Eine kurze Begegnung - Emily Itami - E-Book

Eine kurze Begegnung E-Book

Emily Itami

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Beschreibung

Mizuki hat alles, das perfekte Leben: Zwei gelungene und geliebte Kinder, einen erfolgreichen Ehemann, ein schönes Apartment in Tokio. Ihre Karriereträume hat sie aufgegeben, um das Leben einer guten Hausfrau und Mutter zu führen. Was darin nicht vorgesehen war: Der Ehemann ignoriert sie, die Kinder gleichen manchmal kleinen Psychopathen und die größtmögliche Freiheit ist ein Abend mit Freundinnen. Erst in der Begegnung mit einem inspirierenden, charmanten jungen Mann entdeckt sie gleichberechtigte Freundschaft, ihre Freiheit und ihre Stimme wieder. Mizuki hat nur ein Leben und muss sich doch zwischen zwei entscheiden – zwischen familiärer Verantwortung und den eigenen Bedürfnissen.

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ZUM BUCH

Mizuki hat alles, das perfekte Leben: Zwei gelungene und geliebte Kinder, einen erfolgreichen Ehemann, ein schönes Appartement in Tokio. Ihre Karriereträume hat sie aufgegeben, um das Leben einer guten Hausfrau und Mutter zu führen. Was darin nicht vorgesehen war: Der Ehemann ignoriert sie, die Kinder gleichen manchmal kleinen Psychopathen und die größtmögliche Freiheit ist ein Abend mit Freundinnen. Erst in der Begegnung mit einem inspirierenden, charmanten jungen Mann entdeckt sie gleichberechtigte Freundschaft, ihre Freiheit und ihre Stimme wieder. Mizuki hat nur ein Leben und muss sich doch zwischen zwei entscheiden – zwischen familiärer Verantwortung und den eigenen Bedürfnissen.

ZUR AUTORIN

Emily Itami ist in Tokio aufgewachsen und lebt nun mit ihrer Familie in London. Sie ist als Reiseschriftstellerin und freie Journalistin tätig. »Eine kurze Begegnung« ist ihr Debütroman.

EMILY ITAMI

EINE KURZE BEGEGNUNG

ROMAN

Aus dem Englischen von Melike Karamustafa

BLESSING

Die Originalausgabe FAULT LINES erschien erstmals 2021 bei Orion Publishing Group, London.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2021 by Emily Itami

Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

by Karl Blessing Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Christoph Kadur/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-30690-8V001

www.blessing-verlag.de

Für WT, S und J, wie alles.

1

Die ganze Kiyoshi-Situation nahm ihren Anfang lange bevor er überhaupt auf der Bildfläche erschien. Ähnlich wie bei einer Kalligrafie, bevor der erste Pinselstrich auf die Seite gesetzt wird. Ihre Entstehung beginnt, wenn der Maler Schriftrolle und Pinsel bereitlegt und die Pigmente zerreibt, oder sogar schon davor, wenn sich in seinem (oder ihrem – und dennoch, in diesem Land ist es beinahe ausnahmslos ein Er) Kopf eine Idee dessen formt, was er zeichnen möchte. Die Szene war also bereits vorbereitet, die Pigmente zerrieben, die Hand des Malers erhoben.

Das alles deutet darauf hin, dass es unvermeidbar, dass Kiyoshi an sich beinahe irrelevant war. Dass es jeder hätte sein können. Dass ich wie ein aufgerüschtes Betthäschen wahllos auf den Nächstbesten wartete, der vorbeikam. Ein Teil von mir ist sich sicher, dass es niemand anderes als Kiyoshi hätte sein können – dass bei jedem anderen mein Leben genauso weitergegangen wäre und ich jeder Abweichung vom vorgezeichneten Weg mühelos widerstanden hätte. Und dann gibt es Zeiten, in denen ich versuche, das ganze traurige Durcheinander zu vergessen, und über mich selbst lache, damit es ein bisschen weniger wehtut, in denen ich mich davon überzeugen kann, dass das Kartenhaus von Anfang an auf meiner eigenen Schwäche aufgebaut war und es absolut nichts mit Kiyoshi zu tun hatte. War Romeo nicht noch vier Tage bevor er sich für Julia umbrachte, unsterblich in Rosaline verliebt gewesen? Der Junge war eine Hülle, angefüllt mit tobenden Hormonen, darauf ausgerichtet, sich auf jede junge, attraktive Kreatur zu stürzen, die ihm vor die Augen kam. Muss sich irgendwer damit aufhalten, herauszufinden, was genau es war? (Aber es ist die ultimative Liebesgeschichte! Es ist Schicksal, ihr Los, eine Liebe größer als das Leben selbst!) Was ist Liebe überhaupt?

Was ist Liebe wasistLiebe

wasistLiebewasist Liebeha ha

ha

ha

ha.

Aki verfällt manchmal in diesen Zustand, bei dem man quasi zusehen kann, wie seine Hormone für ein oder zwei Minuten verrücktspielen, wenn er seine Zunge rausstreckt und den Kopf schüttelt und im Zimmer rumrennt, als ob er Flöhe hätte. Sich genauso aufführt wie ein läufiger Hund. Ich habe seinen Daddy das Gleiche tun sehen, was nur schwer vorstellbar ist, wenn man ihn, wunderschön und ruhig, hinter seinem prächtigen, riesigen Schreibtisch in seinem riesigen Büro sitzen sieht. Vielleicht ist es ansteckend, etwas, das man sich von seinem Ehemann und seinem Sohn holen kann, denn in letzter Zeit habe ich häufig dieses Bedürfnis, wie ein Hund herumzurennen, der seinem Schwanz nachjagt, stelle mir selbst dumme Fragen und versuche, sie gleichzeitig aus meinem Kopf herauszuschütteln.

Versuche, sie aus meinem Kopf herauszuschütteln, weil Leben ist, was Sie daraus machen!, wie mich neulich ein Werbeplakat in der Tokioter Metro erinnert hat. Darauf ging es um ein Waschmittel, das einen in einem weißen Etuikleid vor einem blauen Himmel dahinschweben lassen kann. Vielleicht war es aber auch Werbung für ein Medikament gegen Verstopfung oder für eine Lebensversicherung. Schwer zu sagen. In der Metro tritt mein unvoreingenommenstes Ich zutage, um nicht zu sagen mein emotional empfänglichstes – was an der unterschwellig lauernden Möglichkeit eines plötzlichen Todes durch ein Erdbeben liegt. Es beruhigt mich nicht, dass die Namboku Line die am tiefsten unter der Stadt verlaufende U-Bahn-Linie Tokios ist; ich habe keine Ahnung, ob diese Tatsache es mehr oder weniger wahrscheinlich macht, dass im Falle eines Erdbebens sämtliche Wände einstürzen, und es ist mir auch nie gelungen, von irgendjemandem eine eindeutige Antwort auf diese Frage zu erhalten. Mir ist bewusst, dass von einer treuen Bürgerin dieser Stadt erwartet wird, dass sie angesichts der Riesenbruchlinie, die quer durch sie verläuft, sittsam lächelt und voll und ganz den niedlichen Konstruktionen vertraut, die wir uns zu unserem Schutz ausgedacht haben. Aber da ist dieses unerschütterliche Bild einer zehn Meter hohen Tsunami-Wand, die sich zu einer riesigen Welle auftürmt, das mir jedes Mal durch den Kopf schießt, wenn ich in einer Konservendose durch einen der unterirdischen Tunnel rase.

Wie dem auch sei, in diesem fragilen Zustand traf die Verstopfungs-Waschmittel-Werbung einen Nerv. Ich setzte mich kerzengerade auf wie eine Antilope, die von einem plötzlichen Rascheln im Busch aufgeschreckt wird (oder jemand, die glaubt, gerade von jemandem betatscht worden zu sein), und formte – diesmal mit übermächtiger Klarheit – in meinem Kopf den abgedroschenen Gedanken, dass dieses Leben wundervoll ist. Und dass ich mich endlich zusammenreißen und aufhören muss, über Vergangenes nachzugrübeln, es stattdessen schätzen lernen sollte. Vielleicht ein wenig meditieren und ein Ehrenamt annehmen, Daisaku Ikeda* lesen, einen Bonsai kultivieren, häufiger lächeln. Aufhören, eine von diesen typischen Tokioterinnen zu sein, die mit ergebener Miene wie ein Jo-Jo von der häuslichen Pflicht zur Arbeit pendelt und bei jeder Gelegenheit einschläft, um zu zeigen, wie ausgelaugt sie ist. Und, in meinem Fall, auf Englisch Kraftausdrücke vor sich hin zu murmeln, was nichts damit zu tun hat, Tokioterin zu sein.

Ich habe alles, ein perfektes Leben – hübsche Kinder, einen hübschen Ehemann, ein hübsches Apartment. Das weiß ich, und ich weiß, wie glücklich ich mich schätzen kann. Ich weiß, dass jede Art von Gejammer Erste-Welt-Schmollen ist. Ab sofort werde ich glücklich sein, sämtliche inneren Dämonen zum Schweigen und alle Menschen um mich herum zum Lächeln bringen. Ich werde mein ganzes Leben, all meine Energie darauf verwenden, weil unter den gegebenen Umständen nichts anderes akzeptabel ist.

Angesichts dieser bevorstehenden Kehrtwende, da ab jetzt Ghibli-Erkennungsmelodien* und frisch gebackenes Melonenbrot mit einem Lächeln serviert werden, werde ich nur noch ein letztes Mal schreien. Ein bisschen so, als würde man am Abend, bevor man mit seiner Nattō-Yams-Diät* beginnt, noch einen ganzen Eimer frittierter Hühnchenteile von Kentucky Fried Chicken verschlingen. Ein letzter gigantischer Trotzanfall, bei dem ich all meine Spielzeuge aus dem Kinderwagen werfe und laut brülle, sodass es anschließend für alle Zeiten genug ist.

2

Vielleicht war das der Punkt, an dem es anfing. An dem Dienstagabend, an dem ich überlegte, vom Balkon zu springen, während Tatsuya Arbeits-E-Mails auf dem Handy las.

Ich liebe den Ausblick von unseren Balkonen. Wir haben mehrere an verschiedenen Seiten des Apartments, das auf der zweiunddreißigsten Etage eines vierzig Stockwerke hohen Gebäudeblocks liegt, der an einen Jenga-Turm nach der Hälfte des Spiels erinnert. Nach unserem Einzug wurde mir jedes Mal schwindelig, wenn ich runtersah; und als Aki es in der ersten Woche schaffte, ein Spielzeugauto zu finden, das klein genug war, um es durch den schmalen Spalt zwischen den Glasscheiben hindurchzuschieben, fragte ich mich starr vor Entsetzen, ob die Legende, dass eine vom Eiffelturm geworfene Münze einen Menschen töten könne, auch für Spielzeugautos galt, die vom zweiunddreißigsten Stock herunterfielen. Glücklicherweise ging unten gerade niemand vorbei, sodass die physikalische Beweisführung – bis jetzt – aussteht.

Der Balkon, den man vom Wohnzimmer aus betreten kann, eignet sich perfekt für eine Zigarette; nachdem die Kinder im Bett sind, kann ich die Rollos runterlassen und durch die Glastüren nach draußen schlüpfen, wo mich von drinnen niemand sehen kann. Als ob ich vorübergehend verschwunden wäre. In Sichtweite, aber weit weg, tief unten, befindet sich das Hotel Okura. Seine vielen golden beleuchteten Fenster erlauben flüchtige Blicke auf Geschäftsmänner und ihre Liebhaberinnen, und das oberste offenbart einen altmodischen Ballsaal mit funkelnden Kronleuchtern an der Decke. Schaut man gerade nach unten, sieht man die durchdacht geplanten Straßenzüge, die von Kirschbäumen gesäumt sind – unschuldig grüne Gestaltwandler bis zu jenem magischen Moment im Frühling, wenn sie plötzlich in Wolken aus Blütentüll explodieren. Eine Autobahn durchschneidet den Blick wie eine pulsierende Neonarterie, dahinter bilden die unzähligen Wolkenkratzer vor der Dunkelheit der Stadt Sternbilder aus erleuchteten Fenstern, das Leben von Zehntausenden Menschen, jeder und jede mit ihren intimen Hoffnungen und Ticks und Lieblingsgerichten und schwierigen Schwiegermüttern. Näher an meinem Zuhause gibt es ein paar Wohnblocks, in die ich direkt hineinsehen kann, und Abend für Abend dort vorbeizuschauen, ist, wie eine fortlaufende stumme Seifenoper zu verfolgen. Da ist die Familie, die in ihrer Küche eine Beleuchtung im Leichenschauhausstil bevorzugt, und weiter unten ein menschenleeres Zimmer mit einem roten Ledersofa an einer Wand und einer Lampe, die immer eingeschaltet ist. Ich nehme an, dass es eine ungeliebte Dienstwohnung ist, aber Tatsuya ist überzeugt, dass es sich um die Räumlichkeiten eines hochklassigen Bordells handelt. In einem der obersten Stockwerke befindet sich die Wohnung der austauschbaren Westler, die ständig duschen und sich zum Ausgehen fertig machen, und darunter ist der Mann im Anzug, der unter der Woche spät und erschöpft nach Hause kommt und sonntagmorgens nackt auf seinem Balkon sitzt.

Ich liebe es, dass so hoch oben das Dröhnen des Verkehrs und die geschwätzigen Stimmen (geschwätzig im relativen Sinn, muss man dazusagen – dies ist eine sehr gut betuchte Gegend, und sogar unten auf der Straße unterhalten sich die Leute in gedämpftem Tonfall) zu einem beruhigenden Hintergrundrauschen verschwimmen, das fast wie Meeresrauschen klingt. Die Sterne scheinen so nah und der Boden so weit weg, dass ich mir vormachen kann, zwischen beidem zu schweben. Der erste Zug an der Zigarette, die Abkühlung in meinen Adern, der Kick eines eiskalten Shōchū* und der unvoreingenommene Atem der Stadt im Hintergrund. Die Erleichterung.

An jenem speziellen Dienstagabend stand Tatsuya auf der Terrasse, ignorierte die Aussicht und starrte mit zusammengezogenen Brauen in das blaue Licht seines Handybildschirms, über den sein Daumen zuckte. Ich selbst befand mich, was eher ungewöhnlich für mich war, um die Ecke auf dem Balkon vor unserem Schlafzimmer, wo mich Tatsu nicht sehen konnte, und an diesem Abend saß ich, nur für einen Moment, rittlings auf dem Geländer. Für eine wirklich gute Idee hielt ich das höchstens für eine Sekunde, wahrscheinlich sogar weniger. In der Millisekunde, in der sich mein Gewicht in Richtung des Beins verlagerte, das über dem Abgrund baumelte, sodass sich das andere gefährlich hob, warf ich mich mit meinem gesamten Körpergewicht zurück in Sicherheit. Kein Leo DiCaprio mit brüchiger Stimme und ausgestreckter Hand in Sicht; der einzige Mensch, der zur heldenhaften Rettung eilte, selbst wenn es nur um meinen eignen armseligen Hintern ging, war ich. Ich landete auf dem Boden, eine Socke an der Ecke der Brüstung verfangen, sodass ein Bein über meinem Kopf ausgestreckt war. Mein Herz raste so schnell, dass mein Atem nicht mithalten konnte, wie es jedem ginge, dem das sehr reale Bild, aus dem zweiunddreißigsten Stock auf den Asphalt zu knallen, vor dem inneren Auge erscheint. Mein Kopf schmerzte an der Stelle, wo er mit dem Boden kollidiert war. Was. Für. Eine. Verdammte. Idiotin.

Ich blieb zusammengekauert liegen, während sich mein Puls verlangsamte, schloss die Augen und lauschte dem immer gleichen Rauschen des Highways. Es scheint nicht richtig, das Geräusch von beschleunigenden Autos als meditativ zu empfinden. Lastwagenfahrer mit tonnenweise Fisch von der Küste und Lieferungen aus Satellitenstädten; Familien auf dem Weg ins Wochenende; Pendler mit plärrenden Radios und Gedanken an zu Hause. Das Wissen darum, dass mein Sprung nichts am stetigen Brummen des Verkehrs geändert hätte, brachte einen zenähnlichen Frieden über mich, der eigentlich eher von der leichten Brise in einem Bambuswald herrühren sollte als von den sanften Tönen des Tokyo Expressway. Menschen vom Land wären sicherlich entsetzt und würden meine Vorlieben für ebenso pervers halten wie die derjenigen, die die Maid Cafés* in Akihabara* finanzieren, aber trotz meiner Wurzeln bin ich durch und durch ein Stadtkind.

Ich öffnete die Augen und versuchte, meine Entfernung zur Regenrinne einzuschätzen, aus der – davon bin ich überzeugt – die Kakerlake gekommen war, die wir einmal im Wohnzimmer gefunden hatten. Ich habe gehört, dass sie ab einer bestimmten Temperatur in der Lage sind, zu fliegen, und angesichts der Tatsache, dass Tokio im Sommer einem Hochofen gleicht, läuft man ständig Gefahr, zu würgen. Ich stemmte mich hoch, zog an meinem verfangenen Fuß und zerrte mir dabei irgendeinen Muskel im Oberschenkel. Beide Hände am Geländer, nun vielmehr mein Sicherheitsnetz statt eine Fluchtmöglichkeit, kroch ich wie eine Krabbe daran entlang auf die Glastür zum Schlafzimmer, auf ein eiskaltes Shōchū aus dem Kühlschrank und ein heißes Bad zu.

Wie an der Ausführung vermutlich unschwer zu erkennen, würde ich nicht gerade behaupten, dass es sich um einen geplanten Versuch gehandelt hat. Eher um einen kompletten Ausraster, von dem zum Glück niemand etwas mitbekommen hat, eine physische Manifestation des Schreis in meinem Kopf, der manchmal so laut wird, dass ich mir ein Loch in den Schädel bohren möchte. Das Gespräch, das das Beinahe-Ende meines Lebens herbeiführte, verlief folgendermaßen:

»Könntest du mir vielleicht helfen, die Wäsche aufzuhängen, Tatsu?«

Tatsuya sah kurz von seinem Handy auf, auf das er, zusammengesunken auf dem Sofa, gestarrt hatte, seufzte tief, stieß ein unverbindliches Grunzen aus und konzentrierte sich wieder auf das Display. Ich widmete mich, kochend vor Wut, erneut der Wäsche. Als mich das Gefühl beim ordentlichen Aufhängen eines nassen Lakens überwältigte, schleuderte ich es auf den Boden und wandte mich meinem Mann zu. Gerade als ich den Mund öffnen wollte, um etwas zu sagen, warf er mir einen Blick zu, der einen ganzen Cocktail an Gefühlen beinhaltete – Verärgerung, Mitleid, Bedauern, Resignation, Verachtung.

»O Gott«, murmelte er und flüchtete auf den guten Balkon, um die Tür hinter sich zu schließen.

Und ich traf offensichtlich die Entscheidung, mich vom anderen herunterzustürzen. Oder vielleicht einfach zu springen – »mich herunterzustürzen« klingt so dramatisch; als ob Springen die logische Folge einer absolut vernünftigen Entscheidung wäre. Ich wollte es nicht wirklich tun; was ich wollte, war, abzuhauen und irgendwo zu sein, wo Tatsuya nicht war, und die verdammte Wäsche auf dem Boden liegen zu lassen, wo er sie später finden würde. Oder ich wollte auf dem anderen Balkon auf- und ablaufen und vielleicht eine Zigarette rauchen, und dann begann ich, mir zu wünschen, dass er zu mir kommen und sich entschuldigen oder mich fragen würde, ob alles okay sei, und es ist nie gut, darüber nachzudenken, weil das niemals passieren wird, und selbst wenn, würde ich etwas Verletzendes sagen und ihn wegstoßen, was einen Kloß im Hals und Tränen in meinen Augen zur Folge hätte und so weiter und so fort. Und dann wurde der Schrei in meinem Kopf immer lauter. Es wäre wahrscheinlich nicht falsch zu sagen, dass dieser Abend die alles andere als angenehmen Arbeitsbedingungen in unserer Ehe verdeutlichte und wohl als Prolog zur Kiyoshi-Situation bezeichnet werden kann.

Ich denke »alles andere als angenehm« ist zutreffend. Ich würde nicht so weit gehen, sie als »schrecklich« oder »missbräuchlich« zu bezeichnen – na ja, manchmal ist es schrecklich, aber nicht aus dem Grund, dass sich Tatsuya mehr danebenbenehmen würde als jeder andere japanische Angestellte im Anzug. Im Grunde ist er hinsichtlich der Anzahl tatsächlicher Vergehen ein Heiliger. Weder trinkt er regelmäßig zu viel (gelegentlich natürlich schon, aber ich hätte ihn deutlich weniger gern, wenn er es nicht täte), noch spielt er oder schmeißt unser Geld für schnelle Autos oder gar Hostessen raus, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Er schlägt mich nicht, hat keine seltsamen sexuellen Neigungen und ist ein liebevoller Vater, wenn er seine Kinder sieht. Was nicht besonders regelmäßig vorkommt, aber bei welchem Vater ist das schon der Fall? Und er ist gut in Form. Würde ich ihn nicht ein wenig hassen, würde er mir definitiv gefallen. Es gibt dort draußen also kein Ohr, das bereit wäre, sich abkauen zu lassen wegen meiner brodelnden Unzufriedenheit mit einem Mann, der mich in gewisser Hinsicht für selbstverständlich hält und Dinge mir gegenüber ein wenig umsichtiger formulieren könnte.

Als ich Kiyoshi von dem Balkon-Zwischenfall erzählte, den ich dabei in eine witzige, nicht weiter wichtige Anekdote abwandelte, in der die Wäsche keine Erwähnung fand und die für nichts weiter stand als meinen extremen Hang zur Spontaneität, reagierte er mit seinem dröhnenden Lachen und schlug dabei anerkennend auf die Tischplatte. Doch dann fuhr er sich mit der Hand durch die kurzen schwarzen Haare am Hinterkopf, eine Angewohnheit, die verriet, dass er besorgt war oder nicht wusste, was er tun sollte, und erinnerte mich damit auf verwirrende Art an Aki. Er legte seine Hand auf meine und drückte sie. Seine Hand war trocken und warm, und er zog an seiner Zigarette und begann, beiläufig über etwas anderes zu sprechen, und ich wusste, dass ich nichts erklären musste. Noch immer ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass ich ihm etwas erzählen muss, nur um mitzuerleben, wie er mit ein paar wahren Worten eine Tragödie in einen Witz verwandelt, oder um ihn lachen zu hören.

Die Tränen waren ein weiteres Anzeichen dafür, dass in meiner Ehe etwas schieflief. Nicht zu erklärende emotionale Überreaktionen, wie zum Beispiel wenn Eri oder Aki einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil sie ihre Schuhe an den falschen Fuß gezogen haben oder beim Abendessen der Teller die falsche Farbe hat. Wenn das passiert und meine Nerven nicht bereits so blank liegen, dass ich in ein Kissen schreien muss, ziehe ich das schluchzende Bündel Elend auf meinen Schoß und versuche herauszufinden, was tatsächlich das Problem ist. Ein wenig verständnisvoller Lehrer in der Schule? Ein Streit mit einer Freundin? Irgendetwas, das nicht mit ein bisschen Kuscheln und einer ordentlichen Mütze Schlaf gelöst werden kann? Ich glaube nicht, dass mir Kuscheln in den Sinn gekommen wäre, wenn Cassie und die Michaelsons nicht gewesen wären; in japanischen Familien ist das nicht wirklich üblich. Meine Eltern lächelten mich an, bis es mir zu den Ohren rauskam, tätschelten und knufften mich, aber niemand umarmte mich, bis ich mit sechzehn bei jenem ersten Aufenthalt in New York einen Anfall von Heimweh erlitt und Mrs. Michaelson mich in eine warme, parfümierte Umarmung schloss, als wäre es keine große Sache. Noch heute kommen mir allein beim Gedanken an jemanden, der mich mitfühlend in den Arm nimmt, die Tränen.

Früher war ich nicht besonders nah am Wasser gebaut. Es passierten Dinge, die verdammt wehtaten, und ich konnte einfach weitermachen, sie in mir einschließen und stoisch vorwärtsmarschieren. Dann gab es die ein oder zwei Jahre nach den Geburten der Kinder, in denen ich das Gefühl hatte, als ob das, was bisher eine Barriere zwischen mir und dem Rest der Welt gewesen war, weggerissen worden wäre, sodass mein Äußeres vollkommen durchlässig zurückblieb. Alle Gefühle der Welt erschienen in qualvoll grellen Farben, und ich verfügte über keine Möglichkeit, sie zu filtern. Ich weinte bei Fernsehwerbung und den ersten Schritten der Kinder, wenn ich alte Menschen durch den Supermarkt schlurfen sah und beim Anblick von Tauben, die einander im Yoyogi Park* umwarben. Es war anstrengend. Tatsu dachte, ich hätte den Verstand verloren. Was in gewisser Hinsicht stimmte. Meine ältere, stählerne Version war durch einen auf unendliche Weise beeinflussbaren Schwamm ersetzt worden. Glücklicherweise setzten Zeit und Schlaf die Rüstung zum Teil wieder instand, sodass ich bis vor etwa einem Jahr wieder angemessen auf Tierdokumentationen und Fotos von fremden Kindern reagierte.

Aber in jenen Monaten vor Kiyoshi … Meiner Erfahrung nach ist es sehr schwer zu rennen, während man weint. Ich nehme an, dass es nicht ganz so schwierig ist, wenn man laut schluchzt und in der Lage ist, zu atmen, aber diese Sache mit dem Kloß im Hals, den man versucht hinunterzuschlucken, funktioniert beim Laufen nicht wirklich.

Es gibt ein schickes Fitnessstudio mit Glasfront im Erdgeschoss unseres Apartmentgebäudes, in dem die Bildschirme an den Laufbändern wegen der vielen Expats in der Wohngegend amerikanische Kanäle empfangen. Ich wechsle zwischen CNN und MTV hin und her und versuche zu entscheiden, wo die unrealistischeren und, neuerdings irritierenderweise, jene Sendungen laufen, die mich am wenigsten zum Heulen bringen könnten. Fühle ich mich emotional instabiler angesichts der Notlage von Zivilisten in vom Krieg heimgesuchten Ländern oder der Vergänglichkeit von Jugend und Zeit, die fragwürdigerweise von hüftkreisenden Weißen repräsentiert wird?

Das letzte Mal, als ich von einer Heulattacke heimgesucht wurde, hatte ich mich daran erinnert, dass ich ein Beckenbodengewicht benutzte, um nicht inkontinent zu werden, und eine Vision davon, wie es herausfiel und wie ein sehr kleiner Strap-on-Dildo in meine Easy-dry-Leggings glitt. Weswegen ich kichern musste, während ich gleichzeitig versuchte, nicht zu weinen, was dazu führte, dass ich aussah und mich fühlte, als würde ich ersticken, und schließlich vom Laufband fiel, eine rote Tomate mit blutunterlaufenen Augen. Glücklicherweise war ich so verschwitzt, dass sich Tränen und Rotz und Schweiß vermischten und die Leute dachten, ich würde jede Sekunde wegen Überanstrengung einen Herzinfarkt erleiden. Was für mich in Ordnung geht – unfassbar unfit zu wirken, ist definitiv besser, als ab sofort als das überemotionale weinende Gym-Häschen abgestempelt zu sein.

An jenem Tag war es das Video zum »Sparkle«-Song der Radwimps* aus ihrem Album Your Name, das mich kalt erwischte. Diese Vorstellung, immer jemanden an seiner Seite zu haben, dieser naive Glaube an eine Liebe, die Zeit und Raum überwinden kann. Im wirklichen Leben würde ich über den sinnlosen Namen der Band und die surreale Körpertausch-Geschichte des Films spotten und argumentieren, dass die Idee eines »Seelenverwandten« sowohl unrealistisch als auch unpraktisch ist. Nicht, dass ich jemals zugeben würde, den Song zu kennen, aus Rücksicht auf Eri und ihre Verlegenheit. Aber auf einem Laufband mit Kopfhörern, an diesem öffentlichen und gleichzeitig seltsam privaten Ort, unterdrückte ich ein mysteriös tief sitzendes Schluchzen wegen der Cartoon-Teenager von Radwimps und Bump of Chicken* und Ed Sheeran. Als es mir körperlich nicht mehr möglich war, die Lauf- und Schluck-Scharade fortzusetzen, ging ich gemessenen Schrittes in die Sauna, wo ich zehn Minuten lang klassische Musik hörte und so tat, als wäre das alles niemals passiert.

Die logische Schlussfolgerung daraus wäre gewesen, nicht mehr ins Fitnessstudio zu gehen oder zumindest dort kein MTV mehr zu gucken. Aber ich war leider noch nie jemand, der logisch handelt. Auch wenn der Hang dazu hinter der gemäßigten Oberfläche verborgen bleibt, würde ich sagen, dass mein natürlicher Entscheidungsfindungsprozess dem eines verrückten Hundes gleicht, der seinen Eiern hinterherjagt. Ich habe einfach nur das Glück, so japanisch zu sein, dass die Notwendigkeit, den Schein zu wahren, meine tierischen Instinkte mithilfe einer ordentlichen Fassade maskiert.

Die Fassade unserer Ehe ist ebenfalls ziemlich glänzend. Tatsuya wird regelmäßig befördert, ich sorge dafür, dass jeden Tag selbst gekochte Mahlzeiten auf dem Tisch stehen, und stelle sicher, dass die Kinder repräsentabel sind. Sogar Tatsuyas Mutter mit ihrem untrüglichen Spürsinn für alles, was von aufrechter Konformität abweicht, hat Mühe, zu artikulieren, was genau ihr an mir missfällt. Eine Aura, die nicht zu der von Tatsus Schwester passt, die ich, nebenbei bemerkt, mag, deren Interesse an der Qualität ihrer hausgemachten Daifuku-Desserts* jedoch aufrichtig ist. Zum Unglück meiner Schwiegermutter sind ihre Enkelkinder (einigermaßen) manierlich, meine Wohnung ist sauber, und für geistige Vergehen kann sie mich nicht anklagen. Noch nicht.

3

Tatsuya und ich sind seit sechzehn Jahren ein Paar. So lange, dass ich schon bald mit Stolz oder Fassungslosigkeit werde sagen können, dass ich bereits mein halbes Leben mit ihm zusammen bin. Und ich habe ihn so verdammt sorgfältig ausgewählt. Ich weiß, dass es nicht attraktiv ist, sich mit etwas zu brüsten, aber es entspricht der Wahrheit – schließlich gab es genug Konkurrenten. Vielleicht war ich deshalb so verärgert, weil ich dachte, ich hätte einen Blindgänger erwischt, die falsche Entscheidung getroffen. Da ist eine Stimme, die flüstert, dass es nach so langer Zeit unvermeidlich ist, nach zwei Kindern und all dem entgangenen Schlaf und bei den in Japan üblichen Arbeitszeiten, aber ich will sie nicht hören. Hätte ich Karriere gemacht, könnte ich den Job wechseln, mich um eine Beförderung bemühen, etwas tun. Wenn ich in New York geblieben wäre, hätte ich alles haben können, oder? Aber ich bin eine japanische Hausfrau, habe einen wahren Oldschool-Job fürs Leben, und bei dem hat man nur ein einziges Mal die Möglichkeit, sich seinen Kollegen auszusuchen.

Ich dachte, ich hätte mich richtig entschieden – über ein Jahrzehnt lang gingen wir zusammen ins Bett, unterhielten uns, bevor wir einschliefen, und im Winter lagen wir in Löffelchenstellung. Man kennt das, die kleinen Dinge eben. Inzwischen geht er, nachdem er mit dem Lesen der Zeitung fertig ist oder halbherzig ein Baseballspiel geguckt und dabei seine Arbeits-E-Mails gecheckt hat, allein ins Bett, seine Gedanken darauf ausgerichtet, sich schnell die Zähne zu putzen, ohne zu lächeln, ohne sein Spiegelbild anzusehen, und sich dann ins Bett zu legen, wo ich ihn verloren vorfinden werde, von mir abgewandt, mit einem Arm über dem Kopf.

Als es anfing, so zu werden, tat er mir leid. In Tokio zu arbeiten, ist unmenschlich, und nachdem Tatsu befördert worden war, verließen seine Gedanken das Büro nie und seinen Körper nur selten. Die Kinder haben ihn nie anders gekannt. Ich tat alles, was ich tun sollte; wartete auf ihn und kochte und beschwerte mich nicht, schickte ihm Fotos, wenn er das erste Lachen, die ersten Worte, die ersten Schritte der Kinder verpasst hatte. Vor unserer Hochzeit hatten wir über die Arbeit gesprochen, oder zumindest dachte ich, dass wir das getan hätten, aber vielleicht war es in Wahrheit ein Gespräch über etwas anderes gewesen. Er beklagte sich, seinen Vater kaum gekannt zu haben, weil er so hart gearbeitet hatte, und betonte, mich um meinen zu beneiden, der verfügbar gewesen war, wenn auch nur deshalb, weil unser Zuhause und sein Geschäft ein und dasselbe gewesen waren und ich ständig zu den Füßen meines Vaters gehockt hatte. Es war naiv von mir zu glauben, dass man, nur weil man seine Abneigung gegen etwas ausdrückt, dem Druck der Familie und der Gesellschaft, die einen dazu treiben, das Gleiche zu tun, widerstehen kann.

Ich dachte, Tatsu würde zu uns zurückkehren; ich war sogar bereit, seine Überstunden in Kauf zu nehmen, wenn es sich wenigstens dann so anfühlte, als wäre er tatsächlich hier, wenn er zu Hause war. Aber das tat es nicht, und ich begann, die Geduld zu verlieren. Seine ganze Energie wurde im Büro absorbiert, und was nach Hause kam, war eine Hülle, ein Fremder mit gerunzelter Stirn, der unser Zuhause wie eine Art Dienstwohnung nutzte und nur freiwillig das Wort ergriff, wenn etwas nicht wie gewohnt lief oder wir ihm im Weg waren.

Eine Zeit lang machte mich das so wütend, dass ich glaubte, ihn aus diesem Zustand wachrütteln zu können. Ich folgte ihm ins Schlafzimmer, wenn er ins Bett ging, weckte ihn sogar und tobte angesichts des Chaos, das er hinterlassen hatte, nachdem ich die letzten fünfzehn Stunden nichts anderes getan hatte, als hinter zwei Lebewesen herzuräumen, die sehr viel jünger waren als er. Begriff er nicht, dass ich den ganzen Tag lang genauso hart gearbeitet hatte wie er? Je missmutiger er wurde, desto schneidender wurde mein Ton, und er sah gelangweilt drein und grunzte mürrisch und fing schließlich an, mich zu hinterfragen, bis meine Würde dahin war, aber das machte sowieso keinen Unterschied. Was er nie hörte, war das, was ich wirklich sagte: »Ich vermisse dich, ich brauche dich, geh nicht, lass mich nicht allein.« Und weil er es nie hörte, sagte ich es irgendwann nicht mehr, und jetzt putze ich nur noch die Küche und rauche eine Kippe und drehe mich im Bett auf die andere Seite....Ende der Leseprobe