflastert. Die flache Senke ist etwa fünf Meter breit und das Wasser stand in der Mordnacht an ihrer tiefsten Stelle vielleicht bei 20 cm.«    »Trotzdem wollte Mrs Hewitt sicher nicht zu Fuß hindurchgehen…«    »Vom Ort aus gesehen rechts führt eine hölzerne Fußgängerbrücke hinüber. Mrs Hewitt hatte einen Besuch im Dorf gemacht. Kurz nach halb zehn verließ sie Mrs Upton. Von dort zur Furt brauchte sie keinesfalls länger als sieben bis acht Minuten. Nach den polizeilichen Ermittlungen überquerte sie die Brücke, wurde unmittelbar dahinter mit einem schweren runden Holzstück auf den Hinterkopf geschlagen und stürzte nach vorn ins Wasser…«    »Kann das sein? Sie hatte die Furt doch gerade hinter sich gelassen. Vielleicht legte der Täter sie mit dem Gesicht hinein?«    »Das ist die Alternative – Schlag zehn erschien Pierre-Archibald Hobart-Varham, so heißt der unter Mordanklage stehende junge Mann, auf der Szene. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits tot. Der Obduktionsbericht bestätigt seine Aussage.«    »Ich nehme an, Mr Hobart-Varham weiß das so genau, weil in Windermere Grove die Kirchturmuhr die Stunden zählt?«    Laureen lachte: »Genauso ist es.«    »Woher kam er?«    »Er hatte auf der Farm von Ian Culley einen Besuch gemacht. Wann er dort aufbrach, kann niemand genau sagen. Die Familie blieb noch ein wenig sitzen und unterhielt sich über den jungen Mann, bevor sie zu Bett ging. Mrs Culley erinnert sich lediglich, dass ihr Wecker auf halb elf zulief, als sie die Nachttischlampe ausknipste.«    »Wie weit ist die Farm von der Furt entfernt?«    »Ich bin genau zwanzig Minuten gegangen.«    Olivia rechnete: »Dann hätte Hobart-Varham die Farm etwa zwanzig Minuten vor zehn verlassen – genau zu dem Zeitpunkt, als Charlotte Hewitt an der Furt den Schlag auf den Kopf bekam.« Laureen schwieg sie aufmunternd an.    »Es kann aber auch sein, dass er etwas früher dort wegging…«    »Kann auch sein.«    »…und um ein weniges schneller ging…«    »Möglich.«    »In dem Fall wäre er zum richtigen Zeitpunkt an der Brücke gewesen.«    »Stimmt.«    »Wie ging die Geschichte weiter?«    »Wenige Minuten nach zehn, wir haben uns zwei, maximal drei Minuten vorzustellen, bog Mr Walter Ellis, Farmer aus der Nachbargemeinde, von der Hauptstraße in unsere Straße ein und sah in der Furt, schätzungsweise hundertzwanzig Meter vor sich, einen Mann über einen anderen Menschen gebeugt, so seine Worte. Er vermutete einen Unfall und eilte zu Hilfe.«    »Sprachen Sie vorhin von einer mehr als ruhigen Straße?« für einen kurzen Augenblick saß Olivia das Lachen in der Kehle.    »Ja, das tat ich. Aber damit meinte ich natürlich nicht, dass sie überhaupt nicht benutzt wird. Farmer Ellis«, fuhr Laureen ruhig fort, »berichtete, dass Pierre Hobart halb im Wasser kniete, das Gesicht der Frau war ihm zugewandt, ihr Kopf und Oberkörper lehnten gegen sein anderes Bein. Während der Farmer heranfuhr und aus seinem Wagen sprang, schaffte es Pierre Hobart, den Körper richtig zu greifen und aufzustehen. Er legte ihn unmittelbar hinter der Furt auf der rechten Seite der Straße ins Gras, bat den hinzugekommenen Ellis, ohne ihn genauer anzuschauen, bei der Frau zu bleiben, und rannte die Straße hinauf. Sein Weg war kurz. Im nächsten Haus, verborgen hinter großen Hecken, wohnt der Arzt und Ehemann der toten Frau, den er holte – das nun folgende menschliche Drama können wir uns vorstellen.« Laureen schwieg.    Olivia sah über Leonards Schulter hinweg in den Garten, vor ihrem inneren Auge allerdings stand die Szene aus Norfolk. »Mal angenommen, Pierre Hobart wäre der Täter, hätte er zwischen dem Mord und der Szene, die Mr Ellis vorfand, nur sehr wenig Zeit gehabt, sich vom Tatort zu entfernen. Fand die Polizei die Waffe?«    »Nein, das tat sie nicht. Dem gleichen logischen Faden folgend wie Sie durchkämmte die Polizei dorfauswärts das Gebiet, welches man laufend in zehn Minuten erreichen kann plus fünfzig Meter geschätzter maximaler Wurfweite. Es ist ein erstaunlich weites Stück Landschaft, das nach dieser Berechnung durchkämmt werden musste. Zwischen Furt und Dorf suchte man den Anger auf der einen Straßenseite und das Grünland auf der anderen ab, dazu den Fluss und seine Ufer und schließlich das halbe Dorf. Mancher hübsche Vorgarten hat gelitten.«    »Aus diesem negativen Ergebnis könnte man den Schluss ziehen, dass der Mörder samt seinem stumpfen Gegenstand vom Tatort verschwunden war, bevor unser Mann dort auftauchte.« Olivia sah fragend zu Laureen hinüber. Sie stimmte schweigend zu.    »Fand die Polizei irgendwelche Spuren an der Leiche selber, die aufschlussreich sind?« forschte Olivia weiter.    »Keine.«    »Gibt es Fußspuren? Angenommen, Mrs Hewitt war nicht so entgegenkommend, selbst kopfüber in die Furt zu fallen, muss der Täter, indem er nachhalf, nasse Schuhe bekommen haben. Die müssten eigentlich auf der Straße oder im Gras daneben Spuren hinterlassen haben?«    »Die Polizei fand wieder nichts. Diesen Tatbestand wertet der Staatsanwalt übrigens besonders schwer.«    »Gibt es in Norfolk nicht lebendigere Gespenster als im übrigen England? Vielleicht suchen wir überhaupt in der falschen Richtung«, schlug Olivia trocken vor.    »Gespenster sind vor englischen Gerichten als Täter nicht zugelassen.«    »Schade«, kommentierte Olivia, »jedenfalls für dieses Mal. Die kläglichen Indizien überzeugen mich ganz und gar nicht. Vielleicht hat Mr Hobart-Varham wenigstens ein eindrucksvolles Motiv!«    »Er hat überhaupt kein Motiv.«    »Fabelhaft! Ist schon jemand auf die Idee gekommen, es könnte ein Unfall gewesen sein?«    »Diese Möglichkeit ist aufgrund des medizinischen Gutachtens auszuschließen.« Laureen wirkte weiter abwartend.    »Lady Laureen!« Für einen Augenblick war Olivia ehrlich empört. »Man kann einen Menschen bei dieser Beweislage doch nicht verurteilen. Das ist völlig absurd!«    Laureen blieb vollständig ruhig: »Der Angeklagte wurde mit der Leiche im Arm angetroffen. Ihr Tod war gewaltsam herbeigeführt worden und unmittelbar vor dem Auftauchen des einzigen Zeugen eingetreten. Der Angeklagte hat nach eigener Aussage niemanden gesehen, während er die Straße heraufkam, was mit der Tatsache übereinstimmt, dass die Polizei keine Fußspuren gefunden hat. Auch sonst gibt es keine einzige Spur von irgendwem, der mit Mrs Hewitt vor unserem Mann an der Furt zusammengetroffen sein könnte.«    »Fand man Fußspuren von Mrs Hewitt und Mr Hobart-Varham, die auf die Furt zuführten?«    »Ja, die fand man.«    Olivia schüttelte so energisch den Kopf, dass ihre dunkelbraunen Haare mal wieder waagerecht in der Luft standen. Sie sah zu Leonard hinüber, der, entspannt zurückgelehnt, das Gespräch aufmerksam verfolgt hatte. Ihr Blick hing kurzzeitig an den weiterhin murmelnden Flammen, bevor er zu dem Gast wanderte und ihn eindringlich musterte. Laureen erwiderte den Blick. Sie wartete ganz offensichtlich, dass Olivia das Gespräch wieder aufnahm. Endlich tat sie es dann auch.    »Lady Laureen, warum sind Sie zu mir gekommen?«    »Ich möchte Sie um Ihre Hilfe in meinem so rätselhaft-simplen Mordfall bitten!«    »Du lieber Himmel, wie kommen Sie denn auf die Idee?«    »Miss Lawrence, der Fall stellt sich vor Gericht so simpel da, wie ich ihn zusammengefasst habe, und es besteht die große Gefahr, dass er auf dieser ruhigen Schiene bis zur Verurteilung weiterfährt. Ich sehe es den Geschworenen an. Daran wird auch die schlichte Aussage von Pierre Hobart-Varham, er sei es nicht gewesen, nichts ändern. Ich bin seine Verteidigerin, ich muss entlastendes Material beibringen oder wenigstens überzeugende Argumente für seine Unschuld. Ich kann das aber nicht! Zum ersten Mal finde ich keinen einzigen Ansatzpunkt, um eine Gegenargumentation aufzubauen. Deshalb ist die scheinbare Tatsache des fehlenden Motivs ungefähr soviel wert, wie die Unschuldserklärung des Angeklagten. Nichts! Damit darf und kann ich nicht zufrieden sein.« Laureen rückte auf ihrem Sitz etwas vor und setzte sich sehr aufrecht, bevor sie fortfuhr: »Sie wissen so gut wie ich, dass Sie den Mord im Hause meiner Schwiegermutter aufgedeckt und ihr selbst damit das Leben gerettet haben. Oft haben wir über Ihre enorme Klarsicht gesprochen, über Ihre Unabhängigkeit, menschliche Beziehungen zu betrachten. Da ist es ganz natürlich, dass ich mich jetzt an Sie erinnere.«    »London hat sicherlich viele hervorragende Privatdetektive.«    »Richtig. Üblicherweise sind sie auch nützlich. Im vorliegenden Fall sprechen zwei Punkte dagegen. Wie Sie sich denken werden, habe ich mehrere Gespräche mit Anwalt Hobart geführt, gestern ein sehr eindringliches. Erstens sieht er keinen Ansatzpunkt für einen Privatdetektiv, weil wir keinen konkret zu formulierenden Auftrag haben. Zweitens will er nicht, dass der Fall wieder Dauergesprächsthema in Windermere Grove wird.«    »Was ist das denn für ein Grund?«    »Ernsthaft betrachtet, überhaupt keiner. Aber Sie kennen Anwalt Hobart nicht. Er ist konservativ in seiner Lebenshaltung, eng in seinem Blickwinkel und durchdrungen von der Vorbildfunktion des Adels; lebten wir hundert Jahre früher, wäre er Squire in seinem Dorf. Er hat mit dem Mord nicht mehr zu tun, als dass er mit dem Tatverdächtigen verwandt ist. Doch er hegt die Sorge, ihrem gemeinsamen Familiennamen könnte ein Makel angehängt werden.«    »Aber daran ändert doch Totschweigen nichts.«    »Nein! Er aber scheint zu hoffen, dass die Uhren in Norfolk anders gehen als in der übrigen Welt und die Leute diesen jungen Mann, der ja nur vorübergehend da war, einfach vergessen werden.«    »Selbst wenn sie das täten, würden sie doch Charlotte Hewitt nicht vergessen!«    »Das habe ich ihm auch begreiflich zu machen versucht, vergeblich. Wissen Sie, Mr Hobart ist sechsundsechzig Jahre alt, auf mich wirkt er um viele Jahre älter. Mein Vater kennt ihn beruflich, seit er 1989 zum ersten Mal einen Fall von ihm übernahm. Er hält ihn für sehr korrekt, aber etwas schwerfällig. Es ist denkbar, dass der Schock, seinen Verwandten und Namensträger in einen Mordfall, noch dazu vor der eigenen Haustür, verwickelt zu sehen, seine zunehmende Unbeweglichkeit dramatisch gesteigert hat. Bei unserem ersten Gespräch vor drei Monaten war ihm der Schock noch sehr deutlich anzumerken.«    »Das heißt, Anwalt Hobart will den Dingen ihren Lauf lassen, um seinen Familiennamen so unbeschädigt wie möglich zu halten.«    »So könnte man es sehen.«    Olivia schluckte ihre Empörung hinunter: »Damit gibt er indirekt dem Verdacht Raum, sein Neffe sei tatsächlich der Täter.«    »Formal ist das richtig, er selbst will nicht glauben, dass dieser Neffe überhaupt in Gefahr ist.«    »Lady Laureen, halten sie Ihren Mandanten für schuldig oder unschuldig?«    »Ich neige entschieden zu der Annahme, dass er unschuldig ist.«    »Warum lassen Sie sich dann von einem alten Mann aufhalten, einen Privatdetektiv zu beauftragen, hinter dieser glatten Oberfläche herumzustochern?«    »Weil ich möchte, dass Sie mir helfen!« Laureens Haltung straffte sich erneut. »Bitte lassen Sie mich vorweg sagen, dass Sie natürlich einen ordentlichen Tagessatz und alle Unkosten ersetzt bekommen. Das ist selbstverständlich und vollkommen unabhängig vom Ergebnis. Ich bin mir bewusst, wie kostbar Zeit ist.«    »Ich bin kein Detektiv!« Olivia unterbrach Laureen energisch. »Und ich will ganz bestimmt keiner werden. Vielleicht können Sie sich nicht vorstellen, wie froh ich war, wieder ruhig schlafen zu können nach den Problemen in Buckinghamshire. Meine journalistische Arbeit im Haus von Lady Gaynesford hat mich mit in den Mordfall verwickelt. Aber ich versichere Ihnen, Schreiben ist mir sehr viel lieber als Detektivspielen! Und ich kann es auch besser.«    Laureen blieb unbeirrt: »Sie müssen mir helfen, weil Sie der einzige Mensch sind, der das kann. Die Polizei hat fast das halbe Dorf vernommen, ohne klüger zu werden. Ich habe die Zeugen vor Gericht befragt. Ergebnislos. Dabei beobachtete ich wieder diese seltsame Simplizität: Die Befragten waren meiner Überzeugung nach wirklich so ratlos, wie sie antworteten, ich stimme da mit der Einschätzung der ermittelnden Beamten überein. Aber irgendwo muss es eine Erklärung geben. Es kann nicht anders sein. Ein Mord kommt nicht über die Menschen wie Hagelschlag. Auch Totschlag nicht. Sie mit ihrem ausgeprägten Ohr für Sprache fangen vielleicht in einem Geplauder über einen völlig mordfremden Inhalt irgendeinen Gedanken, einen Halbsatz auf, mit dem wir doch noch etwas anfangen können. Das ist meine Hoffnung. Mögen Sie sich nicht das eine oder andere Thema für einen Zeitungsessay suchen und nach Norfolk aufbrechen?«    »Haben Sie mit Anwalt Hobart schon über mich gesprochen?«    »Nein. Ich kam zuerst zu Ihnen!«    Dieser Bescheid erleichterte Olivia, ohne dass sie weiter darüber nachdachte. »Warum glauben Sie, Anwalt Hobart werde mich eher akzeptieren als einen Privatdetektiv?«    Laureen zögerte kurz, während sie in Olivias offenes Gesicht blickte. »Ich hoffe, Sie verstehen mich nicht falsch, wenn ich zu der Taktik greifen möchte, Sie als Journalistin in Windermere Grove einzuführen. Wir sollten uns der Unterstützung von Mr Hobart versichern. Neben dem, was ich über ihn bereits gesagt habe, ist er ein kluger und angesehener Mann, dessen Meinung in jener überschaubaren kleinen Welt dort oben von großer Bedeutung ist. Die Leute werden viel bereitwilliger mit Ihnen reden, wenn sie sehen, dass Sie im Manor House empfangen werden. Ihm selbst erleichtern wir seine Gastfreundschaft, wenn er sich wenigstens anfangs nur über Norfolk unterhalten muss. Zu meiner moralischen Entlastung kann ich anführen, dass Mr Hobart auch ein einsamer alter Hagestolz ist. Wenn Sie sein Vertrauen gewinnen und ihn zum Sprechen über unser Problem bringen können, helfen Sie ihm, den Schock zu verarbeiten.«    Olivia schaute Laureen belustigt an: »Und außerdem dient alles einer guten Sache… Ich sehe den Hasen laufen. Ob ich Lust habe, den Wettlauf mit ihm aufzunehmen, bezweifele ich aber doch sehr. Zumindest muss ich das Ganze überschlafen.«    Laureen Gaynesford erhob sich: »Mehr darf ich heute von Ihnen auch nicht erwarten. Ich wünsche inständig, Miss Lawrence, dass Sie einen Weg wählen, der meinen Klienten und mich wieder hoffen lässt. Darf ich Sie morgen gegen Abend anrufen?«    Olivia war einverstanden. Gemeinsam mit Leonard geleitete sie ihren Gast bis zur Gartenpforte; und gemeinsam sahen sie der aufrechten, schlanken Gestalt in dem gelben Kostüm nach, wie sie in der Dämmerung der herbstlichen Platanenallee davonging. »Ist sie wirklich oder bilde ich mir das alles nur ein?« wandte Olivia sich an Leonard. Als sie die Straße wieder hinunterschaute, war die Gestalt verschwunden. Noch einmal sah sie in Leonards Gesicht – er war ganz sicher wirklich. Sie hob sich auf die Zehenspitzen, drückte ihm einen festen Kuss auf den Mund und verschwand durchs Haus im Garten. Als erstes holte sie die Kiste mit den Äpfeln auf die Terrasse und anschließend die alten Spankörbe aus dem Lagerraum an der Gartenmauer. Behutsam legte sie einen Apfel nach dem anderen in die Körbe. Als sie damit fertig war, verteilte sie sie im Haus, wie sie es immer um diese Jahreszeit tat. Die leere Kiste trug sie zurück und verräumte sie zusammen mit der Säge und den noch im Gras bei dem alten Apfelbaum herumliegenden Geräten im Lagerraum. Ihr Großvater war Schreiner gewesen und ein paar übriggebliebene Bretter lehnten hier noch immer an der Wand. Sie ging ins Wohnzimmer zurück, schloss die Tür zum Garten und schnupperte, ob nicht schon das erste Aroma von den Früchten aufstieg.    Leonard hatte indessen Tee gekocht und ein paar Crumpets geröstet, beides wartete vor dem Kamin. Olivia setzte sich, zog die Füße unter sich und wärmte die klamm gewordenen Finger an dem heißen Teebecher. »Leonard, was denkst du über Pierre Archibald Hobart-Varham?«    »Ich denke, dass er unschuldig ist!«    »Donnerwetter! Und was macht dich so sicher?«    »Stell dir einen Mörder vor, der an der Furt auf sein Opfer wartet. Es kommt, er schlägt zu, legt die zu Boden gegangene Gestalt mit dem Gesicht ins Wasser und wartet, bis sie ganz sicher tot ist. Dann hockt er sich daneben und wartet auf einen Zeugen. Hältst du eine solche Geschichte für plausibel?«    »Nein! Genau genommen ist sie albern. Und doch hat sie Pierre Hobart eine Mordanklage eingebracht. Aber das habe ich die ganze Zeit schon nicht verstanden.«    »In meinen Augen ist seine schwerste Hypothek der eigene Onkel, der sich angesichts der unerwarteten Situation verhält wie ein Maikäfer, der auf den Rücken gestoßen wurde. Dieses Verhalten ist um so merkwürdiger, als er von Beruf Anwalt ist: Unerwartete Situationen sollten für ihn Routine sein. Durch den fehlenden Gegenwind machte er es der Polizei besonders leicht, sich auf ihrem raschen Ermittlungserfolg auszuruhen. Im Grunde ganz einfach.«    »Es ist alles so schrecklich einfach, nicht wahr? Als wäre dieser Mord eine spontane Mutwilligkeit des Schicksals gewesen, das sich anschließend mit einem Flügelschlag wieder darüber erhob und spurlos verschwand.« Olivia stellte ihren Teebecher ab und sprang auf. Nachdem sie einige Male im Zimmer auf- und abgelaufen war, ging sie hinaus in den dunklen Garten. Eine Weile lang stand sie konzentriert mitten auf ihrem Rasen. Plötzlich löste sich die gespannte Körperhaltung in zwei aufeinander folgende Handstandüberschläge. Sie hielt inne, roch an einer späten Rose und kam gelassen zurück zum Kamin.    »Leonard, das ›spurlos‹ ist der Beweis für die Unschuld von Pierre Hobart! Der Mord wurde vom Dorf aus gesehen hinter der Brücke verübt, dort gibt es aber nur die Spuren von Charlotte Hewitt. Pierre Hobart kam wie sie vom Dorf, seine Spuren beweisen es. Er musste also ebenfalls über die Brücke, wenn er sie dahinter erschlagen wollte. Aber er ging nicht über die Brücke, sondern direkt ins Wasser – verdammt noch mal, darauf hätte doch jemand kommen müssen!« Sie setzte sich. »Totschlag dürfen wir damit ausschließen, weil der Mörder so spurlos agierte, wie das nur bei perfekter Planung denkbar ist. Ein perfekter Mord aber muss einen Grund haben und das heißt, Charlotte Hewitt war für irgendjemanden so gefährlich, dass er sie tötete – da alle Zeugen ratlos waren, warum ausgerechnet ihr ein solches Unglück zugestoßen ist, wage ich zu schließen, dass sie ein umgänglicher, friedlicher Mensch gewesen ist. Die Gefährlichkeit eines solchen Menschen kann nur in seinem Wissen liegen. Sie wusste etwas, das nur sie allein wusste – und der Mörder…« Olivia seufzte leise: »Immerhin löst sich aus der irritierenden Simplizität der Anfang einer Geschichte…«

Kapitel 2

Der folgende Sonntag war nebelverhangen und halbwegs trocken. Olivia und Leonard hatten einen langen ruhigen Spaziergang durch die an Landschaftsparks erinnernden Teile von Kew Gardens gemacht. Geschützt unter den Baumriesen blühten dort die letzten wilden Alpenveilchen, die altrosa Glocken zu Boden gebeugt von den dicht an dicht auf ihren Blüten sitzenden winzigen Nebelperlen. Nach einem kurzen Imbiss hatten sich die beiden an ihre Schreibtische verteilt. Dort saß Olivia noch über Bücher gebeugt, als kurz nach sechs das Telefon läutete. Es war Laureen Gaynesford. Aus der Art, wie sie sich meldete, hörte Olivia ihre persönliche Betroffenheit hinter der Distanziertheit heraus, das gefiel ihr.    »Wissen Sie, dass Sie mir über den jungen Mann selbst fast gar nichts mitgeteilt haben?«    »Das können wir sofort morgen nachholen, am besten im Gespräch mit ihm selber. Hätten Sie dazu Zeit?«    »Wo steckt er denn in Gewahrsam?«    »Hier in London.«    »Einverstanden. Gehen wir morgen Vormittag zu ihm.«    »Heißt das, Sie werden mir helfen?«    »Morgen schaue ich mir den jungen Mann an, wir werden mit ihm reden und anschließend noch einmal nachdenken. Dann werde ich mich entscheiden.«

Unter den großen Bäumen in Kew war Olivia die ganze Geschichte eher wie ein naturwissenschaftliches Rätsel vorgekommen, für das sie nicht zuständig war. Also hatte sie beschlossen, sich den Hauptakteur aus Hilfsbereitschaft und ein wenig Neugier anzuschauen und abzuwarten, ob der Fall dabei ein Rätsel blieb oder dem zaghaften Anfang einer Geschichte weiteres Material hinzufügte.    So fand sie sich jetzt folgerichtig hinter Gittern. Ihr gegenüber stand ein eher kleiner, kräftiger Mann von Ende zwanzig mit der braunen, beinahe gegerbt wirkenden Haut jener Menschen, die sich vorrangig im Freien aufhalten Sein Gesicht war gut geschnitten und offen, nur die Augenbrauen setzten so nah am Nasenbein an, dass es Olivia wie eine unpassende Verengung dieses klaren Gesichts vorkam. Lady Laureen begrüßte Mr Hobart aufmunternd. Er antwortete höflich, sah jedoch gleich darauf erwartungsvoll zu der fremden Besucherin hinüber.    »Ich habe heute Miss Lawrence mitgebracht. Miss Lawrence, darf ich Ihnen Mr Pierre Hobart-Varham vorstellen.« Sie gaben einander die Hand, anschließend setzten sie sich an den einfachen Holztisch, Olivia und Pierre Hobart einander gegenüber, Laureen an die Schmalseite; keinen Moment ließ der Gefangene Olivia aus den Augen, als sei neu erwachte Hoffnung mit ihr eingetreten, die er unbedingt festhalten wollte.    »Mr Hobart«, fuhr Laureen fort, »Miss Lawrence fährt in den nächsten Tagen beruflich nach Norfolk, sie wird dort Recherchen für einige literarische Artikel machen und in die Gegend von Windermere Market kommen. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr von unserem Problem zu erzählen und sie so weit dafür zu interessieren, dass sie jetzt vor Ihnen sitzt.«    »Will sie über mich schreiben?« seine Augenbrauen schoben sich vollends zusammen.    »Nein, nein… Miss Lawrences Hauptgeschäft ist die Literatur, mit detektivischen Nachforschungen hat sie also nicht das mindeste zu tun. Andererseits wird sie sich dort oben umsehen und mit den Menschen reden; was bei solchen Gesprächen abfällt, kann man einfach nicht wissen. Sie verstehen?«    Sein Gesicht glättete sich wieder und Olivia fragte sich, ob der junge Mann in seiner neubelebten Hoffnung nicht mehr verstand, als gesagt wurde. »Mr Hobart«, versuchte sie einen leichten Schutzzaun zu ziehen, »es ist vollständig dem Zufall überlassen, ob ich in Ihrer Sache etwas Nützliches höre. Aber um dem Zufall eine Chance zu geben, brauche ich ein Netz, in dem Informationen hängen bleiben könnten. Bitte, erzählen Sie mir, warum Sie bei Ihrem Onkel zu Besuch waren.«    »Tja, warum kam ich nach Norfolk? Letztlich nur, weil Onkel Jonathan unser einziger Verwandter in England ist.«    Olivia sah zu Laureen und erhielt die umgehende Ergänzung: »Anwalt Hobart heißt Jonathan mit Vornamen.«    »Ich verstehe.« Ihre Aufmerksamkeit wanderte zurück zu dem jungen Mann.    »Ich kam aus Südafrika hierher, um dieses Land ein wenig kennenzulernen und vor allem, um nach Wegen zu suchen, das Obst, das ich anbaue, hier auf den Markt zu bringen.«    »Vielleicht holen Sie als erstes etwas in ihrer Familiengeschichte aus«, schlug Olivia vor.    »Wenn Sie das nicht langweilt?«    »Nein, überhaupt nicht.«    »Mein Großvater und Onkel Jonathans Vater waren Brüder, die Familie der Hobart sitzt seit immerhin zweihundert Jahren in Windermere Grove. Mein Großvater war ein abenteuerlustiger junger Mann, der mit dem Geld, das er für eine altmodische Kavalierstour durch Europa bekam, die halbe Welt bereiste. So kam er schließlich nach Südafrika. Er blieb dort einige Jahre, bevor er nach Norfolk zurückkam, seine Zukunftsaussichten zuhause prüfte und mit dem Einverständnis seines Vaters und einem großzügigen Startkapital nach Südafrika zurückkehrte. Nördlich der Karoo, einer ziemlich regenarmen Steppe, die er sehr liebte, ließ er sich nieder und wurde im Laufe der Zeit einer der erfolgreichsten Schafzüchter der Gegend. Er kehrte nie nach England zurück. Auf dieser Schaffarm wuchs mein Vater zusammen mit einem älteren Bruder und zwei Schwestern auf. Onkel Jonathan besuchte seine Verwandten 1961, bevor er nach Kanada ging, um Jura zu studieren.«    Pierre Hobart hielt inne. Als Olivia schwieg, fuhr er fort: »Mein Vater verliebte sich in die Schönheit der blauen Tafelberge am Kap und in die Tochter eines Weinzüchters. Die beiden heirateten, er erlernte die Weinzucht und alles, was sonst zur Führung eines großen Gutes gehört und führt heute die Arbeit seines Schwiegervaters weiter.«    »So kommt der Name Varham ins Spiel«, warf Laureen ein.    »Ja, richtig, mein Vater ist Dick Crossley Hobart-Varham. Vor einigen Jahren konnte er Ländereien, die direkt an unsere Güter grenzen, kaufen. Er gab sie mir und ich schaffte es, dort Obstplantagen anzulegen, die bereits guten Ertrag bringen. Mein Plan ist, eine Konservenfabrik zu bauen und mein Obst zusammen mit dem Wein meines Vaters nach England zu verschiffen. Deswegen vor allem kam ich hierher. Als erstes allerdings besuchte ich meinen Onkel, geriet in jener weltverlorenen Gegend in einen Hinterhalt und habe seitdem sehr viel Muße, über meine Pläne nachzudenken.«    »Wann kamen Sie nach Norfolk?«    »Das war am 5. Juli. Am 3. hatte Onkel Jonathan mich in Heathrow in Empfang genommen und mir anderthalb Tage lang London gezeigt. In Windermere Grove blieb ich zwei Wochen. Am Montag, dem 19. wurde Mrs Hewitt getötet, ich fand sie, als ich von den Culleys zurückkam. Ich hatte dort eine Art Abschiedsbesuch gemacht. Farmer Culley hat mehrere Felder Johannisbeersträucher, ich löcherte ihn mit Fragen über den Anbau, die Pflege und Lebensdauer dieser Sträucher, über die Art der Ernte und die Marmeladenfabriken, die sie ihm abkaufen. So kam unser Kontakt zustande. Den Dienstag wollte ich mit meinem Onkel verbringen, es gibt einige Familienangelegenheiten, und ich wollte noch einige Fragen für meine geschäftlichen Pläne in London mit ihm durchsprechen. Er hat Kenntnisse und Beziehungen, die mir weiterhelfen können. Mittwoch früh, so mein damaliger Plan, sollte ich nach London fahren.«    »Wie gut kannten sie Mrs Hewitt?«    »Als erstes müssen Sie wissen, dass ich niemanden, absolut niemanden in Norfolk kannte, bevor ich am 5. Juli dort hinkam. Von Onkel Jonathan wusste ich natürlich, mein Vater spricht hier und dort über seinen Vetter, aber er war nie in England und Onkel Jonathan war nur einmal 1961 unten gewesen. Da war ich noch gar nicht geboren – Mrs Hewitt lernte ich am zweiten Abend gemeinsam mit ihrem Mann kennen. Sie sind die nächsten Nachbarn meines Onkels. Kennen Sie die Gegend?« Olivia schüttelte den Kopf und er fuhr fort: »Das Herrenhaus von Windermere Grove, Ort und Herrenhaus tragen denselben Namen, liegt in einem kleinen Park versteckt vollkommen für sich, eine hohe, alte Allee führt zur Straße; gegenüber, ebenfalls tief hinter seiner Bepflanzung zurückgezogen, liegt Grove Lodge. Dort wohnte Mrs Hewitt mit ihrem Mann, er ist praktischer Arzt.«    »Ihnen gefällt Ihr alter Familiensitz, scheint mir?«    »Ja, er gefällt mir; auch die Landschaft von Norfolk ist für südafrikanische Augen weit und leicht besiedelt genug. Ich habe mich dort sehr wohl gefühlt – dieses angenehme Gefühl hat sich in der Erinnerung wahrscheinlich noch gesteigert«, schob er mit einem vorüberhuschenden Lächeln hinterher.    Olivia warf einen flüchtigen Blick über die kahlen, grauen Wände um sich. »Versuchen wir, hier herauszukommen! Das Ehepaar Hewitt lernten Sie am zweiten Abend kennen. Erzählen Sie mir von diesem Abend.«    »Es handelte sich um eine altmodische Einladung, wie ich sie aus englischen Büchern kannte. Überhaupt läuft das tägliche Leben meines Onkels so ab wie in den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, jedenfalls, wenn er auf Windermere ist. Außer dem Arztehepaar war noch der Pfarrer mit seiner Frau eingeladen. Es war ein netter Abend, an dem vor allem über Südafrika geredet wurde. Am folgenden Samstag gab mein Onkel eine große Einladung, bei der Mr und Mrs Hewitt sowie das Pfarrerehepaar wieder dabei waren, dazu zwei Farmer aus der Gegend, der eine oder andere juristische Kollege mit seiner Frau und einige junge Frauen und Männer in meinem Alter. Ich erinnere mich, dass ich mich länger mit Mr Hewitt unterhielt, aber über nichts Berichtenswertes.« Er sah Olivia bedauernd an. »Es wird nicht interessanter. In der folgenden Woche unterhielt ich mich mit Mrs Hewitt über deren Gartenpforte hinweg, sie war wirklich sehr nett, gerade sechzig Jahre alt geworden und von einer herzlichen und offenen Art, dass man sich in ihrer Nähe gut aufgehoben fühlte. Am Freitag, dem 16. Juli, machten mein Onkel und ich einen Gegenbesuch im Arzthaus, außer uns war noch eine Mrs Upton aus dem Dorf eingeladen. Ich glaube, sie ist – sie war mit Mrs Hewitt eng befreundet. Auch das war ein netter Abend, über den es weiter nichts zu berichten gibt. Ich wüsste jedenfalls nicht, was.« Pierre Hobart fuhr sich durch die Haare.    »Was können Sie zu dem Arzt sagen?«    »Zu Mr Hewitt? Er ist sicher einige Jahre älter als seine Frau und wirkt physisch etwas erschöpft. Er kommt mir außerordentlich gebildet und sehr aufgeschlossen vor. Etwas hat mich anfangs irritiert. Er kann bei Tisch oder beim Tee einen einzelnen Gast unverwandt und unverstellt studieren, sie verstehen, was ich meine? Er schaut einen einfach an. Wenn man schließlich den Mut aufbringt, ihn ebenfalls fest anzusehen, antwortet er mit einem Bündel Lachfalten um jedes Auge und die Situation ist wieder entspannt.«    »Redselig ist er demnach nicht sonderlich?«    »Nein, ganz bestimmt nicht! Ich schätze, er ist ein Mensch für kleine Gesprächsrunden. Er hört sehr genau zu und antwortet sehr präzise. Das schnelle Hin und Her, das leicht bei großen Einladungen entsteht und auch recht nett sein kann, ist kaum seine Sache.«    »Dann lebt noch der Pfarrer in der unmittelbaren Nachbarschaft, nicht wahr?«    Mr Hobart wirkte zunehmend ratlos. »Er ist vierzig, seine Frau zwei Jahre jünger, sie haben drei Kinder, fünf Katzen und einen alten Hund. Das Kochen besorgt die Tante des Pfarrers, die ebenfalls im Haus wohnt, ein alter Knecht von der benachbarten Farm genießt eine Art Familienanschluss und kümmert sich um den ziemlich großen Garten; der Gemüsegarten erinnerte mich immer an Bilderbücher aus Kindertagen – wenn Sie noch lange so weiterfragen, werde ich verrückt!«    »Das sehe ich. Aber warum?«    »Weil alles so idyllisch wirkt, dass der Tod von Mrs Hewitt nur ein böser Spaß sein kann! Wer sollte so etwas tun? Dazu so brutal? Und wer kann im Ernst ein Interesse daran haben, diesen Frieden zu zerstören?«    »Vielleicht wollte er ihn gar nicht zerstören? Windermere Grove scheint eine Dorfgemeinschaft zu sein, die gut funktioniert. So etwas gibt es auch heute noch. Ich erinnere mich an kleine Gebirgsdörfer in den Salzburger Bergen, in denen die Bewohner zusammenstehen wie ein großer Familienclan. Abgesehen davon hat jeder soviel zu tun, dass er seinen Nachbarn schon deshalb in Frieden leben lässt. Das läuft prima.« Olivia sah zu Laureen hinüber. »Sie erkennen die Menschen in Mr Hobarts Beschreibungen wieder?«    »Ja, so ist es. Und die zahlreichen anderen, die ich im Verhör kennenlernte, bauen dieses Bild einfach weiter.«    »Wenn man davon absieht, dass in diesem Tatbestand keine einfache Antwort für unser Problem aufzudecken ist, kann man sich letztlich doch nur freuen.«    »…oder wahnsinnig werden. Alle sind eigentlich furchtbar nett. Es ist eine Freude. Und ich bin so nett wie sie alle und versuche, einer Leiche zu helfen. Und durch all die Nettigkeit sitze ich nun im Knast und finde keinen Ausweg, weil die Nettigkeit all der netten Leute Ringelreihen um mich tanzt wie die Kinder unter dem Holunderbusch und die aneinander gefassten Hände all der netten Leute mich zum Gefangenen machen.« Pierre Hobart hatte sich mit seinem Stuhl so weit vom Tisch weggeschoben, dass er seine Arme durchdrücken konnte, die Hände umklammerten die Tischkante und die Fläche um die Knöchel war weiß.    Olivia sah ihn betroffen an. »Mr Hobart«, begann sie ernst und vorsichtig, »es tut mir leid, dass ich mir nicht klar gemacht habe, was es für Sie bedeutet, das alles wieder von vorn zu durchdenken.«    »Sie standen da wie ein Mensch, der lauter neue Fragen stellen wird und ich spürte auf einmal wieder Hoffnung.«    »Neue Fragen können nur aus schon gestellten herauswachsen, verstehen Sie das?«    »Ja, ja, ich verstehe das.« Endlich sah er wieder auf und blieb rätselnd an Olivias Gesicht hängen. Nach einer schweigenden Minute fuhr er sich mit der linken Hand über die Augen, zog mit der rechten den Stuhl zurück an den Tisch und war bereit für die nächste Frage.    »Was haben Sie mit Ihren Tagen in Norfolk angefangen?«    Die Verzweiflung kehrte umgehend in sein Gesicht zurück: »Nichts, was Ihnen weiterhelfen würde. Wirklich nichts!«    »War Ihr Onkel die ganze Zeit in Windermere Grove?«    »Beinahe, er hat einen Sozius und konnte sich für die Dauer meines Besuches freimachen. Das hat mich ehrlich überrascht. In der zweiten Woche waren wir in Windermere Market, dort hat er seine Kanzlei. Er zeigte mir alles und stellte mich seinen Angestellten vor. Ich habe mir anschließend zwei Stunden das winzige Städtchen angesehen, während er die dringendsten Sachen erledigte. Er lud mich als Abschluss zu einem wunderbaren Essen in das große Gasthaus am Marktplatz ein. Das Gasthaus ist sehr alt und sehr behaglich – wenn schon, dann sollte man mich dort gefangen setzen«, versuchte er an die hoffnungsfrohere Stimmung von vor einer halben Stunde anzuschließen.    »Wie heißt dieses Gasthaus?«    »The Old Brewery House.«    »Anwalt Hobart ist dort gut bekannt?«    »Ja, alle vom Besitzer bis zum Laufburschen in diesem Hotel haben großen Respekt vor ihm. Er isst dort mit Geschäftsfreunden, einmal zu Weihnachten mit den Angestellten, und wenn es abends mal gar zu spät wird, übernachtet er auch dort. Ich kann mir nicht denken, dass das oft passiert, denn es sind nur sechs Meilen nach Windermere Grove, aber manchmal eben doch.«    »Was haben Sie weiter von Norfolk gesehen?«    Pierre Hobart sah zu Laureen hinüber und seufzte, aber seine Verzweiflung wirkte schon ein ganz klein wenig theatralisch: »Wir sind die verschieden aussehenden Küsten abgewandert, den Geröllstrand in der Nähe von Blakeney Point, es war ein wunderbar friedlicher Tag in zartblauer Weite, in der man die Möwen und das Knirschen der Schritte auf den kleinen runden Steinen hörte, kaum ein Mensch war unterwegs; und die Steilküste bei Hunstanton mit den roten und weißen Gesteinsschichten. Es war Ebbe und wir gingen weit hinaus, diesmal gluckste das Wasser gelegentlich unter den Sohlen und das Kleintierleben in den Wasserlachen und im Schlick hatte für mich an jenem Tag etwas rätselhaft Beglückendes.« Er sah in Olivias aufmerksames Gesicht und schien ein wenig von seiner Hoffnung darin wiederzufinden. »Wir besichtigten einige uralte Schlösser und mehrere große Parks, ich weiß kaum noch, wie sie heißen… Wir waren in Norwich – sie sehen, es ist ein Besichtigungsprogramm, wie es jeder machen könnte, es hätte nur nicht jeder einen so kundigen Führer wie ich, Onkel Jonathan kennt die Gegend ausgezeichnet. Ganz am Anfang machten wir einen ausgedehnten Spaziergang in Windermere Grove. Er zeigte mir, welches Land einst seiner oder unserer Familie gehörte und welches noch heute in ihrem Besitz ist, wenn auch verpachtet. Dabei lernte ich Farmer Culley kennen. Und zwei oder drei Mal habe ich allein große Spaziergänge durch die Gegend gemacht, wenn Onkel Jonathan sich doch mal ausruhen musste.«    »Haben Sie viel miteinander geredet?«    »Unterwegs nicht so sehr, da sprachen wir vor allem über das, was wir sahen und wenn es nichts zu sagen gab, schauten wir uns um. Gelegentlich fiel einem allerdings etwas ein und dann redeten wir natürlich. An den Abenden im Herrenhaus haben wir unausgesetzt geredet, hier in meiner stillen Umgebung habe ich mich gefragt, wie das möglich war, schließlich hatten wir uns ja nicht sehr gut gekannt. Aber er kann so ausgezeichnet Gespräche führen und interessante Fragen stellen, dass ich im Grunde schon in London zu vergessen begann, wie fremd er mir hätte sein sollen. Vielleicht lernen Sie ihn kennen, wenn Sie nach Norfolk fahren, es lohnt sich. Sicher kann er Ihnen auch Geschichten über die Gegend erzählen, die Sie sonst nirgends hören, so etwas suchen Sie doch, nicht wahr?«    »Ja, richtig. Lady Gaynesford legte mir so etwas Ähnliches auch schon ans Herz.« Sie sah Laureen voll an. »Wenn Sie beide dasselbe meinen, versuche ich es am Ende wirklich – wie ist der Kontakt zwischen Ihrem Onkel und Ihrem Vater?«    Pierre Hobart dachte nach, schließlich formulierte er: »Locker, aber konsequent – so weit ich zurückdenken kann, kam immer um den Jahreswechsel herum ein Brief mit den wichtigsten Nachrichten der vergangenen zwölf Monate. Mein Vater macht es genauso. Seit Onkel Jonathan Windermere Grove geerbt hat, kommen auch zwischendurch Nachrichten, die den Besitz betreffen. Er hat keine Kinder, was bedeutet, dass mit ihm die englische Familienlinie ausstirbt. Der Besitz fällt dann an meinen Vater oder seine Kinder. Ob die beiden Vettern in ihrer Korrespondenz konkretere Pläne entwickeln, habe ich nicht die leiseste Ahnung. Dieser ganze Bereich ist mir erst hier in dieser übertriebenen Ruhe in den Sinn gekommen.«    »Sie haben in Norfolk nicht darüber geredet?« Es überraschte Olivia, ohne dass sie hätte sagen können warum.    »Nein, darüber sprachen wir nicht.«    »Wundert Sie das heute?«    »Bisher nicht, aber wenn Sie weitermachen, tut es das am Ende noch.«    »Dann lassen wir es lieber ruhen – haben Sie Geschwister?«    »Das nennen Sie einen Themenwechsel?« fast hätte der junge Mann gelacht. »Ja, ich habe zwei jüngere Schwestern. Vielleicht wird eine in zwanzig Jahren Herrin von Windermere Grove, man kann es scheinbar nicht wissen. Auch darüber kann ich jetzt nachdenken.«    »Ich dachte, Sie sind der Älteste?«    »Ja und?«    »Damit würden Sie, wenn Ihr Vater nach dem Tod von Jonathan Hobart auf seinem Weingut am Kap bleiben will, der Erbe von Windermere.«    »Du meine Güte, Sie glauben doch nicht im Ernst, ich würde nach England kommen? Mir gefällt Norfolk, wirklich, aber ich bin am Kap zuhause! Sie produzieren wirklich die verrücktesten Probleme.«    »Das ist schön, dann lasse ich wenigstens nicht nur Frustration zurück. Aber ich habe den Eindruck, ein wirklich anregendes Thema ist das für Sie auch nicht – kann ich Ihnen Bücher bringen? Über Obstanbau, über internationalen Handel – was weiß ich. Dann müssen Sie nicht ausschließlich in Ihren Gedanken spazieren gehen.«    »Ist das Ihr Ernst?«