Eine Liebe zwischen den Fronten - Maria W. Peter - E-Book

Eine Liebe zwischen den Fronten E-Book

Maria W. Peter

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Beschreibung

Berlin, 1870: Die Französin Madeleine und der junge deutsche Arzt Paul feiern gerade ihre Verlobung, als eine schreckliche Nachricht ihre Pläne durchkreuzt: Zwischen Preußen und dem Französischen Kaiserreich ist der Krieg ausgebrochen. Überstürzt brechen Madeleine und ihr Vater in ihre Heimatstadt Metz auf. Paul muss als preußischer Militärarzt zurück zu seinem Regiment nach Coblenz. Von nun an Feinde zu sein und auf unterschiedlichen Seiten zu stehen, ist für Paul und Madeleine unerträglich. Kann ihre Liebe den Krieg überstehen?

Packender historischer Roman über das Schicksal dreier Familien, die der Deutsch-Französische Krieg auseinanderreißt.

Mit vielen Schauplätzen in Deutschland, Lothringen & dem Elsass.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumKarteWidmungZitatTeil I – Le Début – Der AnfangKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Teil II – Le Siège – Die BelagerungKapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 43Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 48Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Teil III – La Commune – Die KommuneKapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64EpilogNachwortGlossarPersonenverzeichnisDankReise- und StöbertippsZeitreise zwischen zwei Buchdeckeln

Über dieses Buch

Berlin, 1870: Die Französin Madeleine und der junge deutsche Arzt Paul feiern gerade ihre Verlobung, als eine schreckliche Nachricht ihre Pläne durchkreuzt: Zwischen Preußen und dem Französischen Kaiserreich ist der Krieg ausgebrochen. Überstürzt brechen Madeleine und ihr Vater in ihre Heimatstadt Metz auf. Paul muss als preußischer Militärarzt zurück zu seinem Regiment nach Coblenz. Von nun an Feinde zu sein und auf unterschiedlichen Seiten zu stehen, ist für Paul und Madeleine unerträglich. Kann ihre Liebe den Krieg überstehen?

Packender historischer Roman über das Schicksal dreier Familien, die der Deutsch-Französische Krieg auseinanderreißt.

Mit vielen Schauplätzen in Deutschland, Lothringen & dem Elsass.

Über die Autorin

Maria W. Peter ist seit Langem von Amerika begeistert. Während ihres Studiums der Amerikanistik und Anglistik war sie Mitglied eines amerikanischen Chors auf dem Militärstützpunkt in Kaiserslautern und pflegte intensive Kontakte zu amerikanischen Familien. Später lebte sie in Columbia, Missouri, wo sie als Fulbright-Stipendiatin die School of Journalism besuchte. Dort erlag sie endgültig der Faszination amerikanischer Kultur und Geschichte. Schon zu Studienzeiten arbeitete Maria W. Peter als Journalistin. Heute ist sie als freie Autorin tätig und pendelt zwischen dem Rheinland und dem Saarland.

Maria W. Peter

EINE LIEBEZWISCHEN DENFRONTEN

Historischer Roman

Mit umfangreichem Glossar,Personenverzeichnis sowie Reise- und Stöbertipps

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Die Übertragung der französischen Gedichte erfolgte durch Angelika Lauriel

  

Originalausgabe

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  

Copyright © 2020 by Maria W. Peter

Copyright Deutsche Originalausgabe © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Kartenillustration: Helmut W. Pesch, Köln

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

Unter Verwendung von Motiven von © Magdalena Russocka / Trevillion Images und © shutterstock: Yudychev Stefan |Here | Annmarie Young | Tursunbaev Ruslan

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-8614-1

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Für meine Mutter

 

»Der gegenwärtige Krieg ist ein Krieg derKapitulationen, von denen offenbar eine jede ihreVorgängerin an Größe übertreffen soll.«

(Friedrich Engels: Über den Krieg)

TEIL I

LE DÉBUT – DER ANFANG

’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre,

Und rede du darein!

’s ist leider Krieg – und ich begehre

Nicht schuld daran zu seyn!

Matthias Claudius, »Kriegslied«, 1778

KAPITEL 1

Berlin, 15. Juli 1870

Un conte de fées … ein Märchen. Das alles hier musste ein Märchen sein … Un rêve, ein Traum. Zu schön, um wahr zu sein.

Obgleich Madeleine sich grundsätzlich für eine junge Frau von wachem Verstand und nüchternem Charakter hielt, zitterte sie ein wenig, als sie am Arm ihres Vaters das festlich geschmückte Speisezimmer derer von Gerlau betrat. Es war ein hoher, nicht allzu großer Raum von gediegener Eleganz mit Stuckdecken und geschmackvollen Tapeten in einem schlichten, floralen Muster. Ein fast bodenlanges, gestärktes Tafeltuch bedeckte den runden Speisetisch, um den vier passende barocke Stühle standen. Weißes, dezent mit kleinen Ranken aus Blau und Gold verziertes Porzellan strahlte mit dem auf Hochglanz polierten Silberbesteck und den in der Abendsonne funkelnden Kristallgläsern um die Wette. Ein Strauß Rosen in warmen Gelb-, Rot- und Orangetönen schmückte die Tafel mit sommerlichen Farben. Das Arrangement trug die stilvolle Handschrift ihrer zukünftigen Belle-Mère, ihrer Schwiegermutter. Sie hatte Helma von Gerlau bei ihrer ersten Begegnung auf Anhieb in ihr Herz geschlossen.

Madeleines Puls beschleunigte sich, als sie Pauls vertraute Gestalt neben dem Tisch stehen sah, Paul von Gerlau, Doktor von Gerlau, der Mann, dessen Braut sie heute werden würde. Beinahe körperlich spürte sie seine Augen auf sich ruhen. Stumme, aufrichtige Bewunderung lag darin, und die Schmetterlinge in Madeleines Bauch flatterten entzückt auf.

Sie wusste, dass sie an diesem Abend gut aussah. Auf Anraten von Pauls Mutter hatte sie sich zu diesem besonderen Anlass in einer exklusiven Schneiderei an der Flaniermeile Unter den Linden ein neues Kleid aus dunkelblauer Seide anfertigen lassen. Zwar war es von schlichter Eleganz und keineswegs so üppig und verspielt, wie es die aktuelle Mode vorschrieb, doch hatte Madeleine beim Blick in den Spiegel feststellen können, dass es ihrem hellen Teint und den haselnussfarbenen Haaren ausgesprochen schmeichelte.

»Schön, dass du da bist, Madeleine.«

Paul war auf sie zugetreten und hatte ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht. Wie von selbst glitten ihre Hände ineinander, und einige Atemzüge lang genoss sie das Gefühl, seine Nähe zu spüren. Dann begrüßte er ihren Vater, der schweigend, aber mit einem wohlwollenden Lächeln neben ihnen stand, und reichte seinem ehemaligen Medizinprofessor, Mentor und zukünftigen Schwiegervater, Docteur Albert Tellier, die Hand.

Warmes Abendlicht flutete durch die großen Fenster herein, die Kerzen auf dem Tisch waren entzündet. Pauls Mutter ging auf ihre Gäste zu, entbot zunächst dem Vater der Braut ihren Gruß und geleitete ihn zu Tisch. Anschließend wandte sie sich Madeleine zu, ergriff ihre Hände und drückte ihr einen mütterlichen Kuss auf Stirn und beide Wangen. Dann erst nahmen alle Platz, und die Hausherrin gab der Köchin ein Zeichen, das Essen auftragen zu lassen.

Madeleine nahm kaum wahr, wie das gemeinsame Diner verlief, wie all die erlesenen Speisen, welche die Köchin gezaubert hatte, schmeckten. Die ganze Zeit über dachte sie nur daran, was dieser Abend noch bringen würde. Eine einzige Frage, die ihr ganzes Leben verändern und die sie ohne Zögern mit »Ja« beantworten würde. Madeleine, die ihrem Vater hier in Berlin den Haushalt führte, die Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten ins Reine schrieb und ihn auf jedwede Art unterstützte, wusste, dass es ein Glücksfall war, einem Menschen wie Paul zu begegnen. Er stand kurz davor, eine eigene Praxis zu eröffnen, sein Leben ganz dem Dienst an den Kranken zu widmen. Und selten hatte Madeleine zwei Menschen erlebt, die sich in ihren Zielen und Interessen so sehr ähnelten, sich auf solch selbstverständliche Art verstanden, wie Paul und ihr Vater Albert. Hatten sich doch beide mit aufrichtiger Hingabe der medizinischen Wissenschaft und der Heilung ihrer Patienten verschrieben.

Pauls Vater, Oberst von Gerlau, war einige Jahre zuvor verstorben, sodass Madeleine ihn nicht mehr kennengelernt hatte.

Nach dem wenigen, was Paul über den alten Obersten erzählt hatte, musste dieser ein harter, unerbittlicher Mann gewesen sein, mit starren, sehr rückwärtsgewandten Ansichten, der sich zudem stets seiner persönlichen Bekanntschaft mit Otto von Bismarck rühmte. Daher hätte es beinahe zu einem Zerwürfnis geführt, als Paul gegen den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters ein Medizinstudium aufgenommen hatte, was dessen Plänen grundlegend zuwiderlief. Hatte er seinem gesellschaftlichen Stand entsprechend doch für seinen Sohn ebenfalls eine Offizierskarriere vorgesehen.

Nur höchst widerstrebend hatte sich Paul schließlich dem Druck seines Vaters gebeugt, sein Studium unterbrochen und nicht nur seinen Wehrdienst im Garderegiment, der Elitetruppe des preußischen Monarchen angetreten, sondern dort anschließend auch noch zwei zusätzliche Jahre als Freiwilliger abgeleistet. Genauer gesagt, im 4. Garde-Grenadier-Regiment Königin, das in Coblenz, in der weit entfernt gelegenen preußischen Rheinprovinz, stationiert war. Fünf lange Jahre, die Paul, der nicht das geringste Interesse für das Militärhandwerk aufbringen konnte und es vorgezogen hätte, sich ausschließlich der Medizin zu widmen, wie eine Ewigkeit vorgekommen waren.

Als dann im Januar des Jahres 1864 der Krieg gegen Dänemark ausbrach, war Paul gezwungen gewesen, mit seinem Regiment in die Schlacht zu ziehen, und zwei Jahre später, im Sommer 1866, ein weiteres Mal beim Feldzug gegen Österreich. Erfahrungen, über die er nur selten sprach, die ihn jedoch tief geprägt haben mussten. Denn gleich nach dem plötzlichen Tod seines Vaters hatte Paul seinen Dienst bei der Armee quittiert, um – endgültig, wie er hoffte – ins zivile Leben zurückzukehren, seine Studien beenden und als Arzt wirken zu können.

Verheißungsvolle Zukunftsaussichten, würde da nicht das Damoklesschwert einer drohenden Wiedereinberufung über ihm hängen. Madeleine wusste, wie besorgt Paul aufgrund der jüngsten politischen Entwicklungen war. Ereignisse, durch welche sich die Fronten zwischen dem Französischen Kaiserreich und Preußen, ja dem gesamten Norddeutschen Bund, bedeutend verhärtet hatten. Allen voran die unselige Frage nach dem Fortgang der spanischen Thronfolge, bei der die französische Seite unbedingt verhindern wollte, dass ein Hohenzoller den verwaisten spanischen Thron besetzte. Durch einen wohl recht rüde verlaufenen Zusammenstoß zwischen dem französischen Botschafter und dem preußischen König Wilhelm I., der sich jüngst in Ems abgespielt hatte, drohte die ohnehin schon angespannte Lage nun vollständig zu kippen.

Aber das war nicht der einzige Grund, weshalb Madeleines Mutter Clotilde nicht nach Berlin gereist war, um der Verlobung ihrer einzigen Tochter mit einem Preußen beizuwohnen. Obgleich dieser aus wohlhabendem Hause und von Stand war.

Nicht jetzt, beschwor sich Madeleine, während sie langsam den Dessertlöffel ablegte, nicht jetzt darüber nachdenken …

Dennoch schmerzte es sie, dass auch ihr Bruder nicht gekommen war. Clément, dem sie in Kindertagen so nahegestanden, dessen ungezügeltes Temperament sie stets fasziniert hatte. Doch seit er nach Paris gegangen war, um Jura zu studieren, war es zwischen ihnen zu einer spürbaren Entfremdung gekommen. Nur ein einziges Mal hatte er ihren Vater und sie in Berlin besucht und bei dieser Gelegenheit auch Paul kennengelernt. Bis heute fragte sie sich, ob ihr Bruder damals aus Zorn oder aus Eifersucht so plötzlich wieder abgereist war. Eifersucht auf einen jungen Mann, den offensichtlich so viel mehr mit seinem Vater Albert verband als Clément selbst und der ihm zudem die Schwester abspenstig machte.

»Liebe Familie …« Pauls sonore Stimme ließ sie ins Hier und Jetzt zurückkehren. Er lächelte. »Ich bin dankbar und glücklich, dass wir heute hier zusammengekommen sind, um zu essen, zu trinken und gemeinsam unsere Verlobung zu feiern.«

Madeleine errötete, hielt aber Pauls Blick stand. An der Art, wie er sich durch das kurze aschblonde Haar fuhr, erkannte sie, dass er nicht ganz so gelassen war, wie er sich gab. Ein angenehmer Schwindel erfasste sie, als er aufstand und neben sie trat. Fest ergriff er ihre Hände und zog sie hoch. Sie spürte die Wärme seines Körpers, nahm den ihm eigenen Geruch nach Sauberkeit wahr, nach Lauge und medizinischem Alkohol.

»Ich habe heute die besondere Ehre, Mademoiselle Madeleine, der Tochter des geschätzten Docteur Tellier …« Wie durch Nebel hindurch vernahm sie seine Worte. Weit entfernt und doch unendlich nah. »… die wohl schönste aller Fragen zu stellen.«

Er sah sie an, und in seinen grauen, sonst meist konzentriert blickenden Augen stand ein anderes Gefühl … eines, das ihr eigenes widerspiegelte, in all seiner Aufrichtigkeit und Tiefe.

Ein angespanntes Warten schien über dem Raum zu liegen. Das Wohlwollen und die Zustimmung in den Mienen seiner Mutter und ihres Vaters mischten sich mit der Wärme des Sommerabends, dem Rausch ihres eigenen Glücksgefühls.

»Sicherlich wird es Leute geben«, fuhr Paul fort, »die uns vorwerfen werden, es sei nicht wirklich die passende Zeit für eine derartige Verbindung, da die politische Lage zwischen unseren beiden Ländern so angespannt ist. Ich aber bin der Meinung, dass es gerade in Zeiten der Krise Menschen geben muss, die fest zueinanderstehen, die in ihrem privaten Leben ein Beispiel geben für Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Vertrauen und Freundschaft, auch über die Landesgrenzen hinweg. Und mir genügt es zu wissen, dass alle, die sich heute mit mir in diesem Raum befinden, diese Verbindung gutheißen und segnen werden.« Seine Augen lächelten, als er endlich zu der lang ersehnten Frage ansetzte. »Madeleine, seit du in mein Leben getreten bist, ist nichts mehr, wie es einmal war. Die Welt mag sich seither nicht verändert haben, sie ist noch genauso dunkel, korrupt und grausam wie zuvor. Und doch ist es um mich herum heller geworden, heller, freundlicher und strahlender. Durch dich habe ich die Hoffnung auf ein besseres Morgen, eine bessere Zeit … Deshalb frage ich dich hier und jetzt vor den Augen meiner Mutter, die ich über alles liebe, und deines Vaters, den ich mehr schätze, als ich es auszudrücken vermag: Würdest du mir die Ehre erweisen …«

Das Läuten der Türglocke ließ ihn verstummen.

Madeleine fuhr zusammen und sah ihn an. Er schüttelte kurz den Kopf und schien nicht gewillt, sich bei dieser wichtigen Angelegenheit stören zu lassen. Im Flur wurden Stimmen laut.

Paul räusperte sich. »Madeleine, würdest du mir die Ehre erweisen, meine …«

Ein zaghaftes Klopfen unterbrach ihn erneut. Unwillig wandte er sich um, die Brauen leicht zusammengezogen. Die Tür öffnete sich, und die Haushälterin trat mit hochrotem Kopf herein. Es fiel ihr sichtlich schwer, die traute Runde zu stören, und mit plötzlich aufkeimender Furcht fragte sich Madeleine, was geschehen sein mochte.

»Auguste«, sagte Paul ruhig. Es klang wie eine Frage.

Die korpulente Frau knickste. »Entschuldigen Sie, dass ich störe, gnädiger Herr …« Sie stockte, und ihr fülliges Gesicht wurde noch eine Spur dunkler. Hastig blickte sie über die Schulter, was darauf hindeutete, dass sich im Flur noch eine weitere Person befand. »Aber das hier ist für Sie abgegeben worden … Es sei dringend. Ich möge es direkt übergeben und auf Antwort warten … Es ist …«

Paul zögerte einen Moment. Dann löste er sich aus der Starre und ging steifbeinig auf die Haushälterin zu.

Mit bebenden Händen reichte sie ihm das Schreiben. »Es tut mir leid, Herr Doktor«, murmelte sie kaum hörbar. »Es tut mir so leid.«

Ohne auf ihre Worte einzugehen, nahm er das Papier entgegen, warf einen Blick auf das Siegel und brach es. Schnell hatte er das Schreiben auseinandergefaltet und überflog es. Alle Farbe wich aus seinem Gesicht, seine Augen wurden hart.

Madeleine hatte das Gefühl, als würde sich eine eiskalte Hand fest um ihr Herz krallen. Sie sah, wie Paul nickte und der aufgeregten Haushälterin beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

»Ich danke dir, Auguste. Es war richtig, dass du gekommen bist.«

Die ältere Frau entspannte sich sichtlich, ihre Stimme zitterte nur noch leicht, als sie zögernd hinzufügte: »Im Flur … im Flur wartet ein Uniformierter auf den gnädigen Herrn.«

Madeleines Mut sank. Auch ohne dass es ausgesprochen wurde, wusste sie, dass das nichts Gutes zu bedeuten hatte.

Langsam, mit der ihm eigenen Ruhe, die sie so sehr an ihm liebte, warf Paul einen Blick in die Runde, die in ein betretenes Schweigen verfallen war. »Ihr entschuldigt mich?« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er nach draußen.

Durch die nur angelehnte Tür drangen gedämpfte Gesprächsfetzen ins Speisezimmer. Obgleich Madeleine kein Wort verstand, ahnte sie, was da besprochen wurde.

Eine Ewigkeit verstrich, in der niemand etwas sagte, niemand sich rührte. Die gesamte Szenerie wirkte wie eingefroren. Nur die Flammen der Kerzen auf dem Tisch bewegten sich in der durch das Fenster hereinströmenden Abendbrise.

Als Paul zurückkam, war er so blass, wie Madeleine es nie zuvor bei ihm gesehen hatte. Einem Impuls folgend machte sie zwei Schritte auf ihn zu, fasste kurz seine Hände, die so kalt waren wie ihre eigenen.

»Meine Lieben«, sagte er langsam. »Ich bedaure sehr, euch mitteilen zu müssen, dass unsere kleine Feier leider zu Ende ist.«

Ein heftiges Ausatmen war zu hören. Es kam von Helma, die sich bei den Worten ihres Sohnes erhoben hatte. In ihrer Miene zeichnete sich die gleiche Bestürzung ab, die auch Madeleine empfand.

»Die Lage hat sich zugespitzt«, fuhr Paul fort. »Der Norddeutsche Bund wird morgen offiziell die Mobilmachung anordnen, und auch ich bin wieder einberufen worden.«

Wie in Trance sah Madeleine, dass ihr Vater bei diesen Worten zusammenzuckte, Tränen in seine Augen traten.

Stumm ging Helma von Gerlau auf ihren Sohn zu und drückte seine Hand. »Wann?«, fragte sie dann leise und gefasst, und wieder spürte Madeleine die Zuneigung, die sie für diese zierliche Frau empfand.

»So schnell wie möglich. In zwei Tagen. Mir bleibt gerade noch Zeit, meine Sachen zu packen und mich nach Coblenz aufzumachen. Und von dort aus …« Er ließ den Rest des Satzes unausgesprochen, doch jeder der Anwesenden wusste, was er sagen wollte.

In den Krieg, der nicht nur das Land mit Tod und Verderben überziehen, sondern eine womöglich unüberbrückbare Kluft zwischen ihren beiden Ländern aufreißen würde. Zwischen Frankreich und Preußen – und vielleicht sogar den anderen deutschen Staaten.

Erschüttert schloss Madeleine die Augen. Der schwelende Hass, der all die Jahre unter der Oberfläche geschlummert hatte, würde neue Nahrung bekommen, an allen Ecken und Enden auflodern. Paul und sie würden sich genau dazwischen befinden, im Herzen eines Konfliktes, den keiner von ihnen gewollt hatte. Sie würden sich lange nicht wiedersehen – vielleicht niemals.

Von diesem Tage an standen sie auf gegnerischen Seiten.

KAPITEL 2

Berlin, 15. Juli 1870

Paul war allein im Speisezimmer zurückgeblieben. Der Tisch war abgedeckt, Geschirr, Servietten und das wertvolle Tafelsilber waren verschwunden. Nur noch die Kandelaber standen verloren auf der sorgsam geplätteten Tischdecke, auf der ein Rotweinfleck prangte. Wie ein blutiges, unglückverheißendes Omen.

Krieg … nach nur vier Jahren wieder ein Krieg. Allzu gut wusste Paul, was das bedeutete. Übelkeit stieg in ihm auf, das Dröhnen der Geschosse, die Schreie von Sterbenden und Verwundeten hallten in seinem Kopf wider. Sein Mund war trocken, und doch fühlte er sich nicht dazu in der Lage, zur Kommode zu gehen, um sich einen Schluck Branntwein einzuschenken. Eine Tür knarrte leise, und er hob den Kopf.

Im hereinfallenden Licht des Flures stand Madeleine. Wann war sie zurückgekommen? Sie hatte doch ihren Vater nach Hause gebracht. Er hatte es nicht läuten hören.

Mit herabhängenden Armen blieb sie im Türrahmen stehen und sah ihn an. Er sprang auf, eilte auf sie zu und zog sie wortlos an sich. Sie rührte sich nicht, verharrte regungslos in seiner Umarmung.

»Wir werden abreisen«, sagte sie nach einer Weile. »Papa ist schon dabei, die Wohnung aufzulösen. Gleich morgen kümmern wir uns um die Zugfahrkarten. Ende des Monats dann …«

Sie sprach nicht weiter, doch Paul verstand, was sie damit sagen wollte.

Ende des Monats werde ich Preußen verlassen …

Nur die anerzogene Beherrschung hinderte ihn daran, seine Verzweiflung hinauszuschreien, seine Wut, seine brennende Enttäuschung, seine Liebe.

»Das Sanitätscorps hat mich ohne weitere Rücksprache meinem früheren Regiment zugewiesen, im Rang eines Stabsarztes. Daher muss ich mich auf direktem Weg nach Coblenz begeben«, sagte er leise und nahm dankbar wahr, dass die junge Frau in seinem Armen sich wieder gefasst hatte. »Wenn da nicht Bismarck seine Hände … Sonst hätte ich euch doch … Verflucht!«

»Pst.« Ein Finger legte sich auf seine Lippen. »Ne dis rien. Sag nichts.«

Langsam hob Madeleine den Kopf, schmiegte ihre Stirn an seine Wange. Dann suchten ihre Lippen die seinen, hastig, verzweifelt. Er presste sie an sich, wollte sie nie wieder loslassen.

»Je vais t’attendre.« Ihre Worte klangen wie ein Schwur, während sie sich langsam von ihm löste. »Ich werde auf dich warten. Ganz gleich, wie lange es dauert … notfalls bis … jusqu’à la mort. Bis in den Tod.«

Paul ergriff ihre Hand und drückte sie fest. »Dann hilft es nur noch zu beten, dass es nicht dazu kommt.«

*

Zwei Tage später standen Madeleine und Paul auf dem Bahnhof, in dem es zuging wie in einem Bienenstock. Zivilisten und Uniformierte, Männer, Frauen und Kinder jeden Alters schoben sich über die in beißenden Rauch gehüllten Bahnsteige.

Immer wieder das gleiche Bild: Mütter, die sich weinend an ihre Söhne klammerten. Soldaten, die – den Ausdruck von Siegesgewissheit und Triumph in den Augen – die Waggons bestiegen. Frauen, die sich voller Inbrunst, teils mit Stolz, teils mit Sorge und Trauer von ihren Männern verabschiedeten.

Der Anblick versetzte Paul einen Stich. All diese Paare, diese Männer und Frauen mochten zwar in der gleichen Situation sein wie Madeleine und er – ungewiss, ob sie sich je wiedersehen würden, voller Furcht, dass einer von ihnen einer Kugel oder Granate zum Opfer fallen würde. Doch gab es einen entscheidenden Unterschied: Die anderen Paare wussten, dass sie auf der gleichen Seite standen, für die gleiche Sache, das gleiche Land, den gleichen König kämpften, hofften, bangten und beteten. Und sie würden über die preußische Feldpost auch in der Ferne Freud und Leid miteinander teilen, den Liebsten zu Hause und im Feld neben einigen zärtlichen Worten auch Geschenke zukommen lassen und so füreinander sorgen können. Dieser Trost war ihnen beiden versagt, und der Gedanke lastete schwer auf seiner Seele.

Unwillkürlich stiegen in Paul die Erinnerungen an all die wundervollen Momente auf, die er mit Madeleine geteilt hatte: im Hause seiner Mutter, in ihrem Lieblingscafé unweit des Stadtschlosses bei einem der Konzerte, die an warmen Sommerabenden auch im Freien aufgeführt wurden, und besonders gern bei ihren Spaziergängen im Zoologischen Garten. Wie oft hatten sie dort die Unverdorbenheit und Schönheit der göttlichen Schöpfung, der Natur bewundert. Dabei endeten ihre Gespräche meist bei dem Thema, das sie beide am meisten faszinierte, am tiefsten miteinander verband, der Medizin.

Wie war es nur möglich, dass diese schillernde Stadt ihres gemeinsamen Glücks mit einem Male derart abweisend und bedrohlich wirkte? Berlin hatte sich in eine dröhnende Lawine marschierender Soldaten nebst Munition und Ausrüstung verwandelt, die in den nächsten Tagen und Wochen von verschiedenen Seiten aus auf die Grenze zu Frankreich zurollen würde.

»Du wärst besser zu Hause geblieben. Sicher hast du noch eine Menge zu tun«, sagte er hilflos, doch war er nicht überrascht, als Madeleine den Kopf schüttelte.

Tränen schimmerten in ihren Augen. »Nein, nicht besser … Uns bleibt so wenig Zeit …«, widersprach sie, so leise, dass niemand der Umstehenden ihren weichen, singenden Akzent vernahm, der ihre französische Herkunft verriet.

Stumm fuhr sich Paul mit der Hand über den schweißfeuchten Nacken, während die schrillen Stimmen der Zeitungsjungen in seinem Kopf widerhallten, die Schlagzeilen, die unheilschwanger die vergangenen Tage überschattet hatten: Keine Einigung in der Frage der spanischen Thronfolge – Leopold von Hohenzollern zieht seine Kandidatur zurück – Der französische Botschafter bedrängt König Wilhelm bei seiner Kur in Ems – Endgültige Absage des Königs an Frankreich. Keine weiteren Zugeständnisse. Und immer wieder Neuigkeiten zur allgemeinen Mobilmachung, der sich nun auch die süddeutschen Staaten, ja sogar Bayern, anschließen würden.

Mühsam verdrängte Paul diese Gedanken und wandte sich wieder Madeleine zu, die ihm noch nie so zart, noch nie so verletzlich erschienen war wie hier auf diesem Bahnsteig. »Wenn du sicher in Metz angekommen bist«, sagte er, »warte bitte nicht auf Post von mir.« Seine Stimme klang heiser. »Ich werde dir nicht schreiben.«

Ein heftiges Aufbegehren trat in Madeleines Augen. »Mais pourquoi? Du könntest es doch zumindest versuchen, wenn …«

Er schüttelte den Kopf. »Es ist sicherer so.« Sein Blick suchte den ihren. »Und ich werde nichts tun, das dich in Gefahr bringt. Still …«, sagte er sanft, als sie erneut protestieren wollte. »Metz ist eine der bedeutendsten militärischen Festungen Frankreichs. Möglich, dass es dort zu Kämpfen kommt … Und dann wird man anfangen, sich gegenseitig zu misstrauen, Verräter und Spione auszumachen. Eine junge Frau, die in dieser Zeit Post von einem preußischen Offizier erhielte, wäre ein gefundenes Fressen für alle, die einen Sündenbock suchen. So etwas könnte ich nie verantworten …«

Das schrille Pfeifen einer Lokomotive zerriss den Rest des Satzes. Madeleine zuckte zusammen, und Pauls verzweifeltes Bedürfnis, sie vor allem Leid und Unbill zu schützen, wurde schier übermächtig. Wie konnte er sie jetzt einfach allein ziehen lassen? Er wäre bereit, sein Leben zu geben, um das ihre zu schützen.

»Haben wir nicht geahnt, dass es so kommen musste?«, flüsterte sie. »Der wachsende Hass zwischen unseren Völkern?« Ihre Stimme klang so traurig, dass Paul spürte, wie seine Kehle eng wurde.

»Womöglich«, gab er ebenso leise zurück. »Aber ist es denn ein Verbrechen, wider besseres Wissen zu hoffen? Darauf, dass die Menschen endlich zur Vernunft kommen, statt blind einem Feldherrn, Kanzler, König oder Kaiser hinterherzulaufen?«

Madeleine war stehen geblieben und ergriff seine Hände. Obwohl ihre Augen feucht schimmerten, drückten sie die ihr eigene Ruhe und Entschlossenheit aus, die er so an ihr liebte. »Kein Verbrechen. Mais, tout de même …« Sie zögerte, als suche sie nach den richtigen Worten. »Vielleicht unklug … in einer trügerischen Hoffnung zu leben, die dann doch nur enttäuscht wird. Einer Hoffnung oder …«

… Liebe. Das Wort stand unausgesprochen zwischen ihnen. Unwillkürlich packte Paul Madeleines Hände fester, so fest, dass sie zusammenzuckte. Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an.

Wieder pfiff eine Lokomotive und zerstörte den Moment der stummen Zwiesprache und Nähe.

»Tu dois t’en aller!«, sagte sie. »Du musst gehen.«

Er hatte das Gefühl, dass der Kragen der preußischen Uniform ihm fast die Luft abschnürte. Er zog sie noch einmal an sich, und sein Mund suchte den ihren. Der Kuss schmeckte süß und zugleich bitter wie die Verzweiflung und salzig nach Tränen.

Ein weiteres Pfeifen ertönte und mahnte ihn zum Aufbruch. Widerwillig löste er sich aus der Umarmung.

»Au revoir«, flüsterte Madeleine, während sie noch immer seine Hand hielt.

Ich liebe dich, formten seine Lippen lautlos.

Sie nickte stumm.

Schnell wischte er sich mit dem Handrücken über das Gesicht und wandte sich dann ruckartig ab. Mit ausdrucksloser Miene ging er auf sein Bahngleis zu und stieg in einen der überfüllten Waggons. Madeleine hatte die Hand zum Abschiedsgruß erhoben. Der Zug ruckte an und fuhr langsam los. Paul schaute zurück, bis ihre Gestalt aus seinem Blickfeld verschwunden war. Erst dann schickte er sich an, einen freien Platz in einem Abteil zu suchen.

KAPITEL 3

Coblenz, Preußische Rheinprovinz, 19. Juli 1870

Bleigrau schimmerte der Rhein unter der Pfaffendorfer Brücke, über die zwei Tage später der in dichten Rauch gehüllte Zug hinüber zum linken Rheinufer rumpelte. Ein Schatten fiel auf Pauls Gesicht, als sie die wuchtigen Brückentürme passierten. Das Gittertor, das die Gleise sperren konnte, war weit geöffnet. Schnaufend passierte das Gefährt die weitläufige Anlage des prächtigen, aus dem vorigen Jahrhundert stammenden Schlosses, in dem zu früheren Zeiten der Trierer Erzbischof und Kurfürst logiert hatte und das nun dem preußischen Königspaar gelegentlich als Residenz diente. Links von den Bahngleisen zogen vor Pauls Augen die sternförmig gezackten Wallanlagen von Coblenz vorbei, der Hauptstadt der preußischen Rheinprovinz, welche an den Hauptausfallstraßen durch massive zweigeschossige Torbauten durchbrochen wurden. An den Bahnübergängen der breiten Straßen warteten bei den Toren noch vereinzelte Fußgänger und eine Kolonne Soldaten auf die Vorbeifahrt des Zuges. Auf der rechten Seite waren die Straßenzüge der Coblenzer Neustadt zu sehen, bevor sich in einer letzten lang gezogenen Kurve die mächtigen Magazinbauten des Heeres erhoben.

Schließlich kam der repräsentative Personenbahnhof in Sicht, in den sie langsam einfuhren. Die Bremsen quietschten, die Lokomotive ließ ein schrilles Pfeifen ertönen. Steifbeinig erhob sich Paul von seinem Platz, schulterte sein Gepäck und bahnte sich an den anderen Soldaten vorbei den Weg nach draußen, wo ihn beißender Rauch empfing, der ihm in Augen, Nase und Mund brannte.

Das Bahnhofsgelände war schwarz vor Menschen, hallte wider vom Gedränge, von den lauten Rufen und gebrüllten Befehlen, den harten Schritten militärischer Stiefel und genagelter Schuhe auf den Bahnsteigen. Einige Herzschläge lang musste er die Augen schließen und den Impuls unterdrücken, sich an Ort und Stelle umzudrehen, wieder in den Zug zu steigen und zurück nach Berlin zu fahren. Nach Berlin oder lieber noch dorthin, wo auch immer sich Madeleine derzeit aufhalten mochte.

Wieder überfielen ihn der Schmerz und die Trauer ob ihrer unfreiwilligen Trennung. Die ganze Fahrt über hatte er an Madeleine gedacht. An die letzten, kostbaren Momente ihres Zusammenseins, überschattet von Ungewissheit. Wann würden sie sich wiedersehen? Würden sie sich überhaupt je wiedersehen?

Mühsam schob Paul den Gedanken beiseite, während seine Augen über den sich langsam leerenden Bahnsteig glitten. Schließlich blieben sie an einem jungen Mann in blauer Uniform hängen, der sich suchend umblickte. Einen kurzen Moment lang musterte Paul den Soldaten, der ein wenig verloren inmitten des ganzen Treibens wirkte: dunkle, lockige Haare, rehbraune Augen hinter runden Brillengläsern.

Ganz offensichtlich seine Eskorte … Paul grinste schief. Kurz entschlossen ging er auf ihn zu.

»Herr Stabsarzt von Gerlau?« Der junge Mann nahm sofort Haltung an.

Paul nickte. »In Person.«

Eilig salutierte der andere, machte jedoch keinerlei Anstalten, sich zu rühren, geschweige denn, seinem Vorgesetzten das Gepäck abzunehmen.

Eine Weile wartete Paul, bevor er den Gruß erwiderte und freiheraus fragte: »Und Sie sind …?«

Ein unsicheres Blinzeln, dann schien der junge Mann verstanden zu haben, dass tatsächlich er gemeint war. »Hagemann, Herr Stabsarzt. Eucharius Hagemann.«

Eucharius? Unwillkürlich musste Paul lächeln. Katholisches Landei von der Mosel oder aus der Eifel, vermutete er, dessen Mutter ihren Sohn nach einem Trierer Heiligen benannt hatte. »Und weiter?«, hakte er nach, ohne sich seine Erheiterung anmerken zu lassen.

»Ach so, ja …« Die ansprechenden, beinahe klassisch anmutenden Züge liefen rot an. »Ich bin als Ihr persönlicher Bursche abgeordert … und soll Sie zu Ihrem Quartier bringen.«

»Quartier, aha.« Tatsächlich verspürte Paul nach der langen Reise das dringende Bedürfnis, sein Gepäck loszuwerden, sich seiner durchgeschwitzten, staubigen Uniform zu entledigen und ein Bad zu nehmen. Falls ein solcher Luxus hier überhaupt denkbar war, in dieser allem Anschein nach hoffnungslos überfüllten Festungsstadt. Er gab dem jungen Mann ein Zeichen, das Gepäck zu schultern und sich auf den Weg zu machen. In einigen Schritten Abstand folgte er ihm. Sein neuer Bursche war von schlanker Gestalt, durchschnittlicher Größe, und obgleich seine Uniform tadellos sauber und gepflegt war, wirkte sie an ihm irgendwie fehl am Platz. Zudem erschien es Paul, als wünschte sich Hagemann im Augenblick an jeden anderen Ort auf der Welt als diesen.

Damit wären wir derer schon zwei, schoss es ihm durch den Kopf, während er sich durch die Eingangshalle des Bahnhofs schob und mit seinem Begleiter durch die engen, verwinkelten Gassen von Coblenz eilte. Eine Stadt, von der er geglaubt hatte, sie nicht allzu bald wiederzusehen. Und die er wahrscheinlich schneller wieder in Richtung Frankreich verlassen müsste, als ihm lieb war.

*

In der engen Wohnung der Witwe Faßbender in der Castorpfaffenstraße war es trotz der sommerlichen Temperaturen, die wie eine Dunstglocke über dem Rhein- und Moseltal hingen, angenehm kühl und ruhig. Zwar waren die Zimmer winzig, die Decken niedrig, doch hielten die fest verschlossenen Fenster notdürftig Hitze, Staub und den Lärm der Straße ab.

Erleichtert stieß Paul die Luft aus, als er sein Gepäck auf dem Boden abstellte. Die kleine Kammer war sauber, die Möblierung bestand aus einem Bett, einem Tisch und zwei Stühlen. Der auf dem Boden ausgebreitete Strohsack war offensichtlich für seinen Burschen gedacht und machte ihm deutlich, dass es ab sofort wieder mit jeder Privatsphäre vorbei war. Als er nach draußen blickte, sah er am östlichen Horizont die mächtige Feste Ehrenbreitstein auf ihrem Felsplateau über dem rechten Rheinufer thronen.

»Ich hoffen, et gefällt Inne, Herr Stabsarzt.« Die Stimme seiner Gastgeberin klang weich, fast ein wenig singend, auf jeden Fall ziemlich atemlos, nachdem sie ihren üppigen Körper die schmale, steile Treppe hinaufgeschleppt hatte. »Et is dat scheensde Zimmer im Haus. Et hot frieher meinem Sohn gehiert. Vor’m letzte Krieg, versteh’n Se?« Tränen schimmerten in ihren von Falten umgebenen blassblauen Augen. »Er hätt’ sich gefreut, dat Sie et nu bekumme, Herr Stabsarzt.«

Also nicht nur Witwe, sondern auch Mutter eines in einem der letzten beiden Kriege Gefallenen. Die Luft im Raum erschien Paul mit einem Male ungeheuer stickig, doch er nickte. »Gewiss hätte er das. Ich danke Ihnen.« Er zwang sich zu einem Lächeln, das die ältere Frau zögernd erwiderte, die Hände in die blütenweiße Schürze vergraben, die sich um ihren fülligen Busen und ihre Hüften spannte.

»En Eintopfsopp stieht off em Herd, für Sie on Ihre Bursch! Wenn Se sich frisch gemacht hann, könne Se runterkomme und …«

Ein Tumult, der von draußen heraufdrang, ließ sie innehalten. Mit einer knappen Geste bat Paul die Frau um Entschuldigung und eilte zum geöffneten Fenster.

Auf der Straße hatten sich Passanten versammelt, die lautstark miteinander redeten und mit den Armen gestikulierten.

Im gleichen Moment stürzte Hagemann herein, das Gesicht gerötet, die Haare verschwitzt. Noch ehe Paul ihn aufgefordert hatte zu sprechen, stieß er atemlos hervor: »Krieg! Gerade kam die Nachricht. Napoleon III. hat Preußen offiziell den Krieg erklärt.«

*

Wie an jedem Morgen erwachte Paul früh. Grauer Himmel schimmerte durch die sauber polierten Fensterscheiben. Ein Hauch von Rosa kündigte den neuen Tag an.

Schnell stand er auf und massierte sich die Schultern, die von der langen Reise noch immer verspannt und verhärtet waren, und ließ den Blick durch den Raum gleiten. Er war allein. Hagemanns Decke und sein Kissen lagen sorgfältig gefaltet auf dem Strohsack. Seine Uniform war verschwunden, also hatte er sich wohl schon für den Dienst bereit gemacht. Ein Frühaufsteher, wie es schien.

Nachdenklich blickte Paul nach draußen, wo sich ein atemberaubender Sonnenaufgang über dem Mosel- und Rheintal ankündigte. Gleißendes Rot und Gold ergoss sich über die alten Mauern der Stadt, die Häuser, die Kirchtürme und Wälle, welche die Festungsstadt schützten. Wo Madeleine sich wohl gerade befand? War sie noch in Berlin, damit beschäftigt, zusammen mit ihrem Vater die Wohnung aufzulösen? Oder saß sie bereits im Zug, der sie nach Frankreich bringen würde? Pauls Magen knurrte und erinnerte ihn daran, dass er am Abend zuvor kaum einen Löffel von dem Eintopf heruntergebracht hatte. Er war nicht in der Lage gewesen, seine Sorge um Madeleine abzuschütteln.

Hagemann schien nicht vorzuhaben, ihm ein Frühstück zu bringen. Paul rieb sich den Nacken. Wo war der Kerl? Litt er an der Ruhr, oder war der so weltfremd erscheinende junge Mann ein Herumtreiber? Es warf kein gutes Licht auf ihn selbst als Arzt und Offizier, wenn er nicht einmal seinen eigenen Burschen im Griff hatte. Er würde ihn also suchen müssen. Unwillig streifte Paul die Uniform über.

Gerade als er die Klinke herunterdrücken wollte, ging die Tür auf, und Hagemann kam herein. Irritiert blinzelte er hinter seinen Brillengläsern, als er seinen Vorgesetzten sah, der bereits fertig angekleidet war und ihn mit einem Blick maß, der Unheil verhieß.

»Guten Morgen, Herr Stabsarzt.« Ein Hauch von Röte huschte über das jungenhafte Gesicht.

Paul trat einen Schritt zur Seite und winkte seinen Burschen herbei. Offensichtlich verunsichert folgte dieser der Aufforderung, sagte jedoch nichts, sondern vermied es weiterhin, ihn anzusehen.

»Ich nehme an, du hast dich um das Frühstück gekümmert«, bemerkte Paul unbewegt.

»Frühstück, Herr Stabsarzt?« Der Ausdruck, mit dem Hagemann nun doch zu ihm aufsah, wirkte wie der eines Mannes, der gerade aus seinen Gedanken gerissen worden war.

Paul entschloss sich, ein wenig eindringlicher zu werden, und zog die Augenbrauen zusammen. »Ja, Frühstück. Sicher hat man nicht versäumt, dich darauf hinzuweisen, dass die vorrangige Aufgabe eines Burschen darin besteht, sich um die Bedürfnisse seines Offiziers zu kümmern. Und dazu gehört zweifelsohne auch eine nahrhafte Morgenmahlzeit. Also Hagemann, wie sieht’s damit aus? Hat unsere werte Wirtin nichts für uns vorbereitet?«

Die Röte, die in das Gesicht seines Burschen schoss, hatte die Farbe von schwerem französischem Wein. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Stabsarzt. Gerade war ich wohl … ich bin … Ich meine … Ich werde mein Versäumnis gleich wiedergutmachen.« Schon wollte er umkehren und zur Tür hinausstürzen, doch Paul stellte sich ihm in den Weg.

»Nun, junger Mann. Ein Langschläfer bist du offensichtlich nicht, wie du heute Morgen bewiesen hast. Trotzdem ist es dir nicht gelungen, auch nur die einfachste deiner Aufgaben zu erfüllen.« Paul bemühte sich um eine strenge Miene, was ihm angesichts der Zerknirschtheit des Jungen jedoch nur unzureichend gelang. »Da stellt sich einem doch die Frage, was du heute in aller Frühe schon getrieben hast.«

Statt einer Antwort wurde das Gesicht seines Burschen noch eine Spur dunkler.

»Nun?«, hakte Paul nach.

»Nichts, Herr Stabsarzt!« Hagemanns Zunge schien fast über sich selbst zu stolpern. »Nichts von Bedeutung. Erst habe ich draußen den Abtritt aufgesucht und dann …« Er unterbrach sich. »Es war etwas Privates, Herr Stabsarzt, nichts von Belang. Aber natürlich werde ich mich sogleich um Ihr Frühstück kümmern. Benötigen Sie auch ein Bad … ich könnte die Witwe danach fragen und vielleicht … eine Rasur?« Skeptisch beäugte der Junge Pauls Gesicht, das tatsächlich seit dem vorigen Morgen kein Rasiermesser mehr gesehen hatte.

Der plötzliche Eifer des Burschen, der eindeutig das Gespräch auf unverfänglichere Dinge lenken sollte, machte Paul zwar stutzig, doch zog er es vor, es gut sein zu lassen. »Ein Frühstück sollte fürs Erste genügen«, sagte er knapp und bemerkte die Erleichterung, die sich augenblicklich auf Hagemanns Gesicht ausbreitete, als dieser Haltung annahm und den Befehl bestätigte.

»Kommt sofort, Herr Stabsarzt.« Er machte kehrt und wandte sich zur Tür.

»Und eine Rasur wäre tatsächlich auch nicht schlecht«, fügte Paul hinzu.

Hagemann nickte hastig und eilte hinaus. Bevor er die Tür hinter sich schloss, sah Paul noch, wie er etwas Kleines, Glitzerndes in der Hosentasche verschwinden ließ.

Er runzelte die Stirn. Nun, diesen seltsamen Kerl würde er die nächste Zeit wohl besser im Auge behalten.

KAPITEL 4

Mittelmeer, nahe der französischen Küste, 23. Juli 1870

Der Schlag, der Karim in den Magen traf, riss ihn fast von den Beinen. Doch es gelang ihm, sich zu fangen, aufzurappeln und den Hieb zu parieren. Ein Blitzschlag durchzuckte seine Faust, als diese hart mit dem Kinn seines Gegners zusammenstieß.

»’Ant hamar!« Verfluchter Idiot!

Gedämpft drang die Beleidigung an Karims Ohr und schmerzte ihn noch mehr als die körperlichen Blessuren, die er bereits davongetragen hatte. Der Anblick des anderen, dem das Blut aus Nase und Lippen rann, verschwamm in einem wabernden Schleier aus rotem Nebel.

»Elender Hurensohn!«

Fast gleichzeitig mit dieser wüsten Beschimpfung traf Karim ein weiterer Faustschlag. Schmerz durchzuckte ihn, sein Kopf wollte schier explodieren. Der Boden unter ihm schwankte, und sein Körper drohte vornüberzukippen.

Bevor er jedoch endgültig den Halt verlor, packte ihn jemand von hinten und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Ein Schwall kalten Wassers ergoss sich über ihn und ließ ihn augenblicklich wieder zur Besinnung kommen. Prustend rang er nach Luft, während ihm Rinnsale über Augen, Wangen und Mund liefen. Er blinzelte und erkannte das Gesicht von Sergent Cruche, das zugleich Zorn und Kälte ausstrahlte.

Karim spürte, wie sein siedend heißer Zorn verrauchte und einer unbestimmten Furcht wich. Einer Furcht, die so groß war, dass sie ihm für einen Moment den Atem nahm. Dennoch zwang er sich, seinen Vorgesetzten direkt anzuschauen, während das Blut, das ihm von der aufgeplatzten Braue tropfte, in seinen Augen brannte.

»Was war das schon wieder, Bougnoules?« Wie ein Donnergrollen dröhnte die Stimme des Sergent in seinem schmerzenden Kopf. »Spart eure Kräfte für den Feind auf, statt euch gegenseitig an die Gurgel zu gehen wie die Wilden.«

Bougnoules … Wilde …

Karim ballte die Fäuste. Es drängte ihn danach, Cruche in das selbstgefällige Gesicht zu schlagen, aber er war klug genug, diesen Impuls zu unterdrücken, um dem aufgeblasenen Franzosen keinen Grund zu liefern, ihn ein weiteres Mal zu demütigen.

»Verstanden?« Cruche kam einen Schritt näher, so nah, dass Karim den Schweiß riechen konnte, der seiner Uniform entströmte. Mochten sich die Franzosen auch für die Herren der Welt halten, für das Wetter südlich des Mittelmeers waren sie nicht geschaffen.

»Ich hab dich gefragt, ob du verstanden hast.« Die Drohung in der Stimme seines Vorgesetzten war unüberhörbar.

Karim wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihn weiter zu reizen. So presste er die Kiefer zusammen und senkte den Kopf. »Oui, sergent.«

»Na, also … geht doch.« Offensichtliche Genugtuung schwang in Cruches Tonfall mit. »Mit der richtigen Disziplin kann man selbst Barbaren wie …«

»Marseille in Sicht!« Eine laute Stimme übertönte seine Worte und zerriss zugleich die Anspannung, die wie eine Glocke über dem Deck hing. Ruckartig fuhr der Sergent herum und hatte mit wenigen Schritten die Reling erreicht. Karim folgte dessen Blick in Richtung Norden, wo sich ein mit bloßem Auge kaum erkennbarer Streifen Land am Horizont abzeichnete.

Marseille. Der Hafen, an dem sie von Bord gehen würden, einer der südlichsten des französischen Mutterlandes, wie ihnen gesagt worden war.

Mutterland? Verstohlen spuckte Karim aus. Nicht seine Mutter, nicht sein Land. Er wusste kaum mehr über Frankreich, als dass es seit mehreren Jahrzehnten seine algerische Heimat beherrschte und knechtete. Ein Kaiserreich, dessen Sprache und Gesetz bis hinein in die hintersten Dörfer Algeriens reichten und das jedes Jahr mehr Fremde an die Ufer seiner Heimat spülte. Europäer, die seine Landsleute und Glaubensbrüder von ihrem angestammten Grund und Boden vertrieben, um selbst darauf zu siedeln und satte Gewinne zu erzielen. Und für dieses Frankreich sollte er nun sein Blut vergießen, hier, in diesem Krieg so fern von zu Hause. Im Kampf gegen dessen Feinde, die Deutschen, die Boches.

»Los! Alles bereitmachen!« Cruches Stimme zerschnitt die Luft, während sich das Schiff mit geblähten Segeln weiter der französischen Küste näherte.

Karim trat an die Brüstung, umfasste mit den Händen das von Feuchtigkeit und Salz getränkte Holz und richtete seine Augen fest auf den Horizont.

Marseille, Frankreich … Was würde sie dort erwarten? Ihn und die anderen Männer der Tirailleurs Algériens, der aus einheimischen Algeriern gebildeten Schützenregimenter des Französischen Kaiserreiches? Karim spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Und während es um ihn herum auf dem Deck immer lebhafter zuging, schwor er sich, alles zu tun, um lebend aus diesem verfluchten Konflikt zurückzukommen. Und dass er, so Allah ihm gnädig wäre, auch nicht allein heimkehren würde, sondern zusammen mit dem einzigen Menschen, der ihm mehr bedeutete als sein eigenes Leben und den er seit langer Zeit nicht mehr gesehen hatte.

Eine salzige Brise fuhr durch den mit Schweiß getränkten Stoff seiner farbenprächtigen orientalischen Uniform. Die feinen Härchen an seinen Oberarmen stellten sich auf, und plötzlich fragte sich Karim, ob es nicht wahrscheinlicher war, dass sehr bald alle seine Wünsche und Hoffnungen zerplatzten und er dort, im fremden Europa, den Tod finden würde.

*

Die Nacht hatte alles Licht geschluckt. In der Stadt Metz, deren aus hellem Jaumont-Stein errichteten Gebäude und Fassaden tagsüber in der Sonne golden schimmerten, herrschte tiefste Finsternis.

Dennoch war es ein Gefühl des Nachhausekommens, das Clément Tellier erfasste, als er in die Rue des Clercs einbog und das mehrstöckige Haus seiner Eltern in der Dunkelheit mehr erahnte als sah. Und dieses Gefühl überkam ihn mit einer solchen Heftigkeit, dass er einen Moment stehen blieb.

Dabei hatte er zunächst keinerlei Bedürfnis verspürt, die schillernde und pulsierende Metropole Paris zu verlassen, um in die im Vergleich dazu behäbige Stadt an der Mosel zurückzukehren. Denn neben dem Studium der Juristerei, dem Clément nur sehr halbherzig nachkam, hatte er in der französischen Hauptstadt auch Zugang zu Kreisen gefunden, die völlig anders dachten, anders fühlten als der Rest des Landes. Kreise, welche die Keimzellen einer neuen Revolution sein sollten, die nicht nur Frankreich, sondern ganz Europa von den althergebrachten Obrigkeiten, dem dekadenten Adel und den ausbeuterischen Großindustriellen gleichermaßen reinigen würde. Clément spürte, wie sein Herz bei diesem Gedanken schneller schlug, und legte die letzten Meter bis zum Haus seiner Familie im Laufschritt zurück.

Atemlos eilte er durch das große, bogenförmige Tor, das zum Hinterhof führte, nahm die Treppenstufen und erreichte die Tür zur Beletage, die um diese Tageszeit verschlossen war. Eine weise Vorsichtsmaßnahme, denn wer konnte schon sagen, wann die verhassten Boches über die Stadt herfallen würden?

Da alle im Haus zu schlafen schienen und er niemanden aufwecken wollte, kramte er in seinen Taschen und zog schließlich einen massiven Schlüssel hervor. Die Tür öffnete sich mit einem Knacken, und beinahe lautlos schlüpfte er hindurch.

Dunkel und verlassen lag der Flur vor ihm, das Treppenhaus, wo er in Kindertagen mit seiner Schwester gern Verstecken gespielt hatte. Einen kurzen Augenblick drohte er in wehmütigen Erinnerungen zu versinken, doch dann brachte ihn das Knurren seines Magens in die Gegenwart zurück. Schweiß und der Ruß der langen Bahnfahrt hafteten an ihm wie eine zweite Haut. Er sehnte sich nach einem heißen Bad und einem warmen Bett, zuvor jedoch nach einer sättigenden Mahlzeit.

Leise nahm er den Weg in die Küche, wo er sich Rock und Hemd vom Leib riss und sich notdürftig in einem Bottich mit Wasser wusch, der in einer Ecke stand. Dann machte er sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Schnell hatte er Brot, Schinken und etwas Käse gefunden, schnitt sich von allem etwas ab und steckte es sich hastig in den Mund. Noch während er kaute, nahm er einen schweren Becher aus einem Regal und füllte ihn aus einem Krug, der, wie er zuvor gerochen hatte, Cidre enthielt.

Durstig stürzte er den Apfelwein hinunter und schenkte sich nach, während er mit der anderen Hand schon nach dem nächsten Stück Schinken griff und spürte, wie seine Lebensgeister langsam zurückkehrten. Gleich morgen würde er das tun, weshalb er überhaupt in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, und sich bei seinem Franc-Tireur-Regiment zurückmelden.

Freischärlerverbände, von denen es gerade in der französischen Grenzregion zahlreiche gab, in diesen Zeiten des aufkeimenden Konflikts mit Preußen würden sie wieder benötigt werden. Unabhängig von den regulären Truppen des Kaiserreiches konnten sie als paramilitärische Einheiten blitzschnell reagieren. Da sie auf eine militärische Uniformierung verzichteten und die Ausstaffierung ihrer Männer eher an Jäger als an Soldaten erinnerte, war es ihnen möglich, auch im Geheimen zu agieren, Sabotageakte und Überraschungsangriffe auf feindliche Truppen und Transporte auszuführen. Ein strategischer Vorteil, der sie zu gefürchteten Gegnern machte, ihnen aber auch den Ruf eingebracht hatte, heimtückische Heckenschützen zu sein und gegen das Kriegsrecht zu verstoßen, welches nur den Kampf regulärer, uniformierter Soldaten untereinander legitimierte.

Pah! Welch kleingeistige, überkommene Einstellung. Als hätten die alten Regeln noch irgendeine Bedeutung! Die Dinge änderten sich, und was früher einmal galt, musste morgen keinerlei Bedeutung mehr haben. Clément selbst würde in diesem Krieg als Franc-Tireur seinen Mann stehen und, sobald Preußen besiegt war, nach Paris zurückkehren, um die Ankunft der neuen Zeit zu begrüßen. Grimmig schluckte er ein nur halb zerkautes Stück Schinken herunter. Wie gut, dass er sich vom Einfluss seines Vaters und von dessen weltfremden Ideen befreit hatte, die nichts, aber wirklich gar nichts, mit der Realität zu tun hatten. Der gute Docteur Tellier war tatsächlich so naiv zu glauben, die Konflikte der Welt ließen sich friedlich lösen, mit Verständnis, Ruhe und Menschlichkeit. Ein Teil des Cidres schwappte über Cléments Hand, als er heftig den Becher abstellte.

Und womöglich hätte sein Vater sogar ihn irgendwann überzeugt. Zumindest hatte er ihn im vergangenen Jahr dazu gebracht, ihm und seiner Schwester Madeleine in der preußischen Hauptstadt Berlin einen Besuch abzustatten. Allerdings hatte das, was Clément dort gesehen und gehört hatte, seinen Zorn auf Preußen nur noch verstärkt. Sein Vater jedoch schien sich überhaupt nicht für politische Fragen zu interessieren, sondern konzentrierte all sein Streben auf seine medizinischen Forschungen, die er dazu auch noch in den Dienst der preußischen Wissenschaft stellte. Und seine Schwester, seine kleine Schwester Madeleine, Madou, die ihm früher so nahegestanden hatte, hegte ganz offensichtlich ernste Absichten, einen früheren Studenten seines Vaters zu ehelichen, einen Preußen! Einen verfluchten Adelsspross noch dazu!

Der Kerl war Clément auf Anhieb unsympathisch gewesen, das gemeinsame Abendessen im Kreis der Familie war in höflich unterdrückter Anspannung verlaufen.

Tags darauf hatte Clément den Zug bestiegen und Berlin in Richtung Paris verlassen, der Stadt des Lichts und der Aufklärung, in der auch er selbst die Erleuchtung gefunden hatte bei den Anhängern von Louis-Auguste Blanqui und den Schriften von Karl Marx, die er teilweise sogar im deutschen Original studiert hatte.

Ein gedämpftes Geräusch ließ ihn innehalten. Lauschend wandte er sich um, um zu sehen, ob im Flur vielleicht der flackernde Schein einer Kerze anzeigte, dass jemand im Hause unterwegs war, der durch seine unerwartete Ankunft geweckt worden war. Doch alles blieb dunkel und still. Nur der Mond schien blass und milchig durch die Scheiben der Küchenfenster.

Schnell leerte Clément den zweiten Becher und hatte gerade den Rest des Brotes heruntergeschluckt, als er sicher war, wieder ein Geräusch zu hören, diesmal ganz in seiner Nähe.

Er fuhr herum und sah aus den Augenwinkeln, wie eine weiß gewandete Gestalt hastig davonhuschte.

KAPITEL 5

Metz, 25. Juli 1870

»Hilf mir, Djamila, bitte!«

Schreie drangen an ihr Ohr, verzweifelt, laut und schrill.

»Djamila! Hörst du nicht? Djamiiiiilaaaa!«

Der Schrei ging in ein verzweifeltes Wimmern über, gefolgt von einem anderen Geräusch, das so entsetzlich war, dass Djamila sich am liebsten die Hände auf die Ohren gepresst hätte: der dumpfe Schlag von Holz auf einen menschlichen Körper.

Der dichte Nebel wich einem Bild von grausamer Klarheit. Bewaffnete Uniformierte hieben mit roher Gewalt auf Menschen ein, stießen sie zu Boden, fesselten sie und zerrten sie nach draußen.

Zwei von ihnen waren ihre Mutter und ihr Vater …

Der Anblick so grauenvoll, dass Djamila versuchte, die Augen zu schließen, was ihr jedoch misslang. Mit brutaler Unverrückbarkeit hatte sich das Bild tief in ihre Seele eingebrannt. Für alle Zeit.

»Djamila! Djamila, hilf uns!«

Djamila wollte auf ihre Eltern zulaufen, doch es gelang ihr nicht, auch nur einen Muskel zu rühren. Wie festgewachsen stand sie da, ihre Glieder zu Eis erstarrt, ihr Herz zu Stein.

In voller Wucht fuhr der Knüppel eines der Uniformierten auf den Kopf der auf der Erde knienden Frau. Blut spritzte aus einer Platzwunde, lief ihr über das Gesicht. Ihre Pupillen verdrehten sich, sie stürzte zu Boden.

Übelkeit überfiel Djamila. Die schiere Panik und Todesangst. Verzweifelt rang sie um Atem, würgte, röchelte …

Sie erwachte mit einem Schrei.

Keuchend lag Djamila auf dem Bett und spürte die raue, abgewetzte Matratze unter sich. Obwohl es in ihrer Kammer heiß und stickig war, fror sie, zitterte wie im Fieber, während ihr der Schweiß in feinen Rinnsalen über den Körper lief.

Sie richtete sich auf und schob die Decke von sich. Einen kurzen Moment schwindelte ihr, als sie die Beine aufsetzte und weiter um Atem rang. Schwankend erreichte sie das kleine Fenster, das sie mit einem heftigen Ruck öffnete.

Ruhig und sternenklar lag die Nacht vor ihr. Tausende Lichter funkelten am Himmel über Metz. Dunkel und weit, unendlich beruhigend.

Doch noch immer hallten die verzweifelten Schreie in ihrem Ohr nach. Ihre Mutter, die ihren Namen rief, um Hilfe flehte, während französische Soldaten in ihr Haus eindrangen, ihren Vater des Aufruhrs bezichtigten, des Widerstands und ihn vor ihren Augen erschossen. Ebenso ihre Mutter, die blutüberströmt ins Haus getaumelt kam und versuchte, sich vor ihre beiden Kinder zu werfen, sie mit ihrem Körper zu schützen. Die Erinnerung an jenen Tag hielt Djamila wie eine Eisenklaue in ihrer Gewalt. Tränen liefen ihr über die Wangen, obgleich sie sicher gewesen war, gar keine mehr übrig zu haben.

Würde sie je vergessen können? Wäre sie irgendwann in der Lage, ein normales, ein freies Leben zu führen? Ohne die Last der Vergangenheit? Ohne das nicht enden wollende Gefühl der Trauer, der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins?

Ein leises Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Ein Knacken, kaum hörbar und doch ganz nah.

Barfuß huschte sie über den Boden der kleinen Dachkammer und öffnete lautlos die Tür. Ein Knarren drang von unten zu ihr hinauf, sie vernahm gedämpfte Schritte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte Schauergeschichten gehört, über den Schrecken, den die deutschen Truppen verbreiten sollten, die Heere der Preußen, Bayern oder wie sie alle hießen. Schreckliche Geschichten darüber, was diese Deutschen mit denjenigen machen würden, derer sie habhaft werden konnten, in deren Häuser sie eindrangen … Waren sie etwa schon hier? Hier in Metz?

Einen Augenblick lang war Djamila vor Angst wie gelähmt, verspürte den übermächtigen Drang, sich im Bett zu verkriechen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und abzuwarten. Doch hatte die Erfahrung sie gelehrt, dass es nirgends einen sicheren Ort für sie gab, nirgends wirklichen Schutz. Und bisweilen war es besser zu wissen, was vor sich ging, um für den Notfall gewappnet zu sein.

Kurz entschlossen eilte sie ins Treppenhaus, schlich lautlos Stufe für Stufe hinab und schrak zusammen, als sie unten deutlich die Umrisse einer menschlichen Gestalt ausmachen konnte. Einen schwarzen Schatten, der einen Moment lang über die Schulter blickte und dann zielstrebig in der Küche verschwand.

Ein Soldat? Ein Feind? Ein Angreifer auf der Suche nach etwas Essbarem? Um sich zu stärken, bevor er sein blutiges Werk vollendete? Djamilas Gedanken rasten. Was sollte sie tun? Die Herrin des Hauses aufwecken? Allein die Vorstellung ließ sie erschaudern. Madame Tellier behandelte sie ohnehin stets mit einer solchen Herablassung und Kälte, dass sie sich nicht vorstellen mochte, was sie mit ihr tun würde, sollte sie es wagen, sie nachts aus dem Schlaf zu reißen.

Oder Marie? Doch hatte die ältere Haushälterin am Abend kräftig dem Apfelwein zugesprochen, sodass es nicht leicht wäre, sie wachzubekommen.

Einen kurzen Augenblick stand Djamila unschlüssig da, während ihre Gedanken sich überschlugen und eisige Furcht ihre Wirbelsäule hinaufkroch. Dann wusste sie plötzlich, was sie zu tun hatte.

In der Kommode im Treppenhaus gab es eine Gartenschere und ein scharfes, spitzes Messer, mit dem Madame stets die Blumensträuße, die sie dort arrangierte, zurechtschnitt. Bevor Djamila es sich anders überlegen konnte, schlich sie dorthin und zog kaum hörbar die oberste Schublade auf. Silbrig schimmerte die Klinge im Mondlicht. Der Griff lag schwer in ihrer Hand, als sie das Messer vorsichtig herausnahm.

Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen, während sie sich damit der Küche näherte und stumm beobachtete, wie der Eindringling sich daranmachte, Brot, Käse und Schinken in Scheiben zu schneiden und sich in den Mund zu stecken.

Djamila spürte, wie der Mut sie verließ und neu aufkeimende Angst sie zu überwältigen drohte. Wer war dieser Mann? Was wollte er hier? Er trug keine Uniform, war also zumindest kein deutscher Soldat.

Regungslos verharrte Djamila in der Tür. Unfähig sich zu rühren, beobachtete sie ihn weiter, wie er aß und trank. Ihre Hände wurden feucht, das Messer drohte ihr zu entgleiten. Sie schluckte schwer und sandte ein stummes Gebet zu Allah, dass er sie in diesem Moment das Richtige tun ließ, dass er die Familie Tellier beschützen möge, vor was auch immer dieser Mann dort im Schilde führte

Doch entweder hörte Gott sie nicht oder ihre Schritte waren doch lauter, als sie es vermutet hatte, denn bevor sie überhaupt verstand, was geschah, fuhr der junge Mann herum. Einen kurzen Augenblick hoffte sie, dass er sie nicht gesehen hätte. Doch dann fiel sein Blick direkt auf sie, und der Ausdruck seines Gesichtes veränderte sich schlagartig. Seine Augen weiteten sich, seine Miene wurde hart, und sein Körper spannte sich an.

Djamila wirbelte herum und stürzte in Richtung Treppe.

*

Clément blieben zwei Sekunden Zeit zum Überlegen, dann setzten seine von den paramilitärischen Übungen trainierten Reflexe ein. Noch bevor er die Situation vollständig erfasst hatte, schoss er nach vorn und hatte die Person gleich eingeholt. Fest packte er sie am Arm, riss sie herum und sah in die Augen einer jungen Frau.

Ein leiser Schrei entfuhr ihr, und einen Moment lang sah es so aus, als würde sie in seinem Griff erschlaffen, doch dann begann sie sich heftig zu wehren. Panik stand in ihren Augen und schien ihr ungeahnte Kräfte zu verleihen. Es klatschte laut, als die Finger ihrer schmalen, aber durchaus kräftigen Hand in seinem Gesicht landeten. Er fluchte, umfasste die Frau noch fester, doch immer wieder versuchte sie, sich von ihm loszureißen.

Da! Etwas Helles blitzte im Mondlicht auf. Eine Klinge!

Das ging zu weit. Cléments Überlebenswille erwachte. Ein fester, gezielter Schlag gegen ihr Handgelenk, und das Messer fiel scheppernd zu Boden.

Mit einem Ruck drehte er ihr die Arme auf den Rücken und zerrte sie zurück zur Küche, dem einzigen Ort, an dem um diese Zeit noch ein Feuer brannte. Ohne sie loszulassen, gelang es ihm, mit der linken Hand eine Kerze zu packen und diese am Herd zu entzünden.

Bebend vor Zorn leuchtete er ihr ins Gesicht. Dunkle Augen, pechschwarze Locken und eine Haut in der Farbe von goldenem Honig. »Wer bist du?«, brachte er hervor.

Statt einer Antwort presste sie die Lippen nur fester zusammen, während sich ihre Augen vor Angst weiteten.

»Was tust du hier? Und warum lauerst du mir auf? Ich bin Clément Tellier, der Sohn des Hauses!« Er schüttelte sie so fest, dass ihr der Kopf hin und her flog, doch noch immer erhielt er keine Antwort. Clément spürte, wie Wut in ihm aufstieg. »Wie heißt du?«, wiederholte er barsch.

»Dja… Djamila«, sagte sie leise und ein wenig atemlos. Und erst da fielen ihm die fremdartigen, ein wenig exotischen Züge des Mädchens auf.

Djamila. Das war ein arabischer Name. Tausend Gedanken schossen Clément durch den Kopf. Weshalb lauerte ihm hier, in seinem Elternhaus, ein arabisches Mädchen auf, noch dazu mit einer Waffe in der Hand?

»Was willst du von mir?«, knurrte er. »Los, sprich! Oder verstehst du unsere Sprache nicht?« Wieder schüttelte er sie, und trotz des schwachen Lichtes konnte er deutlich sehen, dass ihr Tränen in den Augen standen.

»Doch, Monsieur. Ich verstehe Sie.« Ihre Stimme war weich, voll und ein klein wenig rau. Einen kurzen Moment schloss sie die Augen, atmete tief ein. »Mein Name ist Djamila bint Aziz. Ich arbeite hier für Ihre Mutter.«

Ungläubig blickte er die junge Frau an. Seine Mutter? Was hatte das zu bedeuten?

Doch noch ehe er diese Frage aussprechen konnte, fuhr die Fremde fort: »Ich bin Dienstmädchen hier im Hause. Ich …«

Sie stöhnte auf, als er den Griff lockerte und sie losließ. »Ich hab Schritte gehört und dachte … ein Eindringling.« Es klang aufrichtig, »Ich hätte doch nie ein Messer … wenn ich gewusst hätte, dass Sie …« Und etwas leiser fügte sie hinzu: »Ich schwöre, Monsieur.«

Müdigkeit und Resignation überkamen Clément, er spürte, wie seine Anspannung nachließ und sein Zorn verrauchte.

Kaum merklich schüttelte er den Kopf, während er sich mit der Hand über das Haar strich. »Wenn das so ist – Djamila, nicht wahr? –, muss ich mich bei dir entschuldigen.« Ein Anflug von Scham überkam ihn bei der Vorstellung, wie er die junge Frau erschreckt hatte. »Hättest du vielleicht die Freundlichkeit, mir ein Bett für die Nacht zu richten, in meinem alten Zimmer? Weißt du, wo es sich befindet?«

Die Angesprochene nickte kurz, dann wandte sie sich um und eilte aus der Küche.

Der Puls schlug fest gegen Cléments Hals, als er ihr nachblickte, tausend Gedanken und Empfindungen in seinem Kopf explodierten.

KAPITEL 6

Metz, 26. Juli 1870

Hell klapperte das feine, dünnwandige Porzellan, als Clément am nächsten Morgen mit seiner Mutter das Frühstück einnahm. Obgleich er nach der langen Reise noch immer einen geradezu brennenden Hunger verspürte, zwang er sich dazu, unter ihrem bohrenden Blick nur kleine Bissen zu sich zu nehmen.

Nach einer Ewigkeit, in der er sich innerlich wand, brach seine Mutter das hoheitsvolle Schweigen. »Also hast du deine Studien aufgegeben, um in diesen Krieg zu ziehen«, bemerkte sie, ohne ihn anzusehen, und verstrich einen kräftigen Klecks Mirabellenmarmelade auf ihrem Croissant.

Clément nahm einen Schluck Milchkaffee. »Ja«, erwiderte er. »Es erschien mir weitaus sinnvoller, als in der Zeit der Bewährung untätig im Hörsaal herumzusitzen.«

Seine Mutter ließ das Messer sinken. »Du weißt, dein Vater wird über diese Entscheidung alles andere als erfreut sein.« Der Klang ihrer Stimme verriet keine Regung, keine Andeutung davon, wie sie selbst zu diesem eigenwilligen Entschluss ihres Sohnes stand. Doch Clément wusste, dass sie in Fragen der Politik und Gesellschaft oft völlig anderer Ansicht war als ihr Mann, und das könnte ihm in dieser Sache zum Vorteil gereichen.

»Papa war über viele meiner Entscheidungen nicht gerade erfreut.« Er reckte sich. »Dennoch habe ich sie getroffen.« Noch immer war die Miene seiner Mutter unbewegt, und langsam begann sich Clément zu fragen, womit genau er ihr leicht reizbares Gemüt verstimmt haben mochte. »Bisweilen muss ein Mann seine eigenen Wege gehen und tun, was zu tun ist«, fuhr er fort. »Und Sie, Maman, haben auch nicht immer die Ratschläge von Papa befolgt, wenn ich mich recht entsinne.« Und mit einem, wie er hoffte, charmanten Lächeln fügte er nach einer kurzen Pause hinzu: »Offensichtlich komme ich mehr nach Ihnen und weniger nach ihm.«

Missbilligend runzelte seine Mutter die Stirn. »Ich weiß nicht, ob du dein Leben einfach so in die Waagschale werfen solltest für …«

»Nicht einfach so! Für Frankreich und das französische Volk«, fiel Clément ihr ins Wort und war selbst überrascht über seinen Mut. Normalerweise wagte niemand im Haus, Clotilde Tellier zu widersprechen, geschweige denn, ihr das Wort abzuschneiden. Doch seit er in Paris einflussreiche Freunde gefunden hatte, war er mutiger geworden, direkter. »Für die Freiheit des Landes, dem auch Sie angehören. Der Freiheit der Menschen, die darin leben. Und die …«

»… die Ehre des Kaisers?«, fragte seine Mutter. Wahrscheinlich das einzige Argument, das jemand wie sie verstand.