Ein Wunder volles Leben - Brigitte Kerrutt - E-Book

Ein Wunder volles Leben E-Book

Brigitte Kerrutt

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Beschreibung

Fünf Jahre ist Brigitte Kerrutt alt, als ihre Kindheit endet. Der Vater kehrt aus dem Krieg nicht mehr zurück und wer kann, flieht aus Ostpreußen. Auch Christel Kerrutt macht sich mit ihren fünf Kindern auf den Weg in den Westen. Mit Hunger, Lebensgefahr und Ungewissheit als tägliche Begleiter. Ohne Sentimentalität erzählt Brigitte Kerrutt aus ihrem Leben, das in Königsberg begann und sie über Hamburg bis nach Australien führte. Mit einer großen Portion Geistesgegenwart, Optimismus, Kampfgeist, Witz, Schlagfertigkeit, Gerechtigkeitssinn und Neugier meistert sie ihr Leben, das ihr oft genug alles abverlangt. Sie besteht kleine und große Abenteuer, arbeitet bei einem Schiffsmakler, im Honorarkonsulat Sierra Leone, wird Klinikverwalterin der Chirurgie des Universitätskrankenhauses Hamburg-Eppendorf. Ihr Lebensmotto „Ich kann es und ich schaff es allein“ wird erst in Frage gestellt, als Arbeitslosigkeit und ein Herzinfarkt die Achtunddreißigjährige aus der Bahn werfen. Brigitte Kerrutt, die schon mehr als einmal an der Grenze von Leben und Tod stand, macht sich auf die Suche nach dem Sinn des Lebens … und findet ihn in Jesus Christus. 1982 wandert sie nach Australien aus und während sie sich auf Urlaub und Reisen einstellt, hat Gott eine ganz neue Berufung für sie…Im Rückblick kann sie nur staunen: Ein Leben voller Wunder.

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Brigitte Kerrutt

Ein Wunder volles Leben

Brigitte KerruttEin Wunder volles Leben

1. Auflage 2015

© Lichtzeichen-Verlag GmbH, Lage Text und Fotos: Brigitte Kerrutt Gestaltung Einband: Doris Daubertshäuser,www.doris-made-to-create.de Titelbild: Shutterstock, Repina Valeriya

E-Book Erstellung: LICHTZEICHEN Medien - www.lichtzeichen-medien.com

ISBN: 978-3-86954-836-4 Bestell-Nr.: 548836

Inhalt

Vorwort

1.Meine Familie in Königsberg

2.Die Flucht

3.1949 über die Grenze in den Westen

4.Das Berufsleben beginnt: Carl Bock & Co

5.Wieder einmal knapp am Tod vorbei

6.Breckwoldt & Co

7.Athalie: Australien streckt die Fühler aus

8.1977: Herzinfarkt mit Folgen

9.Suche nach dem Sinn des Lebens

10.Ballarat

11.Auf nach Townsville

12.Ballarat & Clarendon College

13.Ist es jetzt so weit …?

14.… Noch lange nicht!

Vorwort

Die Schulstunde ist zu Ende und meine Erzählung auch. „Ich bin lebendige Geschichte”, sage ich zu meinen Schülern und fast alle Köpfe vor mir nicken. Es ist still im Klassenzimmer. Die Geschichte hat sie nachdenklich gemacht. Um den Bann zu brechen, sage ich: „Irgendwelche Fragen?” Mit schleppender, noch ergriffener Stimme sagt ein Junge: „Sie sollten ein Buch schreiben.” Alle sind sofort begeistert. „Ich würde eins kaufen. Ich auch. Ich auch”, kommt es von allen Seiten.

Ich weiß nicht, wie oft ich das von meinen Schülern aber auch von vielen lieben Menschen, die mir geduldig zuhörten, wenn ich in der Schatzkiste meiner Erinnerungen kramte, schon gehört habe. Sie alle haben mir Mut gemacht, meine Erlebnisse aufzuschreiben und sie sind der Anlass, dass ich jetzt endlich am Computer sitze. Manches ist schon eine ganze Weile her und so gibt es Augenblicke und Situationen, die ich nur noch der Wahrheit nachempfunden beschreiben kann.

Brigitte schreibt ihr Buch

Brigitte kam 1982 nach Australien, um hier zu leben und inzwischen währt unsere große Freundschaft schon fünfzig Jahre. Wir sehen uns nicht täglich, aber wenn wir uns begegnen, spüren wir sofort dieses besondere Band, das an dem Tag entstand, als Brigitte meine Anzeige im Hamburger Abendblatt las.

Schicksal ist eine geheimnisvolle und wunderbare Sache. Wenn ich daran denke, dass Brigitte die Deutschlehrerin an der Schule wurde, die auch meine beiden Kinder in Ballarat/Australien besuchten. Die Geschichten, die ich als Zweiundzwanzigjährige hörte, wurden den Schülern des Ballarat & Clarendon College wieder erzählt, und ich weiß, dass sie sie genauso liebten wie ich einst.

Ich bin froh, dass Brigitte ihre Geschichte nun auch zu Papier gebracht hat, und ich habe keinen Zweifel, dass es eine wundervolle und faszinierende sein wird.

Athalie BazzaniBallarat, Australien, im August 2015

1.Meine Familie in Königsberg

Als ich 1938 in Königsberg/Ostpreußen geboren wurde, ein Jahr bevor Hitler begann, seine Ideen in die Tat umzusetzen, konnte niemand ahnen, wie sehr dieser Mann auch mein Leben durcheinanderwirbeln würde.

Ich war das dritte von fünf Kindern. Meine Mutter erhielt nach der Geburt meines jüngsten Bruders das „Mutterverdienstkreuz”. Kürzlich erfuhr ich von einer Berlinerin, die eines von acht Kindern war, dass ihre Mutter beim sechsten Kind das Mutterverdienstkreuz in Gold bekam. Ob das Kreuz meiner Mutter auch aus Gold war, weiß ich nicht. Ich glaube, dass sie das auch nie erwähnt hat.

Weil ich in meiner Familie das einzige Mädchen war, denken viele, ich sei von meinen Brüdern ordentlich verwöhnt worden. Im Gegenteil, unter uns Geschwistern herrschte das Recht des Stärkeren und das war ich nun einmal nicht. Aber wenn ich auch nicht stark war, so konnte ich doch schnell rennen. Doch dazu später.

Meine Mutter erzählte mir, dass ich bei der Geburt ganz gelb war, Schlitzaugen hatte und den Kopf voller schwarzer Haare. Der Arzt fragte sie im Scherz: „Sie haben sicher von der gelben Gefahr gehört, Sie haben doch nicht etwa fraternisiert?” Dazu muss ich erklären, dass Hitler mit der gelben Gefahr die Chinesen meinte, und natürlich durfte es in dieser Zeit keine Verbrüderung mit sogenannten „Volksfeinden” geben. Schließlich hatten richtige Deutsche Arier zu sein.

Im Gegensatz zu mir und meinen Geschwistern wuchs mein Vater als Einzelkind auf. In seiner Studentenzeit war er Mitglied einer Burschenschaft, einer schlagenden Verbindung. Er lieferte sich mit anderen Studenten richtige Duelle und hatte davon auch einen „Schmiss” im Gesicht. Vor hundert Jahren fanden die Studenten das sehr schick und jeder wollte eine solche Narbe im Gesicht.

Meine Onkel und Tanten nannten meinen Vater nur Vetter Zack, weil er sehr viel Wert darauf legte, dass alles schnl und ordentlich erledigt wurde. Dabei war er ein kreativer und amüsanter Mann, eine Stimmungskanone, wie meine Mutter immer sagte. Einmal hatte er zusammen mit einigen anderen Studenten eine komische Oper geschrieben, bei der sie auch die Rollen selbst besetzten. Es sorgt immer für Komik, wenn Männer Frauenrollen spielen, aber offensichtlich waren die Dialoge und die Schauspieler so komisch, dass meine Mutter beim Erzählen derart lachen musste, dass ich sie kaum verstand. So gelacht hat sie nur selten.

Hochzeit

Christel und Herbert Kerrutt, 1933

Wie mutig mein Vater war, beweist eine andere Geschichte. Eines Abends lauerten ihm auf dem Nachhauseweg ein paar Ganoven auf, die ihn ausrauben wollten. Geistesgegenwärtig zog mein Vater seine Pfeife und richtete sie wie eine Pistole auf sie und fragte: „Wer traut sich zuerst?” Die verhinderten Räuber suchten schleunigst das Weite und ich bin heute noch stolz auf meinen Vater, wie er diese brenzlige Situation gemeistert hatte.

Meine Mutter war sechzehn, als sie meinen Vater kennenlernte. Sie gehörte zu dem ersten weiblichen Jahrgang, der zum Studium an der Universität zugelassen wurde. Eines ihrer Studienfächer war Sport, was mich als Kind immer mächtig beeindruckte. Als sie dann mit einundzwanzig meinen Vater heiratete, brach sie das Studium ab. Im Abstand von jeweils zwei Jahren kamen dann meine vier Brüder und ich zur Welt. In unserer Familie konnten wir von Dezember bis Juni in jedem Monat einen Geburtstag feiern. Prima Planung, fanden wir.

Meine Familie ohne Udo: Links meine Mutter. Hinten Oma und Opa Fischer, vorn: Jürgen, Dieter, Brigitte, Günter

Soldat Herbert Kerrutt

Inzwischen war mein Vater Geschäftsführer der Handwerkskammer in Königsberg geworden und wurde als Vater einer kinderreichen Familie zwar nicht zum Wehrdienst eingezogen, doch als es so aussah, dass Deutschland den Krieg verlieren könnte, meldete er sich im Herbst 1943 freiwillig. Darüber bin ich nun gar nicht stolz auf ihn. Zu meiner Mutter sagte er, sie solle sich keine Gedanken machen, er ginge nicht in Gefangenschaft, die letzte Kugel sei für ihn. Um meine Brüder und mich scheint er sich keine Gedanken gemacht zu haben und ich frage mich tatsächlich, ob ihm klar war, dass er auch als Vater eine Verantwortung hatte? In einem Feldpostbrief malte ich für ihn unsere Gemüsebeete. Die Karotten hat er bestimmt erkannt, vielleicht auch die Kartoffeln, aber den Schnittlauch und die Petersilie hat er sicher für Unkraut gehalten.

Im Herbst 1944 sah ich meinen Vater zum letzten Mal. Er besuchte uns auf Gut Strauchmühlen, dorthin waren wir evakuiert worden, kurz bevor die Sowjets Königsberg einschlossen. Meine Mutter hat nach Kriegsende noch lange auf meinen Vater gewartet, aber es kam nie ein Lebenszeichen von ihm. Auch das Rote Kreuz konnte in 30 Jahren noch nicht einmal seine Einheit ausfindig machen. „Im Krieg vermisst” war die offizielle Nachricht. Kurz nach der Wiedervereinigung fragte meine Mutter mich, ob sie beim Roten Kreuz erneut einen Suchantrag stellen sollte, weil uns doch jetzt die Akten der im Osten verschollenen Soldaten zur Verfügung stünden. „Ich würde das nur deinetwegen tun”, fügte sie hinzu. Ich war gerührt, dachte aber daran, wie sie das nur wieder aufregen würde. Sie sprach ohnehin nur ungern über diese Zeit und dann auch nur, wenn ich sie eindringlich darum bat. 1989 wäre er 88 Jahre alt gewesen, aber ich glaubte nicht, dass er noch lebte. So dankte ich meiner Mutter und sagte ihr, dass das Wissen um seinen Verbleib mir nichts bedeute. Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater, ich habe nur sein Soldatenfoto und wenn ich es mir anschaue, sehe ich einen fremden Mann.

Der Vater meiner Mutter war Oberzollsekretär, ein typischer Beamter mit einem Schnauzbart wie Kaiser Wilhelm. „Als Kaiser Wilhelm abdankte und sich nach Holland absetzte, war mein Vater so erschüttert, dass er seinen Uniformdegen nahm und über dem Knie zerbrach”, erzählte meine Mutter. Sie war immer sehr ergriffen, wenn sie davon sprach.

Von einem anderen Ereignis berichtete meine Mutter mit ebensolcher Erschütterung: Sie war als Kind bei ihren Großeltern auf Gut Stradaunen in Ferien. Eines Sonntags gingen die Frauen zur Kirche, nur Opa blieb zurück. Er ging hinaus auf die Weide, wo der gefährliche Bulle graste. Auf seinem Kopf musste er ein schweres Holzgestell tragen, um keinen Schaden anrichten zu können. Meinem Urgroßvater tat der Bulle leid, er ging auf ihn zu, sprach beruhigend auf ihn ein und nahm ihm das Holzgestell von den Hörnern. Doch der Bulle ging sofort auf ihn los und spießte ihn mit den Hörnern auf. Als die Frauen später aus der Kirche kamen, war mein Urgroßvater schon tot.

Meine Mutter war immer ein ganz artiges Mädchen, das sogar die Fliegen verjagte, damit die Oma in Ruhe ihr Mittagsschläfchen halten konnte. Doch selbst für brave Mädchen gehört Aufräumen selten zur Lieblingsbeschäftigung. Einmal sagte sie zu ihrer Mutter: „Ich kann mich nicht bücken, siehst du?”, und stand mit hängenden Armen und steifen Knien vor ihr. Die Reaktion blieb nicht aus: Zum ersten und einzigen Mal in ihrem Leben wurde sie von ihren Eltern geschlagen.

Die Eltern meiner Mutter hatten eine winzige Landwirtschaft, die sie nur für den Eigenbedarf betrieben. Meine Oma war ein dunkler Typ und hatte schneeweißes Haar. Sie muss einmal eine schöne Frau gewesen sein. Mein Opa war groß und kräftig, musikalisch und spielte in einer Kapelle den Kaiserbass. Er sorgte dafür, dass meine Mutter Cello spielen lernte und ihre Schwester Edith Klavier. Helmut, der jüngere Bruder, wurde Architekt. Der Älteste war ein Genie, sagte meine Mutter immer, er starb aber leider schon mit neunzehn Jahren an einer Lungenentzündung.

Kinder: Ewald und Edith (hinten), Helmut und Christel, Brigittes Mutter (vorne)

Wir wohnten im Stadtteil Maraunenhof in der Johanniterstraße 33. Ich weiß noch, dass der ganze Straßenzug gleich aussah: Reihenhäuser mit einem Garten vor und hinter dem Haus. Der Aschmann-Park war ganz in der Nähe und dann gab es da noch eine Eisenbahnbrücke, ein Krankenhaus, und auch die Ottokar-Kirche und die Ottokar-Schule konnte man zu Fuß erreichen. Nicht weit entfernt war die Endstation der Straßenbahnlinie 7.

In meiner Erinnerung ist unser Haus nicht sehr groß, aber es hatte einen Keller. Im Erdgeschoss waren das Esszimmer, die Küche und das Wohnzimmer. Hier stand ein riesiger, dreitüriger Kleiderschrank mit geschwungenen Säulen an den Seiten, den mein Vater als Dunkelkammer nutzte, um seine Fotos zu entwickeln. Fotografieren war sein Hobby und natürlich war dieser Schrank für uns Kinder tabu. Bad und Schlafzimmer waren im ersten Stock.

Ob der Dachboden damals schon ausgebaut war, weiß ich nicht; woran ich mich aber noch gut erinnere ist die Märklin Modelleisenbahn, die hier oben stand und mit der ich nicht spielen durfte. Papa war immer dabei, wenn die Dampfmaschine dampfte und sich sogar bewegte. Ich fand das großartig und für mich war es wie ein Wunder, aber weil ich noch so klein war, durfte ich nur von der zweiten Reihe aus zugucken. Leider!

Mein erstes Abenteuer erlebte ich, als ich gerade mal drei Jahre alt war. Erinnern kann ich mich zwar nicht mehr daran, aber meine Mutter hat mir erzählt, dass ich auf einmal verschwunden war. Es war ein warmer Sommertag gewesen. Sie suchte im ganzen Haus und im Garten nach mir und rief immer wieder: „Brigitte, wo bist du?”, meine Mutter war in heller Aufregung. Als sie in den Gemüsegarten kam, hörte sie mein jämmerliches Weinen und konnte ihren Augen kaum trauen: Das Weinen kam von oben aus dem Kirschbaum, wo ich mit rotverschmiertem Mund eingeklemmt zwischen den Ästen saß. Wie ich da hinaufgekommen war? Der Komposthaufen unter dem Kirschbaum war selbst für mich als Dreijährige kein großes Hindernis gewesen, aber von dort auf den Kaninchenstall zu kommen, war schon nicht mehr so leicht. Und dann gab es ja noch Äste, an denen ich mich festhalten konnte – immer die reifen Kirschen vor Augen.

Einmal hatte ich mir eine trockene Bohne so tief in die Nase gestopft, dass selbst alle Versuche, sie wieder herauszuschnäuzen, nichts brachten. Es half alles nichts, meine Mutter ging mit mir ins Krankenhaus, wo meine Patentante als Krankenschwester arbeitete. Ich freute mich, denn Tante Ilse hatte ich sehr gern. Sie lachte immer so herzlich. Irgendwie muss es ihr gelungen sein, die Bohne wieder aus meiner Nase zu entfernen.

Zu den unangenehmen Mosaiksteinen meiner Kindheitserinnerungen gehört das Anpassen einer Gasmaske. Dieses Ding sah nicht nur unheimlich aus, sondern tat auch noch weh. Als mir so eine Gasmaske einmal über den Kopf gezogen wurde, ziepten die Gummihalterungen fürchterlich an meinen Haaren. „Bloß weg damit!”, dachte ich und wehrte mich mit Leibeskräften. Meine Mutter war weit weg hinter der Glasscheibe, ich schrie und strampelte unter der dunklen Gasmaske um mein Leben. Es sauste in meinen Ohren und ich bekam keine Luft mehr, bis ich endlich von dem Ding erlöst wurde. Ich war immer noch ganz unter Schock, als ich jemanden sagen hörte: „Das Kind hat sich von Anfang an so heftig gewehrt, dass ich beim besten Willen nicht beurteilen kann, ob die Maske dicht ist oder nicht.” Das Ganze also noch einmal. Ich wurde unsanft gepackt, jemand zog mir die Gasmaske über den Kopf und hielt an der Stelle, wo der Filter normalerweise sitzt, den Eingang zu. Kein Wunder, dass ich am Ersticken war! Diese „Anprobe” steckt mir heute noch in den Knochen. Ich glaube, niemand hätte mich je dazu bringen können, selbst im Ernstfall eine Gasmaske aufzusetzen.

Meine Mutter erzählte mir einmal, ich sei bis zu meinem vierten Lebensjahr immer auf Zehenspitzen gelaufen. Wären wir in Königsberg geblieben, hätte ich Ballettunterricht bekommen. Als sie mir das erzählte, war ich schon ein Teenager und ich stellte mir vor, wie es wäre, in Königsberg zu leben und Ballettunterricht zu bekommen. Ich war mir sicher, dass das nur eine Quälerei für mich gewesen wäre, denn meinem Vater hätte ich bestimmt nichts gut genug gemacht, und so beschloss ich für mich, dass ich nichts versäumt hatte. Und überhaupt: Meine Figur war zu athletisch fürs Ballett. Das sagte mir mein Blick in den Spiegel.

Eine andere Geschichte fällt mir ein. Es war Winter, ich war vier Jahre alt und wir bekamen Besuch, für den mich meine Mutter ganz besonders herausputzte. Ich trug ein kurzes rotes Kleidchen mit einem herrlich weiten Tellerrock, auf dem Stoff waren weiße Blumenblüten aufgedruckt, die wie Sternchen aussahen. Dazu passend gab es noch ein Höschen mit einem Gummizug an den Beinen. Also, ich fand mich einfach schön. Nach dem Essen war es Zeit für meinen Mittagsschlaf und meine Eltern schickten mich nach oben.

Ich wusste ganz genau, dass ich das Kleid nachher bestimmt nicht wieder anziehen durfte. So stand ich ganz leise auf, zog mein schönes Kleid an und schlich mich leise die Treppe hinunter. Ich schaffte es, unbemerkt aus dem Haus zu kommen und marschierte stolz die Straße entlang, in der Hoffnung, dass mich viele Leute sehen. Dann, als ich im Aschmann-Park war, sah ich, dass der Bach zugefroren war. Ob ich wohl auf dem Eis rutschen konnte? Ein vorsichtiger Schritt, ein zweiter, und mit einem Krachen brach das Eis durch. Ich steckte bis zum Hals im eiskalten Wasser und versuchte verzweifelt, mich am Eis festzuhalten, aber der Rand brach immer wieder weg. Auch am Ufer konnte ich mich nicht festhalten, der Schnee war zu locker, um mir Halt zu geben. Irgendwie schaffte ich es dann doch noch, aus dem Bach herauszukommen. Jetzt war ich zwar in Sicherheit, aber mein Kleid hing schlaff an mir herunter und war ganz schmutzig. Es tropfte mir in die Schuhe, aber das war auch schon egal, die waren sowieso voll Wasser.

„Was wird Mutti wohl sagen? Sie wird furchtbar böse mit mir sein”, dachte ich und traute mich nicht, nach Hause zu gehen. Mir war kalt. Eiskalt. Langsam ging ich in Richtung unseres Hauses, bog aber immer wieder ab, weil ich einfach nicht den Mut hatte, so meiner Mutter unter die Augen zu treten. Auf einmal merkte ich, wie das Kleidchen wieder steifer geworden war. Es war gefroren!

Eine Nachbarin ermutigte mich, nach Hause zu gehen, irgendwann musste ich ja wieder heim. Mit dem Mut der Verzweiflung klingelte ich an der Haustür. Meine Mutter öffnete, ich wagte nicht, sie anzusehen, stand nur stumm und mit gesenktem Kopf vor ihr. „Komm schnell nach oben ins warme Bad. Hoffentlich wirst du nicht krank”, sagte sie mit besorgter Stimme. Während das Badewasser einlief, zog sie mich aus und rubbelte mich an Händen und Füßen ab. Sie schimpfte nicht, sie machte mir keine Vorwürfe, ich fühlte nur, wie besorgt sie um mich war. Ich bekam sogar heißen Saft zu trinken. Mir war klar, dass ich diese gute Behandlung nicht verdient hatte, aber natürlich war ich sehr froh darüber. Diese Geschichte mit dem unfreiwilligen Bad im Eis hat unser Vertrauensverhältnis gestärkt. Ich wusste, ich kann mit allem zu ihr kommen, auch wenn ich im Unrecht bin.

Einmal war ich im Schlafzimmer meiner Eltern und sollte eigentlich meinen Mittagsschlaf halten, aber die Schachteln und Döschen auf dem Frisiertisch meiner Mutter waren für mich viel interessanter. Ich fand Mutters „Schatztruhe”, eine runde, hölzerne Dose mit lauter glitzernden Dingen. Ich konnte mich gar nicht sattsehen, nahm die Schätze heraus und legte sie unter das Kopfkissen – für nachher, wenn ich geschlafen hatte. Als ich aufwachte, hatte ich das natürlich längst vergessen und als Mutti abends ihr Kopfkissen aufschüttelte, war sie nicht wenig erstaunt, ihren Schmuck darunter zu finden. Wie sie mir viele Jahre später erzählte, machte sie sich furchtbare Sorgen, ich könnte kleptomanisch veranlagt sein.

Eines Tages wanderte ich los, um meine Oma zu besuchen, die Mutter meines Vaters. Sie war eine feine, vornehme alte Dame, die immer hübsch angezogen war. Unterwegs kam ich an der Ottokar-Kirche vorbei, in der gerade ein Gottesdienst stattfand. Ich konnte mich nicht erinnern, je in einer Kirche gewesen zu sein, die Orgelmusik aber lockte mich an. Die Tür war offen und so spazierte ich hinein und bewunderte die wunderschönen bunten und hohen Fenster. Da berührte eine Hand meine Schulter. Ich drehte mich zur Seite und sah eine freundliche Dame, die eine einladende Geste machte, mich neben sie zu setzen. Sie rutschte gleich etwas weiter auf der Kirchenbank, aber ohne ihre Hilfe schaffte ich es nicht, denn es war nicht genug Platz zum Klettern. Als sie mir dann auch noch eine Pfeffernuss anbot, war unsere Freundschaft besiegelt. Nach dem Ende des Gottesdienstes ging ich zu Oma. Wenn ich sie besuchte, gab sie mir zum Knabbern immer die Brotkrusten, die sie nicht mehr essen konnte. Ich bin später noch einmal in die Kirche gegangen, aber meine Freundin habe ich nicht wieder getroffen, schade.

Weihnachten stand vor der Tür und Günter spielte mit seinen acht Jahren den großen Bruder: „Du glaubst wohl noch an den Weihnachtsmann, oder?”, fragte er überheblich.

„Klar, der Weihnachtsmann kommt jedes Jahr zu Weihnachten.”

„Na, denn guck mal hier in den Kleiderschrank.”

Wir waren im Schlafzimmer unserer Eltern, und Günter fand nach kurzem Suchen einen roten Anzug. „Hier!”, triumphierte er, „das zieht Papa zu Weihnachten an.”

Ich war verärgert und enttäuscht, am meisten über meinen Bruder, der mir diese Illusion geraubt hatte. Es war doch so schön aufregend.

Im Winter hatten wir immer herrlich viel Schnee und wir zogen nach draußen zu einer richtigen Schneeballschlacht. Günter kletterte auf die Mülltonne, sprang in den tiefen Schnee und drehte sich so lange um sich selbst, bis in dem Loch richtig viel Platz war. In das Loch hob er mich hinein und sagte, ich solle Schneebälle machen und sie rauswerfen. Weil ich zu klein war, um über den Rand zu sehen, sah ich natürlich nicht, wohin ich warf, aber ich durfte mitspielen! Das war herrlich. Günter hatte damit wahrscheinlich nur den Auftrag erledigt, auf mich aufzupassen, denn aus dem Loch konnte ich nicht weglaufen.

Aus meiner Erinnerung taucht noch eine andere Schneeballschlacht auf: Die Jungs der Johanniterstraße trafen die Jungs von Rothenstein im Aschmann-Park. Sehr zu ihrem Leidwesen bekamen Günter und Udo ausgerechnet jetzt von meiner Mutter den Auftrag, auf mich aufzupassen. Damit ich nicht im Wege war, wurde ich schlicht und einfach auf den Ast eines Baumes gesetzt, mit dem Versprechen, dass ich von dort aus alles bestens beobachten könne.

Es stimmte, ich konnte alles sehen. Die Schneebälle flolgen kreuz und quer. Wenn einer der anderen Bande unserer Linie zu nahe kam, wurde er richtig verprügelt. In all dem Tumult und Durcheinander wurde ich plötzlich am Kopf von einem Schneeball getroffen. Erschrocken schrie ich: „Bin ich jetzt tot?”

„Nein, halt’ dich fest!”, rief Günter zurück.

Im Sommer fuhren wir oft nach Cranz an die Ostsee. Wasser, so weit ich sehen konnte. „Wie kommt es, dass das viele Wasser nicht über den Rand läuft, wenn es regnet?”, wunderte ich mich. Natürlich bauten wir am Strand auch eine Sandburg und dekorierten sie mit Muscheln. Mit großem Eifer war ich dabei, Muscheln zu suchen und war enttäuscht, wenn viele von ihnen nicht verwendet wurden, weil sie beschädigt waren.

„Aber sie glänzen doch so schön”, argumentierte ich. Umsonst. Meine Brüder bestimmten wieder einmal alles.

Einmal wollten meine beiden älteren Brüder ins Kino gehen. Auf dem Programm stand „Peterchens Mondfahrt”. Ich bin mir sicher, dass ich nur deshalb mit dabei sein durfte, weil sie wieder mal auf mich aufpassen sollten. Zu meiner Enttäuschung war der Film nur für Kinder ab sechs Jahren. Günter versuchte, mich unter seinem Mantel zu verstecken und ins Kino zu schmuggeln, doch ich wurde entdeckt. Wie peinlich.

„Aber ich bin doch schon fast sechs Jahre alt”, meinte ich.

Der Kartenverkäufer sagte lächelnd: „Das reicht aber noch nicht ganz, kleines Frollein.”

Und nun? Über eine Stunde lang saß ich vor dem Kino und wartete auf meine Brüder, weil ich den Weg zurück nach Hause nicht wusste. War das langweilig.

Auf einmal wurde alles ernster. An der Eisenbahnbrücke patrouillierte ein Soldat. Wir fragten ihn: „Weshalb stehen Sie hier – und ganz alleine?”

In seinem Gesicht machte sich ein Lächeln breit: „Wenn die Russen kommen, sprenge ich die Brücke in die Luft, damit die nicht so schnell weiterkommen.”

„Und was geschieht mit Ihnen?”, wollte ich wissen.

„Ich versuche, wegzulaufen oder mich zu verstecken. Wenn das nicht klappt, habe ich Pech gehabt.”

Was meinte er mit „Pech haben”? Ich traute mich nicht, zu fragen, aus Angst, dass ich die Antwort auch nicht verstehen würde.

Bei einem unserer Streifzüge entdeckten meine beiden älteren Brüder und ich einen großen Haufen Papier. Wir waren sicher, dass der am Tag zuvor noch nicht da gelegen hatte. So gingen wir wieder zu dem Soldaten an der Eisenbahnbrücke, um ihn zu fragen, was das wohl sei.

„Das ist ein Blindgänger”, sagte er.

Als er unsere fragenden Gesichter sah, fuhr er fort: „Das ist eine Bombe, die beim Aufprall nicht explodierte.”

„Eine Bombe. So dicht an unserem Haus?”

„Ja, Bomben fallen aus den Flugzeugen und manchmal treffen sie nichts, und manchmal explodieren sie nicht.”

„Aber sind die Bomben denn in so viel Papier eingewickelt?”, fragte ich spontan und erntete einen vernichtenden Blick meines Bruders. Ob er es wirklich gewusst hat?

„Natürlich nicht. Das haben wir draufgelegt, damit, wenn die Bombe es sich überlegt und doch noch explodieren will, die Splitter nicht weit fliegen können”, klärte mich der Soldat auf.

Papier kann Bombensplitter festhalten? Das war mir zu hoch, aber ich traute mich nicht zu fragen, aus Angst vor meinen Brüdern. Die würden sonst nur wieder sagen, dass ich dumm sei. Ein paar Tage später lag in allen Straßen unserer Gegend Papier auf dem Pflaster herum und wurde vom Wind noch gleichmäßiger verteilt. Da wusste ich, dass der Blindgänger über Nacht explodiert sein musste. Und richtig, als wir nachsehen wollten, fanden wir den großen Haufen Papier nicht mehr.

Große Aufregung herrschte, als eines Tages eine Granate eines unserer Nachbarhäuser getroffen hatte. Es sah ganz komisch aus. Ein Teil der Vorderfront war weg, und ich konnte in ein Zimmer schauen, in dem direkt an der vorderen Ecke ein Klavier stand. Es war so schwer, dass der Fußboden schon ganz schräg hing.

Nun wurde es auch bei uns zu Hause ernst. Wir durften kein Licht mehr anmachen, damit uns die Piloten abends und nachts nicht sehen konnten, wenn sie ihre Bomben abwarfen. Günter und Udo hatten es gut. Sie hatten beide einen Spielzeuglastwagen, der an den Stellen, wo die Scheinwerfer normalerweise sind, mit Leuchtfarbe angestrichen war. So konnte man im Dunkeln um die Stuhlbeine herumfahren. Ich war fasziniert. Dann fragte ich, ob ich auch einmal mit dem Lkw fahren dürfe? „Aber nur, wenn du ihn nicht kaputt machst.” Ganz glücklich brummte ich ein paar Minuten lang um die Stuhl- und Tischbeine. Natürlich wünschte ich mir zum Geburtstag auch so einen Spielzeuglastwagen. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich einen Wunsch anmeldete.

Mein Geburtstag kam, und meine Mutter überreichte mir mit einem viel versprechenden Lächeln ein großes Paket. Es war schwerer als ein Lastwagen. Sollte meiner wohl größer sein, als der meiner Brüder? Fragend sah ich meine Mutter an. Sie nickte mir ermunternd zu. „Mach’ es auf, pack es aus.”

Hastig riss ich das Papier auf, öffnete den Karton, und meine Enttäuschung war riesengroß. „Eine Puppe! Ich wollte doch einen Lastwagen!” Wütend nahm ich die Puppe und warf sie auf den Fußboden, wobei der Porzellankopf in Scherben ging. O Schreck! Mutti sagte nichts, sie suchte nur schnell mit ernstem Gesicht alle Scherben zusammen. Ich schämte mich.

Als am nächsten Morgen die Puppe in meiner Spielecke saß, untersuchte ich sie. Mutti hatte alle Scherben kunstvoll zusammengeklebt und über den Puppenkopf eine gestrickte Mütze gezogen. Es half alles nichts, ich strafte die Puppe mit Nichtachtung, sie durfte zwar in meiner Spielecke bleiben, das war aber auch alles.

Unsere Lage in Königsberg wurde immer brenzliger. Die Stadt war in Gefahr, wieder von russischen Truppen eingeschlossen zu werden, und wir wurden noch kurz vorher auf ein Gut in Ostpreußen, nach Strauchmühl, evakuiert. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie lange wir dort blieben, es waren vielleicht vier oder fünf Monate, aber die reichten aus, um dort eine ganze Menge zu erleben.

Der Gutsbesitzer, Herr Austen, war ein lieber Mensch, der die russischen Kriegsgefangenen, die für ihn arbeiteten, so gut behandelte, dass sie selbst dann nicht weggelaufen wären, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätten. Bewacht wurden sie von einem deutschen Soldaten. Auf dem Gut arbeiteten auch Polen, so genannte Instleute, die in gutseigenen Häusern wohnten. Die Kinder der polnischen Familien erzählten immer von Malluk. Malluk würde sie auf dem Schulweg anhalten, ihnen nicht nur die Schulbrote, sondern auch ihre Mützen, Schals und Handschuhe wegnehmen. Ich merkte, dass die Erwachsenen diese Geschichten nicht wirklich glaubten. Sie dachten vielleicht, dass die Kinder diese Dinge verloren und dafür einen Schuldigen erfunden hätten: Malluk. Ich glaubte nicht, dass die Kinder logen.

Ich wurde in Bischofstein, einem Dorf in der Nähe des Gutes, eingeschult. Ich erinnere mich an ein altes Schulgebäude mit langen Tischen und Bänken, die man nicht verschieben konnte. Ich musste ganz vorn auf der Bank sitzen, wenn ich auf meiner Tafel schreiben wollte, weil ich sonst nicht hinreichen konnte. Hier lernte ich auch Lesen. Zu Hause auf dem Gut musste ich Lesen üben. Ich las Mutti aus der Fibel vor: „Su-san-ne, Su-si, S-au”. Trotz mehrfacher Wiederholung blieb ich bei „S-au”. Mutti war am Verzweifeln. Klar hätte ich das lesen können, aber ich konnte doch kein Schimpfwort sagen. Wieso stand dieses Wort überhaupt in meinem Lesebuch?

Mein täglicher Schulweg führte mich über einen langen, sandigen Feldweg, auf dem ich nicht schnell vorwärts kam, weil der Sand so tief war. Aber das war nicht das Schlimmste: Zu beiden Seiten des Feldwegs standen dicke alte Weidenbäume, die zum Teil schon innen hohl waren.

Ich war fest davon überzeugt, dass Malluk sich in einem dieser hohlen Bäume versteckte, und lief deshalb immer im Zickzack und mit weitem Abstand zu den Bäumen. Mein Schulweg wurde so fast doppelt so lang.

Als die Blaubeeren reif waren, schnappten Günter, Udo und ich uns die Milchkanne und gingen in den Wald, Blaubeeren pflücken. Plötzlich sahen wir einen Mann, der sein Jackett verkehrt herum angezogen hatte und mit einer Hand einen hölzernen Kartoffelstampfer über seinem Kopf schwenkte. Wir hatten keine Schuhe an, aber der Schreck war uns so in die Glieder gefahren, dass wir so schnell wir nur konnten und ohne uns umzugucken in und durch ein angrenzendes Distelfeld rannten. Meine heldenhaften Brüder rannten am schnellsten!

Zu Hause haben wir natürlich berichtet und wagten uns mit einigen Erwachsen zurück in den Wald. Und dort fanden wir auch den Beweis dafür, dass die Geschichte von Malluk keine Erfindung der polnischen Kinder war: Zwischen den Ästen eines hohen Baumes klemmte ein Sack, in dem die Mützen und Schals steckten, die der Fremde den Kindern abgenommen hatte. Und nun begann das Rätselraten, wer wohl dahinter stecken könnte. Ein Deserteur? Ein armer Irrer? Ein entlaufener Kriegsgefangener? Die Frage wurde während unseres Aufenthaltes nicht beantwortet. Mein Schulweg blieb ein Zickzackkurs und eine tägliche Angstpartie – hin und zurück. Aber gesprochen habe ich darüber mit niemandem. Ich wollte nicht, dass mich meine Brüder „Angsthase” nennen. Obwohl sie – wenn ich darüber nachdenke – ja genauso schnell wie ich durch das Distelfeld gerannt sind.

Ich hatte ein freundschaftliches Verhältnis zu den russischen Kriegsgefangenen. Sie luden mich zu Pellkartoffeln mit Räucherspeck und Salz ein. Komisch nur, dass bei mir das Salz an der Kartoffelpelle nicht haftete. Die Männer lachten, einer zeigte mir, dass ich die Pelle zuerst anlecken musste. Nun klappte es.

Nach Feierabend sangen sie wunderschöne Lieder, sie zeigten mir, wie man Körbe flicht und aus einem Weidenstock eine Flöte bastelt, mit der man sogar richtig Musik machen kann. Ich erinnere mich, dass meine russischen Freunde nicht sehr groß, aber stämmig waren und graue Uniformen trugen. Eines Tages waren plötzlich noch mehr russische Kriegsgefangene da, ich wunderte mich, denn sie sahen so ganz anders aus. Sie trugen eine braune Uniform und waren sehr groß und schlank. Wenn die Kriegsgefangenen die Kornernte einfuhren, war ich immer mit dabei. Die Leiterwagen wurden sechsspännig gefahren und ich war stolz darauf, dass ich auf dem ersten Pferd rechts sitzen durfte. Die Garben, die in Hocken getrocknet waren, wurden bis hoch hinauf auf den Leiterwagen gestapelt. Wenn wir vom Feld zurückkamen, kamen die Garben direkt in die Dreschmaschine, anschließend wurde das Stroh in der riesigen, mindestens zwei Stockwerke hohen Scheune bis unters Dach gestapelt.

Jeder hatte eine Heugabel, die zwei lange, dünne und gebogene Zinken hatte. Damit nahm einer das Stroh auf, reichte es an den Nächsten weiter und dieser wieder an den Nächsten und so fort. Ein menschliches Förderband. Auf halber Höhe war ein dicker Balken. Auf ihm balancierte ich, um nicht im Wege zu stehen. Plötzlich sagte einer der neuen Russen etwas und richtete seine Heugabel gegen mich. Ich sah nur sein hasserfülltes Gesicht, als schon einer von meinen „grauen” russischen Freunden sich auf ihn stürzte und ein wildes Gerangel entstand. Ich zog mich ganz schnell zurück, denn das war wohl ernst. Ob der mich wirklich aufgespießt hätte? Ich glaube schon. Eines Morgens war große Aufregung, denn die neuen Russen, ich glaube, es waren sechs, waren nicht mehr da. Ich war ganz froh darüber.

Auf Gut Strauchmühl gab es auch Schweine. Eines Nachmittags lagen die Schweine oben auf einem Berg und schliefen gemütlich in der warmen Sonne. Unten am Berg war es nass und matschig, wo sich die Schweine gern suhlten. Meine beiden Brüder und ich suchten uns jeweils eines aus, mit der einen Hand wollten wir auf Kommando ein Ohr anfassen und mit der anderen den Schwanz festhalten. Auf „Los” quietschten drei Schweine und rannten wie wild den Berg hinunter. Meine Brüder waren schon auf halbem Weg runtergefallen. Ich hielt fest, weil ich Angst hatte, zu fallen und landete dafür im Matsch, und sah selber aus wie ein Schwein. Meine Brüder hielten sich die Bäuche vor Lachen. Aber eigentlich war ich doch Sieger gewesen.

Während unseres Landaufenthaltes lernte ich Radfahren, natürlich waren meine Beine zu kurz, um auf dem Sattel sitzen zu können und so fuhr ich im Stehen. Jedes Mal, wenn ich mit beiden Beinen auf gleicher Höhe war, konnte ich über die Lenkstange sehen. Ich weiß nicht, wer mich in Gang gesetzt hatte, jedenfalls hat dieser jemand mir nicht verraten, wie man bremst. Freudestrahlend fuhr ich durch den tiefen Sand meines Schulweges. Als ich in die Nähe der Weidenbäume kam, wollte ich anhalten und umkehren, aber wie? Ich warf mich einfach zur Seite in den Sand. Aber unglaublich stolz erzählte ich beim Abendbrot, dass ich jetzt Radfahren könne. Udo war entsetzt, dass ich etwas konnte, was er nicht konnte, schließlich war er doch ein ganzes Jahr älter als ich. Ehrgeizig setzte er alles daran, auch das Radfahren zu lernen.

Eines Nachmittags war ich im Schwimmbad und beobachtete ein paar Jungs, die etwa in meinem Alter waren. Sie sprangen immer wieder vom Beckenrand ins tiefe Wasser und griffen nach dem Auftauchen sofort nach der Leiter. Die Jungs hatten unglaublich viel Spaß dabei. Als sie endlich weggingen, kletterte ich die Treppe hinunter, hielt mich an einer Sprosse fest, holte Luft, schloss die Augen und sank nach unten. Ich wollte testen, wie tief das Wasser war. Zu meiner Überraschung konnte ich auf Zehenspitzen stehen und durch die Nase atmen, wenn ich den Kopf in den Nacken legte. Die Arme streckte ich seitwärts, um mich zu stabilisieren. Nun hüpfte ich vorsichtig auf den Zehen und bewegte meine Arme – und kam vorwärts. In ganz kurzer Zeit hatte ich es; ich konnte schwimmen. Natürlich berichtete ich wieder am Abendbrottisch, dass ich schwimmen könne. Sehr zum Leidwesen von Udo.

Als wir zurück nach Königsberg kamen, waren die Häuser in unserer Straße leer und alle Nachbarn weg. Man konnte auch nichts mehr einkaufen. Aber wir hatten Glück: Wir wohnten in einem Reihenhaus, die Kellertüren zwischen den Häusern waren offen, sodass man bei einem Brand sogar bis zur nächsten Straße laufen konnte. Meine Mutter lieh sich aus den Nachbarkellern alles Mögliche zum Essen aus und hinterließ jeweils einen Zettel, auf den sie schrieb: „Genommen am ...”, Unterschrift. Es war auch in dieser Zeit, dass einer meiner Brüder sich Spielzeug vom Dachboden holte, aber vergaß, das Licht auszumachen. In derselben Nacht kam unsere Straße unter feindlichen Beschuss. Als meine Mutter entdeckte, dass oben Licht brannte, gab es ein Donnerwetter, wie ich es selten von ihr gehört hatte.

Wir zogen jetzt ganz in den Keller hinunter. Es gab nur ein halbhohes Fenster, das aber auch zugedeckt war, damit wir nicht entdeckt werden konnten. Meine Mutter hängte ein Fahrrad an die niedrige Decke. Einer von uns musste die Pedale drehen, damit wir wenigstens ein bisschen Licht hatten. Den ganzen Tag über blieben wir im Keller und trauten uns erst abends in den Garten, wenn es schon fast dunkel war, um frische Luft zu schnappen. Eines Abends entdeckten wir in unserem Garten etwas großes Weißes.

Mein Bruder Günter fragte: „Können wir das gebrauchen?”

Mutti kam näher und sagte: „Das ist Seide.”

„Ja, und sieh mal die Schnüre, wie fein geflochten die sind”, meinte Günter.

Auf einmal begriff meine Mutter: „Das ist ein Fallschirm, irgendjemand ist vom Flugzeug abgesprungen und in unserem Garten gelandet. Schnell zurück in den Keller!” Wie aufgeschreckte Hühner waren wir im Nu weg. Ich glaube, Mutti und Günter haben den Fallschirm noch schnell zusammengepackt und versteckt, damit der große weiße Fleck nicht für alle anderen Flieger zu sehen war.

Als wir in den Keller zogen, schickte meine Mutter Josefa, unser weißrussisches Mädchen, das uns zugeteilt worden war, damit Mutti Hilfe mit den vielen Kindern hatte, zu ihrem Verlobten. Josef war nicht weit weg von uns. Er half in der Landwirtschaft und war vielleicht auch Zwangsarbeiter, so wie Josefa. „Damit ihr beide wenigstens zusammen seid, wenn alles zum Ende kommt”, sagte Mutti. „Lange kann es ja nicht mehr dauern.” Mutti hätte sowohl wegen dieser Äußerung als auch wegen der Entlassung Josefas schwer bestraft werden können, wenn das herausgekommen wäre.

Josefa war überglücklich. Sie versprach meiner Mutter, dass sie wenigstens einmal in der Woche eine kleine Kanne Milch holen könne, Milch für meinen kleinsten Bruder. In der dritten Woche war ich mit Milchholen an der Reihe. Überglücklich, einmal bei Sonnenschein draußen sein zu dürfen, lief ich aus dem Haus, hüpfte vergnügt und schwang die Aluminiumkanne am ausgestreckten Arm herum. Ich war nur wenige Hüpfer weit gekommen, als ich ganz in der Nähe ein Flugzeug hörte. Bevor ich mich orientieren konnte, aus welcher Richtung das Flugzeug kam, hörte ich das Maschinengewehr und sah die Einschläge neben mir. Ich blieb wie angewurzelt stehen und sah dem tief fliegenden Flugzeug nach, wie es höher zog und dann plötzlich drehte, um erneut auf mich zuzurasen. Ich war erst sechs Jahre alt, und der hölzerne Zaun mit seinen scharfen Spitzen neben mir war höher als mein Kopf. Es war mir unmöglich, da hinüberzuklettern und noch dazu so schnell. Bevor das jetzt wieder tief fliegende Flugzeug schießen konnte, fand ich mich plötzlich unter einem Busch im Vorgarten unseres Nachbarn wieder.

Mutti, die das Maschinengewehr gehört hatte, stand an der Haustür und rief nach mir. Ganz kleinlaut und leise rief ich: „Hier bin ich.” In dieser Woche bekamen wir keine Milch.

Später haben manche Leute versucht, dieses Wunder zu rationalisieren: „In der Not kann auch ein Kind Unmögliches leisten.” Ich weiß aber, dass ich weder geklettert bin, noch die Zeit dafür gehabt hätte. Für mich steht fest, dass ich hier mein erstes Wunder erlebt habe.

Inzwischen war die Situation so unsicher geworden, dass Mutti uns alle zusammenrief, uns anzog und mit uns losmarschierte. Kaum waren wir die Straße fast bis zur Eisenbahnbrücke hinuntergegangen, als uns ein deutscher Soldat mit müdem Schritt entgegenkam. Sein Uniformmantel war offen, und sein linker Arm steckte in einer Art Schlinge. Er hielt uns an und fragte: „Wo wollen Sie denn hin - mit den Kindern?”

Mutti antwortete unsicher: „Ich weiß es nicht. Aber hier können wir nicht bleiben. Alle von dieser Straße sind geflohen, und jetzt wird auch in unserer Straße geschossen.”

Der Soldat sah Mutti mitleidig an und sagte sarkastisch: „Ich wette, dass Sie in Ihrem Gepäck ...”, und er lachte höhnisch, als er auf ihre Handtasche sah … „Ich wette, dass Sie in Ihrem ‚Gepäck’ das alte Küchenbesteck eingesteckt haben. Das schöne Silberbesteck haben Sie im Haus zurückgelassen für die Russen, nicht wahr?”

Mutti sah wie ein gescholtenes Kind aus, das bei einem dummen Streich ertappt worden war. „Sie können nirgends mehr hin. Wir sind vom Russen eingeschlossen. Gehen Sie bloß wieder nach Hause. Warum sind Sie nicht abgehauen, als es noch Zeit war?”

Mutti sagte kläglich: „Mein Mann sollte uns doch vorfinden, wenn er aus dem Krieg zurückkommt.”

Der Soldat schüttelte den Kopf, murmelte: „Gehen Sie bloß nach Hause ...”, und ging langsam unsere Straße hinauf. Ich hatte während der ganzen Zeit wie gebannt auf den Ärmel des Soldaten gestarrt. Er musste verletzt sein, denn es tropfte ständig Blut heraus.

Wir drehten wieder um und gingen nach Hause. Das war unser erster Fluchtversuch.

Wir drei Musketiere, Günter, Udo und ich, gingen eines Tages durch alle Keller unserer Straße und landeten um die Ecke in dem Haus meines Freundes Peter. Peter war Einzelkind und hatte viele Sachen. Natürlich war keiner zu Hause. Was mich jedoch verwunderte, war, dass sein weißes Kaninchen auf dem Bett saß, Hühner durch die Wohnung liefen und Schränke offen waren. Irgendwo war ein Wasserhahn kaputt, denn in einigen Räumen stand Wasser. Wir machten uns auf die Suche nach Peters Spielsachen. Er hatte eine Geige. Günter steckte einen Holzvogel in die Tasche. Auf meinen fragenden Blick sagte er nur: „Soll das alles für die Russen bleiben?” Der Holzvogel quietschte, wenn man seinen Kopf drehte. Das gefiel mir auch. Als ich eine kleine Mundharmonika sah, konnte ich auch nicht widerstehen besonders im Hinblick auf die Russen.

Günter hatte eine Zigarre gefunden, die er natürlich großspurig ansteckte. Das Streichholz warf er mit eleganter Bewegung über die Schulter hinter sich. Es landete in der Gardine, die sofort in Flammen aufging. Günter riss eine Latte vom Türrahmen ab, und wollte damit das Feuer ausschlagen. Stattdessen traf er das Fenster, das Glas zerbrach, und die Flammen loderten nach draußen. In seiner Verzweiflung griff er nach einer Flasche aus der Küche und goss den Inhalt in Richtung Fenster – es brannte nur noch heller. Die Gardine verbrannte, aber zum Glück griff das Feuer auf nichts anderes über.

Das Haus lag im Blickwinkel der Eisenbahnbrücke, und unser Soldat muss das Feuer gesehen haben. Günter, eingedenk des Sprichwortes: „Angriff ist die beste Verteidigung”, ging geradewegs zu dem Soldaten und erzählte ihm, dass wir gerade noch rechtzeitig gekommen wären, um das Feuer zu löschen. Er hätte es doch sicher gesehen? Ob der Soldat Günter diese Geschichte wohl abgenommen hat? Ich glaube nicht.

Als wir nach Hause kamen, hatte ich Skrupel wegen der Mundharmonika und versteckte sie draußen hinter dem Fußabtreter. Ich legte noch etwas Schnee darauf, damit sie keiner finden konnte. „Morgen hole ich sie mir, um darauf zu spielen”, sagte ich mir.

Mutti hatte aus unserem missglückten ersten Fluchtversuch gelernt. Bevor wir zu Bett gingen, zogen wir uns doppelte Kleidung an. So mussten wir nicht frieren und konnten im Notfall sofort flüchten und hatten außerdem noch etwas zum Wechseln. Ich fand das sehr klug, auch wenn es nicht gerade bequem war. Jeder von uns hatte zusätzlich einen eigenen Rucksack, vollgestopft mit persönlichen Notwendigkeiten. Natürlich war kein Spielzeug drin!

Wir waren schon an die Routine gewöhnt. Nach unserem kurzen Ausflug in den Gemüsegarten machten wir uns nachtfein, wir zogen uns an, kletterten in unsere Stockbetten und schliefen auch schnell ein.

2.Die Flucht

Mitten in der Nacht – es war Ende März/Anfang April 1945 – klopfte es hart an unsere Tür. Eine Männerstimme rief: „Aufmachen, kommen Sie raus, schnell!”

Meine Mutter öffnete die Tür einen Spalt. Es stand ein deutscher Soldat draußen: „Schnell, machen Sie schnell, es geht ein Transport nach Pillau – solange die Straße in unserer Gewalt ist.” Pillau ist eine Hafenstadt an der Ostsee und liegt ungefähr eine Stunde Fahrt per LKW vor Königsberg.

Wir waren alle sofort hellwach, standen auf und nahmen unsere Rucksäcke auf die Rücken. Mutti nahm unseren Schlitten, lud ihren großen Rucksack und die Sachen der beiden Kleinsten, zwei und vier Jahre alt, sowie meinen jüngsten Bruder auf, und schon stapften wir alle los.

Ich war schon etwas früher aus der Haustür und guckte verstohlen nach dem Fußabtreter. Sollte ich die Mundharmonika nun in die Tasche stecken oder nicht? Aber dann überlegte ich, dass ich sie ja nicht spielen könne, weil das ja jeder hören würde. Schweren Herzens drehte ich mich weg und reihte mich in unsere Gruppe ein.

Wir kamen an den großen Schulplatz. Dort stand ein offener Lastwagen mit laufendem Motor, der bereits voller Menschen war. Mutti sagte: „Da haben wir doch keinen Platz mehr ... “ Mein großer Bruder – er war gerade elf Jahre alt geworden – war schon hinaufgeklettert, und so, wie er für mich für die Schneeballschlacht einen Platz neben der Mülltonne geschaffen hatte, so presste er jetzt mit aller Kraft die Leute zusammen, so dass auf der Bank schon Platz für meine Mutter war. Sie kletterte hinauf und nahm auf jedes Knie einen der beiden kleinen Jungen. Günter hatte weiter rumgeschoben inzwischen und Udo und ich fanden auch noch Platz. Wen kümmerte es, dass es eng war? Wir saßen auf unseren Rucksäcken.

Auf einmal sagte Günter: „Oma – ich muss Oma holen!” Er wollte schon herunterklettern, als Muttis Stimme eisenhart donnerte: „Du bleibst hier! Du rührst dich nicht von der Stelle! Schlimm genug, dass wir Oma nicht mitnehmen können. Aber dich will ich nicht auch noch zurücklassen!” Bei dem Ton gab es keine Widerrede ...

Auf einmal kam eine dickliche Frau angelaufen und fragte: „Was ist hier los? Geht es jetzt raus?” – „Dieser Transport ist nur für kinderreiche Familien. Der Laster ist voll, Sie sehen ja.” – „Aber warum hat mir denn keiner Bescheid gesagt? Ich habe sieben Kinder. Ich wohne doch gleich da drüben ... “, weinte sie und zeigte mit ausgestrecktem Arm in eine Richtung. Ich hatte einen dicken Kloß in der Kehle. Der Laster fuhr ab in die schwarze, kalte Nacht.

Dass wir benachrichtigt wurden, ist bestimmt darauf zurückzuführen, weil wir Kinder Kontakt zu dem Soldaten hielten, der die Eisenbahnbrücke bewachte.

Gegen Morgen erreichten wir den Hafen für Königsberg, Pillau. Es wimmelte nur so von Menschen, die alle ihre wichtigste Habe an sich drückten. Mutti sorgte dafür, dass wir alle zusammenblieben. Da standen wir fünf Kinder wie die Orgelpfeifen aufgereiht: 11 – 9 – fast 7 – fast 5 und fast 3 Jahre alt. Mutti war gerade 33 Jahre alt.

Wir durften an Bord eines riesengroßen Schiffes. Nur oben war nirgends mehr Platz. Wir wurden in den Maschinenraum geführt, wo es unheimlich laut war und nach Öl stank. Überall sah ich kleine Hämmerchen in ziemlichem Tempo auf Eisen klopfen. Eine Unterhaltung war nicht möglich. Wir mussten uns ins Ohr schreien, wenn wir etwas zu sagen hatten. Wir hatten nichts zu sagen, die Umstände haben uns verstummen lassen. Irgendwann merkten wir, dass wir unterwegs waren. Es fing an zu schlingern und zu schwanken. Und irgendwann wurde mir leicht übel. Günter hatte schon einmal nach oben gehen dürfen, um frische Luft zu schnappen. Ich bekam auch die Erlaubnis. Ich zog mich am Geländer hoch, um die Ecke und höher, wieder um die Ecke und noch höher, bis ich auf einmal ein Stückchen Himmel sehen konnte. Ich kletterte weiter und sah jetzt die Kommandobrücke. Ich konnte nicht fassen, was ich sah: Auf dem Dach der Kommandobrücke saßen auch Leute, sogar mit einem Kinderwagen! Als das Schiff wieder vorne hochkam und sich zur Seite legte, fuhr der Kinderwagen los und flog über Bord. Jetzt war mir erst recht schlecht. Aber ich hatte genug von der frischen Luft. Ich habe mir eingeredet, dass kein Baby im Kinderwagen war. So schnell es mir möglich war, kletterte ich die vielen Leitern wieder nach unten. Mutti mag sich gewundert haben, dass ich so schnell wieder da war. Wegen des Lärms haben wir uns jede Kommunikation erspart.

Wir sind nur einen Tag gefahren, glaube ich. Dann wurden wir ausgeladen. Ich meine, es war in Swinemünde, heute ist das in Polen. Es hieß, das Meer sei voller Wasserminen, und andere Schiffe seien schon explodiert. Außerdem schwammen sehr viele Eisschollen auf dem Meer, was dem Schiff auch Schwierigkeiten machte.

Von nun an nahmen wir jede Möglichkeit wahr, nach Westen zu kommen, und zwar so schnell wie möglich, denn der Russe war nur acht Stunden hinter uns.

Ich kann nicht erinnern, in welcher Reihenfolge die einzelnen Etappen vor sich gingen. Ich will aber berichten, was ich erinnere. Es ist erstaunlich wenig ...

Wir orientierten uns offensichtlich entlang der Eisenbahnlinie. Wir waren aber nicht allein. Überall sah man Alte und Mütter mit Kindern. Wir kamen an einen einzelnen Eisenbahnwaggon, einen geschlossenen Viehwaggon. Eine Menge Kuhmist war drinnen mit wenig Stroh. Einige Leute entschlossen sich, diesen Waggon soweit es ging zu säubern. Dann kletterten alle hinein, die nicht mehr helfen konnten. Die anderen schoben den Waggon die Gleise entlang. Ich weiß nicht wie lange. Irgendwann kamen wir zu einem Bahnhof. Dort wurde unser Waggon an einen anderen Zug angekoppelt. „Alles einsteigen!” In unserem Waggon gab es nur Stehplätze, d. h. auf unseren Rucksäcken konnte abwechselnd einer liegen. Anstatt einer Toilette gab es einen Marmeladeneimer. Ab und zu hielt der Zug auf freier Strecke. Es wurde geraten, was die Ursache sein könnte. Kein Wasser mehr, keine Kohle mehr, die Schienen sind zerbombt, ein Hindernis liegt auf den Schienen ...

Hinter uns hörten wir leisen Kanonendonner. Acht Stunden hinter uns kamen die Russen ... Hoffentlich geht es gleich weiter.

Diese unfreiwilligen Stopps wurden gern dazu benutzt, um kurz auszusteigen und hinter einem Busch zu verschwinden. Wer wollte schon auf einen Marmeladeneimer gehen, wo tausend Augen zuschauten? Mutti bestand darauf, dass wir direkt neben der Waggontür unser Geschäft erledigten. Wenn die Lokomotive das Signal gab, waren es 20 bis 30 Sekunden, bis der Zug anfuhr. Wir waren immer früher im Waggon.

Aber einmal, als wieder eine Toilettenpause eingelegt worden war, fuhr der Zug einfach an, ohne ein Signal gegeben zu haben. Diejenigen, die dicht an der Tür waren, wurden schnell an ihrem ausgestreckten Arm ergriffen und hereingehoben. Aber dann das Drama derjenigen, die weiter weg waren. Sie hatten keine Hoffnung, den Zug mit halb heruntergelassenen Hosen zu erreichen. Sie schrien mit lauten Stimmen: „Mutti steig aus!” – „Mutti steig aus!!” Manche Mütter wollten sich rausstürzen, wurden aber daran gehindert, denn der Zug hatte schon zuviel Fahrt ... Es war grauenvoll, hilflos zusehen zu müssen und die Schreie der Kinder zu hören.

Weiter ging die Fahrt ohne zu halten, wenn es nicht sein musste. Der Rhythmus der Räder auf den Schienen singt für mich heute noch: „Ei-sen-bahn, Ei-sen-bahn”. Auf einmal ist Unruhe an der Tür. Es dauert eine Weile, bis ich es verstehe. Eine Oma ruft wiederholt: „Ich will aussteigen. Meine Erbsensuppe brennt an.” Man versucht, ihr zuzureden. Keiner von uns sagt etwas, aber mir ist klar, dass etwas mit der alten Dame nicht stimmt. Offensichtlich ist der Zustand ansteckend, denn jetzt kommt eine andere Oma, murmelt etwas vor sich hin und will auf meinen Bruder, der auf den Rucksäcken liegt, Pipi machen. Natürlich wird sie daran gehindert, aber ich kann das alles nicht mehr verstehen, ich habe Angst vor diesen Omas.

An einem Abend kamen wir in eine große Halle, wo die Leute an Tischen sitzen und einen Teller Erbsensuppe bekommen konnten. Wir auch. Ich war sehr hungrig. Gierig steckte ich den ersten Löffel in den Mund und spuckte es sofort wieder auf meinen Teller. „Äh, da ist kein Salz drin!”, rief ich mit lauter, enttäuschter Stimme. Eine Frau neben mir deutete auf ihr Pillendöschen. Sie öffnete es, und es schien Salz darin zu sein. Mit Verschwörermiene steckte sie Zeigefinger und Daumen hinein und rieb sie dann über meinen Teller. „Nun rühre gut um”, wurde ich aufgefordert. Ich tat, wie mir gesagt wurde, dankte und steckte erneut einen Löffel voll in den Mund, entdeckte aber keinen Unterschied zu vorher ... Aus lauter Höflichkeit nur gab ich vor, dass es mir jetzt schmeckte. Wenigstens aß ich die Suppe auf. Ob die Frau wohl glaubte, dass es mir jetzt wirklich besser schmeckte?

Wir schliefen die Nacht irgendwo in einer Halle auf dem Fußboden. Am nächsten Morgen fanden wir uns hoffnungsfroh zum Frühstück ein, wo wir den Abend vorher die Erbsensuppe bekommen hatten. Ich sah meine „Salzspenderin”, eilte zu ihr, stand stramm vor ihr und mit ausgestrecktem Arm rief ich „Heil Hitler”. Schnell legte sie ihren Finger auf den Mund, nahm mich bei der Schulter und sagte: „Das tun wir nicht mehr, das sagen wir nicht mehr.” – Ich war ein einziges Fragezeigen. Jetzt wollte ich besonders höflich zu ihr sein, und dann war das auch wieder nicht richtig. Total verunsichert fragte ich leise: „Was sagt man denn?” – „Wir sagen jetzt ‚Guten Morgen’ oder ‚Guten Tag’”, klärte sie mich auf. Ich wiederholte leise „Guten Morgen” ... Es schien keine Bedeutung zu haben. Warum sagt man nicht mehr „Heil Hitler”? Ich traute mich nicht zu fragen. Ich war eben noch zu klein, um manche Dinge zu verstehen.

Dann gingen wir endlos lange zu Fuß auf einer Straße. Natürlich waren wieder unheimlich viele Leute unterwegs in dieselbe Richtung. Manche hatten noch Pferd und Wagen. Rechts und links der Straße waren Bombentrichter. Manchmal auch in der Mitte der Straße. Dann mussten wir in den Matsch ausweichen. In einem Bombentrichter lag ein totes Pferd. Einer sagte: „Wenn wir Zeit hätten, könnten wir uns ein anständiges Essen davon bereiten.” Irgendwann muss ich Pferdefleisch gegessen haben. Ich erinnere, dass es süßlich schmeckte.

Jetzt kam unser Treck zum Stillstand. Was war da vorne los? Man sollte es nicht glauben: Da verstopfen doch tatsächlich Westdeutsche, die vor den Amerikanern wegliefen, die Straße. Höhnisch wurde ihnen gesagt, dass sie nicht mehr lange zu laufen hätten, um sich in die rettenden Arme der Russen werfen zu können. „Was, die Russen??” Ich wunderte mich, dass diese Leute nicht wussten, vor wem wir wegliefen. Sie drehten natürlich um, und der Treck setzte sich ganz langsam wieder in Bewegung.

Auf einmal mussten wir Platz machen für fliehende Soldaten. Ach ja, Soldaten fliehen nicht. Sie ziehen sich zurück. Wir mussten also wieder in die aufgeweichte Erde neben der Straße. Die Kommentare der Flüchtlinge waren nicht sehr freundlich. Also waren die Russen uns schon näher auf den Fersen als wir dachten ...

Einmal nachts lagen wir auf einem Langholz-Waggon. Dieser Waggon hatte nur vier eiserne Stäbe an den Seiten, je zwei rechts und links, keine Wände. Mutti lag in der Mitte. Rechts und links von ihr lagen die beiden kleinen Brüder, Günter an einer Außenseite und ich an der anderen. Damit wir im Schlaf nicht vom Waggon fielen, mussten wir Muttis Hand festhalten und sie unsere ... Bevor ich einschlief, sah ich die herrlichen Sterne am Himmel glitzern und bildete mir ein, dass der Fahrtwind nicht so kalt sei. Auf dieser Nachtfahrt hat sich Mutti schwer erkältet.

Trotzdem wanderten wir den ganzen nächsten Tag zu Fuß, bepackt mit unseren Rucksäcken, bis Mutti und wir nicht mehr konnten.

Mutti krank und wir Kinder todmüde, so erreichten wir den Ort namens Gnoien, wo wir in einem Eckhaus Unterkunft zugewiesen bekamen. Gnoien liegt in Mecklenburg, etwa 40 km südlich von Rostock. Es war ein winziges leeres Zimmer unter dem Dach. Vor unserer Tür standen lange Regale voller Kugeln. Im Erdgeschoss war das Eisenwarengeschäft Peters, das an der Hauptkreuzung dieser Kleinstadt lag.

Neben unserem Zimmer befand sich noch eines, das durch eine Tapetentür versteckt wurde. Vor diese Tür war ein großer Schrank gestellt, den wir auf Klopfzeichen zur Seite rückten, wenn die Luft rein war, damit die vielen Frauen, die sich dort vor den Russen versteckt hielten, mal rauskommen konnten ...

Wir legten uns auf den Fußboden und schliefen sofort erschöpft ein.

Mutti war sehr krank. Sie hatte Fieber, und ihr Hals wuchs zu, sodass sie Schwierigkeiten hatte, zu sprechen und zu atmen. Wir standen da, und wussten nicht, was wir tun sollten. Da wurde unsere Aufmerksamkeit auf die Straße gelenkt. Es versteht sich von selbst, dass wir uns nicht aus dem Fenster lehnten! Wir durften nicht einmal die Gardine bewegen! Die Russen wurden erwartet: Überall hingen weiße Leinentücher aus den Fenstern zum Zeichen, dass wir uns ergaben. Ansonsten war kein Lebewesen auf der Straße, ja, die Stadt schien die Luft anzuhalten.

Auf einmal hörten wir ein Pferd galoppieren. Auf diesem Pferd saß ein russischer Offizier. Als er mitten auf der Kreuzung anhielt, ging das Pferd mit den Vorderbeinen in die Luft. Der Offizier zog seine Pistole und schoss damit einmal in die Luft und wartete ... Die perfekte Zielscheibe. Wir warteten und hielten die Luft an. „Bitte, lieber Gott, lass niemanden zurückschießen.” Als die Zeit um war, drehte der Russe sein Pferd auf den Hinterhufen und galoppierte die Straße wieder zurück.

Einer von uns sagte: „Mann, hat der Mut.” Ich muss sagen, mich hat dieser Soldat auch beeindruckt – obwohl er ein Russe war. Schließlich waren das doch unsere Feinde.

Auf einmal kam Bewegung auf die Straße. Die russischen Truppen zogen durch den Ort: Zuerst die Panzer, dann Truppentransporter, Panjewagen, d. h. Holzwagen auf zwei großen Rädern, die von einem Pferd gezogen wurden. Darauf saßen zwei Soldaten, hinter sich den Wagen voller Heu. Danach kamen die marschierenden Truppen. Es schien über mehrere Tage zu gehen – ohne Pause. Auf einmal war Schluss. Russische Soldaten besetzten unseren Ort.

Früh am Morgen versuchte jemand, unsere Tür zu öffnen. Mutti, im Unterrock, schloss auf, und sie stand einem Russen gegenüber, vor dem sie zurückwich. Sie deutete mit einer Handbewegung auf uns Kinder, die wir alle mit aufgerissenen Augen wie die Ölsardinen auf dem Fußboden lagen. Er schüttelte den Kopf und hob beruhigend seine Hand. Dann fragte er in gebrochenem Deutsch, wo die Besitzer seien. Mutti zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf: „Ich weiß nicht. Alle weggelaufen.” Er wollte noch wissen, wer außer uns in dem Haus sei. „Nur wir”, und Mutti deutete wieder auf uns. „Karascho”, sagte er, drehte sich um und ging. Jetzt fiel die Spannung von uns allen. Man wusste also, dass wir oben wohnten.

Vor unserem Eckladen stand eine Gruppe Russen. Vereinzelt sah man Deutsche mit weißen Armbändern scheu durch die Straße gehen. Da es Mutti inzwischen noch schlechter ging, musste etwas geschehen. Die Jungens durften nicht auf die Straße, da sie zu groß waren. Sie hätten nach Sibirien verschleppt werden können. Außerdem trug Günter einen Gürtel mit Hakenkreuzkoppelschloss, von dem er sich nicht trennen wollte, weil er ihn von Papa hatte.

So bekam ich ein fast weißes Taschentuch um den Arm und ging langsam die Treppe runter und auf die Straße. Im Ladeneingang, direkt an der Hausecke, standen einige Russen, und einer spielte auf einem Akkordeon. Ich blieb fasziniert stehen und hörte der Musik zu. Einer der Russen nahm meine Hände und drehte sich mit mir im Kreis. Alle freuten sich. Dann sagte einer etwas auf Russisch, und sie marschierten los. Ich folgte ihnen. Die Gruppe hielt vor einem großen Schaufenster, in dem alle möglichen Fläschchen und Döschen ausgestellt waren. Ich versuchte zu lesen, was über dem Laden stand: „A-pot-he-ke”. Keine Ahnung, was das war. Inzwischen gab es einen großen Knall. Einer der Russen hatte die Schaufensterscheibe eingetreten, und alle folgten ihm durch das Loch. Ich auch. Allerdings hatte einer von ihnen auf eine Pappdose getreten, diese war aufgeplatzt und weißer Puder und ein winziger roter Plastiklöffel waren rausgefallen. Da war noch eine ganze Pyramide dieser Dosen. Ich saß im Schaufenster, öffnete eine Dose nach der anderen und nahm die süßen kleinen roten Plastiklöffel heraus, bis ich eine Faust voll hatte. Dann folgte ich den anderen in den Laden. Die hatten die Arme voll mit Paketen. Ich sah mich um. Auf dem Regal standen Kartons. Ich entzifferte: „Trau-ben-zuck-er”. Ich wusste nicht, was das war. So rannte ich schnell die Straße zurück und die Treppe nach oben. Außer Puste fragte ich: „Mutti, können wir ‚Trau-ben-zuck-er’ gebrauchen?” Mutti nickte, und weg war ich wieder. Nur, als ich im Laden ankam, waren alle Regale leer ... Ich nahm, was noch da war: eine Dose mit Stecknadeln. Das war die schnellste Lehre meines Lebens.

Ich streifte weiter durch die Straßen. In diesem Ort, der wie eine kleine Stadt aussah, gab es aber noch viele Kleinbauern. Sie mussten die Pferde durch die Haustür in den Hof bringen. Die Jauche lief in den Rinnstein. In solch einem Rinnstein in der Teterower Straße, einer der Hauptstraßen, lag ein russischer Soldat, sein Gewehr neben sich auf der Straße liegend, trank er „Blut”?! Wo kam das her? Ich folgte mit meinen Augen dem roten Strom und sah ein riesengroßes Holzfass. Der Hahn war geöffnet, und das rote Zeug lief heraus. Ich dachte, wenn der Russe das trinken kann, dann können wir das auch gebrauchen. Aber ich brauche einen Topf, Kanne, irgendeinen Napf. Ich ging in den nächstbesten Laden hinein, fand und nahm mir ein Zwei-Liter-Eimerchen, braun emailliert, eilte zurück zu dem großen Fass und ließ die Flüssigkeit in meinen Topf laufen. Dieses stoppte natürlich den Fluss für den Russen, was ihn sehr störte. Er entdeckte mich, nahm sein Gewehr auf und schoss in meine Richtung. Zum Glück war er schon so betrunken, dass er nicht mehr richtig zielen konnte. Aber er traf das Fass dicht neben mir, aus dessen neuem Loch der Rotwein floss. So waren wir beide zufrieden.

Schnell lief ich zurück zum Zimmer. Mutti schnupperte an dem Wein und nickte. Sie erhitzte den Topf und trank den Inhalt so heiß sie nur konnte. Das kurierte sie!

Auf einem meiner Streifzüge konnte ich nichts mehr finden. So nahm ich eine Schublade aus einem Geschäft mit. Wir benutzten sie, um darin unsere wenigen Habseligkeiten an Essen aufzubewahren. Unser Leben bestand aus der Jagd nach Essbarem. Inzwischen war es schon gelockerter. Die Menschen standen in langen Schlangen vor den Bäckereien, Lebensmittelgeschäften, Fleischereien, Milchgeschäften, um irgendetwas zu ergattern. Zumeist war kaum noch etwas da.

An dem Geschäft, aus der ich die Schublade genommen hatte, hing eine Notiz, dass doch bitte alle Gegenstände, die entfernt worden seien, zurückgebracht werden sollten, damit sie ihr Geschäft wieder funktionsfähig hätten. Ich brachte die Schublade zurück, wofür sie sehr dankbar waren, denn die war aus Metall und gehörte zur Kasse. Ich fühlte mich richtig gut.