Die Küste der Freiheit - Maria W. Peter - E-Book
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Die Küste der Freiheit E-Book

Maria W. Peter

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Beschreibung

Eine starke junge Frau auf der Suche nach Freiheit und Liebe - die große Auswanderersaga

Hessen, 1776: Als ihr geliebter Lorenz mit seinem Regiment nach Amerika in den Krieg geschickt wird, ist Anna zutiefst verzweifelt. So verzweifelt, dass sie sich als Schuldmagd in die amerikanischen Kolonien verkauft, um Lorenz zu suchen. Nach der beschwerlichen Überfahrt in die Neue Welt landet Anna auf einer Tabakplantage in Virginia - und wird kurze Zeit später wegen Hexerei verurteilt. Lorenz hat mittlerweile erfahren, dass sie ihm gefolgt ist und unter schrecklichen Bedingungen lebt - doch wird er rechtzeitig zu ihr kommen, um sie zu vor der drohenden Hinrichtung zu retten?

Eine epische Saga über eine Welt im Umbruch, in der alte gesellschaftliche Ordnungen ihre Gültigkeit verlieren - und eine große Liebe im Schatten des Krieges.

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Zitat

Erstes Buch - In der Heimat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Zweites Buch - Ferne Ufer

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Drittes Buch - Das Wiedersehen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Viertes Buch - Zwischen den Fronten

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Fünftes Buch - Entscheidungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Epilog

Nachwort

Glossar

Für die Romanhandlung bedeutsame historische Persönlichkeiten

Danksagung

Auf den Spuren von Anna und Lorenz - Reise- und Stöbertipps

Weitere Titel der Autorin

Die Festung am Rhein

Die Melodie der Schatten

Eine Liebe zwischen den Fronten

Über dieses Buch

Eine starke junge Frau auf der Suche nach Freiheit und Liebe – die große Auswanderersaga

Hessen, 1776: Als ihr geliebter Lorenz mit seinem Regiment nach Amerika in den Krieg geschickt wird, ist Anna zutiefst verzweifelt. So verzweifelt, dass sie sich als Schuldmagd in die amerikanischen Kolonien verkauft, um Lorenz zu suchen. Nach der beschwerlichen Überfahrt in die Neue Welt landet Anna auf einer Tabakplantage in Virginia – und wird kurze Zeit später wegen Hexerei verurteilt. Lorenz hat mittlerweile erfahren, dass sie ihm gefolgt ist und unter schrecklichen Bedingungen lebt – doch wird er rechtzeitig zu ihr kommen, um sie zu vor der drohenden Hinrichtung zu retten?

Eine epische Saga über eine Welt im Umbruch, in der alte gesellschaftliche Ordnungen ihre Gültigkeit verlieren – und eine große Liebe im Schatten des Krieges.

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Maria W. Peter ist seit Langem von Amerika begeistert. Während ihres Studiums der Amerikanistik und Anglistik war sie Mitglied eines amerikanischen Chors auf dem Militärstützpunkt in Kaiserslautern und pflegte intensive Kontakte zu amerikanischen Familien. Später lebte sie in Columbia, Missouri, wo sie als Fulbright-Stipendiatin die School of Journalism besuchte. Dort erlag sie endgültig der Faszination amerikanischer Kultur und Geschichte. Heute ist sie als freie Autorin tätig und pendelt zwischen dem Rheinland und dem Saarland.

Besuchen Sie auch die Homepage der Autorin: www.mariawpeter.de

Maria W. Peter

DIE KÜSTEDERFREIHEIT

beHEARTBEAT

Digitale Neuausgabe

»be« - Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Kartenillustration: Markus Weber | Guter Punkt, München

Covergestaltung: © Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von © Gettyimages: alexkich | jgroup | SeanPavonePhoto | landscape

eBook-Erstellung: Jilzov Digital Publishing, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-9078-0

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Für Lisa Lapsleyzur Erinnerung an unsere Studienzeit in Missouriund die gemeinsame Suche nach den Wurzeln.

Sowie für Edith und Eddie Lanuzga,mit deren Familie ich bereits in Deutschlandein Stück Amerika erleben durfte.

Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht,dass alle Menschen gleich erschaffen worden,dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichenRechten begabt worden, worunter sind Leben,Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.

Präambel der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung

Warum sollte ich meine Freiheit richten lassen von dem Gewissen eines andern?

1 Korinther 10,29

ERSTES BUCH – INDER HEIMAT

Herbst 1775 bis Frühjahr 1776

Fürstentum Waldeck-Pyrmont,Cöln und Cassel

KAPITEL 1

Dorf Berich, Fürstentum Waldeck-Pyrmont,September 1775

Ein erbärmliches Wimmern erfüllte die stickige Luft in der Hütte, deren Fenster lediglich mit schmutzigen Stofffetzen verhangen waren. Zuerst schwach und hilflos, steigerte es sich langsam zu einem herzerweichenden Schreien, während Anna den dämmrigen Raum durchquerte und ihre Hände in einen Bottich tauchte. Das Blut, das sie sich abwusch, färbte das warme Wasser dunkel. Am Stoff ihrer Schürze rieb sie sich die Finger trocken, strich sich über die erhitzte Stirn und hörte zufrieden, wie das Schreien verebbte.

Mit einem müden Lächeln näherte sie sich dem Bett der jungen Mutter, die noch ein wenig unbeholfen ihren Säugling im Arm hielt, der sich unter der Wärme der Decke beruhigte. Leicht berührte Anna sein Köpfchen, an dem der Flaum feuchter Haare klebte. Jedes Mal aufs Neue erschien ihr die Geburt eines Menschen wie ein Wunder, ein Geschenk Gottes.

Einen Moment lang ruhte ihre Hand auf dem Neugeborenen, dann schloss sie die Augen und sprach ein kurzes Gebet, bevor sie wieder in die Gegenwart zurückkehrte und an die Gefahr dachte, der sie sich durch ihre Anwesenheit hier aussetzte.

»Ich muss jetzt aufbrechen«, sagte sie leise. »Bald geht die Sonne auf, und es wäre nicht gut, wenn ich bis dahin nicht zurück bin.«

Während die junge Mutter ihr lächelnd zunickte, stand der Vater des Kindes, ein einfach gekleideter Bauer, etwas unsicher neben dem Bett. Jung und unerfahren, wie er war, würde er es nicht leicht haben, für den Lebensunterhalt seiner Familie zu sorgen. Doch dies war seine Aufgabe.

Aus Erfahrung wusste Anna, dass beim ersten Kind die Freude meist noch groß war. Wenn aber dann die Familie ständig wuchs und es immer mehr hungrige Mäuler zu stopfen galt, hielt in vielen Familien die Not Einzug.

Schweigend nahm sie ihren Umhang, den sie auf einem Stuhl neben dem Bett abgelegt hatte, gab noch Anweisungen, das Wasser im Bottich zu erneuern und die blutigen Leinentücher zu waschen. Dann schlug sie die Kapuze über ihren Kopf, trat durch die Tür nach draußen und atmete tief die kühle Septemberluft ein. Am Horizont war bereits ein grauer Streifen zu sehen. Dunstschwaden stiegen aus der nahegelegenen Eder auf und schwebten gespenstisch über dem Wasser.

Obwohl sie die ganze Nacht über gewacht hatte, fühlte sich Anna nicht müde, eher leicht und ein wenig schwindelig. Ihre Rocksäume schleiften über den feuchten Boden, als sie den steilen Rückweg durch den herbstlichen Wald antrat. Noch immer verweilten ihre Gedanken bei dem Neugeborenen, dem sie gerade auf die Welt geholfen hatte, während ihr Magen mit einem leisen Rumoren signalisierte, dass sie lange nichts mehr gegessen hatte.

Morgennebel hing über dem taufeuchten Gras, das Grau am Horizont löste sich allmählich auf und nahm die unterschiedlichsten Rosatöne an. In der Luft hing der vertraute Geruch nach trockenem Stroh, reifen Äpfeln und abgeernteten Feldern.

Es war kein allzu weiter Weg vom Dorf Berich zurück nach Waldeck, wo Anna und ihr Vater Zuflucht gefunden hatten, als sie ihre Heimat auf dem Weyerhof im vergangenen Frühjahr aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit verlassen mussten. Dem dortigen Fürsten von Nassau-Weilburg waren Mennoniten wie sie – abschätzig auch Wiedertäufer genannt – nicht sonderlich willkommen. Aus diesem Grunde durfte in seinem Fürstentum die mennonitische Bevölkerung eine bestimmte Anzahl nicht überschreiten. Dies hatte zur Folge, dass viele von ihnen, gerade junge Menschen, immer wieder gezwungen waren, ihr Glück in der Fremde zu suchen.

Es waren Glaubensbrüder aus dem unweit von Cassel gelegenen Fürstentum Waldeck-Pyrmont, die sich bereit erklärt hatten, Anna und ihren Vater in ihrer Mitte aufzunehmen. Als amische Täufer, einer besonders strenggläubigen Ausrichtung, unterschied sich die Waldecker Gemeinde jedoch in manchen Traditionen deutlich von dem, was Anna von ihrer Heimat her kannte. Gleichwohl war die Geschwisterlichkeit im gemeinsamen täuferischen Glauben ein spürbarer Trost für sie, der ihr, nach allem, was hinter ihr und ihrer Familie lag, das Gefühl von Sicherheit verlieh. Und an diesem seltsam verzauberten Herbstmorgen war Anna bereit zu glauben, hier, bei den Amischen in Waldeck, wirklich eine neue Heimat gefunden zu haben.

Ein plötzliches Knacken von Zweigen ließ sie zusammenfahren. Unvermittelt stieg das Gefühl einer drohenden Gefahr, die im Verborgenen lauerte, in ihr auf. Wurde sie beobachtet? Ihr Herz hämmerte wie wild, als sie stehen blieb und sich umschaute. Doch sie sah nur eine Krähe, die über die sich schon gelb verfärbenden Bäume flatterte, und eine streunende Katze, deren grünliche Augen aus dem Unterholz leuchteten.

Angeblich sollte dieser Landstrich verwunschen sein. Kein Wunder, dass Geschichten von Geistern, Hexen und Zauberern die Runde machten und sich viele des Nachts gar nicht mehr in den Wald trauten. Dieser Aberglaube hatte Anna gelehrt, ihr heilkundliches Wissen zurückhaltend einzusetzen, um den Leuten keinen Anlass zu Gerede und Verdächtigungen zu geben. Ohnehin standen die häufig auf abgeschiedenen Pachthöfen lebenden Täufer bei den Dorfbewohnern in dem Ruf, fremdartig und eigenbrötlerisch zu sein, ja im Bunde mit den unterirdischen Mächten zu stehen. Da musste man den Gerüchten nicht noch weitere Nahrung liefern.

Anna fürchtete sich weder vor Hexen noch vor Gespenstern. Doch zwischen den vom Nebel verhangenen Bäumen lag der Hauch einer wirklichen Gefahr. Sie glaubte, ein gehetztes Atmen zu hören.

Erschrocken raffte sie die Röcke und wollte ihre Schritte beschleunigen. Ein erneutes Knacken ließ sie herumfahren. Hinter einer der dicken, knorrigen Eichen sprang eine Gestalt hervor, hatte sie mit wenigen Schritten erreicht, packte sie und presste ihr eine schwielige Hand auf den Mund. Wie eine kalte Woge schwappte Panik über sie und raubte ihr den Atem, sodass bunte Sterne vor ihren Augen tanzten.

»Nicht schreien, Mademoiselle! Nicht schreien!«

Verzweifelt wand sich Anna im Griff des Mannes, unfähig, um Hilfe zu rufen.

»Versprich mir, still zu sein! Dann lass ich dich los.«

Ihr fehlte die Kraft, um sich zu rühren.

Der Fremde schüttelte sie so fest, dass sie fast das Bewusstsein verlor.

»Hast du gehört?«, zischte er. »Du sollst nicht schreien, oder …«

Ein Zittern hatte sich in Annas Körper ausgebreitet, und nur unter Aufbietung all ihrer Willenskraft gelang ihr ein Nicken.

Vorsichtig, als traue er ihr nicht, lockerte der Mann den Griff, löste seine Finger aus ihrem Gesicht und gab sie schließlich frei. Wie eine Ertrinkende rang sie nach Luft und wäre beinahe zu Boden gestürzt, doch mit einem Ruck riss der Fremde sie herum, sodass sie ihn direkt anschauen musste.

Ein dunkelgrüner Rock, rote Aufschläge und messingfarbene Knöpfe. Ein Soldat, einer der Hessischen. Aber was …

»Hör zu, du musst mir helfen. Ich brauche einen Unterschlupf! Schnell!«

Ungläubig vor Überraschung starrte sie ihn an. Sie sollte ihn verstecken? Einen Soldaten? Einen von denen, die bereit waren, auf bloßen Befehl hin Tod und Krieg über ein Land zu bringen, statt auf Gottes Weisungen der Gewaltlosigkeit und des Friedens zu hören?

Aber weshalb?

Anna bemerkte seinen gehetzten Blick, sein unrasiertes Gesicht, die zerrissenen, mit verkrustetem Schlamm bedeckten Leinenhosen, und plötzlich begriff sie: Er war ein Entlaufener, ein Deserteur! Aus Gründen, die sie nicht kannte, hatte er sein Heil in der Flucht gesucht, Leib und Leben riskiert, um das blutige Handwerk des Soldatenlebens hinter sich zu lassen, wohl wissend, dass ihm bei Gefangennahme Hiebe und Demütigung drohten, wenn nicht gar der Tod. Und nun bat er sie um Hilfe.

Noch immer raste Annas Herz, und das Blut rauschte in ihren Ohren. Dort, wo der Soldat sie festgehalten hatte, brannte ihr Arm, ebenso wie ihr Gesicht. Ein irrer Glanz lag in seinen Augen, und sie wünschte sich weit weg, in die Sicherheit ihrer Hütte.

Aber hatte sie das Recht, ihm ihre Unterstützung zu verweigern, wenn er den Willen hatte, dem Kriegshandwerk abzuschwören? Sie, Anna Hochstetter, deren Vorfahren für ihren Glauben und ein Leben in Gewaltlosigkeit Verachtung, Vertreibung und sogar den Tod riskiert hatten?

Zögernd nickte sie dem Fremden, der noch immer schwer atmend vor ihr stand, zu. »Kommt mit mir!«

Obgleich eine innere Stimme sie davor warnte, ihm zu trauen, ging sie an ihm vorbei. Ein gepresstes Aufatmen und das Rascheln seiner Schritte zeigten ihr, dass er ihr folgte.

Die ersten mit Lehm verputzten Fachwerkhäuser tauchten vor ihnen auf, und Anna blieb einen Moment stehen, um das friedlich daliegende Waldeck zu betrachten, über dessen Schloss bereits die Sonne aufstieg. Doch das angespannte Keuchen neben ihr erinnerte sie daran, dass sie keine Zeit zu verlieren hatte, und so beschleunigte sie ihren Schritt und erreichte schließlich den etwas außerhalb gelegenen Pachthof, in dem um diese Zeit ein geschäftiges Leben erwachte.

Zielstrebig hielt sie auf eine der Scheunen zu, die im Winter auch als Stall genutzt wurden. Gerade wollte Anna die grob behauene Holztür öffnen, als sie aufgeregte Stimmen, Hufgetrappel und schwere Schritte vernahm. Da ihr das Gebäude jedoch den Blick versperrte, konnte sie nicht sehen, was da vor sich ging.

Einen kurzen Moment lang war sie versucht, nachzuschauen, aber der Soldat packte sie am Ellbogen und zerrte sie grob zurück.

»Mademoiselle, bitte!«, zischte er.

Anna gab sich einen Ruck und öffnete die Tür. Sie schaute sich nach allen Seiten um und spähte hinein, um sich zu vergewissern, dass sich niemand dort aufhielt. Erst dann gab sie dem Fremden ein Zeichen, ihr zu folgen.

Staubkörner tanzten in der Luft und schimmerten matt in den durch die Fenster und zwischen den Balken hereinfallenden Lichtstrahlen. Der vertraute, warme Geruch nach sauberem Heu und den Kräutern, die zum Trocknen an der Decke aufgehängt waren, stieg ihr in die Nase.

Als die Tür zufiel, riss das Knarren der Scharniere Anna aus ihren Betrachtungen. Sie fuhr zusammen, da der Fremde plötzlich hinter ihr stand und seine Hand auf ihre Schulter legte. Entschieden schob sie diese beiseite und wandte sich um.

»Das ist alles, was ich Euch anbieten kann. Im hinteren Teil wird das Heu in Ballen gelagert. Wenn Ihr möchtet, könnt Ihr Euch dort einrichten, bis …« Sie unterbrach sich und trat einen Schritt zurück, als der Deserteur ihr mit den Fingerkuppen die Wangen entlang über das Gesicht strich.

»Lasst das!«, zischte sie empört, doch mit einem Griff hatte er ihren Arm gepackt und zog sie näher zu sich heran.

»Ich bin dir zu großem Dank verpflichtet«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Du hast mein armseliges Leben gerettet, und dafür möchte ich …«

»Ich versuche nur, nach Gottes Willen zu handeln, und benötige keinen Dank.« Mit einer ruckartigen Bewegung gelang es Anna, sich zu befreien und aus seiner Reichweite zu kommen. Seine Augen blieben auf sie geheftet, aber er unternahm keinen weiteren Versuch, sich ihr zu nähern.

»Ich werde heute Abend nach Euch schauen«, sagte sie hastig und wandte sich dem Ausgang zu, während sie das Gefühl überkam, dass sie gerade einen großen Fehler begangen hatte. »Wenn es mir möglich ist, werde ich Euch etwas zu essen bringen, aber jetzt muss ich …«

Noch bevor sie die Tür erreicht hatte, war der Fremde auf sie zugesprungen und fasste sie am Handgelenk.

»Hiergeblieben!« Mit einem Ruck riss er sie herum und presste sie so eng an sich, dass sie das Kratzen seiner unrasierten Wangen auf ihrem Gesicht spürte und seinen unangenehmen Atem roch. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir erlaubt habe zu gehen.«

Aus dem unguten Gefühl wurde Angst. Verzweifelt versuchte Anna, ihn abzuschütteln. »Was soll das, lasst mich los!«

Doch er fasste sie noch fester und presste seine Lippen erst auf ihren Hals, dann auf ihre Wange. Bevor er ihren Mund erreichen konnte, holte Anna aus und versetzte ihm mit solcher Kraft eine schallende Ohrfeige, dass ihre Handfläche brannte.

Überrascht hielt der Mann für einen Moment inne. Doch dann verengten sich seine Augen, und er packte ihren Kopf, sodass Anna sich wie in einem Schraubstock fühlte.

»Du willst wohl kämpfen, du kleines Biest? Das wundert mich aber. Ich dachte, ihr Ketzer wärt so friedliebend. Aber wenn du’s nicht anders haben willst.«

Hart stieß er sie auf die Erde. Der Aufprall raubte Anna den Atem. Keuchend rang sie nach Luft, und der süßliche Geschmack von Blut breitete sich in ihrem Mund aus.

Panik ergriff sie, als der Fremde mit seinem Knie ihre Beine auseinanderzwang, während er sich gleichzeitig an ihrem Mieder zu schaffen machte.

Sie schrie auf. Entsetzt und ungläubig zugleich.

»Keinen Ton mehr!« Ein unerwarteter Schlag riss ihr Gesicht zur Seite und ließ sie verstummen. Die Klinge eines Messers blitzte vor ihren Augen auf. »Noch ein Wort, du ketzerisches Miststück und …« Wie zur Warnung ließ er die scharfe Schneide ihren Hals entlanggleiten. Ein Tropfen Blut quoll hervor, rann langsam ihre Haut hinab und tränkte den steifen Stoff ihres Mieders.

Der Blick des Fremden war der Blutspur gefolgt und verweilte an ihrem Brustansatz. Mit einem Ruck des Messers durchtrennte er das Mieder und schlitzte dann ihren Rock auf, der langsam zu Boden sank. Anna trug nun nichts mehr als ihre Chemise, das dünne leinene Unterkleid, das sie nur noch notdürftig bedeckte.

»Was wollt Ihr von mir? Was …«

»Schweig!« Das schwere Gewicht seines Körpers presste Anna fester auf den Boden, als er ihr seine schwielige Hand auf den Mund drückte. »Ich hab doch gesagt, du sollst still sein, allerdings …« Ein hässliches Lachen entblößte seine ungepflegten Zähne. »Gelegentlich weiß ich es durchaus zu schätzen, wenn eine Frau zu schreien versteht.«

Gierig fuhr seine Zunge über seine Lippen, während er mit der freien Hand ihre Wangen und den Hals hinabglitt.

Annas Blick verschwamm. In seinem Griff war es ihr unmöglich zu atmen. Mit letzter Kraft versuchte sie, sich zu wehren, doch gegen diesen Irren hatte sie keine Chance.

»So, kleine Ketzerin!« Seine Stimme keuchte vor Anstrengung und Erregung, und beim Geruch seines stinkenden Atems glaubte Anna, sich übergeben zu müssen. »Jetzt zeig ich dir, wozu ein aufrechter Mann in der Lage ist, und du wirst schön … Au! Verflucht!«

In schierer Verzweiflung hatte Anna ihm ihre Zähne in die Hand geschlagen, die er noch immer auf ihren Mund gepresst hielt. Fluchend fuhr er zurück und besah sich die kleinen tiefen Wunden, aus denen rubinrote Blutstropfen perlten.

Anna nutzte die Gunst des Augenblicks, um sich unter dem Angreifer wegzurollen. Doch dessen anfänglicher Schreck über ihre unerwartete Gegenwehr schien seine Wut und seine Begierde nur noch weiter angestachelt zu haben.

»Du dreckiges Ding!« Ein Faustschlag traf ihre Wangenknochen, Schmerz explodierte in ihrem Kopf, und einen Moment lang glaubte sie, die Besinnung zu verlieren. »Wie kannst du es wagen, du elendes …«

Mehr hörte Anna nicht, denn erneut hatte der Fremde sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie geworfen. Gellend stieß sie einen Schrei aus, bevor er mit seiner blutenden Hand ihren Mund endgültig verschloss.

Doch während ihre zuckenden Bewegungen immer schwächer wurden und die Kraft aus ihrem Körper wich, wurde es plötzlich hell um sie herum. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass sich vor der geöffneten Scheunentür eine Gestalt abzeichnete.

»Da ist der Kerl!« Wie durch Nebel spürte sie, dass der Fremde von ihr abließ und hastig auf die Beine sprang. Einen Augenblick blieb sie benommen liegen, dann bemerkte sie, dass der Neuankömmling ebenfalls die rot-grüne Uniform der hessischen Jäger trug.

Unerwartete Hoffnung durchströmte Anna, als sie sich aufrappelte, die Fetzen von Rock und Mieder an den Körper presste und langsam zum anderen Ende des Raumes zurückwich. Sie ließ die beiden Männer nicht aus den Augen, die sich wie wild gewordene Kampfhunde anstarrten und sich umkreisten, bis schließlich einer zum ersten Schlag ausholte.

Dann verkeilten sich beide ineinander, stürzten gemeinsam zu Boden, und irgendwo in dem Gemenge aus Armen und Beinen sah Anna die Klinge eines Messers aufblitzen.

Sie vernahm einen Schrei, gefolgt von einem lauten Keuchen. Mit einem Ruck hatte der Deserteur den anderen Soldaten hochgerissen und ihn mit der Kraft eines Irrsinnigen an die Wand geschleudert, wo sein Kopf gegen das harte Holz schlug. Anna stockte der Atem, als sie den triumphierenden Blick in den Augen ihres Peinigers sah.

Doch bevor der leblose Körper des zweiten Soldaten vollständig zu Boden gesackt war, stürzte ein weiterer Uniformierter durch die Tür. Wieder folgte ein Handgemenge, heftiger, rücksichtsloser als zuvor. Bretter zerbarsten, Schreie ertönten, irgendwo ging etwas zu Bruch. Dann sah Anna, wie sich ihr Angreifer aufrichtete und seinem Gegner die Messerklinge bis zum Schaft in den Leib rammte.

Dieser erstarrte kurz. Ein ungläubiger Ausdruck breitete sich in seinem Gesicht aus, als er an sich herunterblickte und sah, dass ein tiefroter Blutfleck seine Jacke tränkte. Dann stürzte er wie ein gefällter Baum zu Boden.

Schwer atmend blieb der Deserteur stehen, leicht vornübergebeugt, das blutige Messer noch immer in der Hand. Einen Augenblick später erinnerte er sich offenbar wieder Annas Gegenwart, und der irrsinnige Ausdruck auf seinem Gesicht lähmte sie vor Angst und Entsetzen.

»So, meine Süße, jetzt sind wir wieder allein …« Mit wenigen Schritten war er bei ihr, warf sie, die mit dem Rücken an die Wand gepresst stand, wiederum zu Boden. Schmerz durchzuckte sie, als ihre Handflächen und Knie auf dem rauen Untergrund aufgerissen wurden.

»Du wirst nicht mehr schreien!«, keuchte der Fremde. »Es würde dir auch nichts nützen. Oder glaubst du ernsthaft, einer der feigen Betbrüder hier würde es wagen, Hand an mich zu legen?«

Verzweifelt flog Annas Blick umher. Er hatte recht, man würde ihre Schreie nicht hören. Zudem lehnten die Amische jede Anwendung von Gewalt strikt ab, sogar wenn es darum ging, sich selbst zu verteidigen.

Sie war verloren. Rettungslos!

Angst und Ekel mischten sich mit der verzweifelten Erkenntnis ihrer Ohnmacht, als er seine stinkenden Lippen auf die ihren presste, mit seinen Fingern ihre Taille entlangglitt – und sie erstarrte.

Ein Rascheln war im Hintergrund zu hören, ein Schatten durchbrach das hereinfallende Licht, doch der Mann schien es nicht zu bemerken. »Jetzt gehörst du mir!«, zischte es an ihrem Ohr. Anna schloss die Augen und betete vergeblich darum, dass eine Bewusstlosigkeit sie davor bewahrte, mitzuerleben, was nun unweigerlich geschehen würde. Sie spürte, wie das Gewicht seines schweren Körpers sie fest auf den lehmigen, mit Stroh bedeckten Boden presste.

Gott, hilf mir!, flehte sie stumm.

Plötzlich hörte sie einen dumpfen Aufprall, das Geräusch eines Schlages. Zwei, drei Atemzüge lang geschah nichts, dann erschlaffte ihr Angreifer. Ehe sie verstand, was geschehen war, wurde der leblose Körper von ihr weggezerrt. Jemand half ihr auf die Beine, und als diese einzuknicken drohten, wurde sie vom Boden emporgehoben, zum anderen Ende des Stalls getragen und vorsichtig auf einem Strohbündel abgesetzt. Eine Hand stützte ihren Rücken und hinderte sie daran, vor Schwäche umzusinken.

»Alles in Ordnung mit dir?«

Nur langsam wurde Anna sich wieder ihrer Umgebung bewusst, und ihr Sichtfeld klärte sich. Ein junger Mann kniete neben ihr. Ein paar schwarze Locken hatten sich gelöst und fielen in sein von der Sonne leicht gebräuntes Gesicht, das nur eine Spur von Puder aufwies.

»Geht es wieder?«

Anna wandte den Kopf und sah in ein Paar graue Augen, in denen sie Besorgnis lesen konnte.

Doch dann erkannte sie, dass der Mann die gleiche Uniform trug wie der Angreifer – das grün-rote Tuch der hessischen Jäger. Sie wollte erschrocken aufspringen, sank jedoch mit einem leisen Schmerzenslaut zurück auf das Stroh.

»Bleib sitzen, Mädchen, du bist verletzt.« Ohne sie loszulassen, nestelte der Fremde an seinem Leinenbeutel. »Hier, trink das.« Mit einer routinierten Bewegung zog er eine Feldflasche hervor, schraubte sie auf und hielt sie Anna hin. Noch immer zitternd nahm sie diese entgegen und setzte sie vorsichtig an.

Das Wasser schmeckte frisch und vertrieb den Geschmack des Blutes in ihrem Mund. Beruhigend spürte sie die Hand des Soldaten auf ihrem Rücken, und das Zittern ließ ein wenig nach. Mit einem Nicken gab sie ihm die Flasche zurück, wobei ihre Fingerspitzen kurz die seinen berührten.

Dann fiel ihr Blick auf die drei regungslosen Männerkörper auf der Erde, und der Geruch von Blut ließ Ekel in ihr aufsteigen. Schamesröte brannte in ihrem Gesicht, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass sie außer ihrer Chemise und den Resten ihres Leinenrocks nichts mehr am Leib trug. Hastig tastete sie nach ihrem Mieder und hielt es schützend vor sich.

Inzwischen hatte sich ihr Retter von ihr abgewandt und stieß den Deserteur, der noch immer reglos dalag, mit der Stiefelspitze an. Dieser stöhnte leise, rührte sich jedoch nicht.

»Elender Kerl!« Offensichtlich kostete es den Soldaten all seine Selbstbeherrschung, ihm keinen weiteren Tritt zu verpassen. Stattdessen wandte er sich den beiden Verletzten zu. Der eine war inzwischen wieder zu sich gekommen und hielt sich mit der Hand den Hinterkopf.

»Ist Er schwer verletzt, Sergeant?«

Noch immer blass im Gesicht, schüttelte der Mann langsam den Kopf. »Es geht schon wieder.« Wie um seine Worte zu beweisen, kam er, wenn auch schwankend, auf die Füße. Dann beugte er sich über seinen verletzten Kameraden, der die Besinnung noch nicht wiedererlangt hatte.

»Er lebt, aber er hat viel Blut verloren, Herr Leutnant. Was …?«

»Wir nehmen ihn mit!« Wütend presste der Offizier seine Kiefer zusammen, als er zu dem Bewusstlosen trat und ihm vorsichtig Rock, Weste und Hemd öffnete. Auf dessen behaarter Brust zeigte sich eine blutende, aber nicht tiefe Fleischwunde. »Er wird es überstehen. Los!«

Der Zorn wich aus seinem Gesicht, als er sich wieder Anna zuwandte und sie einen Moment von oben bis unten musterte. »Kennst du diesen Mann?«, fragte er und zeigte auf ihren Peiniger. Dem Klang seiner Stimme nach schien er sie eines Verbrechens für fähig zu halten.

»Nein.« Nur mühsam brachte Anna das Wort hervor, ihr Hals brannte dort, wo der Angreifer zugedrückt hatte, noch immer wie Feuer. »Ich habe ihn noch nie gesehen. Er ist mir im Wald begegnet, und ich wollte …« Sie unterbrach sich, als ihr klar wurde, dass sie dem Offizier um ein Haar verraten hätte, dass sie drauf und dran gewesen war, einem Deserteur Zuflucht zu gewähren.

Das Schuldbewusstsein war ihr offensichtlich ins Gesicht geschrieben, denn mit wenigen Schritten war der Leutnant auf sie zugetreten, schob ihr seinen behandschuhten Zeigefinger unter das Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. »Was wolltest du?« Sein Tonfall zeigte, dass er gewohnt war, Befehle zu erteilen. »Sprich!«

»Ich war auf dem Weg zurück von Berich«, begann Anna schließlich, um das eigentliche Thema zu umschiffen. »Dort habe ich einer Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes geholfen.« Sie unterbrach sich, doch ein Nicken ihres Gegenübers zeigte, dass er gewillt war, ihr zuzuhören. »Die Wehen haben die ganze Nacht gedauert. Erst im Morgengrauen konnte ich nach Hause zurückkehren. Ich war müde und erschöpft, deshalb habe ich ihn zuerst nicht bemerkt. Er hat mich bedroht und …« Erneut durchlief sie ein Schauder, als sie sich die schicksalhafte Begegnung ins Gedächtnis rief. Nichts, von dem, was sie gesagt hatte, war gelogen. Noch nicht.

Sie schwieg.

Einen Moment lang sah der Offizier sie durchdringend an, als wolle er prüfen, ob das, was sie sagte, tatsächlich der Wahrheit entsprach. Doch die Spuren der Gewalt und die Angst in ihren Augen mussten ihn überzeugt haben, denn er ließ schließlich von ihr ab.

»Darf ich mich wieder ankleiden?«

Er nickte knapp. Eilig raffte sie ihren Rock zusammen, griff nach ihrem Mieder und bemühte sich, es trotz der zerschnittenen Kordel notdürftig zu verschnüren.

Sie spürte den Blick des Leutnants auf sich, der jede ihrer Bewegungen beobachtete, und errötete.

Schließlich wandte er sich ab. »Sergeant Weiser«, wies er den anderen an, »kümmere Er sich um den Verwundeten und siehe Er zu, dass jemand hilft, ihn aufs Pferd zu heben. Doch zuvor sorge Er dafür, dass der da«, er zeigte auf den Deserteur und spuckte die letzten Worte regelrecht aus, »gefesselt wird. Wir reiten heute noch zurück!«

»Zu Befehl, Herr Leutnant!« Sogleich eilte der Angesprochene, zu tun, wie ihm geheißen.

Bei dem Versuch, die Scheune zu verlassen, wäre er beinahe mit einem blonden Mann zusammengestoßen, der mit hochrotem Gesicht hereingestürzt kam. Er trug eine schlichte dunkle Kniebundhose zu weißen Strümpfen, darüber ein Leinenhemd mit brauner Weste. In seinen Augen standen Schrecken und ein Anflug von Zorn.

Sofort schien er die Situation erfasst zu haben und eilte zu Anna, die mit dem Ankleiden fertig war und den Ankömmling stumm, fast ein wenig trotzig ansah.

»Anna, was ist los? Ist dir etwas geschehen?«

»Die Herren werden dir sicher Bericht erstatten.« Ihre Worte klangen kühl und wesentlich sicherer, als sie sich fühlte. »Ich wurde überfallen, aber wie du siehst, geht es mir gut.«

Obwohl der Angriff des Fremden Anna bis ins Mark erschüttert hatte, legte sie keinen Wert darauf, ausgerechnet von Gideon Beiler getröstet zu werden. Er war der Neffe eines der Gemeindeältesten und spielte sich gerne als ihr Wohltäter auf. Allerdings ärgerte sie sich über die Selbstgerechtigkeit, mit der er sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu belehren versuchte.

»Nun denn.« Mit zwei Schritten war der Offizier hinzugetreten, und Anna bemerkte, dass er Gideon um einen halben Kopf überragte. »Ich fürchte, es gab einen kleinen Zwischenfall. Ein Deserteur, den wir schon seit Tagen verfolgen, hat sich offensichtlich hier in den Wäldern versteckt und versucht, dem Mädchen hier Gewalt anzutun.«

Anna bemerkte, dass Gideon entsetzt zusammenfuhr, erst den Offizier und dann sie anstarrte. »Mir ist nichts geschehen, wie du siehst.« Beruhigend legte sie dem Amischen ihre Hand auf die Schulter. Im Augenblick erschien es ihr besser, sich umgänglich zu zeigen, als ein weiteres Unwetter heraufzubeschwören. »Dank der Hilfe von Leutnant …« Sie unterbrach sich und wandte sich fragend an den Offizier, der ihr noch immer gegenüberstand und Gideon stumm musterte, nun jedoch andeutungsweise den Kopf neigte.

»Sekondeleutnant Lorenz von Tannau, zu Diensten!«

»Ich statte Euch meinen Dank ab, Sekondeleutnant«, brachte Gideon gepresst hervor, und aus den Augenwinkeln heraus konnte Anna erkennen, dass Dankbarkeit bestimmt nicht das Gefühl war, welches er in diesem Augenblick empfand.

Fürsorglich, fast besitzergreifend, legte er den Arm um ihre Schultern und zog sie zu sich heran. »Komm, Anna, du bist verletzt, du musst dich waschen und deine Wunden versorgen lassen.«

Zu schwach, um sich ihm zu widersetzen, ließ sie sich von Gideon zum Scheunentor führen, durch das nun die Morgensonne hereinflutete.

Für einen Augenblick gelang es Anna, sich umzudrehen und einen letzten Blick auf den jungen Offizier zu erhaschen. Ihre Augen trafen sich, und zu ihrem Erstaunen las sie Mitleid darin.

Mitleid für sie?

Ein merkwürdiges Gefühl breitete sich in ihr aus, doch bevor sie darüber nachdenken konnte, hatte Gideon sie nach draußen geschoben.

*

»Zum Henker mit diesem Kerl!« Angewidert betrachtete Lorenz von Tannau die noch immer regungslos auf dem strohbedeckten Scheunenboden liegende Gestalt Kurt Pauls. Tagelang hatten er und seine Männer diesen Verbrecher verfolgt. Dass er sich ausgerechnet hier, auf einem Pachthof dieser Wiedertäufer, verkriechen wollte, dann jedoch gleich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit versucht hatte, eine Frau zu schänden, passte genau ins Bild, das er sich von diesem Feigling gemacht hatte. Schon in Cassel hatte sich Paul an der Tochter eines Schankwirtes vergangen, die allerdings ohnehin keinen Ruf mehr zu verlieren gehabt hatte. Nur wenige Tage später sollte er die Schwester eines ansässigen Töpfers überfallen und schwer verletzt haben. Als ihn die Militärgerichtsbarkeit deswegen zur Rechenschaft ziehen wollte, hatte er sein Heil in der Flucht gesucht.

Schritte näherten sich und rissen Lorenz aus seinen Gedanken. Als er sich umwandte, sah er Sergeant Peter Weiser, der offensichtlich seine Befehle ausgeführt hatte und nun auf weitere Anweisungen zu warten schien.

Mit einem Blick auf den gefesselten Kurt Paul befahl er knapp: »Hol Er mir noch einen Eimer Wasser, Sergeant!« Es wurde Zeit, von hier aufzubrechen, wenn sie noch heute zurück in Cassel sein wollten.

Auf Lorenz’ Geheiß hatte Weiser, unterstützt von einer der einheimischen Bäuerinnen, die Wunden seines Kameraden so gut es ging, versorgt. Dann hatte er ihn auf eine provisorische Bahre gebettet und diese an einem Pferd vertäut. Zwischenzeitlich war der Soldat, dessen Verletzungen sich glücklicherweise als nicht lebensbedrohend erwiesen, wieder zu Bewusstsein gekommen.

Lorenz versuchte noch, von den anwesenden Bauern etwas über den Deserteur zu erfahren. Da aber niemand etwas gesehen oder gehört haben wollte, hatte er sich zum sofortigen Aufbruch entschieden.

Doch hätte er sich gerne noch vergewissert, ob es diesem Mädchen auch wirklich gut ging. Noch immer flackerte Zorn in ihm auf, wenn er an das blanke Entsetzen in ihren Augen dachte. Nur seine Würde als Offizier des Landgrafen hielt ihn davon ab, mit einem festen Stiefeltritt an die richtige Stelle dafür zu sorgen, dass der noch immer bewusstlose Deserteur in Zukunft keine Möglichkeit mehr haben würde, Frauen zu schänden.

Wie hatte dieser amische Bauer sie gerufen? Anna? Armes Ding, einem solchen Galgenstrick wie diesem Paul in die Hände zu fallen. Aber obgleich sie während seiner Befragung völlig verängstigt und im Unterkleid vor ihm gestanden hatte, hatte sie eine gewisse Würde ausgestrahlt. Und selbst dem jungen Amischbauern, der nach ihr sehen wollte, hatte sie trotz ihrer erbärmlichen Lage eine subtile Abfuhr erteilt.

Bei der Erinnerung daran kräuselte ein leichtes Lächeln Lorenz’ Lippen. Ob das ihr Ehemann gewesen war? Seinem besitzergreifenden Gebaren nach zu urteilen, wäre es möglich. Doch die Reaktion des Mädchens auf seine Annäherung hatte eine andere Sprache gesprochen. Vielleicht ihr Verlobter oder jemand, der einen gewissen Anspruch auf die junge Frau anzumelden gedachte.

Aber das sollte seine Sorge nicht sein. Fahrig wischte er sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er hatte weiß Gott genügend eigene Probleme.

Der Sergeant kam mit einem Eimer Wasser zurück. Wortlos griff Lorenz danach und goss ihn mit einem Schwung über Pauls Kopf aus, der daraufhin prustend zusammenfuhr.

Einen Augenblick lang schien er nicht zu wissen, wo er sich befand. Sein Blick irrte orientierungslos hin und her. Doch dann erkannte er Lorenz, was ihm offenbar schlagartig das Geschehene wieder ins Bewusstsein brachte, denn er zuckte zusammen und versuchte aufzuspringen, strauchelte jedoch in seinen Fesseln.

»Versuch es erst gar nicht, du Wurm!«

Weiser nahm die unweit der Stalltür abgestellte Büchse, entsicherte sie und baute sich damit vor Paul auf. »Los, mitkommen!«

Einen Augenblick lang sah es so aus, als wolle Paul sich widersetzen, seine Muskeln spannten sich, und seine Augen suchten den Raum blitzschnell nach einer Fluchtmöglichkeit ab. Dann aber erkannte er wohl, wie aussichtslos seine Lage war. Er ließ die Schultern sinken und rappelte sich auf, soweit es ihm mit den Fesseln möglich war.

Mit einer knappen Kopfbewegung wies Lorenz ihn an, nach draußen zu treten. Doch erst nachdem Weiser ihm zur Bekräftigung einen leichten Stoß mit dem Kolben seiner Büchse verpasst hatte, setzte er sich endlich in Marsch und leistete auch keinen Widerstand, als er mit einem groben Strick an das Pferd des Sergeanten gebunden wurde.

Vor den Haustüren beobachteten Frauen, alle in ähnliche braune Röcke, blaue Schürzen und schlichte Hauben gekleidet, das Geschehen. Stumm verbargen sie die Kinder hinter ihrem Rücken, als wollten sie diese daran hindern, allzu viel von dem zu sehen, was sich vor ihren Augen abspielte.

Wunderliche Fanatiker, allesamt, diese Wiedertäufer, schoss es Lorenz durch den Kopf, doch grüßte er höflich und ließ seinen Blick unauffällig umhergleiten, ohne dass er Annas blasses, aber entschlossenes Gesicht entdecken konnte. Überrascht stellte er fest, dass er ein leichtes Bedauern darüber empfand. Nach einem letzten Blick auf den gefesselten Paul, der mit gesenktem Kopf dastand, saß er ebenfalls auf. Er nahm das Pferd des Verwundeten am Zügel, gab dem Sergeanten hinter sich einen Wink und trieb sein eigenes Tier mit einem leichten Schenkeldruck an.

Als er an den Häusern entlangritt, glaubte er für einen Augenblick hinter einer kleinen, trüben Scheibe das helle Oval von Annas Gesicht wahrgenommen zu haben, ein Blick aus samtbraunen Augen. Doch vielleicht hatte er es sich auch nur eingebildet, denn als er wieder hinsah, war am Fenster nichts mehr zu sehen. Dann ließ er sein Pferd in einen leichten Trab fallen.

KAPITEL 2

Waldeck, September 1775

»Hier Vater, das wird dir guttun.« Vorsichtig nahm Anna einen mit heißem Minztee gefüllten Messingbecher vom Tisch und reichte ihn dem alten Mann, der ein wenig gekrümmt auf seinem Holzschemel neben der Herdstelle saß. Mit schwieligen Händen griff er nach dem Gefäß, während sich der Duft des Tees und der Rauch des Feuers in dem kleinen Raum verteilten. Einen Augenblick lang genoss sie den stillen Frieden, während sie gemeinsam mit ihrem Vater hinaus in den Herbstmittag blickte, wo eine blasse Sonne die schäbigen Häuser und Hütten in ein warmes Licht tauchte.

»Man hat mir gesagt, meine Tochter«, begann er leise, und seiner rauen, leicht schleppenden Stimme gelang es kaum, das Knistern des Feuers zu übertönen, »dass der Vorfall heute Morgen …«

Anna spürte, wie sie sich verspannte und das Pochen in ihren aufgeschürften Händen und Knien sich verstärkte. Doch sie presste die Lippen zusammen und starrte weiterhin wortlos durch die trüben Scheiben.

»Soldaten, hier auf dem Hof und dann dieser Kerl …« Ihr Vater unterbrach sich für einen Moment. »Sie sagen, dass du nicht ganz unschuldig an dem Vorgefallenen warst.«

Annas Fingernägel gruben sich in ihre Schürze, während sich ihr Körper an die Schrecken des Tages erinnerte und sie die harten Hände wieder spürte, die sie mit roher Gewalt gepackt hatten. »Was meinen sie damit?«, fragte sie tonlos, obgleich sie befürchtete, die Antwort bereits zu kennen.

»Nun …« Eine tiefe Traurigkeit hatte sich in die Stimme des alten Mannes eingeschlichen, »dass es deine Schuld war, dass diese Soldaten hergekommen sind. Und …« Er zögerte, »dass das, was dieser Fremde mit dir tun wollte …«

»Dass ich ihn dazu ermuntert hätte?« Übelkeit stieg in ihr auf, und alles kehrte zurück: ihre Hilflosigkeit, ihre Angst, die bodenlose Erleichterung, als alles vorbei war, als der fremde Offizier sie gerettet hatte. Beim Gedanken an ihn entspannten sich ihre Muskeln, ihr Puls ging schneller und leichter. Stahlgraue Augen, dunkle Locken … Doch gleich darauf überkam sie wieder das Gefühl der Demütigung, weil man sie, ausgerechnet sie, für fähig hielt, willig und aus freien Stücken Unzucht mit einem entlaufenen Soldaten zu treiben.

Sie, die immer fest zum Glauben ihrer Väter gestanden, sich um die Kranken und Bedürftigen der Gemeinde gekümmert hatte und lieber Spott und Vertreibung riskiert hätte, als auch nur einen Fingerbreit von Gottes Geboten abzuweichen.

Ihr Vater wusste das, er musste es wissen. Tränen schossen ihr in die Augen, als sie zu ihm hinschaute, wie er dasaß, alt, schwach und auf die Hilfe anderer angewiesen.

»Du weißt, dass es nicht so war. Du kennst mich, Vater.«

Der Angesprochene nickte stumm, und als Anna ihn ansah, erkannte sie seinen Schmerz, die Besorgnis um das Wohl der einzigen Tochter, die ihm geblieben war.

»Ich weiß es, mein Kind«, sagte er leise. »Ich weiß es. Doch die Leute hier … Sie haben ihre eigene Meinung zu gewissen Dingen …«

Anna fuhr herum, die Hände in den gestärkten Stoff ihrer Schürze gekrallt. »Und das gibt ihnen das Recht zu lügen? Falsches Zeugnis abzulegen wider mich, in dieser Sache?«

Ein Schatten lag auf dem zerfurchten, bärtigen Gesicht des Alten, als er zu ihr aufblickte. »Sie sind überzeugt, genau zu wissen, was falsch oder richtig, gut oder verdammenswert ist. Und du weißt, dass es hier nicht gerne gesehen wird, wenn eine junge Frau nachts allein durch den Wald zu den Dörfern läuft, um sich mit Fremden abzugeben.«

»Hätte ich also die Frau lieber sterben lassen sollen, geschwächt und mittellos, wie sie war?« Anna spürte, wie ihr der Zorn rote Flecken ins Gesicht trieb. »Ohne meine Hilfe hätte sie keine Chance gehabt, denn ihr fehlt das Geld, einen Arzt zu bezahlen.«

»Ich weiß, Anneli.« Die Miene des alten Mannes wurde sanft, ein Anflug von Zärtlichkeit glitt über sein Gesicht, während er nickte. »Du redest wie deine Mutter. Bisweilen erinnerst du mich sehr an sie.«

Stumm presste Anna ihre erhitzte Stirn an das kühle Glas der Fensterscheiben und schloss die Augen. Sie konnte nicht verstehen, dass man ihr wegen ihres Handelns Vorhaltungen machte. Es entsprach doch in allem dem, was man sie über Menschlichkeit und Nächstenliebe gelehrt hatte. In ihrer Familie war ein solches Verhalten stets eine Selbstverständlichkeit gewesen. Und der Geist der Freiheit hatte bei ihren Eltern und Geschwistern immer einen hohen Stellenwert gehabt. Bei dem Gedanken an ihre einst so zahlreiche Familie kamen ihr wieder die Tränen.

Als einziges von sechs Kindern war sie noch am Leben. Noch immer schmerzte sie der Verlust der Geschwister und besonders stark der ihrer Mutter. Von ihr hatte sie die Kunst des Heilens und der Geburtshilfe gelernt. Aber ausgerechnet ihr hatte sie nicht helfen können, als sie bei der Entbindung ihres letzten Kindes unter ihren Händen gestorben war, zusammen mit dem Neugeborenen, Annas jüngstem Bruder. Seit diesem Tag hatten sie und ihr Vater keine wirklich glückliche Stunde mehr erlebt.

Ihre Mutter hätte sie verstanden, genau wie jetzt ihr Vater. Doch war dieser zu alt, auch von jahrzehntelanger harter Arbeit, dem Tod seiner Frau und seiner Kinder und der Vertreibung aus seiner Heimat zu geschwächt, um sich gegen die Ungerechtigkeit der Welt aufzulehnen.

»Die Menschen sehen nur das Äußere, Gott aber sieht auf das Herz«, zitierte sie leise Mutters Lieblingswort aus der Schrift, »und ich weiß, dass ich nach seinem Willen gehandelt habe. Das genügt.«

Ohne ihren Vater anzusehen, löste sie sich vom Fenster und begann damit, das Geschirr zusammenzuräumen. Dann machte sie sich daran, mit einem Reisigbesen den Boden zu fegen. Der körperliche Schmerz, den ihr geschundener Körper bei der Anstrengung empfand, lenkte sie für den Moment von weiteren Grübeleien ab.

*

»Halt! Alle absitzen! Wir machen hier eine kurze Rast.« Mit einem Ruck am Zügel brachte Lorenz sein Pferd zum Stehen und glitt aus dem Sattel.

Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Soldaten es ihm gleichtaten. Er stöhnte leise und machte ein paar vorsichtige Schritte, um die Verspannungen von dem langen Ritt zu lösen. Aufmunternd klopfte er Perikles, seinem jungen rotbraunen Hengst, den ihm sein Vater zum Erwerb seines Offizierspatents geschenkt hatte, den Hals und führte ihn, noch immer etwas steifbeinig, zu dem kleinen Bach unweit der Straße. Dann zog Lorenz die Handschuhe aus, warf sie achtlos neben sich ins Gras, schöpfte Wasser aus der hohlen Hand, benetzte damit erst Lippen und Gesicht und trank in vollen Zügen.

Nach all den Tagen im Sattel und den Nächten in billigen Gasthäusern, seitdem sie auf der Suche waren, fühlte er sich müde und schmutzig. Es war ungewöhnlich warm für September, und Lorenz spürte, wie seine schweißgetränkte Uniform an seinem Körper klebte.

Zum Kuckuck mit diesen Quacksalbern, die so nachdrücklich vor den Gefahren des Wassers für die menschliche Gesundheit warnten. Entschlossen entledigte er sich seines Rocks, der Halsbinde und der Weste. Dann knöpfte er mühsam das feuchte Hemd auf und riss es mit einem Ruck über den Kopf.

Ohne auf die Männer zu achten, die es ihm wie auf ein stummes Zeichen hin gleichtaten, begann er, sich Gesicht, Hals, Arme und Oberkörper zu waschen, und endlich fühlte er sich wieder sauber und erfrischt. Dankend nahm er das Tuch, das einer der Burschen ihm reichte, um sich damit trocken zu reiben.

Dann ließ er sich, so wie er war, ins Gras fallen. Er spürte, wie die von der Sonne angewärmten Halme seinen nackten Rücken kitzelten und der Duft nach Heu, reifen Äpfeln und den ersten Pilzen in seine Nase strömte.

Unmittelbar nachdem er mit dem Gefangenen und seinen beiden Männern Waldeck verlassen hatte, war er wieder auf die anderen Soldaten des Suchtrupps getroffen. Diese hatten ihn von Cassel aus auf der Jagd nach dem Deserteur begleitet, waren jedoch zuletzt in unterschiedliche Richtungen ausgeschwärmt, in der Hoffnung, diesen einzukreisen und ihm so von allen Seiten den Weg abschneiden zu können.

Fast bedauerte es Lorenz, dass er nun so schnell den Rückweg zur Garnison nach Cassel antreten musste, wo wenig angenehme Verpflichtungen auf ihn warteten. Viel lieber hätte er die Gelegenheit genutzt, weiter nach Cöln zu reiten, um dort den Verwandten seiner verstorbenen Mutter einen Besuch abzustatten. Als Kind war er mit ihr oft dort gewesen.

Gern erinnerte er sich an die unbeschwerten Sommertage, die er mit seiner Mutter, deren Geschwistern, Onkeln und Tanten in den Residenzstädten am Rhein verbracht hatte. Tage voller Gelächter und Frohsinn, wo reichlich starkes Bier und teurer Wein genossen wurden.

Nach Mutters Tod hatte er nur noch selten Gelegenheit dazu gehabt, denn sein Vater hatte diesen Kontakt nicht gerne gesehen, waren doch alle in der Familie seiner seligen Frau Katholiken und noch dazu mit dem Cölner Kurfürsten und Erzbischof Maximilian Friedrich von Königsegg-Rothenfels befreundet – eine Tatsache, die es im protestantischen Cassel besser diskret zu verschweigen galt, wo ein Dekret die politische Vorrangstellung des Glaubens der Reformation garantierte.

Doch diesmal würde es nichts werden mit dem Abstecher nach Cöln. So erhob sich Lorenz, rief Perikles mit einem leisen Zungenschnalzen herbei und zog einen Kanten Brot aus der Satteltasche. Er hoffte, Cassel ohne weitere Zwischenfälle bis zum Sonnenuntergang zu erreichen und den Gefangenen endlich dem Profos übergeben zu können.

Erneut stieg Zorn in Lorenz auf, als er daran dachte, was dieser Kerl diesem unschuldigen Ding hatte antun wollen. Während er den letzten Bissen hinunterschluckte, ging er einige Schritte den Bach entlang, wo Paul, die Hände noch immer mit einem Strick am Sattel eines der Pferde angebunden, im Gras saß und auf einem gelben Halm kaute. Der herablassende Blick, den er Lorenz zuwarf, stand im krassen Gegensatz zu seinem zerrissenen Rock, dem Schmutz in seinem Gesicht, auf seiner Uniform und seinen Stiefeln.

»Ich werde dich töten, von Tannau, das schwöre ich«, sagte er mit einer solchen Gelassenheit und Ruhe, als befände er sich bei einer Teegesellschaft, wo es darum ging, belanglose Kleinigkeiten auszutauschen. »Eines Tages werde ich dich erwischen.«

»Du wirst hängen, noch ehe du die Gelegenheit dazu hast.« Lorenz lächelte kühl, doch konnte er sich eines unguten Gefühls nicht erwehren. »Man wird dich aufknüpfen, sobald du Casseler Boden betrittst. Und ich werde danebenstehen und warten, bis du blau angelaufen bist.«

»Tatsächlich?« Nachlässig spuckte Paul den Halm aus und stützte das Kinn auf seine gefesselten Hände, ohne sein Gegenüber aus dem Auge zu lassen. »Worum wollen wir wetten?«

Ein seltsam kalter Schauder rann Lorenz’ Wirbelsäule hinab, doch hielt er dem Blick des anderen stand. »Ich wette nicht mit Verbrechern und Frauenschändern.« Mit diesen Worten drehte er sich auf dem Stiefelabsatz um und stapfte davon.

»Dein Leben gegen meines? Ein gerechter Einsatz, findest du nicht?«, brüllte der Kerl ihm hinterher.

Ohne ihn weiter zu beachten, ging Lorenz zurück zu seinem Pferd, zog sich an und gab das Zeichen zum Aufsitzen. Während er Perikles zurück zur Straße lenkte, fragte er sich, wie dieser Hundesohn sich seiner Sache nur so sicher sein konnte.

*

Der süße Geruch reifer Äpfel drang Anna in die Nase und ließ ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen. Die Stimmen der arbeitenden Frauen verschwammen zu einem melodischen Singsang, und das Feuer im Backofen verbreitete eine angenehme Wärme. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie sich fast vorstellen, wieder zu Hause zu sein, im pfälzischen Weyerhof, wo sie so häufig mit ihrer Mutter in der Küche gesessen, Kräuter getrocknet, Brot gebacken und die Mahlzeiten zubereitet hatte.

Es bereitete ihr Freude, gemeinsam mit den amischen Bäuerinnen Kuchen zu backen, Brotteig zu kneten oder Obst für den Winter zu dörren. Wenn sie sich auch oft heimatlos vorkam – an Abenden wie diesen wusste sie die Gemeinschaft und Hilfsbereitschaft der Menschen hier zu schätzen. Dann fühlte sie sich geborgen durch das gemeinsame Band des Glaubens, das friedliche, täuferische Erbe.

Verstohlen steckte sich Anna ein Stück Apfel in den Mund und genoss den frischen Saft, der über ihre Zunge spritzte, während sie die übrigen Schnitze in eine kleine Schüssel füllte, die Schalen hingegen in einen am Boden stehenden Eimer warf. Später würden sie an die Schweine verfüttert werden.

Ruth Wiehler, eine rundliche Bäuerin von etwa sechzig Jahren, öffnete vorsichtig die schwere Eisentür des Backofens. Mit einem energischen Wedeln ihrer Hand verscheuchte sie den herausströmenden Rauch und zog schließlich mit einer Holzschaufel aus der vor Hitze glühenden Röhre zwei prächtige Kuchen hervor. Sie dufteten so köstlich, dass die fünfjährige Rachel, die mit gerötetem Gesicht danebenstand, nur mit einem Klaps auf die Hand davon abzuhalten war, sich ein Stück davon herauszubrechen.

Auf einen Wink Ruths hin ging Anna mit ihrer Schüssel zum Backofen und begann, die Apfelstücke in dem sich langsam abkühlenden Ofen zu verteilen, um sie zu dörren und auf diese Art für den Winter haltbar zu machen. Der rußige Qualm trieb ihr die Tränen in die Augen, und mehrfach musste sie ein Husten unterdrücken. Doch eine der Frauen reichte ihr einen Becher mit schwärzlich bitterem Zichorienkaffee, den sie dankbar entgegennahm und in kleinen Schlucken trank. Danach wischte sie sich mit einem Zipfel ihrer Schürze den Schweiß von der Stirn und setzte sich wieder auf den Holzschemel, um mit dem Entkernen dicker tiefvioletter Zwetschgen zu beginnen, die in einem Eimer neben ihr auf der Erde standen.

Während ihr der klebrig süße Saft der Früchte über die Finger rann, den sie genüsslich abschleckte, dankte sie Gott im Stillen für diese Oase des Friedens und der Gemeinschaft, in der sie leben durfte, nach den schweren Zeiten, die sie und ihr Vater in den vergangenen Jahren durchlebt hatten. Und sie spürte, wie bei diesem Gebet eine tiefe Ruhe über sie kam.

Stimmen, Trommeln und laute Schritte rissen Anna jäh aus ihrer frommen Andacht. Der Lärm, der durch das kleine geöffnete Fenster von draußen hereindrang, schwoll immer mehr an. Nach und nach hielten die Frauen in ihren Arbeiten inne und wandten ihre Gesichter den Fenstern zu, durch deren kleine Scheiben, die von Dampf und Kondenswasser beschlagen waren, jedoch nichts zu erkennen war.

»Alle herhören!«, ertönte eine laute Stimme. »Ich bringe Nachricht von unserem höchst ehrenwerten Fürsten Friedrich Karl August von Waldeck-Pyrmont.«

Bei diesen Worten erstarrte Anna, und ihre Fingerspitzen wurden kalt. Das Messer entglitt ihr und fiel in ihre Schürze, wo es eine Spur des klebrigen braunen Saftes hinterließ. Ihr Mund wurde trocken, und während sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, fragte sie sich, ob der Fremde, wer auch immer er sein mochte, ihretwegen gekommen war.

Wenn man Soldaten hierherschickte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Annas Gedanken überschlugen sich. Hatte der Deserteur aus Rache womöglich seinem Vorgesetzten verraten, wie willig sie ihm Unterschlupf gewährt hatte? Ein solcher Frevel wurde ähnlich hart bestraft wie die Fahnenflucht selbst. Waren sie nun hier, um sie zu holen und der gerechten Vergeltung zuzuführen?

Steifbeinig erhob sich Anna und starrte nach draußen. Was sollte sie tun? Bei Gott, was konnte sie nur sagen?

»Anna, was hast du?« Ruths zerfurchtes Gesicht war ernst, und besorgt legte sie ihr eine Hand auf die Schulter »Du bist ja auf einmal so blass, ist dir nicht gut?«

»Ich …« Anna stockte. Sie brachte es nicht über sich, von ihren Befürchtungen zu erzählen.

»Alle mal herkommen!«, erscholl es wieder von draußen, gefolgt von einem Trommelwirbel, der dazu angetan schien, die Glasscheiben der Fenster zum Vibrieren zu bringen.

Was auch immer dahintersteckte, sie würde es nicht herausfinden, wenn sie sich weiter in der Hütte verkroch. Und sollte wirklich sie der Grund für das Auftauchen der Soldaten sein, so hatte sie kein Recht, andere in die Sache hineinzuziehen, indem sie sich feige verbarg.

Entschlossen schob sie Ruths Hand beiseite, legte das Messer auf den Tisch und ging an den Frauen vorbei zur Tür. Bevor jemand sie daran hindern konnte, hatte sie diese geöffnet und trat nach draußen in die abendlich kühle Herbstluft. Wie in Trance nahm Anna wahr, dass die anderen Frauen ihr folgten und von den Ställen her Männer und Kinder herbeikamen – neugierig, was der Aufmarsch zu bedeuten hatte.

Anna verkrampfte sich, als sie die Uniformen der Neuankömmlinge sah. Ein weiteres Mal rissen sich die sorgfältig in ihrem Herzen verborgenen Erinnerungen wie wütende Kettenhunde los und fielen über sie her. Der Fremde im Wald, sein Arm, der sie festhielt, die schwielige Hand, die sich auf ihren Mund presste, die kalte Klinge an ihrem Hals.

Gewaltsam schob sie diese Bilder beiseite und machte einen weiteren Schritt auf die Uniformierten zu, um die sich zwischenzeitlich eine Menschentraube gebildet hatte.

Einer der Soldaten hatte einen kleinen Tisch vor sich aufgebaut, mit einem Stapel Dokumente, einem dicken Buch, Feder und Tintenfass. Zwei seiner Kameraden standen daneben, während ein vierter, in vollem Ornat, mit lauter Stimme die Vorzüge des Dienstes als Soldat in der Armee des Fürsten von Waldeck-Pyrmont anpries.

Erleichterung durchströmte Anna wie eine erfrischende Brise. Die Männer waren gar nicht ihretwegen gekommen. Es waren Soldatenwerber, die durch die Dörfer zogen, um Bauern und Handwerker für den Dienst beim Militär zu rekrutieren. Nun denn, mochte es im Waldecker Land genügend Männer geben, die so arm waren, dass sie sich willig auf die Versprechen von Sold, Ausstattung, Bier, Brot und Fleisch einließen. Bei den Täufern hingegen würden die Werber des Fürsten kein Glück haben.

Doch offensichtlich waren die Soldaten sich dessen nicht bewusst. Anna zog sich das Schultertuch fester um den Körper. Dann fasste sie sich ein Herz, ging einige Schritte auf die Gruppe zu und wurde Zeuge eines Gespräches, bei dem einer der Offiziere ausgerechnet den alten Jakob, Ruth Wiehlers Bruder, von seinem Anliegen zu überzeugen versuchte.

»Und behauptet Er ernsthaft, Bauer, dass Er tatenlos dabeistehen und zusehen würde, wenn Fremde kämen, Sein Land verwüsten, Frau und Kinder abschlachten würden?«

Mit mehr Ruhe, als Anna von ihm kannte, erwiderte Jakob: »Ich wüsste nicht, wer uns hier angreifen sollte. Doch ja, ist schon mal vorgekommen, dass unsere Brüder beschimpft, gefangen genommen, vertrieben und getötet wurden.« Gelassen zog er die Schultern hoch. »Doch keine Waffe der Welt hätte das verhindern können. Es hätte nur zu noch mehr Blutvergießen geführt und dazu, dass wir außer unserem Besitz und unserem Leben auch noch unsere Seligkeit verloren hätten.« Langsam drehte er sich um und ging zurück zum Haus.

Mit leichtem Unbehagen stellte Anna fest, dass das Gesicht des Werbeoffiziers bei dieser unverhohlenen Absage rot angelaufen war. Einen Moment lang befürchtete sie schon, er würde sich auf Jakob stürzen, um diesem die Unverschämtheit aus dem Leib zu prügeln.

Doch nach einigen Atemzügen, während derer nur eine klopfende Stirnader seine Wut verriet, wandte sich der Soldat wieder den Schaulustigen zu. »Und was ist mit den anderen? Sicher ist der eine oder andere von euch Manns genug, um mit einer Waffe in der Hand für seinen Fürsten zu kämpfen?«

Leises Gemurmel erhob sich.

»Der Fürst wird sich nicht lumpen lassen. Ausreichend zu essen, ärztliche Versorgung! He, wie wäre es mit Ihm, Bursche?«, wandte er sich schließlich an einen hoch aufgeschossenen Jungen von etwa fünfzehn Jahren, von dem Anna wusste, dass er Thomas hieß und der jüngste Enkel der alten Ruth war. »Er sieht aus, als hätte Er das Zeug dazu.« Der Offizier lachte heiser. »Oder will Er mir weismachen, dass Er es vorzieht, seine Tage zu Hause zuzubringen, statt etwas von der Welt zu sehen und in kleidsamer Uniform junge Frauen zu beeindrucken?«

Der Kampf zwischen Pflicht und Neigung, zwischen seiner religiösen Überzeugung und den Verlockungen, welche die Worte des Werbers in seinem Kopf heraufbeschworen hatten, waren im Gesicht des Jungen deutlich abzulesen. Seine Augenbrauen hoben sich, seine Stirn legte sich in Falten, und die Sommersprossen auf der Nase schienen aufgeregt zu tanzen, während seine schmale Brust sich vor Erregung hob und senkte.

»Dacht ich mir’s doch. Einen guten Kerl erkenne ich gleich. Na …« Mit wichtigtuerischer Geste winkte der Offizier einen seiner Adjutanten herbei, und neugierig machte Thomas einen Schritt auf ihn zu.

»Du kommst sofort ins Haus, Junge!« Ruths Stimme war leise, aber unerbittlich.

Mit einem sehnsuchtsvollen Blick sah der Halbwüchsige noch einmal zu den bunten Uniformen der Werber hinüber, steckte aber schließlich seine Hände in den Hosenbund und folgte seiner Großmutter.

Der Bann war gebrochen. Die Menschentraube löste sich auf, die Leute kehrten in ihre Häuser zurück.

Dankbar, dass alles so glimpflich verlaufen war, betrat auch Anna wieder die warme Küche. Doch hatte sich ein ungutes Gefühl in ihr festgesetzt, als sei diese Begegnung nur ein Vorspiel zu einem drohenden Unheil gewesen. Und so war die friedliche Stimmung, die sie zuvor noch inmitten der arbeitenden Frauen verspürt hatte, verschwunden.

Ein Hauch von Veränderung hing in der Luft.

KAPITEL 3

Cassel, Oktober 1775

Der Morgennebel hob sich langsam, die Wolkendecke brach auf, und die ersten Strahlen der schwachen Herbstsonne bahnten sich ihren Weg über den Exerzierplatz.

Zwei endlos scheinende Reihen von Soldaten in den grün-roten Uniformen der hessischen Jäger standen sich gegenüber. Mit ihren polierten Waffen und verbissenen Mienen wirkten sie so bedrohlich wie Gestalten aus einer alten Sage. Jeder der Männer hielt in der rechten Hand ein Bündel aus Weidenruten. In der Mitte blieb eine etwa zwei Schritt breite Gasse.

Kein Laut war zu hören, bis auf den Wind, der durch die Bäume strich, und das Husten eines Soldaten.

Hoch aufgerichtet saß Lorenz von Tannau auf seinem Pferd, die linke Hand hatte sich um den Zügel zur Faust geballt. Unwillkürlich glitt seine Rechte zum Griff seines Degens, obgleich es noch zu früh war, das Signal zu geben. Wenige Schritte vor ihm, am Kopfende der beiden Reihen, stand jeweils ein Tambour, die Schlegel ruhten auf dem Lederbezug der Trommeln.

Das laute Quietschen eines sich öffnenden Tores zerriss die angespannte Stille. Die Tamboure begannen, einen dumpfen Rhythmus zu schlagen, als Kurt Paul, flankiert von Sergeant Weiser und dem Profos in seiner grauen Uniform, durch das Tor auf den Platz trat.

Ein kurzes Nicken von Lorenz, und der Sergeant wandte sich zu dem bis auf Stiefel und Hose entkleideten Gefangenen um. Seine linke Hand ergriff den Strick, mit dem die Hände des Mannes gefesselt waren, die rechte hielt die Spitze seines Hirschfängers, der Stichwaffe der Jäger, vor dessen Brust.

Kurz hob Kurt Paul den Kopf und schaute ihn an. Lorenz las einen solch irrsinnigen Hass in seinen Augen, dass er sich zwingen musste, dem Blick standzuhalten.

Paul war zum Gassenlaufen und zur Brandmarkung als Deserteur verurteilt worden. Anschließend würde er aus dem Militär ausgestoßen werden. All das würde ihn zwar von einem gut situierten Soldaten zum verachteten Niemand machen, ihn jedoch voraussichtlich nicht das Leben kosten.

Lorenz gab das Zeichen und sah mit unbewegter Miene zu, wie Kurt Paul, durch den Hirschfänger des Sergeanten vor seiner Brust zur Langsamkeit gezwungen, mit gebeugtem Oberkörper begann, das Spalier der Soldaten zu durchschreiten. Das Zischen der Ruten durch die Luft, gefolgt vom klatschenden Aufschlagen auf nackter Haut durchschnitt die morgendliche Stille. Unterdrücktes Stöhnen war zu vernehmen, die Schritte des Gepeinigten wurden schwerfälliger.

Unmerklich wandte Lorenz den Blick ab. Der Mann war ein Frauenschänder und Verbrecher. Er hatte die Züchtigung mehr als verdient. Gleichwohl war Lorenz die Zurschaustellung drakonischer Strafen verhasst, mochten sie zur Aufrechterhaltung der Disziplin der Männer auch noch so notwendig sein.

Je länger die Prozedur dauerte, desto mehr steigerte sich das Stöhnen des Deserteurs zu kaum verbissenen Schmerzensschreien, aus dem Gehen wurde ein Stolpern, während die Hiebe ununterbrochen auf ihn niederprasselten. Kurz vor dem Ende brach Paul zusammen, erhielt die letzten Schläge auf der Erde liegend. Dann war es vorbei. Eine gespenstische Stille blieb zurück, bis der Profos das Zeichen gab, den Mann fortzuschaffen.

Auf einen Befehl hin machte die Formation der Männer kehrt und marschierte schweigend zurück zur Kaserne.

Lorenz spürte, wie die Anspannung von ihm wich. Wortlos wandte er sein Pferd und ritt auf den Ausgang zu. Der Spuk um diesen Verbrecher hatte sein Ende gefunden. Man würde Kurt Paul noch brennen und anschließend mit Schimpf und Schande aus dem Regiment jagen. Danach würde er diesen Dreckskerl hoffentlich nie wieder zu Gesicht bekommen.

*

Schweiß rann Anna über Stirn und Gesicht, als sie mit aller Kraft die Hacke in den harten, schon halb gefrorenen Boden stieß. Einzelne Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Zopf gelöst und hingen ihr ins Gesicht.

Ein Aufstöhnen unterdrückend, legte sie schließlich das Gerät beiseite und schob die klebrigen Strähnen zurück unter die Haube, wobei sie etwas von der feuchten Erde in ihrem Gesicht verteilte. Dann begann sie, die Steckrüben mit der Hand aus dem gelockerten Erdreich zu ziehen.

Ihre Finger waren eisig, die Innenseiten aufgerissen und ihre Nägel schmutzig. Doch mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete sie weiter und legte eine Rübe nach der anderen in den kleinen, zerschlissenen Korb, der neben ihr auf dem Boden stand.

In diesem Jahr war der Winter früh hereingebrochen. Obgleich es erst Oktober war, wurde es in den Nächten bisweilen so empfindlich kalt, dass am Morgen die Pfützen und die mit Wasser gefüllten Fässer eine dünne Eisschicht trugen.

Vor Kälte und Schweiß fröstelnd, zog Anna das wollene Schultertuch enger um ihren Körper und ging dann zur Dachtraufe hinüber, unter der das zerkleinerte Brennmaterial zum Trocknen lagerte. Das Holzhacken hatte einer der Amischbauern für sie übernommen.