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Olivia Lawrence, Übersetzerin und Journalistin, sitzt an einem Vorfrühlingstag auf einer Bank in den Inns im Zentrum von London, als der Wind ihr ein Blatt Papier zuweht: eine Todesanzeige. Die Dame, derer darin gedacht wird, ist allerdings quicklebendig: die umstrittene Bildhauerin Victoria Gaynesford, die zurückgezogen in ihrem Landhaus Greystone Manor in den Chiltern Hills wohnt. Ehe Olivia sie noch warnen kann, geschieht ein Mord – und Olivia gerät in ein rätselhaftes Gespinst aus indianischen Steinfiguren und englischemTaxus, verjährtem Kunstdiebstahl und aktueller Todesgefahr. Ein Detektivroman in der klassischen englischen Tradition von Agatha Christie und Margery Allingham.
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Seitenzahl: 293
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Gerda M. Neumann
Olivias erster Fall
Copyright © 2017 der vorliegenden Ausgabe: Gerda M. Neumann.Alle Rechte vorbehalten.»Greystone Manor« erschien zuerst 2010 in der Edition Octopus, Münster.Von der Autorin überarbeitete Fassung erschien 2016 im Prospero Verlag, Münster & Berlin.Satz: Eleonore Neumann.Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Albinger, Berlin.www.epubli.deVerlag: Gerda NeumannDruck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Olivias Skizze vom Erdgeschoss
Olivias Skizze vom ersten Stock
Hoch stand ein durchsichtiger, klarer Himmel über London und ein übermütiger Wind wirbelte vom Fluss herauf durch das enge Gassengewirr in die Stadt. Olivia saß auf einer Bank in Lincoln’s Inn. Die Hände noch wintertief in den Manteltaschen vergraben suchte sie, den Frühling in diesem Geviert alter Ziegelsteinhäuser zu erspüren. In den Fassaden um sie herum waren Fensterflügel aufgestoßen worden und das Durcheinander von Stimmen und Läuten der Telefone, das Summen von Computern, Druckern und Faxgeräten befreite den einsamen Rasen von der Stille des Winters. Noch knarrten die kahlen Äste der großen Bäume in ihrer Erstarrung, wenn eine Böe in sie einfiel, doch auf dem kurzen Gras rangelten zwei Amseln bereits um den ersten Wurm. Sie unterbrachen ihren Streit auch nicht, als ein Schwarm weißer Papierblätter auf sie herab segelte. Olivia spürte einen vagen Stoß an ihrem Hut und zog einen der weißen Bögen aus den Federn. Sie las: ›In the dark valley’s Silver-grey fragrance my dim thoughts were merged, And silently I drowned in the translucent, Light-weaving ocean and left life behind me.‹ Ein seltsamer Zauber stieg aus diesen Versen auf, wie ein Echo aus tiefer, ureigener Erinnerung. Der entsetzte Aufschrei einer Frauenstimme holte sie ins gegenwärtige Leben zurück. Schnell faltete sie das Blatt zusammen und schob es in die Manteltasche. Im nächsten Augenblick sammelte sie weiße Blätter vom Rasen. Sie bekam immer nur wenige zu fassen, bevor der nächste Windstoß sie mutwillig neu verteilte. Doch schließlich stand sie mit einem Stoß Papier vor einer atemlosen Frau mittleren Alters, deren kurze Haare der Wind fast pfiffig durcheinandergebracht hatte; diese hielt etliche Bögen Papier fest in ihren Händen. »Danke, Madam, vielen Dank! So etwas ist mir noch nie passiert. Der erste schöne Tag. Da habe ich den Briefbeschwerer vergessen. Gott sei Dank sind die meisten Papiere nur oben durchs Zimmer geflogen. Mit einem hastigen Blick in die Runde eilte die Frau wieder ins Haus, den vollständigen Papierstoß an sich gepresst.
Es war März. Noch wurde es bei Zeiten dämmerig und kühl. Ein Feuer knisterte im Kamin und leiser Teeduft durchzog den Raum. Olivia hatte den Hauptteil des Tages in der London Library verbracht, auf dem Nachhauseweg einige Einkäufe erledigt und auf den letzten Metern vom Bus, die an einer Gärtnerei vorbeiführten, einen Strauß leuchtend gelber Osterglocken gekauft. Sie lebte in Fulham, nah am Fluss, wo vor hundert Jahren noch kleine Werften und Obstplantagen in ländlichem Miteinander gediehen waren, in einer jener ruhigen Straßen mit der ebenmäßigen Abfolge gleicher Doppelhäuser, die in vielen Stadtteilen Londons zu finden sind. Ihre Großeltern hatten ihr dieses Haus hinterlassen, in der alten Schreinerwerkstatt stand heute ihr Auto und der Apfelbaum hinten im Garten war zusammen mit dem Apfelbaum jenseits der Mauer im Nachbargarten der letzte Zeuge des Obst- und Gemüsefarmlandes ihres Urgroßvaters. Jetzt saß sie mitten im Wohnzimmer am Boden, die Beine unter ihren sehr weiten, langen Rock gezogen, in einer Flut aufgeschlagener Zeitungsseiten. Todesanzeigen waren auf all diesen Seiten abgedruckt, die meisten englische, rechts neben ihr einige deutsche und österreichische, unterschieden durch ein völlig anderes Layout. Es klopfte und auf Olivias Ruf hin öffnete Leonard die Tür. Groß, fast hager steckte er in einer alten blauen Cordhose und dem großen irischen Fischerpullover, den er fast den ganzen Winter über zu Hause trug. Sein Gesicht, ebenfalls hager, zeigte erste Ansätze jener Gelehrtenköpfe, die für England und vielleicht für Österreich so charakteristisch sind. »Schau!« , sie blitzte zu ihm hinauf, »jetzt kannst du selbst sehen, wovon ich neulich sprach: Die Engländer informieren ihre Mitwelt in äußerst kleingedruckten Nachrichten über das Ableben ihrer Angehörigen. In alphabetischer Reihenfolge und in Variationen eines immer gleichen Textes erfahre ich vom Tode von Ehegatten oder Großmüttern – hundert oder erst sechsundfünfzig Jahre alt, gestorben in einem Dorf in Kent oder in Zimbabwe, Handwerker, Professor oder der 20. Baron von irgendwas. Es ist ein für die englische Klassengesellschaft ganz ungewöhnlich demokratisches Verfahren.« »Tod ist außerordentlich demokratisch.« »Halte diese Seite einer deutschen Zeitung daneben«, fuhr Olivia fort, »in schwarzgerahmten Feldern unterschiedlichster Größe, mit oder ohne Kreuz, häufig mit einem Bibelzitat, teilt man mit, ob der Genannte unerwartet, nach einem Unfall oder schwerer Krankheit verstorben ist, ob mit oder ohne Sterbesakramente, welchen Beruf er ausgeübt hat, von der Gefasstheit oder Verzweiflung seiner Angehörigen. Hier haben wir es mit einer ungemein persönlichen Theatralik zu tun. Besonders umfangreiche Texte klingen wie ein ferner Nachhall alter Mysterienspiele.« Leonard trat behutsam in den Raum, dennoch stieß ihn eine Zeitung in den Arm. Sie war auf dem Schirm der Bodenlampe abgelegt. Er nahm sie in die Hand: Todesanzeigen einer Tiroler Tageszeitung. »Sieh«, machte Olivia ihn aufmerksam, »der Leser erfährt dort ungefähr das gleiche wie in den deutschen Zeitungen, doch in gleich großen, ziemlich gleichgestalteten schwarzgerahmten Feldern, auch die verschiedenen Texte liegen näher beieinander als in den deutschen Zeitungen; dafür bringt jede Anzeige ein Photo des Verstorbenen. Diese unterschiedlichen Traditionen europäischer Nachbarn zeigen die unbeachteten Abgrenzungen und die gewachsene Vielfalt in dem dichten Nebeneinander. In meinem nächsten Essay für die ›Süddeutsche Zeitung‹ werde ich mich endlich einmal damit befassen.« Sie zog ihre Füße eng an den Körper, setzte sie sorgfältig auf, um in keiner Rockfalte hängen zu bleiben und sprang wie eine losgeschnellte Feder in die Höhe. Auf Zehenspitzen stieg sie anschließend über die Zeitungen zu Leonard. Als er sie eine Weile später aus seinen Armen entließ und sie zu ihrem Platz am Kamin stelzte, entdeckte Leonard etwas ratlos, dass er den ›Tiroler Anzeiger‹ noch immer in der Hand hielt. Ratlos blickte er um sich und legte die Zeitung schließlich mangels Alternative auf den Lampenschirm zurück. Sein Blick wanderte weiter neugierig durch den Raum: »Warum brauchst du diese Unmenge Londoner Zeitungen? Die Todesanzeigen sehen doch in allen gleich aus. Ich glaube fast, es sind alle Zeitungen, die neben dem Hauseingang lagen und das sind immerhin mehrere Tageszeitungen von fast einem Monat.« Olivia erzählte ihm von dem Papierwirbel in Lincoln’s Inn und dem Blatt, das sich in ihrem Hut verfangen hatte. Es sei zwingend gewesen, die wundervollen Gedichtzeilen zu sichern und somit das Blatt Papier automatisch in die Tasche zu stecken. Ein halb verschmitzter, halb verlegener Blick flog zu Leonard. Erst zu Hause habe sie entdeckt, dass es sich um den Anfang einer für England höchst ungewöhnlichen Todesanzeige handelte. Und das wiederum hatte sie an dieses schon lange geplante Thema für ihren nächsten Zeitungsessay erinnert. »Nun ja, und so suchte ich auch nach meiner Lady mit den schönen Versen. Keine Nachricht von ihrem Tod in den letzten vier Wochen.« »So viel Papier für eine so sparsame Auskunft,« grinste Leonard. Die beiden hatten es sich vor dem Kamin bequem gemacht und tranken Tee, wie sie es oft am späten Nachmittag taten. Dabei tauschten sie die Ereignisse des Tages aus. Leonard lehrte und forschte an der London School of Economics; er war spezialisiert auf Computer-Simulationsmodelle für Probleme der Entwicklungshilfe. Sein seit Kindertagen lebendiges Interesse für die Wechselwirkungen von Land und Pflanzen und Wetter, später von Geomorphologie, Vegetation und Klima hatten hier die Möglichkeit gefunden, persönliches Wissen in konkrete Hilfe zu verwandeln. Oft erzählte er Olivia von dem Fall, für den er gerade eine Lösung suchte. Heute jedoch blieben sie bei den Todesanzeigen, was angesichts der Papierflut um sie herum kaum anders möglich war. Und bei dem Gedicht. Leonard horchte den Versen, die Olivia seit dem Morgen nicht mehr aus dem Sinn gingen, nach. »Darf ich das Blatt einmal sehen?« Olivia gab es ihm. »Lady Gaynesford. Deren Todesanzeige hast du gesucht? Ist es möglich, dass du nie etwas von Victoria Gaynesford gehört hast?« Olivia schüttelte so lebhaft den Kopf, dass ihre Haare flogen, dunkelbraun, sehr kräftig und zwei Fingerbreit über den Schulten zu einer geraden Kante geschnitten, hatten sie die entgegenkommende Eigenschaft, fast immer in nahezu vollständiger Glätte wieder zur Ruhe zu kommen. »Aufgewachsen ist sie auf den Plantagen ihres Vaters irgendwo in Lateinamerika,« grub Leonard in seinem Gedächtnis. »Sie hat sich früh für indianische Kulturen interessiert und wurde dann Bildhauerin. Sie muss heute an die achtzig Jahre alt sein. Du kannst dir vorstellen, wie viele Skandale sich um die englische Lady rankten, die bei indianischen Künstlern gelebt hatte, um die Bildhauerei zu erlernen. Auf der anderen Seite versuchten verschiedene Frauenbewegungen sie für sich zu gewinnen. Aber Victoria Gaynesford entzog sich allen Zeitströmen und Moden. Dennoch: Als Künstlerin verschaffte sie sich im Laufe der Jahre Respekt, Arbeiten von ihr waren wohl in bedeutenden Ausstellungen zu sehen. Aber das müsstest du nachschlagen. Jedenfalls genießt sie heute allgemeine Anerkennung.« »Hast du je Skulpturen von ihr gesehen?« »Eher nein. Aber wenn ich mich richtig erinnere, war ihr zentrales Thema immer der Mensch. Ich glaube mich an Photos zu erinnern: Gesichter, die starke Emotionen ausdrücken, kleine Figuren bei irgendwelchen Tätigkeiten. So in der Richtung.« »Das ist ja spannend!« entfuhr es Olivia. »In der Hochphase der abstrakten Skulptur beschäftigt sie sich mit dem Menschen, ganz konkret. Das allein mag schon Aufsehen erregt haben – wo lebt sie heute? Weißt du das zufällig?« »Zufällig ja, in Buckinghamshire. Den Namen des Dorfes habe ich allerdings vergessen,« fügte er entschuldigend hinzu. »Ich bilde mir ein, dass dort Ende März mehrere ihrer kleinen Figuren versteigert werden sollen, ich glaube, im Rahmen eines Wohltätigkeitsbazars, und dass sie aus diesem Anlass selbst anwesend sein wird – es stand in einem Kunstmagazin, das bei Arthur herumlag.« »Du warst vor wenigen Abenden bei ihm, nicht wahr? Oh bitte, ruf ihn an und frage ihn nach dem genauen Datum.« »Jetzt gleich?«
Leonards Freund Arthur hatte die genauen Angaben gefunden und sie betrafen das laufende Jahr: Copper Hill in Buckinghamshire, 30. März, 15.00 Uhr im Gemeindesaal. Olivia fühlte sich so kribbelig, als wäre sie im Begriff, etwas völlig Ungewöhnliches zu tun, was wirklich nicht der Fall war. Schrieb sie doch seit nunmehr vier Jahren regelmäßig für die ›Süddeutsche Zeitung‹ über Interessantes, Skurriles, Ungewöhnliches, das ihr in und um London herum auffiel. Die heutige Unternehmung ließ sich mit einem guten Aufhänger ohne Schwierigkeiten zu einer ›Londoner Skizze‹ verarbeiten. Andererseits machte man sich nicht alle Tage auf den Weg, einen Menschen kennenzulernen, dessen Todesanzeige sich im eigenen Hut verfangen hat. Auch gab einem dieser Umstand nicht selbstverständlich das Recht, ein Papier in die Manteltasche zu schieben, das noch gebraucht wurde. Die erschrockene Sekretärin hatte die Verse gewiss nicht auswendiggelernt, bevor sie sie unbedacht dem Wind überlassen hatte. Und was sollte sie nun abschreiben? Entschlossen stand Olivia auf, schraubte die Marmeladengläser zu und trank den letzten Schluck warmen Kaffee. Sie hatte oft genug darüber nachgedacht. Das Blatt Papier lag noch immer auf ihrem Schreibtisch und da blieb es jetzt auch. Als sie den schmalen gewundenen Gartenweg zur Garage hinunterging, wusste sie, was sie als erstes mit diesem herrlichen Samstagvormittag anstellen konnte: London im Frühling war nirgendwo schöner als im Regent’s Park. Sie liebte die weiße Prachtentfaltung des frühen 19. Jahrhunderts, in der noch die klare Linienführung des 18. Jahrhunderts fortlebte: Queen’s Gate, durch die Weite des Hyde Park nach Sussex Gardens und durch York Gate hinein in den Regent’s Park. Die Nash Terraces erstreckten sich so weit das Auge ihnen folgen konnte, davor schmale Grünanlagen, abgeschlossen von hohen, schwarzen, schmiedeeisernen Gittern und an der Straße entlang das Rosa der blühenden Kirschbäume. Langsam folgte sie der Straße, bis der Kreis sich wieder schloss. Sie steuerte zum inneren Zirkel des Parks und fuhr Runde um Runde, bis sie sich so einverstanden mit der Welt um sich herum fühlte, dass sie, nun wieder recht tatendurstig, diese friedvolle Oase verließ. Auf der A40 fuhr sie nach Westen aus London hinaus. Unmittelbar hinter High Wycombe bog sie von der Hauptstraße ab. Die gewundenen Straßen der Chiltern Hills nahmen sie auf. Die Täler waren hier enger und die Hänge steiler, als man es von der Landschaft Südenglands im allgemeinen erwartete. Olivia sah große Schafherden grasen. Weit zog sich der Wald die Hügelkuppen hinauf. Wo das Land weniger steil war, erkannte sie hinter den noch unbelaubten Hecken die charakteristischen Balkenzäune der Pferdekoppeln. Die Häuser der kleinen Dörfer, durch die sie kam, waren zumeist aus roten Ziegelsteinen gebaut, die älteren vorwiegend aus Flint. Sie mochte beides nicht besonders, es wirkte leicht düster. Ihr kamen Geschichten in den Sinn, die ihre Großmutter ihr als Kind erzählt hatte: von den Räubern, die in den Buchenwäldern der Chiltern versteckt lebten, so ähnlich wie im Märchen von den Bremer Stadtmusikanten. Der Gemeindesaal von Copper Hill war ein Ziegelsteinbau der spätviktorianischen Zeit. Die schmalen hohen Fenster auf beiden Längsseiten liefen oben spitz zu und erinnerten an Kirchenfenster. Olivia lehnte in der hintersten Fensternische und schaute hinaus auf den Platz vor dem Gemeindesaal: Er war von einer ebenfalls roten Mauer zur Straße hin abgeschlossen, beschattet von zwei gewaltigen Buchen und umstanden mit zahlreichen grünen Bänken. Durch die gegenüberliegenden Fenster fiel der Blick ins Freie auf weich dahin rollendes Weideland. Inzwischen war es draußen wie drinnen ziemlich belebt, die meisten der Anwesenden schienen einander zu kennen und das Stimmengewirr verbreitete die fröhlich-geschäftige Atmosphäre, die Wohltätigkeitsveranstaltungen zu eigen war. Hier wurde sie von einigen Fremden durchkreuzt, Galeristen und Sammlern zumeist, die sichtlich distanziert, geschäftsmäßig und ein wenig ungeduldig eine störende, wenn auch gänzlich unbedeutende Dissonanz in die allgemeine Vertrautheit brachten. In der ersten Reihe saß seit kurzem der Pfarrer, hager, mit einer offenbar schwer zu bändigenden Fülle grauer Haare und einem wachen Blick unter den grauen buschigen Augenbrauen, die ihn beinahe listig wirken ließen. Er mochte ungefähr sechzig Jahre alt sein wie auch die etwas rundliche und ungemein herzlich wirkende Frau neben ihm. Die anderen Paare in der ersten Reihe hatten sich bequem zurechtgesetzt und ließen nur gelegentliche Bemerkungen zu ihren Nachbarn fallen, so dass Olivia ausschließlich ihre Rückseite studieren konnte. Ein Gentleman mit einer Art hölzernem Koffer in den Händen trat zum Pfarrer, untadelig in jeder Hinsicht, der graue Anzug, der Schnitt der braunen Haare, die etwas steife Haltung und das fast unbewegte Gesicht; dabei nicht unsympathisch. Er wurde herzlich und wortreich begrüßt. Ein eifriger junger Mann stieß zu ihnen. Nach kurzem Hin und Her übernahm er den Holzkoffer, trug ihn zu dem vorn aufgestellten Tisch und stellte sieben Figuren daraus äußerst behutsam nebeneinander auf den dicken grünen Filz. Im Raum wurde es allmählich still. Die Besucher schauten die Figuren an, um derentwillen sie unter anderem hergekommen waren, und die Figuren, so erschien es zumindest Olivia, schauten die Besucher an. Zwei von ihnen waren aus Ebenholz, aufrecht stehend jede mit einem Buch in der Hand, die eine tief in Gedanken, die andere heiter und nahezu mitteilsam. Die übrigen fünf Gestalten zeigten eine so glatt polierte Oberfläche, dass Olivia aus ihrer Entfernung das Material nicht erkennen konnte. Sitzend oder kniend ruhten sie in sich und ihre Gesichter spiegelten unterschiedliche Emotionen. Eine dieser Figuren berührte Olivia außerordentlich, eine Frauengestalt, die nach langem Nachdenken nun den Entschluss zum Handeln gefasst zu haben schien, von sich selbst überrascht. In der Nähe wurde leise eine Tür geöffnet und wieder geschlossen und Olivia dadurch von den Figuren abgelenkt. Eine stattliche Dame, gekleidet in ein Ensemble aus fließend schilfgrüner Seide, war eingetreten, auf den hochgesteckten weißen Haaren ruhte eine leichte Kopfbedeckung aus Federn und einem dunkelgrünen Schleier, eine Halskette und Ohrringe aus grüner Jade vervollständigten den Eindruck kultivierter Eleganz. Leicht auf einen schwarzen Stock mit Silberknauf gestützt streifte ihr Blick über die Reihen aufmerksam nach vorn schauender Menschen, verweilte kurz auf Olivia und verfolgte mit gleichmütigem Interesse die Versteigerung der Figuren. Olivia hingegen war so vollständig gefangen, dass sie den Ablauf im Saal nur noch von Ferne wahrnahm. Sie fand es wirklich schwierig, den Blick wenigstens manchmal von dieser Frau abzuwenden, die in einer perfekt gelassenen Haltung dastand, als wäre sie selbst ein Kunstwerk: In gemessener, emotionsloser Distance zu den umgebenden Menschen wie Ereignissen, kontrolliert bis in die kleinste Bewegung, bot sie ein Musterbeispiel für das Auftreten der englischen Oberschicht. Und doch wob etwas Fremdes um sie, etwas nicht Hierhergehöriges, jederzeit zum Aufbruch bereit, am Ort gehalten durch die Augen, deren aufsaugende Teilnahme die formale Gelassenheit eigentümlich kontrastierte. Sie musste es sein, ›ihre‹ Lady mit den schönen Versen. Applaus brach die Stille des Raumes auf und das Bild der Lady bewegte sich, zeigte ein freundliches Lächeln und schritt nach vorn, von wo der Pfarrer ihm aufgeräumt entgegensah. Verhaltenes Räuspern, Stühle rücken und zunehmend lauter werdendes Murmeln wiesen Olivia darauf hin, dass die Versteigerung vorüber war, ohne dass sie irgendetwas mitbekommen hatte. Der Pfarrer begrüßte Lady Gaynesford, stellte sie den Anwesenden vor und bedankte sich für ihre großzügige Gabe. Der Erlös der Versteigerung sei so weit über alle Erwartungen hinausgegangen, dass er der Künstlerin ein leuchtender Beweis ihrer Fähigkeiten und Berühmtheit sei. Für das Erziehungsprojekt auf Yukatan in Mexiko, dessen Patenschaft er und seine Gemeinde sich vor nunmehr fünfzehn Jahren verpflichtet hätten zu übernehmen, reiche der Betrag weiter in die Zukunft als ihre gegenwärtig ausgearbeiteten Pläne. Leises Gelächter hier und dort und einhelliger großer Applaus setzten den Schlusspunkt. Stühle scharrten, das Murmeln schwoll zu Stimmengewirr, wiederholt zuckten Blitzlichter der örtlichen Presse und von der Tür fand gelegentlich ein kühler Luftzug seinen Weg in den überheizten Raum – das normale Durcheinander der im Grunde geordneten Auflösung einer größeren Versammlung. Lady Gaynesford hörte viele Komplimente und schüttelte noch mehr Hände, ebenso der Pfarrer. All den verschiedenen Prozeduren zuschauend bewegte Olivia sich allmählich nach vorn, als die alte Dame sie plötzlich zu sich heranwinkte. Automatisch schaute sie hinter sich, doch da war wirklich niemand mehr. Überrascht trat sie näher. »Meine Liebe, Pfarrer Wotheridge und seine Gattin begleiten mich zum Tee. Darf ich Sie bitten, sich uns anzuschließen?« Die Frage war so einladend wie definitiv und wenig später fand Olivia sich in dem weichen Rücksitz eines Bentley aus Copper Hill hinaus rollen. Hohe Hecken beiderseits der Straße ließen die Welt zurücktreten und bald bog der Wagen durch ein großes Tor in einen gepflasterten Hof ein. Durch eine Art Säulengang, der den Blick auf Rasenflächen und Taxusbüsche freigab, führte Lady Gaynesford ihren Gast, von dem sie jetzt immerhin den Namen wusste, ins Haus und in einen Salon, durch dessen große Glastüren auf beiden Seiten man ebenfalls in den Garten schauen konnte. Der Raum war in einem sehr hellen, ruhigen Gelb gestrichen. Auf den alten Holzdielen lag ein dicker, einfarbiger Teppich in dunklem Terrakotta. Die zahlreich herumstehenden Sessel waren mit einem dezent gelbweißgestreiften Stoff bezogen und überall, einfach überall, auch auf Sitzpolstern und am Boden lagen Kissen in allen denkbaren Schattierungen zwischen hellem Gelb und dunkel gebranntem Ton. Die Kaminumrahmung auf der einen und die alte reichgeschnitzte Anrichte auf der gegenüberliegenden Seite, beide aus dunkler alter Eiche, bildeten einen fast graphischen Kontrast zu den Farben. Große Pflanzen vor und hinter den Glastüren lösten die Begrenzungen des Raumes gleichsam auf. Olivia trat an eine der Türen und sah hinaus in den Garten. Über die mit grauen unregelmäßigen Natursteinen gepflasterte Terrasse wurde der Blick in einen Gang gezogen, der aus parallel gepflanzten, zu Obelisken geschnittenen dunklen Taxusbüschen bestand, so dicht beieinander, dass sich die Illusion eines Ganges dem Auge darbot und doch so weit voneinander, dass der Blick ins Weite ausschweifen konnte, sobald der Betrachter etwas zur Seite trat. Am Ende dieses friedvoll gemessenen Stückes Natur saß ein großer Jaguar. Aufgerichtet auf die Vorderbeine, den mächtigen Kopf leicht vom Betrachter abgewandt, schien die Konzentration des Tieres auf eine Bewegung außerhalb der Taxusbüsche gerichtet; noch war seine Haltung entspannt. Gearbeitet war die Figur aus grünem Naturstein, so glatt geschliffen, dass er das Licht des hellen, fast weißen Frühlingshimmels aufnahm und sich dadurch der Eindruck der Lebendigkeit verstärkte. »Dieser Jaguar im Osten verkörpert den Morgen,« unterbrach Lady Gaynesford die Stille. Olivia verstand sie sofort: Der erwachende Tatendrang, die Versammlung aller über Nacht erfrischter Energie teilte sich ganz unmittelbar mit. »Und jetzt schauen Sie einmal aus der gegenüberliegenden Tür, nach Westen.« Olivia durchquerte den Raum und sah sich einem fast spiegelgleichen Taxusgang gegenüber, an dessen Ende eine Jaguarfigur in großer Ruhe lag , die Beine unter den Körper gezogen, den Kopf noch leicht erhoben, doch bereits mit dem Ausdruck entspannten Friedens. »Wie schön sie sind!« Olivia wandte sich zu Lady Gaynesford zurück und begegnete zwei sehr aufmerksamen Augen. »Setzen wir uns, liebe Miss Lawrence. Ich werde mich dort ans Feuer setzen, etwas Wärme kann ich jetzt ganz gut vertragen. Und Sie wählen bitte den Platz, der Ihnen am meisten zusagt.« Olivias Blick flog über die Farbenpracht der Kissen. Sie wählte einen Sessel Lady Gaynesford gegenüber, jedoch so weit zur Mitte des Raumes verschoben, dass sie, wenn sie wollte, ein wenig in den Garten hinausschauen konnte. »Erzählen Sie mir von sich. Es würde mich freuen.« Olivia sah zu Lady Gaynesford hinüber, die bequem angelehnt und gleichzeitig sehr aufrecht in ihrem Sessel saß und mit demselben aufmerksamen Blick auf ihren Gast sah wie zuvor. »Mein Hauptberuf ist Übersetzerin. Ich übersetze Literatur aus dem Englischen ins Deutsche, Kurzgeschichten, gelegentlich einen Roman, vor allem aber Lyrik. Zurzeit erlaube ich mir eine Ausnahme in umgekehrter Richtung, ich bin mit Schillers ›Die Räuber‹ beschäftigt, die ich für eine Theatergruppe im East End neu übertrage.« »Aber davon kann man nun endgültig nicht mehr leben…?« »Nein, das kann man nicht. Diese Übersetzung habe ich auch nur übernommen, weil ich mich mit den Leuten gut verstehe und weil es Schiller ist. Schiller in England etwas bekannter zu machen, rechtfertigt einigen Aufwand; und mit dem Theater habe ich mich seit Kindertagen immer wieder eingelassen – aber mein Leben bestreite ich eher von dem Geld, das ich durch Übersetzungen in der Industrie bekomme oder für große Artikel aus deutschsprachigen Zeitungen, übersetzt für englische Blätter. Und seit vier Jahren habe ich eine feste Reihe in der ›Süddeutschen Zeitung‹ in München.« »Was für eine Reihe ist das?« »Ich berichte alle vierzehn Tage über etwas, das mir in London als interessant und eigen auffällt; eigen in dem Sinne, dass es in dieser Form nur in London, nicht aber beispielsweise in Wien geschieht. Das kann eine Ausstellung oder Theaterinszenierung sein, ein besonderer Schulversuch oder eine Initiative zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit, ein unbekannter junger Künstler oder die Sanierung im East End, es kann aber auch ein bizarrer Brauch sein. Wichtig ist, dass es ›englisch‹ ist, d.h. den speziellen Weg oder die individuelle Sicht dieses Landes im Gegensatz zu seinen europäischen Nachbarn vor Augen stellt. Ich möchte berichten, was anders, möglicherweise auch fremd ist.« Der aufmerksame Blick ruhte weiterhin auf Olivia. »Wollen Sie die verschiedenen Welten vermitteln?« Olivia zögerte mit der Antwort. »Eher nein. Vermitteln wäre ein politischer, wohl auch sozialer Vorgang. Literatur, im Glücksfall auch mal ein Zeitungsessay, stoßen Gedanken im einzelnen Leser an. In der Summe können sie sein Handeln beeinflussen; ihre Wirkung bleibt aber doch sehr indirekt.« Das Ehepaar Wotheridge traf ein und damit wurde das Gespräch unterbrochen. Noch äußerst angeregt von den vorangegangen zwei Stunden begann der Pfarrer sofort über die Versteigerung zu reden. Eine Frau mittleren Alters in dezenter Kleidung brachte währenddessen eine Kanne mit heißem Tee herein und stellte sie auf der Anrichte ab. Olivia sah erst jetzt, dass dort einige kleine Schalen mit Gebäck vorbereitet waren, daneben stand das ungewöhnlichste Teeservice, das sich denken ließ. Jede Tasse zeigte ein Gesicht, jedes in einer spezifischen Stimmung; Augen, Nase, Mund, womöglich die Ohren waren erhaben gearbeitet und mit schwarzer und weißer Farbe klar hervorgehoben. Die Grundfarbe war ein sehr helles warmes Terrakotta, die Innenglasur war weiß. Während Pfarrer Wotheridge weiter sprach, setzten sie sich zu einer gemütlichen Runde. Die Frau, die den Tee hereingebracht hatte, verteilte kleine Tischchen neben jeden Sessel und stellte jeweils ein Gebäckschälchen dazu. Sie goss den Tee in diese ungewöhnlichen Tassen und brachte sie zu den einzelnen Tischchen, bevor sie den Raum verließ. Der Tee war so heiß, dass er noch immer dampfte. Die Tassen wirkten mit ihren Gesichtern wie kleine Geister, die sich in diese Gesellschaft gestohlen hatten; da sie nachdenklich bis heiter schauten, waren sie angenehm. Der eine oder andere dampfende Geist wurde aufgenommen und behutsam der erste heiße Schluck versucht. Das Gespräch bekam Pausen, während man dem Gebäck die Ehre erwies. Manchmal streifte ein neugieriger Blick von Mrs Wotheridge Olivia. »Mein junger Gast,« ergriff Lady Gaynesford das Wort, »ist Journalistin und schreibt regelmäßig für eine deutsche Tageszeitung über das Besondere und Absonderliche unserer Hauptstadt.« »Nein! Völlig unmöglich!« entfuhr es Mrs Wotheridge. »Aber warum denn?« »Also, Journalisten sind niemals so schweigsam. Sie reden doch am liebsten selber. Und neugierig sind sie und drängen sich in alles hinein und wollen immer Dinge wissen, die sie gar nichts angehen – und dann sehen Sie gar nicht so aus, nehmen Sie mir das bitte nicht übel. Aber Journalistinnen tragen immer Jacketts, so wie die Leute in der City. Enge Röcke und Jacketts – nur nicht schwarz wie die Bankleute, sondern eher farbig und überhaupt…« »…überhaupt…« »Und überhaupt,« antwortete die Pfarrersgattin jetzt wieder etwas beruhigt, »würde Lady Gaynesford niemals eine Journalistin in ihr Haus lassen.« »Sehen Sie, das ist eben das Interessante,« mischte sich die Lady wieder ein. »Die Kleidung war es, die meine Aufmerksamkeit als erstes anzog.« Olivia trug schmale schwarze Hosen und einen schwarzen Rollkragenpullover, darüber ein ärmelloses Oberteil aus dicker Wolle, das zwei Handbreit über den Knien endete. Es zeigte ein schwarz-weißes Schachbrettmuster, in das anstelle eines v-förmigen Halsausschnittes eine ruhige Fläche in dunklem Rostrot eingearbeitet war. Die untere Kante sowohl als der Abschluss der Armausschnitte und seitlichen Nähte fügte eine leuchtende Kombination der verschiedensten Farben hinzu. »Darf ich so kühn sein und fragen, wo Sie dieses Oberteil erstanden haben?« Olivia lachte. »Nirgendwo. Ich habe es selbst gestrickt.« »Sie haben es selbst gestrickt?« Mrs Wotheridge war sprachlos. »Es ist hervorragend gearbeitet. Nach welcher Vorlage stricken Sie?« »Nach meiner eigenen. Ich stricke nur, was ich selber entwerfe.« »Und – haben Sie dieses Muster ganz frei erfunden?« fragte Lady Gaynesford fast gespannt. »Nein, Vorlage war ein peruanisches Offiziersgewand, ein Unqu, das im Völkerkundemuseum in Wien ausgestellt ist und mir, wie Sie sehen, sehr gefallen hat.« »Ich wusste es! Die Indianer im peruanischen Hochland kennen es noch heute, aber außerhalb von Peru bin ich ihm nie begegnet. Sie sehen, Ihre Kleidung ist für mich noch außergewöhnlicher als sie es ohnehin schon ist. Doch davon abgesehen, sind die Kleidung und ihre Trägerin bemerkenswert genug, um eine Einladung zu wagen und sich zu freuen, wenn sie angenommen wird.« Die alte Dame neigte leise den Kopf und griff wieder zu ihrer Teetasse. »Wenn ich Lady Gaynesford richtig verstanden habe,« wandte sich nun der Pfarrer an Olivia, »ist nicht die Politik Ihr Thema. Was ist es dann?« »Ich schreibe ›Londoner Skizzen‹.« »Nein! Das ist doch der deutsche Titel von den ›Sketches by Boz‹ von Dickens.« Olivia sah ihn überrascht an und Mr Wotheridge genoss die Überraschung, die er ausgelöst hatte. »Ich kam als Soldat nach Deutschland und blieb bis 1947 dort stationiert,« erklärte er. »Ich habe mir damals die Freizeit damit vertrieben, herauszufinden, was die Deutschen von England wussten – aber wie kam es zu einer Reihe mit diesem Titel?« Es entstand eine kleine Pause. Olivia sah, dass sie mit Hilfe von Dickens die Sympathie des Pfarrers gewann und dass die Entrüstung seiner Frau wachsender Freundlichkeit Platz zu machen begann. Lady Gaynesford lehnte, beide Hände um ihre Teetasse geschlossen, ruhig da und schaute sie darüber hinweg an.
Olivia saß an ihrem Schreibtisch, nun schon seit Stunden. Sie sichtete das Material, das sie in Bibliotheken und Archiven über Lady Gaynesford zusammengetragen hatte. Es war für sie ein Akt des Respektes, auf der Basis der allgemein zugänglichen Informationen neue Fragen für ihr Interview zu finden. Sie hatte sich mit einem festen Gesprächstermin von der alten Dame verabschiedet. Doch dieses Mal schien alles auf dem Kopf zu stehen. Der erste Kontakt zu Lady Gaynesford hatte die Fremdheit mit einem Satz übersprungen. In der Folge schien es ihr, als würde sie hinter dem Rücken eines Freundes all das herauszufinden versuchen, was er ihr freiwillig nicht erzählte. Das war blanker Unsinn. Es wäre eine grandiose Unhöflichkeit gewesen, so ahnungslos zurückzukehren wie sie gegangen war. Möglicherweise lag das Problem in der Todesanzeige: Sie wusste etwas, wovon sie eigentlich unmöglich wissen konnte und worüber zu sprechen völlig ausgeschlossen war. Wiederum wäre es das Beste, dies Blatt Papier einfach zu vergessen. Stattdessen kreiste es wie eine fixe Idee in ihrem Kopf: Von Lebenden existieren normalerweise keine Todesanzeigen. Also war ihr eine Information zugeweht worden, die nicht einfach in den Papierkorb gehörte. Fatalerweise hatte sich dieser die ergänzende Information hinzugesellt, dass Lady Gaynesford im letzten Spätherbst eine schwere Herzoperation überstanden hatte, deren Erfolg einige Tage durchaus offen geblieben war. Das war in dem leichten Geplauder mit dem Ehepaar Wotheridge herausgekommen, während sie vom Tee bei Lady Gaynesford gemeinsam zurück ins Dorf fuhren. Olivia schüttelte den Kopf. Auch wenn sie die britische Begeisterung für Kriminalfälle in keiner Weise teilte, gefiel es ihr gelegentlich, Sherlock Holmes oder Miss Marple zuzuschauen. Beide würden dieses irritierende Papier so lange beiseite legen, bis ein konkreter Umstand sie veranlassen mochte, es wieder zu beachten. Na also. Sie schaute in ihren Garten. Die Büsche warfen lange Schatten, doch noch war es hell genug. Rasch ordnete sie das Material auf dem Schreibtisch, legte das Blatt mit den Fragen für das Interview zuoberst und beugte sich wenig später über ihre Rosen. Während sie das alte Holz ausschnitt und jeder einzelnen Pflanze ihre Anfangsform für den neuen Sommer gab, war ihre Konzentration vollständig gefangen.
Die Nacht über hatte es geregnet, jetzt war der Himmel wolkenfrei und sehr hoch. Als Olivia in die schmalen heckengesäumten Straßen um Copper Hill eintauchte, kurbelte sie das Seitenfenster herunter und rollte friedlich dahin. Sie roch die frische Erde, freute sich an Huflattich, Primeln und den ersten Veilchen, die ihr in diesen tiefeingesunkenen alten Wegen fast auf Augenhöhe entgegenwuchsen, und an den Schatten der Vögel, die durch die Hecken oberhalb der kleinen Blumen huschten. Sie kam durchs Dorf, an der Kirche und dem Gemeinedesaal vorbei. Als sie auf der anderen Seite wieder zwischen den Hecken versank, tauchte sehr bald die Einfahrt von Greystone Manor auf. Sie parkte ihren alten Saab so weit von den Wirtschaftsgebäuden entfernt wie möglich. Dort würde er hoffentlich niemanden stören. Entschlossen ging sie denselben Weg, den Lady Gaynesford sie geführt hatte. Schon kam ihr die Frau entgegen, die bei ihrem Besuch nach der Versteigerung den Tee serviert hatte. Sie stellte sich als Mrs Dorothy Jonas vor, die Wirtschafterin von Greystone Manor. Dorothy führte sie in denselben Wohnraum, in dem sie am Samstag gesessen hatte. Olivia ging zur Terrassentür und sah hinaus auf den sitzenden Jaguar. Da war er; noch in Ruhe, doch an seiner Kraft bestand kein Zweifel. Lady Gaynesford trug heute ein dunkelgrünes Kleid mit silbergrauem Schal. Heiter betrat sie den Raum, umschloss mit beiden Händen Olivias Rechte und sah sie für einen konzentrierten Augenblick sehr genau an. Offensichtlich einverstanden setzte sie sich, diesmal in einen Sessel an der Glastür, und läutete. »Ich möchte Ihnen zur Begrüßung eine heiße Schokolade anbieten so wie ich sie gern trinke.« Die Tassen, die Dorothy hereinbrachte, gehörten zu den dampfenden Geistern, nur war dieses Mal die Grundfarbe ein leuchtendes Dunkelblau. Alles vollzog sich ruhig und zügig wie beim ersten Mal: Dorothy stellte Tischchen neben die Sessel, eine Schale mit Ingwergebäck in erreichbare Nähe und goss das heiße Getränk in die Tassen. Ein über die Massen verlockender Duft nach Zartbitterschokolade mit einem Hauch Vanille stieg davon auf. »Schon die Azteken tranken Kakao, sie genossen ihn kalt und süßten mit Vanille,« erzählte Lady Gaynesford, die heiße Tasse zwischen den Händen haltend. »Meine Kinderfrau in Belize, sie gehörte zu den Maya, nicht zu den Azteken natürlich, brachte mir jeden morgen eine Tasse dieses gewürzten Kakaos ans Bett. Sie war der Überzeugung, nur so gestärkt könne ich in den neuen Tag starten. Auch als ich schon fast erwachsen war – mit achtzehn Jahren fühlt man sich erwachsen, nicht wahr – behielt sie ihre Gewohnheit, und ihre Überzeugung, bei. In Mexiko trank ich dann kaum je Kakao. Erst als ich in dieses Haus in England kam und Mittelamerika weit entfernt lag, nahm ich die Gewohnheit meiner Kindertage wieder auf. Zwar beginnt mein Tag seither mit einer Tasse Tee; am späten Vormittag aber mache ich regelmäßig eine Pause und trinke meinen indianischen Kakao. Das Pulver kommt übrigens wirklich aus Mexiko und nicht aus Afrika wie heute der meiste Kakao.« Olivia hatte zuhörend vorsichtig probiert und was sie trank, war überraschend weich und mild auf der Zunge, wiewohl weniger süß als der ihr vertraute Geschmack. Es war gut. »Ich wusste, dass es hier jetzt heiße Schokolade gibt! Liebe Tante, du verzeihst mein frühes Eindringen und spendierst mir eine Tasse?« Ein junger Mann, in makelloses Beige von sportlich-elegantem Zuschnitt gekleidet, beugte sich über Lady Gaynesford und begrüßte sie mit einem Kuss. Lächelnd erwiderte sie seine Begrüßung, hieß ihn nach einer weiteren Tasse läuten und sich setzen. Daraufhin wandte sie sich an Olivia. »Darf ich Ihnen meinen Neffen David Gaynesford vorstellen.« David schaffte gerade noch, sich formvollendet zu verbeugen, bevor er in einen Sessel sank. »Und mein Gast, David, ist Miss Lawrence. Sie wird für eine deutsche Zeitung einen Artikel über mich schreiben.« Während sie weiter heiße Schokolade und Ingwergebäck zu sich nahmen, fuhr Lady Gaynesford mit einem Anflug von Stolz fort: »David studiert Archäologie. In seiner Doktorarbeit beschäftigt er sich mit ägyptischer Kleinplastik und den durch sie überlieferten Verrichtungen des täglichen Lebens; was mich zu der Frage veranlasst,« damit wandte sie sich wieder ihrem Neffen zu, »warum du hier und nicht in London bist?« »Der Frühling! Weißt du, wenn die Natur wieder erwacht, zieht es den Engländer aufs Land,« antwortete er mit ironischem Pathos, »aber ich habe meine Arbeit mit herausgebracht. Es besteht immer noch begründete Hoffnung, sie vor meiner Abreise abzuschließen – ich werde in gut zwei Wochen nach Oberägypten fahren, um an einer Ausgrabung teilzunehmen,« erklärte er Olivia und berichtete anschaulich von den Zielen dieser Exkursion. Olivia stellte weitere Fragen zu seiner Erwartung, an dieser Stelle auch Kleinplastiken zu finden und zu deren Bedeutung innerhalb der altägyptischen Welt. David schenkte heiße Schokolade nach und es schien unvermeidbar, dass auch die Figuren der altamerikanischen Kulturen Gegenstand der Unterhaltung wurden. Olivia beobachtete eine leichte Rivalität zwischen Lady Gaynesford und ihrem Neffen, was den höheren künstlerischen Wert der indianischen oder ägyptischen Bildwerke anging. »Lady Gaynesford,« nutzte sie eine Pause, »Sie selbst haben doch eine hochinteressante Sammlung olmekischer Figuren.« »Und die werde ich Ihnen jetzt zeigen,« erhob sich die alte Dame energisch. »Entschuldigen Sie, dass ich dieses Gespräch überhaupt zuließ. Sie sind schließlich zum Arbeiten hier und vergeuden Ihre Zeit.« Schon schritt sie in den kurzen Gang neben dem Salon und stieg die Treppe hinauf. Hinter dem Treppenabsatz erhob sich ein hohes schmales Fenster. Davor stand eine große ovale Schale, aus der eine Palme emporwuchs. Als sie sich am Ende der Treppe umwandte, sah Olivia in einem in die Wand eingelassenen Regal eine Dreiergruppe stehender Figuren, völlig realistisch dargestellt mit herabhängenden Armen, doch birnenförmig nach oben verlängerten Köpfen, leicht geöffneten breiten Mündern und großen, etwas seitlich in die Länge gezogenen Augen. Sie waren aus glänzend poliertem Stein gearbeitet. Im Fach darüber saß eine einzelne Figur aus gröberem und damit rauerem Stein, die einen großen zylinderförmigen Gegenstand in den Händen hielt und über ihn hinweg auf ein weiter entferntes Ziel blickte. Ihr Gesicht zeigte den Mund mit den aufgeworfenen Lippen und der breiten flachen Nase, wie Olivia es von olmekischen Kolossalköpfen her kannte. Eingehend betrachtete sie die Figuren, bis Davids Frage dazwischen drang: »Sind sie nicht archaisch?« Olivia blickte auf und sah den eleganten jungen Mann an. Hinter seinen Schläfen pochte das Blut. Ihre Augen trafen seinen fordernden Blick: »Sicherlich, wenn man ägyptische Figuren daneben denkt, deren kultivierte Kleidung und Frisuren; auch deren Physiognomie steht uns sicher näher. Aber schauen Sie, die tiefe Menschlichkeit dieser Gesichter, das In-sich-Ruhen, welches mit entspannter Aufmerksamkeit nach außen gerichtet ist, verdeutlicht ebenfalls ein hohes Maß an Kultiviertheit, wenn auch von fremderer Art.« Olivia wandte sich zu Lady Gaynesford um und bevor David eine neue Diskussion auslöste, stieg diese eine schmale Treppe zum Speicher hinauf. »Dort oben stehen eine Reihe meiner eigenen Figuren, ich möchte sie Ihnen zeigen. Magst du sie womöglich auch sehen, David? Mit Dorothys tatkräftiger Unterstützung habe ich einige Kisten ausgepackt.« Am Ende der Treppe öffnete sich vor ihnen ein weiter, über die ganze Länge des Hauses laufender Dachstuhl. Es war eine mächtige Holzkonstruktion aus dem sechzehnten Jahrhundert, erfuhr Olivia. Den Lehmverputz zwischen den Balken hatte man weiß gekalkt und die einfachen Bretter des Bodens wirkten wie frisch mit Sand gescheuert. Der Raum war hoch genug, um sich bequem aufrecht bewegen zu können, nur unter den gewaltigen Querbalken, die die Konstruktion in regelmäßigen Abständen stützten, musste man sich hindurch beugen. Unter der Schrägen zur Linken standen die verschiedensten Skulpturen in langer Reihe, gegenüber türmten sich bis ganz nach hinten ans Ende des langen Speichers die verschiedensten Kisten.