Der Neujahrsabend - Gerda M. Neumann - E-Book

Der Neujahrsabend E-Book

Gerda M. Neumann

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Neujahrsabend in der ehrwürdigen Dulwich Gallery: Jahrhunderte europäischer Malerei blicken auf den Schriftsteller Keith Aulton herab, als er im Kreis seiner Freunde und Verehrer die Erhebung in den Adelsstand feiert. Am nächsten Morgen ist er tot. Wie jedoch soll Chiefinspektor Richard Bates den Täter aufspüren, wenn nirgends ein handfestes Motiv zum Vorschein kommt? Zum Glück war auch Olivia Lawrence auf der Feier. Angestachelt von ihrer Freundin Amanda macht sie sich an die Arbeit. Zwischen kalten Januarnächten und verrauchten Pubs, unter seltsamen Professoren und eigenwilligen Autoren gestaltet sich die Suche allerdings ziemlich schwierig. Und als sie endlich eine Spur zu ahnen beginnt, gefällt sie ihr überhaupt nicht. Ein klassisch englischer Detektivroman in der Tradition von Agatha Christie und Dorothy Sayers.

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Seitenzahl: 400

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Der Neujahrsabend

TitelseiteImpressumSitzplanFigurenlisteKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Über die AutorinDie Olivia Lawrence-Fälle

Titelseite

Gerda M. Neumann

Der Neujahrsabend

Olivias dritter Fall

Impressum

Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.»Der Neujahrsabend« erschien zuerst 2012 in der Edition Octopus, Münster.Satz: Eleonore Neumann.Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.Bild: ›London‹ von Pedro Szekely. Creative Commonswww.epubli.deVerlag: Gerda NeumannDruck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Sitzplan

Olivias Skizze

Figurenliste

Festgäste und weitere Figuren

Sir Keith (Aulton), Schriftsteller und LeicheMuriel Aulton, seine Frau und spätere WitweWangari Aulton, Tochter, ModeschöpferinJerrie Aulton, jüngste Tochter mit einer Farm in AfrikaKamante Aulton, Sohn, ReiseschriftstellerMrs Kamante Aulton, LehrerinCharles Aulton, Sir Keiths Bruder mit einer WerbeagenturMrs Charles AultonAlbert Aulton, Sir Keiths Cousin und BuchhändlerHenfrey Beeverell, Professor für neuere englische LiteraturMrs Beeverell, seine Frau, KunsthistorikerinMr Booton, Leiter der Dulwich GalleryMrs Booton, seine FrauMr Byatt, Verleger von Sir KeithMrs Byatt, seine FrauDolly Dodwell, Sir Keiths SchwesterSelwyn Farrell, berühmter LiteraturkritikerMrs Farrell, seine FrauJeremy Ingram, Herausgeber von Sir Keiths GesamtausgabeEudora Robin, BBC-Redakteurin und SchriftstellerinNeville Seymour, SchriftstellerCedric Soames, Muriels Bruder, Staatssekretär im EntwicklungsministeriumMrs Soames, seine Frau, Juristin im HandelsministeriumBruce Trelaney, Professor für englische LiteraturPete Tucker, FilmproduzentStuart Webster, Feuilletonchef des GuardianMrs Webster, seine FrauAnthony Weinreb, Bibliothekar und SchriftstellerCharles Wilson, Schriftsteller und DrehbuchautorMrs Wilson, seine Frau

Kapitel 1

Wie träger Silberstaub hing der feine Regen im Lichtkreis der großen Straßenlaternen, übriggeblieben von der Silvesternacht. Die kahlen Gerippe der riesigen Bäume störten die klare Geometrie der Lichtkegel und verloren sich in einer diffusen Höhe, in jenem Reich phantastischer Schatten, die der erste Schlag der großen Uhr um Mitternacht zu einem tollen Tanz in der Welt der Menschen befreite, Schatten von Dingen, die einmal gewesen waren. Der letzte dunkle Schlag von Big Ben hatte die Ordnung wieder hergestellt und das neue Jahr konnte seinen Anfang nehmen.     Der erste Tag war vorüber. Es war Neujahrsabend. Je länger Olivia durch die Windschutzscheibe starrte, desto strenger und höher erschienen ihr die kahlen Bäume und zugleich wie der Tummelplatz von Elfenkindern durch die tausend kleinen Funken, die das Licht den feuchten Ästen und Zweigen aufsetzte.     Der rhythmische Klang hoher Damenabsätze auf dem Straßenpflaster schob sich in ihre Gedanken und verstummte. Amanda war neben ihrem alten Saab stehengeblieben, schüttelte den zusammengeklappten Regenschirm und stieg ein: »Es ist schön, dich zu sehen! Bist du gut ins neue Jahr gekommen?«     »Ja, bin ich, der Silvesterabend spielte sich zwischen Küche und Kamin ab, mit Reden und Essen, er war richtig gut!«     »Dann wünsche ich dir, dass das begonnene Jahr so weiterläuft!«     »Danke. Und dir soll es helfen, so viele deiner Ziele zu verwirklichen, wie du schaffen kannst. Also: ein gutes neues Jahr! Wie geht es dir, was hast du gestern Abend unternommen?«     »Nichts Besonderes. Wir waren bei Freunden meines Mannes eingeladen. Du weißt: das Essen ausgezeichnet, die Getränke exquisit, die Gesellschaft ermüdet von sich selbst, ersatzweise gewandet in schillernde Seide und Satin.«     Olivia grinste: »Du hast die Vorzüge der Welt der ›Reichen und Mächtigen‹ genossen, deinen Intellekt benutzt, dich über sie lustig zu machen, und hattest bei alledem deinen Spaß.«     »Ja, so war es. Geschmackvoll und kostbar eingerichtete Räume und elegante Menschen genieße ich wie einen alten Hollywood-Film. Ich spiele meine Rolle nach ihren Regeln, das kann ich gut…«     »Ich würde dir zu gern einmal zuschauen!«     »…Du würdest nichts Neues dabei entdecken, ein guter Woody Allen-Film stellt dir ungefähr dasselbe vor Augen, nur bekommst du auch noch eine interessante Geschichte dazu erzählt… Dir wäre es leid um die viele Zeit, ganz sicher.«     »Und dir?«     »Meine Rache sind meine kleinen Gesellschaftsromane, mal komisch, mal kriminalistisch. Du kennst sie ja. Zusammen macht mir all das Spaß.« Nach kurzer Pause ergänzte sie: »All die Rollen, die ich spiele, sind nicht sehr verschieden von mir, doch nie ich. Solange ich wieder ich selbst bin, wenn wir zusammen sind, ist alles in Ordnung. Du verstehst, was ich meine?« Olivia verstand und der Ernst, mit dem Amanda den letzten Satz gesprochen hatte, freute sie.     Sie waren unterdessen von Chelsea, wo Amanda ihrer Mutter einen Neujahrsbesuch gemacht hatte, über die Themse gefahren und weiter dahin unter kahlen Bäumen und großen Laternen. Nur sehr wenige Menschen waren an diesem feuchten Abend unterwegs und kaum Autos, sogar in London hätte man für den Augenblick die Ampeln ausschalten können.     »Wie hast du den Silvesterabend verbracht?« wollte Amanda wissen.     »Zuhause. Zusammen mit Leonard. Der Silvesterabend ist für mich eine Art Spalt im Rollen der Zeit, in dem ich anhalte und das alte Jahr überdenke, manchmal auch dies und das aus den Jahren davor oder was mich sonst gerade beschäftigt – oder Leonard, ihm geht es da nicht viel anders.« Olivia lachte verschmitzt zur Freundin hinüber: »Aber wir sind keine Asketen. Wir haben uns ein endloses Menü mit vielen kleinen Gängen zubereitet, ich glaube, wir haben den ganzen Abend gegessen… und der erste Schlag der Mitternacht traf uns vor dem Kamin, ordnungsgemäß mit einem Glas Sekt in der Hand.«     »Und die ganze Zeit hindurch habt ihr geredet?«     »Ja, sicher. Ist das so ungewöhnlich?«     »Vielleicht ungewöhnlicher als du glaubst.«     Für einen Moment rollten sie schweigend die breite Straße hinunter. »Ich kann mich immer wieder über die schiere Ausdehnung von Clapham Common wundern, über diese grüne Weite mitten in der Riesenstadt,« stellte Olivia fest.     »Irgendwie hast du recht,« stimmte Amanda zu, »ich überraschte mich gerade bei dem Staunen, wie schön die Häuserzeile dort hinten ist, vielleicht ein wenig bunt, aber noch sichtlich in der Eleganz des 18. Jahrhunderts.«     Gut, dass die Ampel nicht ausgeschaltet war. Als der alte Saab stand, folgte Olivia Amandas Blick. Vierstöckige Häuser mit gusseisernen Balkons im 1. Stock reihten sich an einer Straße mit großen Bäumen; die ihnen gegenüberliegende Straßenseite war Grünfläche, die in den Common überging. »Komisch,« sinnierte Olivia angesichts dieses offenkundigen Wohlstandes, »warum denke ich bei Clapham eher an kleine Leute, die ein einzelnes Zimmer gemietet haben und froh sind, am Sonntag in diesem Grün spazieren gehen zu können?«     »Keine Ahnung. Immerhin haben hier Samuel Pepys, Macauly und Lytton Stratchey gewohnt.«     »Vergiss Captain Cook nicht. Aber das ist alles lange vorbei. Ich habe andere Gestalten vor mir, zum Beispiel einen älteren Mann, der manchmal mit einem kleinen Jungen unter den alten Bäumen spazieren geht – einen, der in eine Geschichte gehört…«     Die Ampel hatte schon vor einer Weile wieder umgeschaltet und sie rollten weiter Richtung Dulwich.     »Sag mal, weiß Keith Aulton eigentlich, dass du mich anstelle deines Mannes mitbringst?« Mit einem Mal war Olivia beunruhigt. »Ich meine, in den Adelsstand erhoben zu werden, ist ja nicht irgendein Anlass und Keith Aulton ist schließlich auch nicht irgendwer.«     »Kaum, sonst hätte die Queen ihm heute nicht die Hand gereicht. Aber mach dir keine Gedanken. Er schätzt meinen Mann nicht besonders; für die Geschäftswelt wie für den Adel hat Keith nur Spott übrig. Er wird froh sein über den Tausch. Lass mich nur machen.«     Das konnte sie zweifellos, doch die plötzliche Unruhe arbeitete weiter: »Erzähl mir von seiner Familie,« schlug Olivia vor.     »Ach du lieber Himmel! Meinst du nicht, wir sind gleich da?«     »Dann beeil dich!«     »Also gut – der wichtigste Mensch in Keiths Leben ist sicherlich seine Frau Muriel…«     »Wie ist sie?« bohrte Olivia ungeduldig.     »Ja, gute Frage – sehr englisch. Ausgesprochen nett. Ziemlich genau so alt wie Keith, also Mitte sechzig. Weißt du, ich mag sie sehr, aber ich verstehe sie irgendwie nicht, vielleicht liegt es daran, dass sie in Afrika aufgewachsen ist, aber eigentlich glaube ich das nicht.« Nach kurzer Pause fuhr Amanda fort: »Edith Sitwell bezeichnet die englische Frau irgendwo als ein Geschöpf von ausnehmender Menschlichkeit und Toleranz. Ihre tiefe ruhige Geduld und ihre Beharrlichkeit hätten etwas von der Kraft jener großen Bäume, die so viel zur Schönheit Englands beitragen. Dabei musste ich an Muriel denken – schau sie dir selbst an, vermutlich werden wir eine sehr interessante Rückfahrt haben. Also weiter: Die zwei bekamen drei Kinder, von denen zwei in London leben und heute sicherlich mitfeiern werden, es sind Kamante und Wangari. Ihre Namen kommen aus jenem Kenia, in dem Muriel aufgewachsen ist. Von Kamante könntest du schon gehört haben, er ist Schriftsteller wie sein Vater, aber im Gegensatz zu ihm hat er sich für Biographien und Reiseliteratur entschieden, gar nicht schlecht! Er ist das älteste Kind. Wangari folgte ungefähr zwei Jahre später und arbeitet in der Modebranche; ich habe bis heute nicht herausgefunden, was genau. Nach einem längeren Zeitraum kam dann noch Jerrie, zarthäutig und anmutig wie eine Frühlingsblume, ein anrührendes Kind. Sie studierte Landwirtschaft, ging nach Kenia und übernahm die Farm ihrer Großeltern. Sie soll dort sehr glücklich sein, zuhause in Afrika… merkwürdig. Stopp! Wenn du nicht hier, sondern dort vorn am Anfang der Straße, die in den Park von Dulwich führt, stehen bleiben könntest, hätten wir es nicht weit zu Fuß.«     Olivia gehorchte. Als sie ausstieg, fand sie sich vor einem relativ großen Haus aus rotem Ziegelstein mit klassischen schwarzweißen Tudorgiebel. Der Garten war sehr schön, ebenso die Grünanlagen in den Park hinein, soweit man sie in der Dunkelheit noch sehen konnte. Sie dachte an den wilden Wald, der hier zurzeit von Byron gewuchert haben musste, Schutz und Heimat vieler Generationen von Zigeunern; Byron hatte sich mit ihnen angefreundet, als Schüler, vor zweihundert Jahren. Sie schüttelte sich, so viel Rückgewandtheit musste eine Spätfolge von Silvester sein. Jetzt war Neujahr und es versprach, unterhaltsam zu werden. Und feucht. Sie zog ihren Mantel enger um sich, während sie mit der freien Hand das Auto absperrte.     »Was ist das für ein Kleidungsstück?« hörte sie Amanda mit leiser Fassungslosigkeit in der Stimme fragen. Die stand, in ein glänzendes schwarzes Cape gehüllt, unter ihrem Regenschirm.     Olivia sah kurz an sich hinunter: »Ein Lodenmantel, genau das Richtige für Nieselwetter in England.«     »So sieht es aus. Wo kauft man so etwas?«

Kapitel 2

Das Telefon läutete in ihrem Rücken, unmelodisch wie immer. Olivia stand in ein riesiges wollenes Dreiecktuch gewickelt auf ihrer Terrasse, atmete die klare Winterluft ein und sah den Wolkenfetzen hinterher, die so eilig über den blassblauen Himmel flogen, als wollten sie einmal um die Erde herum ihr eigenes Ende erjagen. Sie dachte über den gestrigen Abend nach, an nichts Besonderes, sondern an dieses und jenes, mit der entspannten Gelassenheit, mit der man wohl durch die ruhigen Straßen Londons flaniert, wenn die Geschäfte geschlossen sind. Mit einem letzten Blick zum Himmel schloss sie die Terrassentür und ging zu ihrem Schreibtisch hinüber.    Amanda meldete sich: »Denk dir, im Yorkshire Moor schneit es!«    »Bist du zum Frühstück hinübergefahren?«    »Was für eine Idee! Nein, wirklich nicht. Mein Mann rief an, bevor er wieder zur Moorhuhnjagd hinausging. Gestern muss die Jagd erfolgreich gewesen sein, er schien mir ausgesprochen vergnügt.«    »Schnee und Jagd – wie komme ich dabei nur auf den Gedanken an Schonzeit. Weißt du, in den Alpen heißt es: Notzeit ist Schonzeit.«    »In England ist es sicher auch so. Die Schonzeit für Moorhühner beginnt dort oben am 15. Januar.«    »Dann ist es ja gut. Je weniger Tiere übrigbleiben, desto größer sind ihre Überlebenschancen in den bevorstehenden kargen Zeiten.«    »Olivia, manchmal reagierst du erstaunlich unenglisch! Aber vergessen wir die Moorhühner, sie können übrigens köstlich schmecken… Ich bin neugierig, wie dir die ehrende Vorstellung vom gestrigen Abend gefallen hat. So nett Wangari ist, ich fand es eher schade, sie auf der Rückfahrt mit im Auto zu haben. Ich hatte keine Ahnung, dass sie inzwischen fast in meiner Nähe wohnt.«    »Macht ja nichts. Sie ist wirklich nett und überraschend herzlich. Ich fand die Veranstaltung derart unterkühlt, dass die Entdeckung, es mit einem normalen Menschen zu tun zu haben, dem Gesamteindruck nachträglich ganz gut getan hat. Aber ich habe überhaupt keine Erfahrung mit solchen Feiern. Sag du mal was.«    »Ich stimme dir ohne weiteres zu. Es herrschte auch in meinen Augen eine befremdliche Atmosphäre, die nichts damit zu tun hatte, dass diese Veranstaltungen üblicherweise einen etwas steifen Moment bekommen, wenn alle ihre Plätze einnehmen; das ist normal, man kennt nur einige seiner Tischgenossen. Und die notwendi-gen Reden sind selten gute Unterhaltung.«    »Sie sind eher Materialsammlungen für Leute wie dich, denke ich.«    »Richtig, aber sag’s nicht weiter – die gestrigen Reden waren eine eigenartige Mischung aus innerer Distance und persönlicher Danksagung. Jeder Redner strich die persönliche Auswirkung, die Keith auf sein Leben gehabt hat, so über die Maßen heraus, dass ich den frischerhobenen Sir allmählich in der Gestalt eines Pygmalion eigener Prägung wahrnahm. Nur gut, dass Keith diese Seite seines Charakters an mir bisher nie anzuwenden versuchte.«    »Und was sagst du zu seiner Rede?«    »Lieber gar nichts!«    »Also ist so viel Herzlosigkeit auch für Keith Aulton nicht alltäglich?«    »Nein, um Himmels willen…« Amanda schwieg und Olivia wartete.    »Weißt du,« Amanda zögerte, »so eine Rede hätte ich nie für möglich gehalten. Es begann schon damit, dass er nicht einmal einen Zettel mit Stichpunkten vorbereitet hatte. Das Ausmaß an Egozentrik und unverstellter Eitelkeit, das fröhlich und bedenkenlos vor uns allen ausgebreitet wurde, sprengte alles, was ich im bösartigsten Fall wagen würde, einer meiner Romanfiguren in den Mund zu legen. Es war eine Groteske.«    »Dass er uns alle auf den Arm nehmen wollte, nimmst du wohl nicht an?«    »Warum sollte er das tun, es ergibt keinen Sinn. Die netteste Erklärung, die ich dir anbieten kann, läuft ungefähr so: Er hat die Erhebung in den Adelsstand angenommen, weil sie eine Anerkennung seiner schriftstellerischen Qualität bedeutet. Andererseits hat er Zeit seines Lebens den englischen Adel, den erblich-ewigen, verspottet. So unbedeutend konnte kein Mitglied dieser Gesellschafts-schicht sein, dass es seinen Witz nicht angeworfen hätte. Und der war in jedem Fall sehr scharf, in diesem Zusammenhang hat er sich nie zurückgehalten. Und jetzt ist er selbst plötzlich ein ›Sir Keith‹. Vielleicht wurden wir gestern Zeugen einer momentanen Ohnmacht gegenüber diesem Widerspruch.«    »Kann sein. Es scheint so traurig. Du weißt, wie enorm seine großen Romane sind, gut sind alle. Ich bin seinen Figuren immer sehr gespannt durch die Handlung gefolgt… aber das kennst du ja alles. Was ich sagen will, ist: Er hat sich sein ganzes Werk hindurch mit menschlichen und mitmenschlichen Verhaltensweisen auseinandergesetzt. Sollte ihm wirklich kein Mittel zur Verfügung gestanden haben, dieser Schwierigkeit angemessen zu begegnen?«    »Du meinst, wenn er gewollt hätte?«    »Ich fürchte, ich meine etwas in der Art. Außerdem kann er den erblich-ewigen Adel, wie du so schön sagst, vom Standpunkt des erworbenen Adels doch völlig ungefährdet weiterverspotten. Man könnte annehmen, er sei dafür jetzt sogar in einer viel besseren und entspannteren Position.«    »Irgendetwas nimmst du im Moment nicht ganz ernst…«    »Das Vergnügen, sich am Adel die Zunge zu wetzen, ist unter den Intellektuellen derart verbreitet, dass es letztendlich für fast nichts eine ernsthafte Begründung abgibt.«    »In zwei Stunden wird Keith hierherkommen, wir wollen versuchen, aus Plänen für eine Reihe von Anthologien ein Konzept zu machen…«    »Gute Vorsätze zum Neuen Jahr!«    »Du solltest die Dinge nicht immer so scharf beim Namen nennen – aber es stimmt. Ich werde ihn einfach fragen, was er sich gestern Abend dabei gedacht hat, uns so eine Rede zuzumuten. Natürlich hat er auch kein einziges Wort des Dankes für seine Frau gefunden. Das ist der Gipfel dieser Eitelkeitsparade.«    »Und vermutlich durch Eitelkeit zu erklären. Vielleicht lässt sich am Verschweigen ihre Bedeutung abmessen: ohne Muriel kein Dichter Keith Aulton. Dem alter ego schuldet man keinen Dank, es ist die bessere Hälfte von allem. Ach, Amanda, mich beginnt schon wieder zu frösteln.«    Ein kräftiger Schlag des Türklopfers hallte durchs Haus, Olivia fuhr richtig zusammen. Während sie sich kurz bei Amanda entschuldigte und den Hörer beiseite legte, folgte bereits der nächste Schlag. Sie riss die Haustür auf: »Du hast es aber eilig, heute ist Sonntag!«    »Entschuldige, ich muss dich dringend sprechend – es kann länger dauern,« ergänzte Richard, während er die Tür zudrückte und mit dem Rücken daran gelehnt stehenblieb. Richard Bates war Olivias ältester Freund, sie kannten einander solange sie sich zurückerinnern konnten. So bat sie ihn schlicht, sich einen Kaffee zu nehmen und einen Moment zu warten.    »Amanda? Bin wieder da.«    »Olivia, mir ist gerade eine tolle Kleinigkeit eingefallen. Es gibt zumindest noch einen Gast, der diese Rede unerträglich fand: Selwyn Farrell.«    »Du sprichst von dem scharfgeschnittenen Gesicht mit der knarrenden Gesangsstimme neben dir am Tisch?«    »Genau, immerhin ist er der einflussreichste Literaturkritiker Englands und –«    »Oh, bitte, das weiß ich! Ich sah außerdem, dass er sich schrecklich schlecht benahm, zum Beispiel, wenn ihn eine Rede langweilte. Hast du bemerkt, wie oft er seinen Kopf zwischen die Hände nahm und auf das Tischtuch starrte. Vielleicht hat er die Augen geschlossen, man hätte es nicht gesehen.«    »Er muss furchtbar gelitten haben. Gegen Ende von Keiths Rede stöhnte er leise in seinen Wein hinein: ›Ich ertrage das nicht länger!‹ und dann, stell dir das vor, kniff er mich in den Arm. Den blauen Fleck könnte ich dir zeigen.«    »Wollen hoffen, dass er deinen Arm für den seinen hielt, sonst…« Im Hintergrund läutete die Türglocke. Olivia hörte, wie Amandas Schritte vom Teppich auf den Steinfußboden in der Diele wechselten und die Tür geöffnet wurde.    »Guten Tag, Lady Cranfield. Entschuldigen Sie die Störung am Sonntag. Scotland Yard.«    Während des Hin und Her im Telefon wandte Olivia sich zu Richard: »Sei so nett und leg etwas Holz nach, mir ist ungemütlich geworden.« Richard hatte in die Glut gestarrt, direkt vor dem Kamin stehend. Er reagierte etwas umständlich, doch bald tanzten kleine freche Flammen über den neuen Scheiten.    Amanda hatte das Gespräch nolens volens beendet. Olivia holte sich jetzt ebenfalls einen heißen Kaffee und ließ sich vor der Wärme nieder. »Setzt dich auch, bitte.« Sie sah zu Richard hinauf. »Am Telefon war Amanda. In ihrem Wohnzimmer sitzen jetzt zwei Männer von Scotland Yard – eine merkwürdige Vorstellung.«    »Findest du?« Richard hatte es sich ihr gegenüber endlich bequem gemacht. »Auch in deinem sitzt ein Mann vom Yard.«    »Oh, ich neide ihr diesen Besuch gar nicht, Chief Inspector Bates,« sie deutete eine leichte Verbeugung an. »Nur – ein Freund ist mit lieber.«    »Verstehe ich. Der Freund nahm sich einen Kaffee und kümmerte sich um das Feuer im Kamin,« er grinste nun doch ein wenig, »der Chief Inspector will mit dir reden.«    »Du machst ein Gesicht, als hätte ich persönlich etwas verbrochen. Was ist los?«    »Du warst gestern Abend in Dulwich?«    »Stimmt. Woher weißt du das?«    »Wie ich schon sagte, der Chief Inspector möchte mit dir reden.«    »Ich finde dich ungemütlich!« Ungerührt schlürfte Richard seinen Kaffee. Über den Becherrand sah er sie abwartend an. »Ja, ich war in Dulwich, in der Dulwich Gallery, um ganz genau zu sein. Gemeinsam mit Amanda. Ich hätte Keith Aulton schon längst gern kennengelernt. Sie wusste das. Bei der gestrigen Einladung enthob dieser Wunsch sie der Peinlichkeit, Keith Aulton erklären zu müs-sen, warum ihr unkultivierter Gatte lieber zur Moorhuhnjagd fuhr, anstatt mit ihr diese exquisite Soiree zu genießen. Beim Empfang konfrontierte sie Keith Aulton mit der vollendeten Tatsache und beschrieb ihm meine Bewunderung für sein Werk in derart überschwenglichen Farben, dass ich daneben ganz blass wurde. Er sonnte sich in meinem Strahlen und ihrer Theatralik und allen war geholfen. Der perfekte Auftritt.«    »…und die letzte Gelegenheit, Sir Keith kennenzulernen…«    »Warum?«    »Er ist tot.«    »Richard!«    »Ich war’s nicht!«    »Das wäre wenigstens mal eine Pointe: Leitender Inspektor entpuppt sich als Täter.« Leicht verwirrt sah sie ihn aufmerksam an, trank den Becher leer und stellte ihn beiseite: »Richard, ist das ernsthaft wahr? Keith Aulton ist tot? Ist deswegen Scotland Yard zu Amanda gekommen?«    »Deswegen. Aulton war für heute Nachmittag mit Lady Cranfield verabredet. Ich bat meinen Kollegen, diesen Termin persönlich abzusagen und bei der Gelegenheit ein erstes Gespräch zu führen.«    »Amanda war’s auch nicht – Richard!« Olivia schoss auf einmal hoch: »Heißt das: Er ist ermordet worden?«    »Wir wissen es noch nicht. Als Mrs Aulton heute Morgen gegen 8.45 Uhr nach ihrem Mann sah, lag er leblos im Bett. Da der Hausarzt nicht erreichbar war, schließlich ist Sonntag, rief man den Notdienst. Der kam, der Arzt besah sich den Toten, stellte Fragen und fand, dass die Antworten nicht zu dem passten, was er sah. Er diagnostizierte eine Strophanthinvergiftung. Sie kommt unglückseligerweise alle heiligen Zeiten einmal vor, wenn ein Herzkranker in seiner Panik zu viele Tabletten nimmt. Nun brauchte Sir Keith aber kein Herzmittel und natürlich enthält auch keines seiner anderen Medikamente dieses Glykosid. Aufgrund seiner stillen Schlussfolgerungen rief der Arzt bei uns an, statt den Totenschein auszustellen. Ich hatte gerade meinen Dienst angetreten.«    »Da wird man von der Königin zum Ritter geschlagen und liegt am anderen Morgen tot im Bett. Absurd – findest du nicht auch?«    »Nun, da die Königin gerade keinen Krieg führt und der neu geschlagene Ritter nicht ins Feld ziehen muss, wird es ihr nicht einmal auffallen – Olivia, ich würde mich mit dir gern über den Neujahrsabend unterhalten, über einige der Gäste weißt du sicher Berichtenswertes.«    »Glaube ich nicht. Richard, wozu das alles, kann es nicht doch ein ganz natürlicher Tod gewesen sein? Alle möglichen Ursachen können zu einem unerwarteten Schlusspunkt führen.«    »Du sagst es präziser, als du vermutlich beabsichtigst. Die möglichen Ursachen sind meine Frage, über die ich gern jetzt mit dir reden würde. Die Frage nach dem konkreten medizinischen Grund müssen wir auf morgen Nachmittag verschieben – du hast sicher heute nach dem Aufwachen sowieso über diese Feier nachgedacht…«    »Schon – boshaft und vergnügt. Jetzt müsste es gefährlich ernsthaft und so präzise wie eben möglich stattfinden; der Spaß ist verflogen und der Schock rumort noch.«    »Klar, lass uns einfach zusammen weitermachen. Wie viele Gäste waren es?«    »Warum hast du das nicht seine Frau gefragt?«    »Dort habe ich nur so gefragt, dass nicht von vornherein Mord unterstellt wurde: wann der Tote entdeckt wurde, was daraufhin geschah, wer im Haus übernachtet hat und ähnliches.«    »Und wer hat übernachtet?«    »Außer dem Ehepaar Aulton nur die Schwester des Toten, Mrs Dodwell, und eine Freundin, Eudora Robin.«    »Eine reizende alte Dame, sie saß an unserem Tisch! Hast du sie kennengelernt?«    »Hab ich. Die drei Damen standen in ihrem Entsetzen zusammengerückt wie ein Triptychon in einer Grabkapelle – wer ist Mrs Robin?«    »Sie ist Schriftstellerin, inzwischen sehr erfolgreich, doch nicht populär. Es sind Erzählungen, seltener Romane über die einfachen Menschen und ihren Kampf mit dem Leben, scharfsichtig und detailliert, begleitet von Respekt und Anteilnahme. Ich bin nach dem Lesen meist nachdenklich und anschließend klüger. Seit gestern weiß ich, dass sie in einem Dorf in Cheshire wohnt, nicht allzu weit entfernt von Manchester. Sie lebt allein in einem kleinen alten Haus inmitten eines großen Gartens, sie liebt die Gartenarbeit als Entspannung vom Schreiben, zur Gesellschaft hat sie Katzen, es klang nach einer ganzen Horde.«    »Hm, mit den Aultons befreundet? Seit wann und wie, mit ihm, mit ihr, mit beiden?«    »Diese unterirdischen Zusammenhänge kenne ich fast alle nicht, dazu müsstest du dich mit Amanda unterhalten.«    »Na gut. Wer saß neben Mrs Robin?«    »Zu ihrer Linken folgte das Ehepaar Wilson. Er ist Dramatiker, seine großen Erfolge lagen in den ausgehenden fünfziger und in den sechziger Jahren, seither ist es stiller um ihn geworden, jedenfalls in der Presse. Er schreibt erfolgreich und zahlreich Drehbücher für die BBC. Sein Handwerk beherrscht er und seine Fähigkeit, aktuelle Probleme gescheit und witzig auf den Punkt zu bringen, findet nach wie vor ein großes Publikum, nur ist er kein Medienstar mehr. Seine Frau fand ich etwas schwierig, sie entstammt wie er der Arbeiterschicht und versucht das mit geziertem Benehmen zu kaschieren. Ich hatte das Pech, als Amandas Gatte neben ihr zu sitzen.«    »Ich könnte mir vorstellen, dass du als Lord eine elegante Erscheinung abgegeben hast!«    »Um Mrs Wilson als solcher zu beeindrucken, hätte ich mindestens ein Monokel tragen und durch die Nase sprechen müssen.« Olivia streckte ihre Hände zum Feuer, sie waren kalt. »Also weiter: An Eudora Robins rechter Seite saß Neville Seymour, eine Gestalt von würdevoller Zerbrechlichkeit, ich war beeindruckt und fühlte immer wieder die Versuchung, ihn in etwas Weiches schützend einzupacken, als wäre alles und alle um ihn herum zu laut – außer Eudora Robin, sie ist eine wundervolle, alte Dame – könnte ich mir jedenfalls denken.«    »Zweifel?«    »Ich habe sie erst gestern kennengelernt. Ihre Bücher passen allerdings ganz gut zu dem ersten persönlichen Eindruck.«    »Mr Seymour ist ebenfalls Schriftsteller, nehme ich an?«    Olivia musste über Richards resignierte Miene lachen: »Mörder sucht man normalerweise in anderen Welten, nicht wahr? Vielleicht ist es ein Hoffnungsschimmer, dass Keith Aulton doch eines natürlichen Todes gestorben ist.«    »In dem Fall habe ich heute einiges für meine Bildung getan. Fahr bitte fort im Text.« Sein Gesicht war wieder ernst geworden und in Olivia wuchs das Unbehagen.    »Neville Seymour – seine künstlerische Existenz ist mehr als rätselhaft. Als sehr junger Mann hat er einen Roman und mehrere Erzählungen von einem weltentrückten und dabei doch ganz diesseitigen Zauber geschrieben. Damals regte sich der Verdacht, Virginia Woolf habe einen Nachfahren bekommen, oder auch Dylan Thomas. Seitdem hat er nichts mehr publiziert.«    »Wann war das?«    »Gerade nach den wilden Sechzigern.« Olivia war zu einem ihrer Bücherregale hinübergegangen. »Vor dreiund-dreißig Jahren ist dieser Roman erschienen; als er sich als nennenswerter Erfolg entpuppte, sammelte der Verlag die in diversen Zeitungen erschienenen Erzählungen und publizierte sie als Sammelband, zwei Jahre später. Merkwürdige Vorstellung: Der Roman erschien zwei Jahre nach meiner Geburt, seitdem und somit fast mein ganzes bisheriges Leben hindurch schwieg dieser Mensch, der mir nichtsdestotrotz gestern lebendig gegenübersaß. Beredt war er allerdings auch da nicht.«    »Und wovon hat er in diesen Jahrzehnten gelebt?«    »Es heißt, er sei äußerst glücklich verheiratet.« Leise Missbilligung zeichnete sich um Richards Mundwinkel ab.    »Seine Frau muss eine ungewöhnliche Mischung aus Verständnis für künstlerische Probleme und eigener Tatkraft sein. Jedenfalls sorgt sie für die notwendige Sicherheit in jeder Hinsicht, sie haben übrigens auch mehrere Kinder. Gerade fällt mir ein, dass er fotografiert. Ich bin im großen Dillon’s, du weißt, der Buchladen hinter dem Britischen Museum, der ein ganzes Haus ausfüllt, auf einen Fotoband über Industrieruinen und die Menschen, die in deren Umgebung leben, gestoßen, im Regal fand ich zwei weitere, einen über die Industriegebiete im Norden und einen allgemeineren über Menschen in England.«    »Also war er nicht ganz untätig in all der Zeit.«    »Nein. Wir wissen einfach nichts über ihn. Er könnte sich um die Kinder gekümmert und gekocht haben, wär’ doch möglich. Oder er überrascht die Welt plötzlich mit einem neuen Roman. Die beiden Möglichkeiten schließen sich abgesehen davon nicht aus – neben Neville Seymour am Tisch saß Mrs Farrell, sehr elegant, recht sympathisch und höchst routiniert in gesellschaftlichen Situationen wie gestern. Sie und Amanda sorgten jederzeit für leichte, unkomplizierte Unterhaltung, wenn eine der Reden überstanden war. Selwyn Farrell, ihr Gatte, hatte Amanda zu seiner Rechten und der erste Kreis ist geschlossen. Selwyn Farrell ist…«    »Der Name ist sogar mir bekannt, wir können ihn im Moment übergehen.«    »Was ihm nicht oft passieren dürfte, er würde es sich auch kaum gefallen lassen. Mir schien, als sei er durchaus in der Lage, sich wie ein aufmüpfiger Schuljunge zu benehmen.«    Richard zählte die Namen in seiner Kladde: »Acht Personen saßen an eurem Tisch. Kannst du mir die Sitzordnung bitte aufzeichnen und dich dabei an möglichst viele Gäste erinnern?«    »Ich verstehe dich nicht, all das erfährst du einfacher und vollständiger, nebenbei auch zuverlässiger, von Mrs Aulton.«    »Sicher, in den nächsten Tagen. Ich werde es dann vergleichen, könnte auch interessante Ergebnisse zeitigen. Olivia, du bist der einzige Mensch, mit dem ich schon heute über den Fall reden kann, ich gewinne dadurch anderthalb Tage Vorsprung.«    »Vorsprung gegenüber dir selber.«    »Wie auch immer, und du erinnerst dich heute möglicherweise noch genauer als in drei Tagen, lass dich nicht so lange bitten.«    »Ich will mich gar nicht bitten lassen. Es sträubt sich nur etwas in mir gegen dein Vorgehen. Es nimmt das medizinische Gutachten vorweg und entscheidet sich für Mord.«    »Der Arzt hatte dafür starke Argumente. Außerdem dürfte die Todeskunde ihren Weg aus dem übrigens sehr schönen Haus in Dulwich bereits angetreten haben und du kannst sicher sein, dass der Mörder oder die Mörderin, wenn es denn eine solche Person gibt, ein dringliches Interesse daran hat, den Ausgang des eigenen Unternehmens zu erfahren. So gesehen versuche ich im Moment, den glücklichen Zufall, dass du auf dieser Gesellschaft warst, auszunutzen und mit der fraglichen, wenn auch noch unerkannten Person Schritt zu halten. Mehr ist es eigentlich nicht.«    »Nun denn, daran will ich dich wirklich nicht hindern.« Olivia brachte einen Stoß alten Papiers und einen Bleistift von ihrem Schreibtisch und setzte sich neben Richard. »Also Dulwich Gallery: Es gab vier runde Tische wie den unseren mit jeweils acht Personen, andeutungsweise auf Lücke gestellt, im Raum für französische Malerei des 17. Jahrhunderts; hinter dem weiten Durchbruch, im Raum für italienische Malerei, befand sich der fünfte Tisch, der schon allein durch seine ausladende Form die Führung übernahm, er hatte die Form einer getrockneten Bohne und die seitlichen Mauervorsprünge wirkten wie ein Rahmen. An ihm in der Mitte saß der Jubilar, ihm gegenüber niemand, so dass er alle seine Gäste im Blick hatte, natürlich einen Teil von ihnen mit deren Rücken, aber ich bin sicher, er wusste, um welchen Rücken es sich jeweils handelte. Gut – links neben ihm, warum eigentlich links?, jedenfalls saß dort seine Frau und daneben, bereits in der sanften Kurve, die der Tisch beschrieb, Muriel Aultons Bruder und dessen Frau. Er ist Staatssekretär im Entwicklungsministerium und sie Juristin. Auf der anderen Seite von Sir Keith, also rechts herum, saßen seine Schwester, ich denke, es ist dieselbe Dame, die bei ihm zuhause übernachtet hat, gefolgt von einem Bruder der beiden und dessen Frau.«    »Macht sieben Personen, das heißt: Alles in allem müssen wir unseren Kandidaten unter achtunddreißig Menschen suchen.«    »Erinnere dich einmal kurz an das Märchen von Dorn-röschen.«    »Auf der Stelle?«    »Es könnte nützlich sein, weißt du, darin gibt es eine dreizehnte Fee…«    Er sah sie einen Moment nachdenklich an: »Du meinst, der Täter könnte auch von außen oder überhaupt erst auf dem Heimweg oder in der Nacht in die Geschichte gekommen sein?«    »Genau, vielleicht war er nicht eingeladen, ausschließen kann man das nicht, oder?«    »Nein, kann man nicht, aber achtunddreißig Möglichkeiten reichen mir im Moment völlig aus. Wenn der Weg aus diesem Kreis hinausführt, werde ich es hoffentlich merken – sichern wir erst einmal die, die wir haben. Wer saß an dem Tisch hier im Anschluss an das Staatssekretärsehepaar – weißt du eigentlich ihren Namen?«    »Nein, bedauerlicherweise vergessen – an dem Tisch saß der Verleger, Mr Byatt. Gegen den Uhrzeigersinn folgten dessen Frau, ein Professor Beeverell, Literaturwissenschaftler, ich glaube unter anderem ein Byron-Spezialist, ein weiterer Hochschullehrer, Bruce Tre-laney und Mrs Beeverell. Neben ihr saß der Herausgeber der Gesamtausgabe der Werke von Keith Aulton, seinen Namen habe ich ebenfalls vergessen, die Ausgabe ist aber auch erst in Planung – nein stopp: Zwei Bände sind schon erschienen; daneben saß der Feuilletonchef des ›Guardian‹ und dessen Frau, die Mr Byatt an ihrer Rechten sitzen hatte.«    »Wieder ein Kreis geschlossen. Das macht sich richtig! Wer saß am unteren rechten Tisch?«    »Die nachfolgende Generation: die Tochter Wangari, sie lernte ich flüchtig kennen, weil ich sie im Auto mitnahm, als ich Amanda nach Hause brachte. Sie wohnt in St. John’s Wood und scheint recht nett zu sein. Neben ihr saß Bruder Kamante mit Frau, die anderen waren Nichten und Neffen, teilweise mit Partner. Kinder respektive Enkelkinder waren keine dabei. Ist das normal? Weiß ich nicht. Und ein älterer Mann mit weißen Haaren, ich sah immer nur seinen Rücken. Bleibt noch der Tisch zwischen dem gerade erwähnten und unserem: Die Gäste kannte auch Amanda nicht bis auf den Leiter der Dulwich Gallery mit seiner Frau und Anthony Weinreb, also fünf XYs.«    »Die werden wir auch noch identifizieren, du weißt erfreulich viel. Kannst du zu diesem Weinreb Näheres sagen?«    Olivia lachte leise. Über den lebendigen Menschen vergaß sie einen Moment die bedrückende Realität: »Auch er hat in meinem Bücherschrank einen allerdings bisher noch schmalen Platz inne, nicht zuletzt deswegen kann ich dir ein wenig zu ihm sagen. Er arbeitete als hochrangiger Bibliothekar im Britischen Museum und beschäftigte sich in seiner Freizeit mit den großen Erzählern des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Ich kenne ein wirklich spannendes Buch über George Eliot, aber es gibt mehr. Vor vielleicht zehn Jahren erschien dann sein erster großer Roman, auch hier gibt es inzwischen drei oder vier, die sich jeweils mit Ausschnitten der englischen Wirklichkeit um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beschäftigen und in der Presse zunehmende Aufmerksamkeit gewinnen. Ich habe nie geschafft, einen zu lesen. Das sollte ich nun nachholen, wenn ich an sein kluges offenes Gesicht denke. Aber das gehört nicht hierher.«    Richard nickte: »Wie ist der Abend verlaufen, war irgendetwas ungewöhnlich?«    »Schwer zu sagen. Unterhalte dich darüber besser mit Amanda, sie hat Erfahrung mit großen gesellschaftlichen Festen, ich nicht.«    »Mach ich noch, keine Sorge, aber heute möchte ich mich mit dir unterhalten.«    Olivia stand auf und sah eine kleine Weile in ihren Garten hinaus, die Katze ihrer Nachbarn lag auf der Mauer und sonnte sich, sie war ingwerfarben. »Richard, ich kann dir erzählen, worüber ich mich gewundert habe, ich tue es in diesem Zusammenhang nicht gern, weil ich niemandem schaden will, nur weil er sich in meinen Augen überraschend verhalten hat. Mit Amanda über die Gäste zu klatschen, wäre vergnüglich, der Polizei gegenüber wiegt so eine leichte Äußerung Tonnen.«    »Mir scheint, du nimmst die Situation gar zu ernst, auch wir zwei unterhalten uns letztendlich als Freunde. Als Polizist würde ich heute nichts unternehmen, als dein Freund habe ich Gelegenheit zu einem ersten Eindruck, nichts wird mitgeschrieben und du musst nichts beeiden.«    Die Tür ging auf. »Guten Tag, Richard. Ich fühle mich gerade zu faul für meinen Schreibtisch, darf ich mich zu euch setzen? Übrigens: alle guten Wünsche zum Neuen Jahr dir und deiner Familie!« Leonard, seine schmalen ein-Meter-neunzig wie üblich in einen irischen Fischerpullover und eine alte Cordhose verpackt, setzte sich Richard gegenüber vors Feuer und sah zu Olivia hinüber: »Was ist passiert? Vor zwei Stunden im wilden Park von Richmond warst du sehr vergnügt. Woher jetzt die Tragik in deinem Gesicht?«    Leonards Ungezwungenheit entspannte sie auf der Stelle. Sie atmete tief durch und Ansätze zu einem Lächeln spielten um ihre Augen. »Mein Widerstreben ist wirklich Humbug! Denk dir, Leonard, Keith Aulton ist tot, möglicherweise wurde er ermordet, deswegen ist Richard hier. Ich war so schockiert, dass ich um die gestrige Abendversammlung in Dulwich Gallery schon die Schatten von Old Bailey drohend anwachsen sah. Ein Glück, dass du heruntergekommen bist. Jetzt ist die Blase geplatzt.« Aufatmend ließ sie sich neben Leonard auf das Sofa fallen und streckte die Beine übereinandergeschlagen dem Feuer entgegen. Sie sah ihn noch einmal erleichtert an: »Magst du dableiben, auch wenn wir über den gestrigen Abend reden und du auf unserem Spaziergang das meiste davon schon gehört haben wirst?«    »Sicher, schon um weiter Entspannung zu verbreiten.« Aufgeräumt schaute er von einem zum anderen: »Über Mord zu knobeln, wird vor diesem Kamin zu einer wiederkehrenden Unterhaltung. Wo seid ihr stehengeblieben?«    »Wir wissen noch nicht sicher, ob es Mord war,« stellte Richard die Situation klar und fing einen dankbaren Blick von Olivia auf, »es spricht lediglich ein erster ärztlicher Eindruck dafür. Ich will hier und jetzt verhindern, dass Olivia den Abend zu den Akten legt und irgendetwas dem Vergessen überliefert, das ich noch brauchen könnte, möglicherweise,« fügte er in ihre Richtung an. »Also zurück nach Dulwich!«    »Wenn du Leonard erläuterst, was du von mir willst, klingt es viel leichtfüßiger,« stellte Olivia fest. »das ist merkwürdig,«    »Das Reden überwindet allmählich den aktuellen Schock. Bei dir sollte es relativ schnell gehen, weil du ja nicht allzu persönlich betroffen bist. Die normale menschliche Reaktion – weißt du,« teilte Richard aus seiner Berufserfahrung mit.    »So wird es wohl sein: herzlos, aber angenehm – lass mich einfach von vorn anfangen, ja? Der erste Teil der Veranstaltung gestaltete sich unkompliziert und ein wenig aufregend, wenn auch nur für mich. Ich lernte Menschen kennen, die lediglich Namen gewesen waren, darunter Schriftsteller, deren Werke einfach großartig sind. Unter Amandas Führung schlenderten wir von Gruppe zu Gruppe, ich schüttelte Hände und lauschte dem Small Talk, ich selbst schwieg meistens. Wenn ich jetzt zurückschaue, sehe ich die Gäste herumgehen oder -stehen, redend oder auch nicht. Die meisten mit einem Glas Sekt in der Hand. Soweit alles normal. Die Lockerheit verlor sich, als jeder sich zu seiner Platzkarte an einen der Tische aufräumte. Ich glaube, dass nicht alle glücklich miteinander waren und der weitere Abend korrigierte diesen Eindruck auch nicht. An unserem Tisch entspann sich dank Mrs Farrell und Amanda schnell eine leichte Unterhaltung. Sie wurde von den unvermeidlichen offiziellen Reden unterbrochen, denen jeweils ein Menü-Gang folgte.«    »Essen und Reden hält die Menschen zusammen,« sinnierte Leonard dazwischen.    »Man erwartet es leichtfertigerweise, das Essen erfüllte vielleicht diese Erwartung, die Reden sicher nicht. Nach jeder blieb ein kühler oder verkühlender Hauch im Raum hängen, am Ende hatten wir eine so frostige Atmosphäre, dass alle dankbar aufstanden und wieder herumzuschwärmen begannen, auch wenn sie sich kein versüßendes Dessert vom Büffet holen wollten. Eine Viertelstunde nach der letzten Rede gingen die ersten Gäste und nach einer weiteren halben Stunde war alles vorbei.«    »Unauffälliger Rückzug von einer frostigen Abendgesellschaft in die befreiende Kälte einer Neujahrsnacht.« Leonard tat sein Bestes, den Unernst im Raum zu halten. »Wer begann drinnen mit dem Frost?«    »Den Anfang machte Keith Aultons Bruder. Seine Ansprache war kurz, voll von Allgemeinplätzen und lobend bis zur Huldigung. Ich hielt sie für eine Kette unverfrorener Lügen.«    »Dabei kennst du ihn gar nicht!«    »Nein, es war mein Eindruck. Die Gesichter der Familie, die ich beobachten konnte, blieben unbewegt, der Dank erschöpfte sich in einem Nicken des Gelobten und die Vorspeise wurde serviert. Wir bezahlten sie, indem wir anschließend Mr Byatt, dem Verleger, zuhörten. Er kennt Aulton offenbar, seit er auf der Welt ist; sie scheinen Nachbarskinder gewesen zu sein. Merkwürdig, nicht wahr? Byatt ist allerdings zehn Jahre jünger. Er sprach von seiner Bewunderung gegenüber dem älteren Jungen, gab zwei Kindheitserlebnisse zum Besten und endete bei der Ehre, die es für ihn bedeute, erster und einziger Verleger dieses großen Dichters und Literaten zu sein. Feine Sache für einen jungen Verleger, zugegeben, nur – menschlich zugetan ist er seinem Dichter nicht oder nicht mehr.«    »Der nächste Gang wurde serviert…«    Olivia lachte endlich: »Bis Richard mit seiner Todesnachricht auftauchte, habe ich diese Veranstaltung angestaunt wie etwas Kurioses, von dem man am nächsten Morgen nicht mehr sicher sagen möchte, ob es wirklich wahr gewesen ist – der nächste Gang war eine französische Zwiebelsuppe, sehr heiß. Ihr folgte die Rede von Professor Beeverell; er verweilte die längste Zeit bei den gemeinsa-men Studienjahren in Cambridge. Das klang entsprechend engagierter und schwang sich bis zu ehrlicher Anerkennung auf, schon deshalb ehrlich, weil es ihn selbst jedes Mal mit einschloss.«    »Du mochtest diesen Beeverell nicht?«    »Ich kenne ihn doch gar nicht. Ich interpretiere lediglich, was ich hörte und – zugegeben – für erschreckend eitel hielt.«    »Eitelkeit ist eine der verbreiteten Tugenden in der wissenschaftlichen Welt. Ich möchte nicht wissen, wie viele kühne Bücher wir vor allem ihr verdanken,« ließ Leonard den Gedanken freien Lauf.    Richard hörte seinen beiden Freunden zu und begann, sich in ihrer Gesellschaft und vor den glimmenden Scheiten im Kamin behaglich zu fühlen. Am Ende war Sir Keiths Tod doch ein Unglücksfall, warum nicht? »Gab es noch mehr Reden? Ich finde drei eine ausreichende Menge.«    »Oh nein, so billig kamen wir nicht davon, auch der Hauptgang wollte bezahlt werden. Und zwar mit der Rede beziehungsweise dem Lauschen der Rede des Herausgebers der Gesamtausgabe, der Name dieses Menschen ist mir noch immer nicht eingefallen. Er ist leicht eine ganze Generation jünger als Aulton und erfüllt von Bewunderung. Sie war der ganze Inhalt seiner Rede, ich erspare euch die vielfältigen Variationen, in denen man sie ausdrücken kann. Die Zuhörer durften am Ende überzeugt sein, dass der große Dichter für den jungen Mann das Schicksal in Person war.«    »Habt ihr bemerkt, wie intelligent die Reden aufeinander folgen? Kindheit, Jugend, Studienzeit und Mannesalter. Was folgte als nächstes?«    »Es gibt Gerüchte, er habe sich eine literarische Würdigung mit der Zusammenstellung seiner bisherigen Ehrungen erbeten. Amanda hat den Eindruck, dass er damit konkrete Absichten verfolgte, die selbst sie nicht errät. Doch die Dame, die diese Rolle zugewiesen bekam, weigerte sich. Also reden wir nicht weiter davon.«    Leonard räkelte sich in seiner Sofaecke: »Schamlosigkeit ist eine Schwester der Eitelkeit. Meinen Respekt der Dame. Da ein Vorgriff auf das Greisenalter sicherlich kein geeignetes Thema abwirft, folgte der Dank des Geehrten, nehme ich an?«

Kapitel 3

Hallo, Amanda?«»Olivia – bei Anruf Mord?«»Mord! Das klingt nach einem alten Hollywood-Streifen. Aber der erzählt eine ganz andere Geschichte. Außerdem ist dieser Mord wirklich passiert, nicht nur im Kopf eines Drehbuchschreibers.«    »Was ist schon wirklich? Ein guter Film verdichtet mehrere Momente des Lebens zu einer guten Geschichte. Alles, was in einem Film passiert, könnte auch im sogenannten wirklichen Leben geschehen, nur lässt der Film die Alltagsszenen dazwischen weg. Aber zurück zu unserem Fall: Die Groteske endete als Kriminalfall, ver-stehe ich dich richtig?«    »Bedauerlich richtig. Es handelt sich um eine Strophan-thinvergiftung. Er hat das Gift in flüssiger Form zu sich genommen, das heißt, aufgelöst in einem seiner Getränke an seinem letzten Abend.«    »Und zu welchem Punkt der Nacht darf ich mir diesen Sokrates-Trank vorstellen?«    »Hat Sokrates nicht Selbstmord begangen?«    »Stimmt. Wenn auch nicht ganz freiwillig. Also wann hat er den Schierlingsbecher gelehrt?«    »Das ist nicht ganz einfach. Gestorben sein dürfte er gegen Mitternacht, doch so sicher, wie man gemeinhin annimmt, weiß die Medizin das nie. Zwischen Trank und Tod muss die eine oder andere Stunde liegen, die Dosis scheint relativ gering gewesen zu sein.«    »Dann muss er ihn in unser aller Beisein geleert haben, wenn auch nicht vor unser aller Augen. Wer von uns hat das Gift in sein Glas getan – das ist die Frage.«    »Amanda!«    »Was ist? Wenn wir Selbstmord ausschließen, darüber sollte man allerdings noch sorgfältig nachdenken, muss es einer der Gäste gewesen sein, also einer von uns. Wo ist das Problem?«    »Dieser Mensch wäre mit dem Gift in der Tasche…«    »…und Mordgedanken im Herzen gekommen, um mit zu jubilieren und dem Jubel in einem unbeobachteten Moment ein Ende zu machen. Ein Vorgang von theatralischem Reiz!«    »Es könnte aber auch eine Affekthandlung gewesen sein. Sir Keith hat sich an jenem Abend derart aufreizend benommen, dass es einem Menschen zu viel geworden sein kann.«    »Und da wir alle ständig Gift in der Tasche herumtragen…«    »Ja, du hast recht, das ist noch unwahrscheinlicher als eine vorsätzliche Tat. Lassen wir das Spekulieren. Richard hat fest vor, heute nach dem Abendessen zu mir zu kommen, sicher weiß er dann schon einiges. Aber, Amanda, bis dieser Mord aufgeklärt ist, sollte niemand von der Freundschaft zwischen dem Chief Inspector und mir erfahren, das kann nur zu Problemen führen.«    »Probleme sind der notwendige Nukleus aller guten Geschichten.«    »Findest du die Lage nicht doch etwas zu ernst, um sie ständig als Geschichte zu behandeln?«    »Im Gegenteil: Weil sie so ernst ist, versuche ich sie als Geschichte zu sehen. Der Mord an Keith ist der Kern. Aus dem reichen Drumherum werden wir Runde um Runde die Elemente ausmustern, die zu dieser speziellen Geschichte nicht gehören, man könnte auch sagen, wir werden alles Überflüssige streichen. Schließlich verdichten sich die zurückbleibenden Teile zu einer guten Handlung und erzählen uns, wie es zu dem Mord kam und gleichzeitig damit, wer es getan hat.«    »Du setzt voraus, dass die Beteiligten ihr Handeln vor deinen Augen ausbreiten, als wären sie fiktive Figuren aus einem deiner Romane. Hältst du das für wahrscheinlich?«    »Nein – möglicherweise gibt es doch einige kleine Unterschiede zwischen Leben und Fiktion…«

 »Hier, bitte, alter Baumbär, einige Schluck Rotwein werden deine Lebensgeister wieder mobilisieren!« Olivia reichte Richard, der ins Leere starrte, ein Glas und setzte sich mit dem eigenen ihm gegenüber. Sie trank einen kleinen Schluck und wartete. Es war ihr ein vertrauter Vorgang, dass Richard nach einem anstrengenden Arbeitstag und einem Familienabendessen, bei dem er alles vom Tag seiner Familie erfahren wollte – von nicht weniger als fünf Menschen und einem Hund – gedankenverloren und schweigsam vor ihrem Kamin ausruhte. Sie dachte derweil an Amanda, die mit leichter Hand das Leben zu Geschichten umformte und sich auf die-se Weise in Sicherheit hielt. Auch sie selbst hatte nach dem gestrigen Schreck einen gelassenen Standpunkt bezogen, doch eine stille Betroffenheit war zurückgeblieben und der Wunsch, zu verstehen, was geschehen war.    Richard raffte sich auf und stellte sein halbgeleertes Glas beiseite. Er setzte sich etwas aufrechter: »Also – Mord.«    »Warum nicht Selbstmord?«    »Weil alle Familienmitglieder, die ich heute sprach, Selbstmord ausschließen. Seine Frau und seine Schwester, sein Bruder mit Frau und Sohn in Kent; sein Schwager, der Staatssekretär, dessen Frau, ihre zwei Töchter und der Ehemann der jüngeren, ich traf sie alle vereint in Clapham an. Das Entsetzen hat die jeweiligen Kleinfamilien einen Tag länger zusammengehalten. Alle wirken wie paralysiert. Vielleicht ist das der Grund, warum trotz aller sichtbaren Betroffenheit niemand zu Sir Keiths Witwe nach Dulwich fuhr außer der Tochter Wangari; sie traf aber erst ein, als ich schon lange weg war.«    »Und Mrs Robin?«    »Auch sie schließt Selbstmord aus. Sie bleibt wohl noch ein paar Tage in Dulwich, ebenso Mrs Dodwell. Das ist gut so, denke ich, weil Mrs Aulton unter tiefem Schock steht.«    »Wie äußert sich das?«    »Mit der unbewegten Miene einer Mamorstatue verhielt sie sich formvollendet, beantwortete alle Fragen präzise und knapp, manchmal zu knapp, war nie ungeduldig, wenn ich nachfasste und schaute mich dabei mit einem rätselhaft ratlosen Blick an. Ich wusste nie, ob sie mich sah oder ins Leere schaute. Ich kann in ihrem Fall nicht sagen, mit wem ich es eigentlich zu tun habe.«    »Nun, mit einem kultivierten und sehr disziplinierten Menschen. Das ist für den Anfang schon sehr viel – ihre Art zu schauen scheint häufiger irritierend zu sein. Am Neujahrsabend hat sie die Gäste, die zur Begrüßung auf sie zukamen, wohl angesehen, aber wiederholt überhaupt nicht auf sie reagiert, ungefähr so als hätte sie sie nie zuvor gesehen und sei vollkommen uninteressiert an ihrem Er-scheinen. Dabei kannte sie alle gut, das weiß ich von Amanda.«    »Unverständlich, wenn man bedenkt, mit welch berechtigtem Stolz sie als Gastgeberin hätte dastehen können. Legen wir sie im Moment auf Eis, ich werde noch manches Mal mit ihr sprechen und dabei meine Erfahrungen machen – ein paar Fakten: Von den acht-unddreißig Gästen gehörten vierzehn zur Familie des Toten. Mit zehn von ihnen habe ich heute gesprochen, alle schließen Selbstmord aus, dazu kommt mit Mrs Robin eine weitere Person.«    »Und du glaubst Ihnen?«    »Ich habe keinen Grund, das Gegenteil anzunehmen. Der notwendige Schluss: Wir suchen einen Mörder. Da Sir Keith dem Dessert einen Whisky vorzog und dieses Glas auch beim überraschend früh einsetzenden Abgang seiner Gäste noch in der Hand hielt, kommt jeder für die Tat in Frage, es sei denn, dir fällt jemand ein, der so unhöflich war, ohne Händedruck zu verschwinden?«    »Unhöflichkeit als Alibi…« Olivia versuchte sich zu erinnern, stellte aber fest, dass sie auf die Verabschiedungszeremonien nur fallweise geachtet hatte. In diesem Punkt konnte sie niemanden entlasten und Richard behielt seine achtunddreißig Kandidaten. Genau-genommen einen weniger, denn sie selbst schloss er aus, ohne darüber zu reden. »Übrigens bedeutet ein schweigender Abgang nicht zwingend ein Alibi. Viele standen und gingen eine kleine Weile herum und redeten auch mit Sir Keith, wobei sie genug Gelegenheit hatten, ihr Gift loszuwerden, wenn sie das wollten.«    »Es wollte nur einer, und die anderen lenkten ahnungslos von ihm ab… Zu einem anderen Punkt: Die Chemiker sind ziemlich sicher, dass die Glykoseverbindung im Whisky keine in unserer Pharmaindustrie übliche Molekülverbindung aufweist, sondern die eines afrikanischen Pfeilgiftes. Der zugehörige Strauch wächst in Ostafrika, verwandte Pflanzen von Eritrea bis ins südliche Mozambique. Unseren Leuten erscheint die ostafrikanische Pflanze am wahrscheinlichsten zu sein. Ich werde mich dafür interessieren, wer in den letzten Jahren dort war und was er dort gemacht hat.« Richard fing Olivias skeptischen Blick ein: »Ich weiß, zu Giftkapseln kann man am Strand ebenso gut kommen wie am Rande einer Konferenz – trotzdem.« Mit diesem strategischen Punkt für den kommenden Tag gab Richard sich zu dieser späten Stunde zufrieden. Er leerte sein Glas langsam und plauderte noch genüsslich und harmlos über familiäre Vorkommnisse, bevor er aufbrach und zwei Straßenecken weiter in sein warmes Bett verschwand.

Olivia drückte die Haustür hinter ihm leise ins Schloss und ein paar Schritte später die Wohnzimmertür. In der freien Fläche des Raumes blieb sie stehen und, in Gedanken bei dem Gespräch mit Richard, ließ sie ihre Arme kreisen, immer schneller, bis sie das Blut in den Fingerspitzen spürte. Zufrieden ließ sie die Arme seitlich herunter-hängen, stellte die Füße genau nebeneinander, drückte die Knie durch und ließ den Körper in der Taille abknicken und nach vorn fallen. Ihre Fingerspitzen lagen auf dem Boden. So entspannt stehend fand Leonard sie vor.    »Scheint, du bist noch munter genug für einen kurzen Bericht!? Was hat Richard bis jetzt herausgefunden?«    »Es ist tatsächlich Mord, aber das weißt du ja schon.« Sie richtete sich auf, ließ kurz ihre Schultern kreisen, schüttelte den Kopf, dass die Haare flogen und kehrte auf ihren Platz vor dem Kamin zurück. Ihr Bericht fiel denkbar kurz aus.    Leonard sah sie nachdenklich an: »Selbstmord darf man demnach so lange ausschließen, bis eine lebensbedrohliche Krankheit oder erdrückende Schulden als Motiv auftauchen. Für Mord ist es eine dramatische Gelegenheit; fast neige ich dazu, meinerseits auch die Familie auszuschließen. Jeder von ihnen hätte einen so viel dezenteren und damit sichereren Zeitpunkt wählen können.«    »Ja, wahrscheinlich. Jedenfalls haben wir es mit einer geplanten Handlung zu tun. Das Gift musste beschafft und gezielt zu dieser Gelegenheit mitgenommen werden. Richard hofft, den Täterkreis auf diejenigen einschränken zu können, die in den letzten paar Jahren in Ost- oder Südafrika waren.«    »Warum das denn?«    »Weil die Molekülverbindung des Strophanthins die Chemiker von Scotland Yard auf ostafrikanisches Pfeilgift schließen lässt.«    Leonard war erstaunt: »Und er glaubt allen Ernstes, dass das in London nicht zu finden ist?«

Kapitel 4

In der kahlen Allee raschelten die letzten trockengefrorenen Blätter unter den Schritten und draußen auf den weiten leeren Rasenflächen grasten einige kanadische Gänse. Gelegentlich ging ein Hundebesitzer in Erfüllung seiner Pflicht vorbei, darüber hinaus war es leer im Regent’s Park an diesem bleichen Januarmittag.    Der tote Schriftsteller-Freund hielt Amandas Gedanken fest. Sie ging neben Olivia her und beschwor eine Erinnerung nach der anderen, setzte damit das Erinnern gegen den Tod: »Weißt du, seine langen Spaziergänge im Park von Dulwich führten ihn auch an den Stadtstreichern vorbei, die dort in der Sonne saßen,« Amandas Blick fing sich an einer leeren Bank. »Mit einigen von ihnen hat er sich regelrecht angefreundet, er wusste, wo er sie zuverlässig antreffen konnte und hat ihnen auch hin und wieder etwas zu essen mitgebracht. Er behauptete, es gebe sehr interessante Menschen unter ihnen.«    »Daran besteht vermutlich kein Zweifel. Ich habe keinerlei Erfahrung mit ihnen, ehrlich gesagt meide ich sie lieber,« gestand Olivia, »aber Richard trifft immer wieder auf sie und berichtet, wie schwierig es ist, mit ihnen umzugehen, und wie langwierig, wenn man sie zum Reden bringen will. Keith Aulton ist nun kein Polizist, aber dennoch scheint es eine Herausforderung für Takt und Einfühlungsvermögen darzustellen, ihr Vertrauen zu gewinnen. Sie haben ihn mit Sicherheit von einer uns allen verborgenen Seite kennengelernt, darüber sollte man mal grübeln.«