Eine Frau, ihr Bus und der unverschämt kluge Plan - Karin Janson - E-Book

Eine Frau, ihr Bus und der unverschämt kluge Plan E-Book

Karin Janson

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Beschreibung

Eine Frau mit einer genialen Idee, einem Oldtimer-Bus und einer Lebensfreude, die Leben verändert.

Altenpflegerin Annie musste schon so einiges durchmachen und nun verliert sie auch noch ihren Job. Voller Optimismus schmiedet sie einen genialen, aber verrückten Plan: Sie fährt mit einem alten roten Postbus voller Damenunterwäsche durch das ländliche Schweden, um den Frauen BHs in der richtigen Körbchengröße direkt vors Haus zu liefern. Dabei verändert sie nicht nur das Leben ihrer Kundinnen, sondern auch ihre eigene Sicht auf die Dinge. Doch dann holt sie ein bitteres Geheimnis aus der Vergangenheit ein – und sie muss aufpassen, dass sie selbst nicht ihren Lebensmut verliert.

Ein charmanter und inspirierender Roman – Lebensweisheiten inklusive!

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Seitenzahl: 379

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Buch

Altenpflegerin Annie musste schon so einiges durchmachen und nun verliert sie auch noch ihren Job. Voller Optimismus schmiedet sie einen genialen, aber verrückten Plan: Sie fährt mit einem alten roten Postbus voller Damenunterwäsche durch das ländliche Schweden, um den Frauen BHs in der richtigen Körbchengröße direkt vors Haus zu liefern. Dabei verändert sie nicht nur das Leben ihrer Kundinnen, sondern auch ihre eigene Sicht auf die Dinge. Doch dann holt sie ein bitteres Geheimnis aus der Vergangenheit ein – und sie muss aufpassen, dass sie selbst nicht ihren Lebensmut verliert.

Autorin

Karin Janson ist Journalistin und Autorin und lebt sowohl in Stockholm als auch auf dem Familienhof in Dalarna. Ihr Debüt Byvalla wurde zu einer erfolgreichen Audio-Original-Serie bei Storytel. Eine Frau, ihr Bus und der unverschämt kluge Plan ist das erste Buch ihrer Reihe um die Altenpflegerin Annie.

Karin Janson

Eine Frau, ihr Bus und der unverschämt Kluge Plan

Roman

Deutsch von Maike Dörries

Die Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel Landsvägarnas drottning bei Norstedts, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright der Originalausgabe: Landsvägarnas drottning © Karin Janson, first published by Norstedts, Sweden, in 2022.

Published by agreement with Norstedts Agency.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2023 by Limes in derPenguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Ingola Lammers

Covergestaltung und -motiv: © www.buerosued.de

StH · Herstellung: DiMo

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30391-4V001

www.limes-verlag.de

Prolog

Neun Tonnen. Der Bus wiegt neun Tonnen.

Als ich das Gefälle mit Höchstgeschwindigkeit hinuntersause, wird mir spürbar klar, wie schwer das ist. Der Bus ist kaum noch zu steuern bei diesem Tempo. Ich fühle mich schlagartig unerfindlich klein und unbedeutend. Und werde zwischen Glas und Metall zerquetscht werden wie ein Insekt.

Mein rechter Fuß tritt pumpend das Bremspedal, aber die Bremsen reagieren extrem träge. Im Kassettendeck nudelt die Lebensratgeber-Kassette, aber es dringen nur Satzfetzen zu mir durch wie Übernimm die Kontrolle! Plane dein Leben! Happiness!

Der Bus und ich schießen das Gefälle hinunter wie die Kugel in einem Flipperspiel. Meine Hände klammern sich an das weiße Bakelitlenkrad wie an einen Rettungsring. In dem Kreis am Armaturenbrett zittert der Zeiger Richtung 80 Stundenkilometer.

Ein Kleiderständer reißt sich von seinem Spanngurt los und rollt auf den Fahrersitz zu, der Bus schert seitwärts aus und ein türkisfarbener Nylonslip landet auf meinem Kopf. Ich schiebe ihn hektisch beiseite und sehe in affenartiger Geschwindigkeit einen Zaun auf mich zurasen. Am Rande meines Blickfelds flimmern weißgrüne Birken vorbei, ein paar Steinwürfe entfernt glitzert Wasser.

Jetzt sterbe ich, denke ich noch und lasse den Lenker los.

Mama, jetzt komm ich zu dir.

Kapitel 1

Smoothie

Ich habe Lust auf irgendetwas, aber ich weiß nicht was. Jedenfalls keinen Smoothie.

Mårten schreddert mit konzentrierter Miene einen grünbraunen Brei aus Spinat, Sellerie, Sojabohnen und anderen vitaminreichen Gemüsen zusammen. Die avocadogrüne Front unserer Siebzigerjahreküche passt praktischerweise im Farbton perfekt dazu.

»Bitte schön«, sagt er und reicht mir ein Glas.

Ich habe den Geschmack schon am Gaumen, ohne einen einzigen Schluck getrunken zu haben, ein bisschen bitter mit schleimiger Konsistenz und voller harter Brombeerkerne. Mårten macht aus Solidarität immer auch ein Glas für sich, um zu zeigen, dass wir beide in diesem Boot sitzen. Als ich das Glas auf den Spültisch stelle, wischt er sich demonstrativ mit dem Handrücken den Mund ab und sagt:

»Jede Menge Antioxidantien.«

Auf dem Grundstück liegen noch ein paar Flecken Schnee, die Eiszapfen an der Dachtraufe des Spielhauses sind fast geschmolzen. Das Wort schiebt sich langsam durch meine Gehirnwindungen: Antioxidantien. Es gehört zu meinen absoluten Hassausdrücken, neben Stärkende Umarmung und Atmen. Ich bin nicht gesund, weil ich mir genügend Antioxidantien einverleibt habe, tief in den Bauch geatmet oder mehr stärkende Umarmungen oder Herz-Emojis bekommen habe, als ich zählen kann. Ich bin gesund, weil ich Glück hatte.

»Keinen Appetit? Ich stelle ihn dir für später in den Kühlschrank.«

Mårten hat sich mit den Jahren ein Äußeres zugelegt, mit dem man ihn in einer Menschenansammlung schnell aus den Augen verliert. Er sieht aus wie die Mehrheit aller Männer in der Alterskategorie zwischen 35 und 55: durchschnittlich groß, rasierter Kopf, Dreitagebart und kariertes Hemd über einem beginnenden Bierbauch. Aber er sieht noch immer gut aus, auf eine reifere Art. Und seit er in einem freikirchlichen Chor mitsingt, verströmt er eine viel stärkere innere Ruhe. Er scheint im Singen so etwas wie Trost zu finden. Ich tröste mich mit Simons alten Videospielen, die ich unten im Hobbyraum spiele, wenn ich nicht schlafe. Oder arbeite.

»Ich glaube, ich brauche eine Pause«, höre ich mich selbst mit leiser Stimme sagen.

Mårten verharrt mit der Hand am Griff des Kühlschranks und dreht sich zu mir um.

»Was hast du gesagt?«

Meine Kehle schnürt sich zusammen und in meinen Ohren pfeift es. Was mache ich hier gerade? Mårten sieht mich an wie ein großes Fragezeichen. Vielleicht würde es sich alles nicht so schwer anfühlen, wenn er auch zwischendurch mal ausgerastet wäre. Und zum Beispiel eine Tür eingetreten hätte, wie ich es getan habe, als sich rausstellte, dass die erste Chemo nicht ausreichte. Oder Porzellan zerdeppern. Es musste ja nicht das gute Service sein, aber den einen oder anderen angeschlagenen Teller von unserem Alltagsgeschirr hätte er ruhig an die Wand schmeißen dürfen. Doch er war die ganze Zeit vernünftig, ein sicherer Fels in der Brandung und fürsorglich. Zwei Jahre lang hat Mårten sich um mich gekümmert. An guten wie an schweren Tagen. Bei Übelkeit und Schüttelfrost, bei Gliederschmerzen, Verzweiflung und ausfallenden Haaren. Die einzige angemessene Antwort darauf wäre Dankbarkeit.

»Brause«, presse ich heraus. »Ich hab so einen Japp auf Brause.«

»Aha.«

Meine Therapeutin würde vermutlich sagen, dass ich Mårtens Grenzen austeste, um zu schauen, ob er mich wirklich liebt. Aber ich gehe schon länger nicht mehr zu ihr.

Mårten öffnet den Kühlschrank und wirft einen Blick hinein.

»Wir haben nur Mineralwasser. Ich könnte Zitronensaft reinpressen.«

Meine Augen brennen und ich versuche hektisch, die Tränen wegzublinzeln, die sich nicht mehr lange zurückhalten lassen. Der Druck auf der Brust nimmt wieder zu.

Mårten schüttelt liebevoll den Kopf und ist mit drei ausladenden Schritten bei mir, um mich in den Arm zu nehmen. Und ich stehe da in seiner Umarmung, das weiche Flanellhemd duftet nach Doppeldusch und sein Herz schlägt kräftig nach seiner Rollskitour, bei der ich eigentlich hätte dabei sein sollen. Bewegung, gesundes Essen und Ruhe. Das magische Dreieck, die Basis, um sich von einer Krankheit zu erholen. Nicht Videospiele, Kaffee und Schokolade.

»Wie geht es dir heute?«, fragt Mårten. »Bist du müde?«

»Sehr müde.«

Er schlingt die Arme noch ein bisschen fester um mich.

»Das wird besser werden. Du bist jetzt gesund.«

Ich wünschte, ich könnte seinen Worten trauen. Aber die Erinnerung an Mama schnürt mir den Atem ab. An einen Abend auf dem braunen Ledersofa zu Hause in Edsbyn. Mama saß zwischen Fia und mir, die Arme um unsere Schultern gelegt. »In diesem Winter fahren wir zusammen Ski, wie findet ihr das, ihr beiden?« Fia fragte: »Schaffst du das denn?« Und Mama wuschelte uns beiden durch die Haare. »Aber klar! Jetzt bin ich wirklich auf dem Weg der Besserung.«

Ich zwinge mich, langsamer zu atmen, wie ich es gelernt habe, um die Angst zu besänftigen. Fünf Sekunden einatmen, sieben Sekunden aus. Mårtens angegrauter Dreitagebart fühlt sich so vertraut unter den Fingerkuppen an wie der zottelige Plüschbär, den ich als Kind hatte. Er streichelt mir über das inzwischen kurze, lockige und grau melierte Haar, das früher lang und blond war. Jedes Mal, wenn Mårten mir so über den Kopf streichelt, werde ich an die Veränderung erinnert. Fünf Sekunden ein, sieben Sekunden aus.

»Hoffentlich hast du recht.«

»Natürlich hab ich das.«

Es klingelt an der Tür. Merkwürdig, aber an der Art, wie die Klingel gedrückt wird, zweimal kurz, weiß ich, dass das Carola ist, die meinen Mann abholt.

Kapitel 2

Kol khara

Carola Svenzon arbeitet wie ich beim mobilen Pflegedienst, aber in einer anderen Gruppe. Sie hat weiße Strähnchen im Haar und eine Schwäche für lila Schals und schwarze Tights. Und für meinen Mann Mårten.

Letzteres ist natürlich nur eine Ausgeburt meiner Fantasie. Mårten streitet vehement ab, dass da von irgendeiner Seite Gefühle im Spiel sind. Er und Carola sind nur befreundet. Und daran bin ich leider nicht ganz unschuldig.

Nach meiner Krebsdiagnose hat Carola mich eingeladen, mal mit zu ihrem Chor in einer, wie sie es nennt, »modernen Freikirche« zu kommen. Ich habe vage zugesagt, mal an einem Sonntag mitzugehen, dann aber die ganze Nacht vorher unruhig wach gelegen. Danach habe ich den ganzen Sonntag geschlafen, und als Carola mit ihrem kleinen Toyota vorbeikam, um mich abzuholen, hat Mårten die Tür aufgemacht. Und irgendwie hat sie es geschafft, ihn zu überreden, sie an meiner Stelle zu begleiten. Jetzt fahren sie jeden Sonntag zusammen und er kommt happy und mit rosigen Wangen nach Hause. Und Carola redet bei der Arbeit von nichts anderem als dem Chor.

»Das war … ganz groß gestern«, sagt sie und nimmt den dampfenden Kabeljau aus der Mikrowelle bei der Arbeit. Der ganze Pausenraum riecht nach Fisch. Ich stecke meine Nase tiefer in den Kaffeebecher, damit mir nicht schlecht wird.

»Groß?«, fragt Evin, eine unserer freien Springerkräfte. »Was heißt groß?«

Carola setzt sich und strahlt sie geradezu selig an. Sie verströmt ein Glück, eine Freude, die ansteckend auf ihre Umgebung wirkt.

»Ach, das ist schwer zu beschreiben für jemanden, der nicht dabei war. Wir haben Gospel gesungen, und plötzlich war es, als ob … das Dach abhebt.«

Sie schiebt sich ein Stück Fisch in den Mund und lächelt mich an. Schluckt und schließt die Augen. Sie wird doch jetzt nicht singen? O doch. Zuerst ist nur ein leises Summen zu hören, dann öffnet sie die Augen und presst ein Oh Happy Day heraus.

Evin wirft mir einen erschrockenen Blick zu und ich halte mir eine Serviette auf den Mund, um nicht loszuprusten. Was für eine absurde Szene: Hier sitzen wir, drei Frauen in blauen Heimpflegeuniformen, und essen unser in der Mikrowelle warm gemachtes Essen in der tristesten Küche auf diesem Erdenrund, in dem selbst die Nachtschattengewächse auf der Fensterbank aufzugeben drohen. Wenn die Pause rum ist, müssen wir raus zu unserer stressigen, besonders eng getakteten Nachmittagsschicht, weil Anna-Karin und Esma krank sind. Aber Carola findet, dass es ein happy day ist.

»Bist du nach dieser Sängerin benannt worden?«, fällt Evin ihr ins Wort und legt ihre Gabel auf den Tisch.

Carola improvisiert einen Abschluss und sagt:

»Dazu gibt es eine nette Anekdote. Papa wollte mich Carol taufen, nach dem Neil Sedaka-Song, du weißt schon.«

Evin, die knapp zwanzig Jahre alt ist, sieht nicht aus, als wenn sie es wüsste.

»Aber in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, hat Mama in Stockholm eine Talentshow für Kinder gesehen, die Carola Häggkvist gewonnen hat. Vor ihrem Durchbruch. Aber Mama fand den Namen so schön. Das war dann der Kompromiss, aus Carol wurde Carola.«

»So kann’s gehen«, sage ich und stecke klitschige Tagliatelle in den Mund. Mit Jocke und Zeynab, die von ihrer Vormittagsschicht zurückkommen, fegt ein Windzug herein und durch den Raum. Ich fröstele und bereue, dass ich keine Strickjacke übergezogen habe. Zeynab stellt sich hinter mich und zupft durch meine Arbeitsklamotten an meinem BH-Träger. Die Narbe an meiner Brust kneift, als sie das tut.

»Neu? Fühlt sich fest an.«

»Ja, lass bitte los.«

Sie lässt den Träger mit einem Schnalzen los, der an die BH-Attacken der Jungs in der Mittelstufe erinnert.

»Was ist das für ein Material?«

»85 Prozent Polyamid und 15 Elastan«, leiere ich herunter. Ich bin im Laufe der Zeit zur BH-Beraterin der gesamten Heimdiensttruppe avanciert. Was nicht das Schlechteste ist bei dem Restlager an Unterwäsche in meinem Keller. Die Kartons stehen dort wie ein Mahnmal über geplatzte Träume und eine zerbrochene Freundschaft.

»Gibt’s den auch in Weiß?«, fragt Zeynab.

»Ja, in Weiß, Rot und Schwarz.«

»Dann will ich Weiß.«

Ich nicke und mache mir eine Notiz auf dem Handy. Zeynab, die sicher nicht die hellste Kerze auf der Torte ist, schnuppert in der Luft. Ihre mit schwarzem Kajal verstärkten Augenbrauen sehen aus wie zwei Raubvögel, die sich von oben auf ihre Beute stürzen.

»Wer hat hier Fisch gebraten? Ekelig!«

»Man sollte dreimal in der Woche Fisch essen für eine ausreichende Omega-3-Zufuhr«, sagt Carola. »Habt ihr Darm mit Charme gelesen? Saugutes Buch! Da werden einem wirklich die Augen geöffnet, was gut für den Körper ist und was nicht. Und wie man sich von verschiedenen Krankheiten erholen kann, indem man die Immunflora des Darms stärkt.«

Ihr Blick landet bei mir, als kannte sie bereits jedes Detail von Mårtens und meinem gestrigen Smoothiekonflikt. Bestimmt hat Mårten ihr auf der Fahrt zum Chor davon erzählt. Ich spüle den letzten Bissen meiner Pasta mit lauwarmem Kaffee hinunter.

»Bist du bereit, Evin?«

Evin nickt und stellt ihren Essensbehälter in die Spülmaschine. Als wir losgehen, fängt Carola wieder an Oh Happy Day zu summen.

»Kol khara«, sagt Zeynab. Evin kichert.

Ich fische den Autoschlüssel aus der Hosentasche. Der weiße Golf blinkt, startklar, uns nach Aspeboda zu fahren.

»Was heißt das?«, frage ich, als ich mich hinter dem Steuer installiert habe und Evin auf dem Beifahrersitz. Es riecht nach Plastik und Scheibenwischerflüssigkeit, ein Mix, der mir Kopfschmerzen bereitet.

»Friss Scheiße. Aber das weiß Carola vermutlich nicht.«

»Wohl kaum«, grinse ich und setze rückwärts aus der Parklücke.

Ich gähne. Das Fresskoma nach der Mittagspause kann ganz schön heftig sein.

»Könntest du vielleicht ein Stück fahren?«, frage ich.

Evin hebt die Hände in die Luft.

»Sorry. Kein Führerschein.«

Die Gemeinde stellt Pflegekräfte ohne Führerschein ein? Ich stelle die Lüftung auf kalt, um mich bis zum nächsten Patienten wach zu halten. Kol khara, murmele ich leise. Ein Fluch, der mir auf Anhieb gefällt.

Kapitel 3

Avalon

Mårten ist nicht da, als ich nach Hause komme. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel: Bin zu meinen Eltern gefahren.

Ich nutze die Gelegenheit für einen Besuch bei meiner kleinen Schwester. Fia wohnt mit ihren Lebenspartnerinnen Avalon und Jenny in einem gelben Backsteinhaus in Garpenberg. Bis vor drei Monaten hieß Avalon noch Nils, ehe er überraschend seinen Namen geändert hat. Ich hab nie verstanden, wieso das polyamouröse Trio ausgerechnet nach Garpenberg gezogen ist, zu den Bergarbeiterfamilien und einsamen Rentnern. Der Tratsch über die ungewöhnliche Familienkonstellation hatte es wahrscheinlich längst über die Stadtgrenze hinaus geschafft. Und gerade in kleineren Orten gibt es ja oft die unschöne Tendenz, die Dinge zu verzerren, bis irgendwann niemand mehr weiß, was wahr ist und was nicht. Aber das Wohnen ist dort billig.

Der Volvo kämpft sich die lange Steigung nach Garpenberg hoch. Jemand hat mit schwarzem Isolierband ziemlich treffend Gänsefüßchen um das »Zentrum« auf dem Hinweisschild geklebt, das nur noch mit einer Pizzeria aufwarten kann, nachdem der Lebensmittelladen zugemacht hat. Ich biege in eine Straße ein, die sich zwischen in der Dämmerung eingekuschelten Einfamilienhäusern vorbeischlängelt, vor denen in der Straßenbeleuchtung Ausschnitte von Familienleben in Form von Kinderrädern, Trampolinen und Bandytoren zu sehen sind. Im Hintergrund ist der Bergwerksee, aber der ist im Dunkeln nicht zu sehen.

In Fias Garage brennt Licht. Dort verbringt sie ihre Tage mit dem Reparieren kaputter Auspuffrohre oder dem Einbau neuer Schalldämpfer in Autos oder Motorräder. Sie tritt aus einer Seitentür ins Freie und bleibt im gelben Lichtkegel der Außenlampe stehen. Sie trägt das schwarz gefärbte Haar kurz und die Piercings an ihrem rechten Ohr scheinen sich seit unserem letzten Treffen vermehrt zu haben. Eine Wange schmückt ein Ölfleck, ihr drahtiger Körper steckt in einem weiten blauen Overall. Ist sie noch dünner geworden? Ich muss aufhören, ständig nach Zeichen Ausschau zu halten, wie es Fia geht, die Mama zu spielen. Aber während ihrer chaotischen Teenagerjahre habe ich mich so verdammt verantwortlich für sie gefühlt, dass ich es nur ganz schlecht ablegen kann.

Fia wischt sich die Hände an einem Lappen ab.

»Sis! Du hier?«

Ich steige auf einen mit Sand bestreuten Eisfleck aus dem Auto und nehme sie in den Arm. Ihre Wirbelsäule fühlt sich hart an auf meinen Unterarmen.

»Ich brauchte mal Tapetenwechsel.«

»Ist was passiert?«

Ich blähe die Backen auf und puste die Luft langsam wieder aus. Jetzt ist nicht Fia das Sorgenkind, sondern ich.

»Ich hab zu Mårten gesagt, dass ich eine Auszeit brauche.«

»Holy shit. Ich setz Kaffee auf. Avalon ist leider nicht zu Hause.«

Bedauerlich, die Chance auf einen Vortrag über Drachen und Dämonen zu verpassen von einem 39-Jährigen in zu engen Hosen und dem Tattoo eines schuppigen Orks am Hals.

»Aber Jenny ist da«, sagt Fia und geht zum Haus.

Ihr Garten sieht ungefähr so aus wie unserer um diese Jahreszeit, eine traurige Mischung aus Schlamm, Schneeresten und kahlen Büschen, die das Gefühl vermitteln, dass es nie mehr Frühling wird.

Jenny, die immer gute Laune zu haben scheint, strahlt uns an, als wir in den Flur kommen. Eine schwarze Katze, deren Namen ich mir einfach nicht merken kann, streckt sich und springt vom Fensterbrett.

»Hallo, Annie! Wie ist das Leben?«

Jenny, die auf die Waldorfschule gegangen ist, überspringt galant den Small Talk und steigt direkt auf die Gefühls- und Erlebnisebene ein. Sie trägt eine Latzhose mit aufgenähtem Herzflicken auf dem linken Knie und hat sich einen bunten Schal ums Haar gebunden. Als Handarbeitslehrerin bringt Jenny das halbe Haushaltseinkommen heim. Für die andere Hälfte steht Fia. Als Fia sich aus ihrem Overall schält, sieht sie weder dünner noch dicker aus als sonst. Dann geht es ihr offensichtlich gut.

»Und wo steckt Avalon?«, frage ich, um nicht auf die Frage antworten zu müssen, wie es mir geht. »Hat er endlich einen Job gefunden?«

»Er macht einen Silberschmiedekurs in Hedemora«, sagt Fia. »Das hier hat er selbst geschmiedet.«

Sie dreht an einem Ring und mein Herz beginnt schneller zu schlagen, bis ich sehe, dass er am kleinen und nicht am Ringfinger sitzt. Die Verlobung von meiner Schwester und Avalon wäre in meinem momentanen Zustand nur schwer zu verarbeiten.

Jenny streckt ihre Hand aus und zeigt einen genauso individuellen Silberring an ihrem Daumen.

»Schön«, sage ich und versuche, einigermaßen überzeugend auszusehen. Ich drehe meinen Ehering am Ringfinger, wie immer, wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll. Legt man den Ring während einer Auszeit ab? Wenn Mårten und ich das tatsächlich machen sollten. Das fühlt sich alles so unwirklich an.

»Wir wollten gerade Pizza bestellen«, sagt Jenny. »Magst du auch eine?«

»O Gott, gerne. Mårten foltert mich mit seinen Smoothies.«

»Wir haben auch Rotwein.«

Ich will gerade abwinken, weil ich morgen arbeiten muss, aber dann fällt mir ein, dass ich ja am Mittwoch freihabe.

»Kann ich auf euerm Sofa übernachten?«

Fia streckt den Daumen hoch.

»Das weißt du doch.«

Zwei Stunden später liegt mir die Pizza schwer im Magen. Avalon ist von seinem Kurs nach Hause gekommen und führt uns den Embryo vor, der, wie ich vermute, ein Kerzenständer sein soll. Ich habe es mir auf dem weichen Cordsofa gemütlich gemacht und nippe an meinem Wein. Avalons Stimme klingt ein bisschen wattig, weit weg, obwohl er am anderen Ende des Sofas sitzt. Sein dickes rotes Haar wippt auf seinem Kopf und das Leinenhemd schlägt Wellen, als er über dem Couchtisch gestikuliert. Die Mädels sitzen aneinandergekuschelt in der Mitte und lauschen interessiert. Wie halten die das bloß aus?

»O Gott, ich bin meinen Job auch so leid«, sage ich und stelle das Weinglas so energisch auf dem Tisch ab, dass es überschwappt. Die roten Flecken werden augenblicklich von dem dunklen Holz aufgesogen, weshalb ich mir nicht die Mühe mache, einen Lappen zu holen.

»Ich bin noch nicht fertig, Annie«, sagt Avalon. Er hält die Unterseite des Kerzenständers ins Licht und zeigt uns eine Art Signatur.

»Ist der fertig?«, frage ich.

»Wie meinst du das?«

»Was ist das?«

»Wie – was ist das?«

»Na ja, was soll das darstellen?«

Avalon legt die Stirn in Falten.

»Darauf antworte ich dir, wenn du wieder nüchtern bist.«

Er verlässt den Raum mit seinem Silberembryo in der Hand. Das Knarren der Treppe in die obere Etage ist zu hören. Jenny steht auf und geht hinter ihm her.

»Ist er jetzt eingeschnappt?«

Fia zuckt mit den Schultern.

»Er ist sehr empfindlich, was seine Kunst angeht.«

Kunst? Ich muss mir auf die Unterlippe beißen, um nicht zu lachen, aber als ich zu meiner Schwester schaue, sehe ich ihr Grinsen.

»Er wird drüber wegkommen«, sagt sie. »Aber was willst du stattdessen machen? Wenn du deinen Job so leid bist? Und Mårten.«

»Ich kann genau genommen nichts anderes als mobile Altenpflege und Bus fahren. Aber ich glaube nicht, dass ich den Nerv habe, wieder als Busfahrerin zu arbeiten, das war ein ziemlicher Druck und so öde, fünfmal am Tag die gleiche Strecke zu fahren. Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht, was ich will.«

»Mmh. Aber wenn ihr euch scheiden lasst, nimmst du auf alle Fälle deinen Mädchennamen wieder an, oder?«

Wir haben bei unserer Hochzeit Mårtens Familiennamen Grefling angenommen, weil ich ihn interessanter als Andersson fand.

»Ich glaube nicht, dass wir uns scheiden lassen. Das ist bestimmt nur eine vorübergehende Flaute. Ich weiß nicht genau, was mit mir ist, und ich weiß, dass ich wie ein Teenager klinge.«

Meine Schwester dreht an ihrem Ohrring wie ich an meinem Ehering.

»Könnte das vielleicht daran liegen, dass du nie ein richtiger Teenager warst?«

Vielleicht liegt es am ungewohnten Weinkonsum oder daran, dass ich nie in solchen Bahnen gedacht habe. Aber Fia hat recht und jetzt kommen mir wirklich gleich die Tränen. Ich war nicht wie die anderen Teenager, war keine Rebellin und hab nicht im Folkets Park mit meinen Freunden gesoffen. Ich bin nie von zu Hause abgehauen. Und ich erinnere mich nicht, dass ich jemals eine einzige Tür so geknallt habe wie Simon dreimal täglich, bevor er in sein Snowboard-Gymnasium in Malung gezogen ist. Stattdessen saß ich mit Fia auf der Rückbank im Auto und hab über Kopfhörer Musik gehört, während wir gewartet haben, dass Mama und Papa aus dem Krankenhaus kamen. Ich habe meine Wange an die kalte Seitenscheibe gedrückt und in den Dunst auf dem Glas geschrieben: Mama muss gesund werden. Und danach habe ich mich dann um Fia gekümmert. Ich habe mich für sie verantwortlich gefühlt, wenn sie mal wieder unterwegs war und nicht nach Hause kam.

»Ich weiß«, sagt Fia und rückt näher an mich heran, legt den Kopf an meine Schulter und tätschelt meinen Oberschenkel. »Das macht mich jedes Mal ganz traurig, wenn ich daran denke.«

»Hm.« Ich ziehe die Nase hoch.

»Aber du bist wieder gesund. Und du hast jede Menge Möglichkeiten.«

»Wenn ich nur nicht so müde wäre.«

»Ich hole dein Bettzeug.«

Fia versteht nicht, dass ich nicht müde im Sinne von Schlafmangel meine, sondern die andere, größere Müdigkeit. Den Hirnnebel, die zähen Stunden bei der Arbeit, der Körper, der sich einfach nur zusammenrollen und ausruhen will. Die muckelnde Hüfte. Die Nebenwirkungen der Medikamente. Aber damit will ich sie nicht belasten, sie und alle anderen Familienmitglieder hatten es schon so schwer genug, als ich krank war. Sie haben es verdient, bestätigt zu bekommen, dass jetzt alles wieder gut ist.

Ich nehme dankbar Laken, Kissen und Decke entgegen und richte mir mein Lager auf dem Sofa. Sie wuschelt mir durchs Haar, als wäre ich die Jüngere von uns beiden. Statt einzuschlafen, liege ich im bleichen Schein des Mondes und lausche auf das Knarren und Knacken im Haus.

Als ich die Katze maunzen höre, stehe ich auf, um sie hereinzulassen. Als ich die Tür öffne und mir ein Luchs mit ausgestreckten Krallen entgegenspringt, wird mir klar, dass ich wohl doch kurz eingeschlafen bin.

Kapitel 4

Geteilte Touren

Vor zehn Jahren, als ich beim Heimpflegedienst angefangen habe, haben wir noch Konsumenten gesagt. Heute heißen sie Kunden. Unser zweiter Kunde an diesem Tag hat Stapel verstaubter Pornozeitschriften auf dem Flur liegen und seine Küche sieht aus, als wäre hier seit den Achtzigern nicht mehr geputzt worden. Er heißt Valle Nilsson und ich fahre seit ein paar Jahren mehrmals die Woche zu ihm raus. Bei jedem Besuch wirkt das Haus verwahrloster, die Katze erledigt ihr Geschäft auf dem Linoleumboden, die dunklen Flecken an der Küchentapete breiten sich aus und auf dem Fensterbrett sammeln sich die Fliegenleichen. In der Kammer neben der Küche stehen ein Bett und ein Nachttopf. In der Küche stinkt es nach Urin und gebratener Fleischwurst. Trotzdem gehört Valle zu meinen Lieblingen.

»Sie wissen schon, dass die Gemeinde Ihnen eine Putzhilfe bezahlt?«, sage ich zum zigsten Mal, während ich die Portionsboxen in den grünen Kühlschrank stelle zu dem einsamen Glas Mayonnaise und einer Dose Snus. »Sie müssen nur was sagen und schon kommt die Putzkolonne.«

»Ach was.«

Valle stellt seine Kaffeetasse auf das Wachstuch auf dem Küchentisch, das von braunen Kaffeeringen übersät ist.

Er hat buschige Augenbrauen und aus seinen Ohren und dem Halsausschnitt des Strickpullovers ragen graue Haare. Seine grünen Augen funkeln, als ob er gerade etwas ausheckt. Valle war früher Waldarbeiter und lebt allein, seit seine Frau vor vielen Jahren gestorben ist.

Zeynab zieht beide Augenbrauen hoch, als sie die Küche betritt. Sie ist zum ersten Mal bei Valle, er gehört eigentlich nicht zu ihrer Route, aber heute musste sie bei mir einspringen. Sie wühlt in ihrer Tasche und steckt sich diskret einen Plastiknasenstöpsel gegen den Gestank in die Nase. Ich vertrage den Pfefferminzduft nicht und benutze ihn deswegen nie. Irgendwann gewöhnt man sich an alles.

»Aha«, sagt sie mit einem Blick auf das Handy. »Metoject, 15 Milligramm. Nehmen Sie das schon lange?«

Valle hört sie nicht. Er schlürft einen Schluck Kaffee und schaut aus dem Fenster.

»Ja, bald ist Walpurgis«, sagt er und kratzt sich im Ohr. »Mal sehen, was sie in diesem Jahr abfackeln.«

»Ja, er kriegt schon lange Metoject«, antworte ich an seiner Stelle. »Gegen seine Psoriasis-Arthritis.«

Ich setze mich neben Valle und nehme die Spritze, die Zeynab mir reicht.

»Ein Schlückchen Kaffee?«, fragt er.

»Nein danke, alles gut. Wollen wir die Spritze hinter uns bringen?«

Eigentlich habe ich einen richtigen Japp auf Kaffee, aber ich bezweifle, dass es irgendwo eine saubere Tasse gibt. Valle zieht den Pullover hoch und ich tupfe mit einer Kompresse seinen behaarten Bauch ab, presse eine dünne Hautfalte zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und injiziere sein Medikament. Das Ganze dauert wenige Sekunden.

»Wollen wir eine Schwester bitten, vorbeizukommen und sich Ihre Ohren und die Kopfhaut anzusehen?«

»Ach was.«

»Falls es juckt.«

»Die Salbe, die ich gekriegt hab, hilft gut.«

Zeynab bückt sich, um die Katzenscheiße vom Boden wegzumachen. Sie befeuchtet ein Blatt Haushaltspapier und rubbelt auf dem Läufer. Das Putzen gehört nicht zu unseren Aufgaben, solche Sachen müssen heutzutage alle extra beantragt werden. Zeynab verschwindet auf der Toilette. Gleich darauf ist das Rauschen des Wasserhahns zu hören.

»Und wie geht’s sonst so?«, frage ich. »Wollen Sie einen Spaziergang machen?«

Draußen gießt es. Valle schüttelt den Kopf.

»Mein Bruder hatte Neurodermitis am ganzen Körper. Das war die Hölle für ihn.«

»Ja, das muss anstrengend sein«, sage ich.

»Zu der Zeit gab es noch keine Salben. Unsere Mutter hat alles mit Kernseife gewaschen.«

Er lacht und wirkt plötzlich abwesend.

»Haben Sie noch genügend Katzenfutter?«

»Sie ist so verschmust, die Mieze. Rollt sich neben meinem Kissen zusammen und schnurrt wie ein Motor.«

Er wischt mit der einen Hand durch die Luft, ein Lächeln schleicht sich in seine Mundwinkel.

»Katzen sind eine nette Gesellschaft«, sage ich.

»Sie fängt auch Mäuse. Und legt sie angefressen draußen auf die Treppe.«

»Kommen Sie überhaupt mal raus an die frische Luft? Wenn das nächste Mal besseres Wetter ist, können wir einen Spaziergang machen.«

»Klar komm ich an die Luft. Wenn ich die Zeitung reinhole.«

Ich schiele auf meine Armbanduhr. Wir müssen bald weiter.

»Und mit den Portionsboxen, das klappt gut?«

»Sagen Sie denen in der Küche, dass sie mal wieder Kartoffelpuffer machen sollen. Die vermiss ich. Kartoffelpuffer. Mit Speck und Preiselbeeren.«

»Das geb ich weiter. Dann bedank ich mich für die Plauderstunde. Wir nehmen den Müll mit raus.«

Ich tätschele Valles Hand und stehe auf, um den Müllbeutel zuzuknoten.

»Ach ja, wie wahr, wie wahr«, sagt er und kratzt sich am Kopf. Hautschuppen rieseln herunter, die Schuppenflechte scheint alles andere als besser zu sein. Ich muss dran denken, der Schwester Bescheid zu geben, dass sie die Tage mal bei ihm vorbeischaut.

»Da liegen ein paar Flirt-Magazine im Flur«, redet Valle weiter. »Wenn ihr die ins Altpapier schmeißen könntet. Die liegen doch nur da rum und verstauben.«

Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht loszulachen.

»Na klar, machen wir. Dann machen Sie’s mal gut.«

Die Toilettentür ist angelehnt, es duftet zitronig. Zeynab hat den Boden gewischt und den Toilettenstuhl und das Waschgestell geputzt.

»Wir müssen weiter. Er hat uns gebeten, die Zeitschriften zu entsorgen.«

Sie wirft einen Blick auf die Pornostapel und schüttelt empört den Kopf, ehe sie einen Stapel aufhebt.

»Danke schön und auf Wiedersehen!«, ruft sie in die Küche.

»Danke, danke.«

Wir gehen raus auf den Hofplatz, auf dem zwischen Reifenstapeln und Brennholzhaufen alle möglichen verrosteten Maschinen durcheinanderstehen. Ein gelber Bagger, ein alter, Öl leckender Straßenhobel und ein echt antiker Schatz, ein Ferguson-Grålle-Traktor. Hinterm Haus steht eine große Maschinenhalle, die, nehme ich mal an, mit noch mehr Plunder gefüllt ist. Valle hat erzählt, dass er zu mobileren Zeiten ein wahrer Schnäppchenjäger war auf den umliegenden Maschinenauktionen. Ich bin etwas skeptisch, was den Recyclingwert der Sachen angeht, die er angeschleppt hat, aber wenn es ihn glücklich macht, seine Schätze durchs Küchenfenster anzusehen …

Zeynab wirft den Müllbeutel und den Karton mit den Pornozeitschriften in die Restmülltonne.

»Ein unangenehmer alter Kerl«, sagt sie.

»Valle ist echt nett, wenn auch etwas verlottert. Apropos, wir sind nicht fürs Putzen zuständig, damit du’s weißt. Nur für die Essensboxen, Medikamente und ein bisschen Unterhaltung.«

»Da muss aber dringend sauber gemacht werden. Wir müssen die Putzkolonne anrufen.«

»Du weißt, wie das mit den Extras ist«, sage ich und fülle das Fahrtenbuch aus.

»Ihr habt einen Ausdruck im Schwedischen: gesunder Menschenverstand. Aber die Schweden haben keinen gesunden Menschenverstand. Jeder Mensch mit gesundem Menschenverstand würde sehen, dass in dem Haus geputzt werden muss.«

Wir steigen ins Auto und fahren weiter zum nächsten Kunden.

»Wir sprechen am besten mal mit Johanna«, schlage ich vor.

Unsere Chefin Johanna räumt sich selber gerne »Freiräume« für irgendwelche Extras ein und lässt dann von der AB-Stimme ihres Arbeitshandys mitteilen, dass sie gerade in einer Sitzung und leider »gerade nicht erreichbar« ist. Ich will schon seit Wochen mit ihr über meinen Zeitplan mit ihr sprechen, aber wir sind nie gleichzeitig im Büro.

»Teilst du dir deine Touren auch mit jemandem?«, frage ich.

»Nein. Ich mach Vollzeit.«

Zeynab klebt dem Auto vor uns fast auf der Stoßstange. Die Scheibenwischer quietschen auf höchster Stufe. In einer Kurve ohne Sicht überholt sie. Nach dem nächsten Stopp setze ich mich wohl besser wieder ans Steuer.

»Vollzeit ist gut. Du musst auch Vollzeit machen«, sagt Zeynab.

»Ich war doch krank. Erst mal werde ich noch weiter Teilzeit arbeiten. Selbst damit bin ich immer völlig erschlagen nach der Arbeit.«

»Geteilte Touren sind nicht gut.«

Zwischendurch ist Zeynabs Schwarz-Weiß-Denken richtig erfrischend. Dinge sind gut, schlecht, eklig oder schön, Punkt. Aber heute nervt es mich eher, dass es nicht möglich ist, ein vernünftiges Gespräch mit ihr zu führen.

»Schon wahr, das ist anstrengend, aber Johanna meint, der Terminplan gäbe halt nichts anderes her.«

Zeynab atmet hörbar aus.

»Johanna ist keine gute Chefin.«

»Obwohl ich verstehen kann, dass das nicht ganz einfach ist, so einen Plan zu erstellen.«

»Mach stattdessen einen Laden auf. Verkauf Unterwäsche.«

Ich habe keinen Nerv, darauf einzugehen, und schaue aus dem Seitenfenster. Der Regen hängt wie ein Vorhang vor dem Industriegebiet, an dem wir gerade vorbeifahren. Das erspart einem wenigstens den Anblick des trist grauen, Rauchwolken ausstoßenden Heizwerks.

»Das ist ein gutes Geschäft«, fährt Zeynab fort.

»Danke für den Tipp, aber das ist grad nicht aktuell.«

Sie tritt aufs Gas und zieht an einem Lkw vorbei, ich klammere mich fester an den Handgriff über dem Fenster, wie Papa es immer gemacht hat, wenn Mama gefahren ist. Da war sie jünger als ich jetzt, hat sich aber wie eine Rentnerin gekleidet in blumengemusterte Blusen mit Schulterpolstern und Röcke, die über der halben Wade endeten. Und immer Rouge auf den Wangen, um frisch auszusehen. Und das Gas bis zum Anschlag durchgetreten.

Uns kommt ein Kleinbus entgegen. Zeynab schert knapp vor dem Lkw ein, der wild Lichthupe gibt.

»Könntest du etwas vorsichtiger fahren? Wir wären um ein Haar mit dem Bus zusammengestoßen.«

»Mein Bruder hat in Libanon ein Modegeschäft. Das läuft super. Er verdient viel Geld. Und du bist nicht glücklich. Ich sehe das. Seit du krank geworden bist, hast du nicht mehr gelacht.«

»Hör schon auf«, murmele ich.

Glücklicherweise sehe ich in dem Moment das weiße Eternithaus von Molly Hansson. Ich sage nichts, als wir in der Auffahrt parken, und nehme die Essensboxen aus dem Kofferraum. Zeynab erzählt gerade von ihrem siebten Sinn, der ihr mütterlicherseits aus der Familie weitervererbt wurde. Darum kann sie auch sehen, was ich brauche. Ich schalte mental ab, speichere ihre Stimme als Hintergrundgeplänkel aus dem Radio ab. Wir nehmen die Essensboxen und den Medikamentenkoffer mit und klingeln an Mollys Tür. Es dauert eine Weile, bis sie uns, gestützt auf einen Rollator, aufmacht.

»Da seid ihr ja, meine Süßen.«

Ich finde es immer wieder amüsant, in meinem Alter als süß betitelt zu werden. Im Haus riecht es frisch geputzt und in den Fenstern leuchten blaue Hortensien.

Kapitel 5

Birneneis

Mårten macht Beef Rydberg. Der Duft von gebratenen Zwiebeln und Kartoffeln hängt schwer im Flur. Ich ziehe die Schuhe aus und gehe in die Küche. Meine Arbeitskleidung fühlt sich schmuddelig an, auf der Hose prangt ein eingetrockneter Breifleck.

»Hallo.«

Mårten dreht sich um. Er hat eine rot-weiß karierte Schürze umgebunden, die ich ihm zum letzten Weihnachtsfest geschenkt habe, zusammen mit einem japanischen Messerset. Sein Gesicht glänzt von der Herdwärme.

»Da bist du ja.«

Er klingt zufrieden, als hätte er eine verlorene Socke wiedergefunden oder als wäre ihm grad eingefallen, wo er seine Lesebrille verlegt hat.

»Du bist gestern spät nach Hause gekommen«, sage ich.

»Chortreffen. Wir singen doch an Walborg unser Feuerwerkskonzert. Du bist doch dabei, oder?«

Im letzten Jahr habe ich gefroren wie ein Schneider, trotz dicker Daunenjacke, während die Raketen vor dem dunklen Himmel explodiert sind. Außerdem hatte ich Durchfall nach einer Zytostatikatherapie und musste alle naselang auf ein versifftes Dixiklo am Flussufer rennen, während Carolas glockenhelle Stimme durch den Frühlingsabend hallte.

Mårten wendet die gewürfelten Kartoffeln in der Pfanne und dreht die Temperatur runter. Aus dem Augenwinkel sehe ich den Küchentisch.

»Hast du für drei gedeckt?«

»Simon ist zu Hause. Er ist unten in seinem Zimmer.«

»Was macht er denn hier?«

»Er hat morgen frei wegen Studientag.«

Mårten zeigt mit einem Nicken auf den Familienkalender am Kühlschrank. Meine Kehle schnürt sich zusammen. Warum habe ich keinen Überblick über Simons Studientage? Und wieder einmal habe ich dieses Gefühl, zu versagen und wichtige Dinge zu verpassen.

Simon soll mich auf keinen Fall so fertig von der Arbeit sehen. Ich springe unter die Dusche und suche mir ein Kleid aus dem Schrank. Fahre mir mit den Fingern durch die Haare und wünsche mir, sie wären etwas länger. Ein bisschen mehr wie früher. Schließlich gehe ich runter in die Küche.

»Hallo, Schatz.«

Ich beuge mich vor und lege die Arme um Simons Hals, meine Wange an seiner. Zuerst stemmt er sich ein bisschen dagegen, entspannt sich aber schnell. Das halblange Haar ist blond gefärbt, flachsgelb, und sein Hals riecht scharf nach einem schweren Duft.

»Hast du meine alten Videospiele gespielt?«

Ich setze mich und Mårten stellt das Essen auf den Tisch.

»Ja, zwischendurch mal. Hab ich irgendwas falsch wieder einsortiert?«

»Nö.«

»Was? Hab ich was falsch gemacht?«

»Hast du es echt aufs nächste Level von Ratchet & Clank geschafft?«

»Ja.«

Simon sieht mich von der Seite an.

»Es geht bergauf. Bei meinem letzten Besuch bist du noch auf dem Grundlevel rumgeeiert.«

Ich lache und drücke seine Schulter.

»Und wie geht’s dir? Wie läuft es mit Mathe? Hast du Wäsche mitgebracht? Ich kann gleich eine Maschine anwerfen.«

»Hat Papa schon gemacht.«

»Flotte Frisur. Die Farbe gefällt mir. Haben du und deine Kumpels das selbst gemacht?«

Er schiebt sich einen Bissen in den Mund, und es sieht fast so aus, als ob er einen Blick mit Mårten tauscht. Aber vielleicht bilde ich mir das auch bloß ein. Simon ist zwar viel selbstständiger geworden, seit er in das Schülerwohnheim vom Snowboardgymnasium gezogen ist, aber ich bin ihm zwischendurch immer noch grottenpeinlich. Das ist wohl ein Naturgesetz, so wie Äpfel nach unten fallen, oder die SMS, dass man ein Paket abholen kann, erst dann kommt, wenn man wieder zu Hause ist.

»Und, ein paar neue Sprünge geschafft?«, fragt Mårten und tupft sich den Mund mit einer Serviette ab. »Fails, oder wie das heißt.«

»Du meinst fakies?«

»Na das, wovon du das Video geschickt hast.«

»Das war ein Boardslide to fakie.«

»Aha.«

Ich sehe Mårten an, dass er auch nur Bahnhof versteht. Schön, dass ich nicht alleine abgehängt bin.

»Natalie hat sich beim Boardslide einen Zahn abgebrochen«, erzählt Simon weiter und tippt mit dem Messer auf den Tellerrand. »Ist blöd hängen geblieben und hat sich das eigene Knie reingehauen.«

»Oje, musste sie ins Krankenhaus?«

»Ach was, sie ist hart im Nehmen.«

»Aber wenn du dich verletzt, fährst du in die Notaufnahme, versprochen?«

Simon starrt auf seinen Teller, ohne zu antworten. Mein Mutterherz schlägt sofort schneller. Ist irgendwas passiert, wovon er nichts erzählt hat? Ich streichele ihm über den Arm, aber er zieht ihn weg.

»Alles in Ordnung, Simon? Du hast dich doch nicht auch verletzt?«

Er schiebt ein Stück Fleisch vor der Gabel her. Die Fleischwürfel von Mårtens Beef Rydberg sind alle exakt gleich groß.

»Du weißt, dass du über alles mit uns reden kannst«, sagt Mårten.

Simon fingert an der Tischplatte.

»Es ist nur … Ich glaub, ich hab keine Lust mehr auf Snowboard.«

Mein Handy klingelt draußen im Flur, aber ich lass es klingeln.

»Okay …«, sagt Mårten zögernd.

»Also, ich hab gedacht … Vielleicht könnte ich ja wieder hier zur Schule gehen.«

Will Simon zurück nach Hause? Ich beherrsche mich, ihn nicht mit einer neuen Umarmung zu überfallen. Es war furchtbar, als er ins Sportinternat gezogen ist, viel zu früh, wie ich fand. Jetzt wird es vielleicht wieder wie früher, mit einem schlecht gelaunten Teenager am Frühstückstisch, zehn Litern Milch, die jeden Tag nach Hause geschleppt werden wollen und Krümeln überall. Wir können die ganze verlorene Zeit nachholen, zusammen Serien auf dem Sofa gucken und wieder eine Familie sein. Es ist, als würde mir ein dicker Stein vom Herzen fallen. Mårten geht das Ganze natürlich von der praktischen Seite an.

»Da müssen wir erst mal schauen, was der Vertrag mit dem Schülerwohnheim sagt. Und danach rufen wir hier in der Schule an, ob die überhaupt einen Platz freihaben? Herbst ist wahrscheinlich eine gute Zeit zum Wechseln, oder?«

»Ich würde gern direkt zurückkommen.«

Ich lächele ihn aufmunternd an.

»Kein Problem, Schatz. Ich räume dein Zimmer im Keller aus, damit du Platz hast.«

Das Handy klingelt wieder. Scheint wohl doch was Wichtiges zu sein. Ich gehe raus. Johanna, steht auf dem Display. Sie weiß doch, dass ich Feierabend habe.

»Hallo!«, sagt Johanna. »Wie geht’s?«

»Gut. Ich hab dir aber schon gesagt, dass ich keine Extraschicht übernehmen kann, oder?«

»Ich habe traurige Nachrichten. Ich dachte, ich informiere dich so schnell wie möglich, da du ja eine besondere Beziehung zu Valle hast.«

»Ist was passiert? Ist er gestürzt?«

»Valle ist tot, Annie. Sein Herz ist heute Nachmittag stehen geblieben. Ein Nachbar hat ihn auf dem Küchenboden gefunden.«

Tot? Das kann doch nicht sein. Er war doch noch gut beieinander, als wir bei ihm waren. Ich gehe seine Medikamente im Kopf durch. Ich habe ihm doch nicht etwa eine falsche Tablette gegeben?

»Das Herz?«

»Ja, das ist ja nicht ungewöhnlich bei unseren älteren Semestern. Todesfälle gehören zu unserem Job dazu, aber es ist doch jedes Mal wieder traurig«, sagt Johanna in einem Ton, als ob sie von einem Formular abliest.

Ich schlucke.

»Okay. Danke, dass du angerufen hast.«

»Das bedeutet eine Planänderung für dich, aber das besprechen wir morgen.«

»Danke. Mach’s gut.«

»Tschüs auch.«

Ich schluchze kurz, sehe Valles zugekniffene blaue Augen vor mir. Ich hätte den Kaffee nicht ablehnen sollen, seinen letzten Kaffee in Gesellschaft. Hat er gespürt, was ihm bevorsteht, weil er Zeynab und mich gebeten hat, die Pornozeitschriften zu entsorgen? In solchen Momenten hasse ich den bürokratischen Kleingeist des Heimpflegedienstes, die Uhrzeiten und Abläufe, die den menschlichen Schicksalen übergestülpt werden. Eine Terminplanänderung, das ist alles, so schnell fliegt ein Mensch für immer aus dem System.

Was wohl mit der Katze passiert? Ich habe keine Ahnung, ob Valle Kinder hat. Hat er nicht mal eine Tochter erwähnt? Ich wische die Tränen ab und gehe zurück in die Küche. Als ich Mårten und Simon mit leisen Stimmen reden hören, bleibe ich am Türrahmen stehen.

»Aber sie weint nicht mehr die ganze Zeit, oder?«, fragt Simon.

»Es geht ihr tatsächlich besser. Sie hat ihre Phasen, aber …«

»Gut, das ertrag ich nämlich nicht. Nicht so, wie es vorher war.«

Seine Worte landen wie Eiszapfen in meinem Magen. Ist Simon meinetwegen ausgezogen? Weil es ihm zu Hause zu anstrengend war, als ich krank war? Hat er sich vielleicht nie für Snowboard interessiert? Hat er das Training nur gemacht, um von zu Hause wegzukommen? Ich habe seine Jugend zerstört.

Ich verziehe mich auf die Toilette und heule, bis ich zittere. Mama hat nie geweint, als sie krank war. Zumindest habe ich sie kein einziges Mal weinen hören. Sie hat jeden Abend für uns gekocht, Fleischwurst mit Makkaroni, Kabeljau mit Eisoße, Ren-Döner, Frikadellen. Echte Hausmannskost. Wie hat sie das unter einen Hut gebracht, Arbeit, Zellgift und Familie und dabei so ausgeglichen gewirkt? Mama ist nie zusammengebrochen.

Und das will ich auch nicht mehr. Jetzt muss endlich Schluss sein mit dem Selbstmitleid. Ich muss mich für Simon zusammenreißen. Es ist überstanden, ich bin wieder gesund. Ich muss nur noch mein Gehirn dazu bringen, das zu begreifen. Ich bekomme die Schluchzer in den Griff und spritze mir kaltes Wasser ins Gesicht.

Die Ringe unter meinen Augen sehen aus wie aufgequollene Teebeutel. In einem Schrankfach finde ich einen Concealer, mit dem ich die gröbsten Lackschäden zu überschminken versuche. Ich kämme mir mit den Fingern durchs Haar, atme tief aus und gehe mit einem Lächeln auf den Lippen in die Küche.

»Na, wie wär’s mit einem Eis zum Nachtisch? Ich glaube, wir haben Vanille und Birne im Kühlfach.«

Kapitel 6

Der Bus

Am Samstag befreie ich mein Rad aus der hintersten Ecke der Garage, pumpe die Reifen auf und radele los. Es bläst der übliche Aprilwind, aber glücklicherweise habe ich ihn im Rücken. Ich fahre an Nachbarn vorbei, die ihre Bäume beschneiden, Reifen wechseln und ihre Auffahrten kärchern. Ich winke und fahre weiter. Meine Jacke raschelt im Wind.

Der Gedanke an Valles Katze lässt mich nicht los. Heute Nacht habe ich geträumt, dass sie maunzend bei uns vorm Haus steht, völlig ausgehungert und durstig. Bis zu Valles Haus sind es nicht mehr als sechs, sieben Kilometer, also habe ich beschlossen nachzuschauen. Vielleicht gelingt es mir, sie einzufangen und im Tierheim anzurufen.

Auf dem Weg zum Källviksvägen fahre ich bei Åsa vorbei. Sie wohnt mit ihren Kindern in einem braunen Backsteinhaus, in dem sie nach der Scheidung vor vier Jahren geblieben ist. Sie haben eine Doppelgarage und praktischerweise eine Tannenhecke auf der Vorderseite.

Ich strampele eilig vorbei und werfe einen verstohlenen Blick in die Auffahrt. Ein rosa Auto steht dort, aber es ist kein Mensch zu sehen. Auf der Heckklappe des Autos steht in Schnörkellettern der Firmenname Åsa Care und zum tausendsten Mal brodelt die Enttäuschung in mir hoch.

Wir hatten große Pläne mit unserem Dessous-Lädchen. Sogar einen Namen hatten wir schon: Wunderbar in Form. Die Idee kam von mir, ich hatte den Heimpflegedienst schon da gründlich satt und hatte ein Coaching in der Kunst, den passenden BH für jede Figur zu finden, bei einem Zwischenhändler absolviert. Simon wurde langsam flügge, höchste Zeit also, die Flügel auszubreiten. Und so habe ich mich mit Åsa zusammengetan, die anfangs noch sehr skeptisch war, sich dann aber von mir hat überzeugen lassen. Ich habe die Ware nach Hause bestellt und wir haben uns nach einem Ladenlokal umgesehen. Das war alles so aufregend und spannend, wie frisch verliebt zu sein.

Und dann bin ich krank geworden. Und Åsa meinte, wir bräuchten eine Freundinnenpause, wie sie es nannte. Das klang verdächtig wie von der Ratgeberseite der Amelia abgeguckt.

»Ich fühle mich inzwischen mehr wie deine Therapeutin als wie deine beste Freundin, Annie. Ich denke, uns beiden würde eine Pause guttun.«

Danach dauerte es gar nicht lange, bis sie in unserem Ladenlokal einen ambulanten Pflegedienst eröffnet hat. Sie schafft es immer mal wieder in unsere Zeitung, es läuft also offensichtlich gut für Åsa Care. Ohne eine kranke Freundin, die die Karriere ausbremst.

Ich fahre zügig auf den Slalomhügel zu und biege links auf einen schmaleren Weg ab. Meine Oberschenkel brennen wie Feuer, ich bin schon ewig nicht mehr Rad gefahren. Nach ein paar Kilometern Strampelei rolle ich in die Unterführung unter der gut befahrenen Fernstraße und komme in Valles Dorf wieder raus. Am Waldrand verstreut liegen ein paar Höfe und auf dem Acker davor stehen Kraniche. Erschöpft und durstig kämpfe ich mich die nächste Steigung hinauf und stelle das Rad an dem roten Holzzaun ab. Auf dem Hofplatz steht ein blauer Golf mit dänischem Kennzeichen.