Die Melodie der Schatten - Maria W. Peter - E-Book

Die Melodie der Schatten E-Book

Maria W. Peter

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Beschreibung

"Ein verfluchter Flecken Erde, diese Highlands. Ein Land, das von Tränen und Blut getränkt ist."

Schottland, 1837: Die junge Fiona Hemington ist auf dem Weg zu ihrer Tante in den Highlands, als ihre Kutsche in einen Hinterhalt gerät. Halbtot vor Angst und Erschöpfung schlägt sie sich bis zu einem abgelegenen Herrenhaus durch. Doch der Besitzer ist Fiona ebenso unheimlich wie das alte Gemäuer. Nachts quälen sie dunkle Traumbilder und seltsame Geräusche: Schritte, Stimmen, eine wiederkehrende Melodie. Liegt tatsächlich ein Fluch auf dem Haus, seit die gälischen Pächter gewaltsam vertrieben wurden? Oder ist Fiona dabei, den Verstand zu verlieren?

Eine junge Frau auf der Flucht, ein Landstrich voller Mythen und Legenden und ein geheimnisumwobenes Herrenhaus. Ein Historischer Roman in der Tradition der Schauerliteratur - unheimlich packend und atmosphärisch.

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Seitenzahl: 750

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Inhalt

CoverInhaltÜber das BuchÜber die AutorenTitelImpressumWidmungBuch I – Oktober 1837Der VorabendTag 1 auf Thirstane ManorKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Tag 2 auf Thirstane ManorKapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Tag 3 auf Thirstane ManorKapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Tag 4 auf Thirstane ManorKapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Tag 5 auf Thirstane ManorKapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Tag 6 auf Thirstane ManorKapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Tag 7 auf Thirstane ManorKapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Tag 8 auf Thirstane ManorKapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Tag 9 auf Thirstane ManorKapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Buch II11. November 1837Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Kapitel 41Kapitel 42Kapitel 4329. November 1837Kapitel 44Kapitel 45Kapitel 46Kapitel 47Kapitel 481. Dezember 1837Kapitel 49Kapitel 50Kapitel 51Kapitel 52Kapitel 53Kapitel 54Kapitel 55Kapitel 56Kapitel 57Kapitel 58Kapitel 59Kapitel 60Kapitel 61Kapitel 62Kapitel 63Kapitel 64Kapitel 65Kapitel 66EpilogNachwortGlossarStöbertippsSchottisch-gälische Ausdrücke, Redewendungen und SätzeDie Figuren der HandlungHistorische PersönlichkeitenDank

Über das Buch

Schottland, 1837: Fiona Hemington ist auf dem Weg zu ihrer Tante in den Highlands, als ihre Kutsche in einen Hinterhalt gerät. Als einzige Überlebende schlägt sie sich bis zu einem abgelegenen Herrenhaus durch. Doch der Besitzer ist Fiona ebenso unheimlich wie das alte Gemäuer. Nachts quälen sie dunkle Traumbilder und seltsame Geräusche: Schritte, Stimmen, eine wiederkehrende Melodie. Liegt tatsächlich ein Fluch auf dem Haus, seit die gälischen Pächter gewaltsam vertrieben wurden? Oder ist Fiona dabei, den Verstand zu verlieren?

Über die Autoren

Maria W. Peter ist seit Langem von Amerika begeistert. Während ihres Studiums der Amerikanistik und Anglistik war sie Mitglied eines amerikanischen Chors auf dem Militärstützpunkt in Kaiserslautern und pflegte intensive Kontakte zu amerikanischen Familien. Später lebte sie in Columbia, Missouri, wo sie als Fulbright-Stipendiatin die School of Journalism besuchte. Dort erlag sie endgültig der Faszination amerikanischer Kultur und Geschichte. Schon zu Studienzeiten arbeitete Maria W. Peter als Journalistin. Heute ist sie als freie Autorin tätig und pendelt zwischen dem Rheinland und dem Saarland.

Maria W. Peter

DIE MELODIE DER SCHATTEN

Schottland-Roman

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

  

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

  

Copyright © 2018 by Maria W. Peter und Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Kartenillustration: Helmut W. Pesch, Köln

Übersetzung des Gedichts auf S. 7: Sylvia Dörnemann

Titelillustration: © Brendan Howard / shutterstock; © Terrence Drysdale / Trevillion Images

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-6138-4

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

 

Für Svenja und Susanne,

ohne die dieser Roman nie entstanden wäre.

Ihr seid meine Musen.

 

Nuair bhios mnathan òg a’ bhaile

Nochd nan cadal sèimh

’S ann bhios mis’ aig bruaich do lice

Bualadh mo dhà làimh.

Klagelied aus den Highlands des 16. Jahrhunderts

Wenn die jungen Frauen des Ortes

heute Nacht im Schlafe liegen,

werde ich an deiner Grabesstätte sein

und meine beiden Hände aneinanderschlagen.

Buch I – Oktober 1837

Der Vorabend

My heart’s in the Highlands, my heart is not here,

My heart’s in the Highlands, a-chasing the deer;

Chasing the wild-deer, and following the roe,

My heart’s in the Highlands, wherever I go.

Robert Burns

Mein Herz ist in den Highlands, mein Herz ist nicht hier,

Mein Herz ist in den Highlands und folgt dem wilden Tier;

Auf der Jagd nach dem Rotwild, auf der Spur von dem Reh,

Mein Herz ist in den Highlands, wo immer ich geh.

 

Zu behaupten, Fiona Hemington sei eine junge Dame von besonderer Scheu, ja Furchtsamkeit des Charakters, wäre eine Übertreibung gewesen. Wenn sie in sich hineinhorchte, wusste sie nämlich, dass tief in ihrem Inneren, verborgen unter den Schichten von Erziehung und Etikette, ihren persönlichen Einschränkungen und … nun ja … Absonderlichkeiten, eine Stärke schlummerte, die nur darauf wartete, zum Leben erweckt zu werden.

Doch während sie neben ihrer ältlichen Tante Maud und dem wohlbeleibten Anwalt Dr. Keith in der Kutsche saß, die durch die bereits dämmrige Landschaft der schottischen Highlands rumpelte, empfand sie nichts als Kälte, Erschöpfung und abgrundtiefe Traurigkeit. Mit klammen Fingern zog sie die Decke enger um ihre Schultern, blickte nach draußen und fragte sich, ob sie jemals wieder etwas wie Wärme spüren würde, Sonne oder gar ein Lachen …

Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie in ihrem bisherigen Leben ständig eine leichte Unterkühlung verspürt. Seit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter vor einem Jahr schien diese jedoch in eine kalte, starre Leblosigkeit umgeschlagen zu sein, die sie so sehr lähmte, dass sie in den vergangenen Monaten ihr Zimmer kaum verlassen hatte. Nicht, dass diese Tatsache irgendjemanden im Haus sonderlich berührt hätte, am allerwenigsten ihren Vater, den Earl Hemington, Richter Seiner Majestät des Königs und früherer Colonel der britischen Armee.

Und ihre Mutter … Mit beinahe gespenstischer Deutlichkeit sah Fiona ihr bleiches Gesicht auf dem Sterbebett vor sich. Die Lippen blutleer, die Augen eingefallen, und einen Moment lang musste Fiona den Impuls unterdrücken, laut aufzuschreien.

Dabei wusste sie nicht einmal, an welcher Art Leiden ihre Mutter verschieden war. Man sprach darüber nur hinter vorgehaltener Hand – und offensichtlich hatte es niemand für angebracht gehalten, sie einzuweihen.

Plötzlich kam die Kutsche zum Stehen. Der heftige Stoß riss Fiona aus ihrem Dämmerzustand und warf sie nach vorn. Ihr Herz hämmerte zum Zerspringen, während die Angst in ihr aufkeimte.

Die beiden anderen Insassen waren von dem Ruck ebenfalls aufgeschreckt worden und sahen sich verwirrt um.

»Was ist geschehen?« Die Stimme ihrer Tante klang eher empört als ängstlich. Als verwitwete, kinderlose ältere Dame, die in Inverness einen eigenen Hausstand besaß, war sie es gewohnt, dass man ihren Anweisungen unverzüglich Folge leistete. Eine Unterbrechung der von ihr angeordneten Reise, noch dazu auf eine solch vehemente Art, gehörte zu den Dingen, die sie absolut nicht dulden konnte. »Fiona, hörst du nicht? Ich habe gefragt, was hier los ist. Mr Keith, so sagen Sie doch etwas!«

»Ich weiß es nicht, Tante«, flüsterte Fiona.

Ein dumpfes Brummen stieg in ihrem Innern auf. Ein Brummen, unterlegt von dem rasenden Herzschlag, der immer schneller wurde, wie hastige Schritte. Der süßliche Geruch von Blut schien in der Luft zu hängen, sich klebrig auf ihre Zunge zu legen. Eine böse Vorahnung schnürte Fiona den Hals zu.

Mit einem Schrei zerriss sie die Bilder und Klänge, die sie zu überwältigen drohten. Verzweifelt rang sie nach Atem, während die Wände der Kutsche in klaustrophobischem Wahn immer näher rückten.

»Ich sehe einmal nach …« Ohne lange zu überlegen, hatte sie sich von ihrem Sitz erhoben und zur Tür gewandt. Großer Gott, ich muss hier raus, sonst ersticke ich!

»Fiona, ich verbiete dir, nach draußen zu gehen. Wer weiß, was …«

Die Worte ihrer Tante verhallten ungehört. Fionas Blick glitt kurz zu dem einzigen Mann in der Runde. Blass und verstört saß der Anwalt in seinem gepolsterten Sitz, während ihm der Schweiß auf die Stirn trat, der Anblick von aufkeimender Angst sich auf seinen Zügen ausbreitete. Ein Hauch von Verachtung glomm in Fiona auf, dann machte sie sich am Türgriff zu schaffen.

»Ich habe gesagt, du sollst hierbleiben! Hörst du nicht?«

Die feiste Hand der Tante wollte sie festhalten, doch Fiona entzog sich ihr und stieß den Schlag der Kutsche auf.

Kalter Regen schlug ihr entgegen, ein Donner krachte so laut, dass für den Moment kein anderes Geräusch zu vernehmen war. Noch bevor der darauffolgende Blitz die ganze Umgebung in ein unnatürlich helles Licht tauchte, hatte sich Fiona bereits hinausgeschlängelt und war abgesprungen. Kurz stöhnte sie auf. Sie war umgeknickt und im Fallen mit Schienbein und Knie auf einen Stein geprallt. Dennoch kam sie rasch wieder auf die Beine und hastete, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, hinter ein mannshohes, ein gutes Stück von der Kutsche entferntes Gebüsch.

Keine Sekunde zu früh.

Drei Gestalten näherten sich dem Gefährt, vermummt in schwarze Umhänge, die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen. Eine von ihnen hielt eine brennende Fackel in der Hand, die andere eine Pistole. Eine dritte Person kletterte auf das Dach, riss das Gepäck herunter, auf das sich alle stürzten. Kleidungsstücke, Bücher, Schuhe und Papiere flogen durch die Luft.

Fionas Herz krampfte sich zusammen. Ihre besten Kleider, ihre Lieblingsbücher, ihr Tagebuch und ein Stapel Notenblätter. Einige der Dinge nahmen die Kerle an sich. Den Rest warfen sie achtlos beiseite.

Unwillkürlich presste sich Fiona tiefer in die Hecke, deren feuchte Zweige ihr ins Gesicht schlugen. Das unablässige Rauschen des Regens übertönte die Stimmen der Männer, sodass Fiona ihre Worte nicht verstand. Doch beobachtete sie, wie einer von ihnen den Schlag der Kutsche aufriss und mit der Waffe drohte.

Mühsam unterdrückte sie einen Aufschrei. Jedes Geräusch konnte sie verraten.

Wer waren diese Kerle? Was wollten sie? Fiona wusste nicht, ob sie Gott dankbar sein sollte, dass es ihr im letzten Moment gelungen war, das Gefährt zu verlassen, oder ob sie ihre Impulsivität, die ihr in diesem Moment wie Feigheit erschien, verfluchen sollte.

Ihr blieb keine Zeit, ihre Gedanken fortzuführen. Schüsse peitschten durch die Nacht. Fiona sah, wie der Kutscher vom Bock stürzte. Einer der Straßenräuber drang in das Innere des Gefährts ein. Zwei weitere Schüsse zerrissen die Luft. Es dauerte geraume Zeit, bis der Mann wieder erschien. In seiner erhobenen Hand glaubte Fiona, eine Kette zu erkennen. Zitternd schlug sie die Hand vor den Mund. Sie hatten ihre Tante und Dr. Keith ausgeraubt und ermordet! Das Licht der Fackel glomm heller auf, und Fiona erkannte, dass die Vorhänge im Innern der Kutsche Feuer fingen.

Gelähmt vor Entsetzen wusste sie nicht mehr, was sie tun sollte. Sie wusste nicht einmal, wo sie sich überhaupt befand. Ihr Atem stockte, als die Flammen auf das Holz der Kutsche übergriffen, die in kurzer Zeit lichterloh brannte.

Wie von selbst setzten sich Fionas Beine in Bewegung, und sie stürzte in die entgegengesetzte Richtung davon.

In eine finstere Nacht, in der sich der Mond gerade unbarmherzig hinter den Wolken verbarg.

*

Es war der vage Schimmer eines Lichtes, der Fiona aus ihrer Verzweiflung riss.

Der Regen prasselte auf sie herab. Kalt, hart und unerbittlich fielen die Tropfen auf ihren Körper. Ihr aufgelöstes Haar hing in langen, triefenden Strähnen in ihrem Gesicht, das völlig durchnässte Kleid klatschte ihr bei jedem Schritt um die Beine. Eisige Rinnsale trübten ihren Blick, und sie wischte sie weg, um besser zu sehen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie feststellte, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Da vorn, irgendwo in der Ferne, war tatsächlich ein milchiges Aufleuchten zu erkennen. Flackernd und unstet zwar, sodass sich Fiona einen Moment lang nicht erklären konnte, woher es kam, doch ganz zweifellos ein Licht.

Der aufgeweichte Boden gab schmatzende Laute von sich, und der nasse Farn strich unangenehm über ihre Fußknöchel. Bei jeder Bewegung schmerzten die Prellungen, die sie sich beim Sprung aus der Kutsche zugezogen hatte. Doch wie gebannt waren ihre Augen auf das Licht gerichtet.

Nun, da sie hoffen konnte, in der Nähe von Menschen zu sein, verspürte sie plötzlich neuen Überlebenswillen in sich aufkeimen. Heiß und stark pulsierte er mit jedem Herzschlag durch ihren Körper. Ihre Haut, noch kurz zuvor vor Kälte und Mutlosigkeit fast erfroren, begann, unter der Anspannung zu glühen.

Kurz fragte sie sich, was sie wohl dort antreffen würde. Dann jedoch beschleunigte sie entschlossen ihre Schritte. Was immer auch jenseits der Dunkelheit auf sie wartete – es konnte unmöglich schlimmer sein als das, was sie bereits erlebt hatte.

Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Schon lange hatte Fiona jedes Gefühl der Orientierung verloren, und die Hoffnung, die für einen kurzen Moment in ihr aufgekeimt war, begann sich mit jedem weiteren Schritt zu verflüchtigen. Ihre Muskeln brannten. Die Erschöpfung und der schwere, nasse Stoff ihres Kleides schienen sie immer weiter nach unten zu ziehen. Wie eine Schlafwandlerin taumelte sie mühsam weiter auf den Lichtschein zu.

Plötzlich erhellte ein Blitz den nächtlichen Himmel, und einen Moment lang zeigte sich ihr ein wie gestochen scharfes Bild. Der Anblick, der sich ihr bot, war so überwältigend, dass er sie aus ihrer Benommenheit riss und sie beinahe gestürzt wäre.

Etwa zweihundert Yards vor ihr stand ein Herrenhaus. So nah und unerwartet, dass Fiona sich fragte, ob es womöglich plötzlich aus dem Erdboden gewachsen war. Ein unerklärliches Grauen überfiel sie.

Keuchend atmete sie aus. Dann versank die Umgebung wieder in Dunkelheit. Das seltsame Gefühl jedoch blieb. Nahezu körperlich schien es sie davor warnen zu wollen, sich diesem Gebäude weiter zu nähern. Und so verharrten ihre Füße wie festgewachsen in dem feuchten, kalten Schlamm. Einen ihrer Schuhe hatte sie bei ihrer überhasteten Flucht verloren, bei dem anderen war der Absatz abgebrochen.

»Du warst schon immer ein wenig verrückt, Fiona Catherine Hemington!«, sagte sie leise zu sich selbst und erschrak über den heiseren Klang ihrer Stimme. Was zögerst du noch? Du hast doch lediglich die Wahl, dir hier draußen den Tod zu holen oder dort im Haus um Aufnahme und Schutz zu bitten.

Und endlich gewannen Kälte, Furcht oder die Stimme der Vernunft die Oberhand. Ihre Füße setzten sich langsam wieder in Bewegung, ihre Augen orientierten sich an dem schwachen Lichtschein, der ihr die ungefähre Richtung anzeigte.

*

Heiß brannte der schwere Rotwein, den er zusätzlich mit einem Schuss Whisky versetzt hatte, in Aidans Kehle, bahnte sich den Weg durch die Speiseröhre und explodierte scharf in seinem Magen. Wärme stieg in seiner Brust auf, breitete sich rasch in seinem Körper aus. Doch vermochte sie weder die Kälte noch die Dunkelheit zu vertreiben, die in seinem Innern herrschten. Auch nicht die Dämonen, die ihm auflauerten, wenn sich die Nacht herabsenkte, die Dämmerung ihre gierigen Hände nach dem Land, dem Haus und seinen Bewohnern ausstreckte.

Mit einem knirschenden Klirren ging das Glas zu Bruch, das Aidan noch immer in der Hand hielt und das er in seinem inneren Kampf wohl zu fest gedrückt hatte. Blut tropfte aus einer tiefen Schnittwunde und sickerte in den schweren, in dunklen Farbtönen gehaltenen Teppich zu seinen Füßen.

Er machte sich nicht die Mühe, die Wunde zu verbinden. Der Schmerz, der zwischen seinen Fingern pochte, war ihm willkommen, lenkte er ihn doch für eine kurze Weile von einem viel tieferen Schmerz in seinem Innern ab …

Wie der Tod.

Seine Schritte waren unsicher vom Alkohol, als er zu seinem Sekretär hinüberging, auf dem er die Pistole abgelegt hatte. Fast glaubte er, eine Vibration zu verspüren, ein einladendes Summen, als er den Griff umfasste und das Eisen vorsichtig in der Hand ausbalancierte.

Verlockend, anziehend wie Sirenengesang, durchfuhr ihn der brennende Wunsch, den Lauf der Waffe an seine Schläfe zu drücken, das Grauen, das dahinter tobte, endgültig auszulöschen.

Von unten drangen laute Stimmen zu ihm herauf, gedämpft durch das schwere Holz der Tür, das Labyrinth von Treppen und Gängen. Die resolute Stimme seiner Haushälterin, gefolgt von dem lauten Knallen einer Tür.

War etwas geschehen? Dinge, die seine Anwesenheit erforderten? Seine Verantwortung?

Verantwortung. Wie er diesen Begriff hasste.

Sanft, beinahe liebevoll legte er die Waffe ab, lauschte in die Stille, die plötzlich wieder eingekehrt war. Hatte er sich alles nur eingebildet? War er nun endgültig dabei, den Verstand zu verlieren?

Oder quälten ihn wieder die Dämonen? Hier in diesem Haus? Diesem verfluchten Gemäuer, das er beinahe ebenso hasste wie jenen anderen, weit entfernten Ort, der ihn nie wieder loslassen würde, sosehr er diesem auch zu entrinnen versuchte.

Ohne Vorwarnung überfiel ihn eine bleierne Müdigkeit, ein willkommener Gast, der es ihm vielleicht ermöglichen würde, wenigstens etwas Schlaf zu finden.

Vergessen.

*

Tante Maud ist tot, hämmerte es in ihrem Kopf, während sie steifbeinig die Treppen zum Hauptportal hinaufhumpelte. Ermordet vor meinen Augen, ebenso wie Dr. Keith und der Kutscher. Fionas Körper war so ausgekühlt, dass sie nicht einmal mehr zitterte.

Das Pochen des Türklopfers in Form eines Löwenkopfes hallte in der Halle auf der anderen Seite wider. Fiona musste all ihre verbliebene Kraft zusammennehmen, um sich auf den Beinen zu halten.

Im Haus regte sich nichts.

Schwerfällig wandte sie den Kopf und ließ den Blick über die ein wenig verwilderte Anlage gleiten. Auf den Gräsern, Pflanzen und Büschen hatten sich Regentropfen gesammelt. Als der Mond sich kurz zwischen den Wolken hervorschob, funkelten sie seltsam unwirklich in seinem Schein, wie Perlen.

War es vielleicht zu spät in der Nacht? Schliefen womöglich schon alle, auch die Bediensteten, und niemand würde kommen, um sie einzulassen?

Aber sie hatte doch dieses Licht gesehen, dem sie gefolgt war. Wie sonst hätte sie in der Nacht überhaupt den Weg hierher finden können?

Schwäche drohte sie zu Boden zu ziehen, während sie die Stufen der Treppe wieder hinunterhumpelte. Der Dienstboteneingang! Hier irgendwo musste er doch sein. Hoffentlich würde man sie dort hören!

Ein Summen ertönte in ihrem Kopf, der Nachhall einer von weit her erklingenden Melodie. Fiona schob sie beiseite, nicht bereit, sich auf die eindringlichen Klänge einzulassen. Zoll für Zoll tastete sie sich an dem Gebäude entlang.

Als sie um die Ecke bog, bemerkte sie einen schwachen Schimmer, der aus dem Haus in den nächtlichen Garten fiel. Fiona hätte beinahe vor Erleichterung geweint. Wieder begann das Summen, Bilder schälten sich aus der Dunkelheit und waberten um sie herum.

Die kleine Tür, die sie schließlich entdeckte, war über fünf hinabführende Sufen zu erreichen. Aus dem Fenster daneben drang der Schein einer Lampe.

Fiona klopfte, und das Geräusch dröhnte laut und schmerzhaft in ihren Ohren.

Bitte, bitte, lass jemanden da sein …

Ein Schwindel erfasste ihren Körper, der Boden unter ihr schien mit einem Mal zu schwanken. Ein Schrei entfuhr ihr, als sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm, sich umwandte und für einen kurzen Moment ein Gesicht hinter den milchigen Scheiben zu sehen glaubte. Fremdartig und schwarz, eine Maske oder eine … eine Fratze.

Fiona spürte, wie die Kraft aus ihrem Körper strömte, jedes ihrer Glieder sich in etwas Weiches zu verwandeln schien, das ihr nicht mehr gehorchte.

»Ja bitte?« Wie durch Watte nahm sie wahr, dass die Tür geöffnet wurde, ein Schwall warmer, abgestandener Luft sie traf und ein Geruch … Übelkeit stieg in ihr auf, und als sie sich ganz benommen der Türöffnung zuwandte, war da wieder dieses schwarze Antlitz.

Ein weiteres Mal schrie sie auf, sog scharf die Luft ein. Sie blinzelte heftig, und an der Stelle der fremdartigen, dunklen Züge erblickte sie plötzlich ein helles, von feinen Fältchen überzogenes Gesicht.

Eine Hand griff nach ihr, versuchte, sie zu packen.

Fiona wollte erneut aufschreien, öffnete den Mund, doch der Laut blieb ihr in der Kehle stecken. Die Umgebung löste sich auf, die Erde stürzte auf sie zu.

Einige Herzschläge lang glaubte sie, aufgeregt hervorgestoßene Laute zu vernehmen.

Dann kam die Dunkelheit.

Tag 1 auf Thirstane Manor

Of all the numerous ills that hurt our peace,

That press the soul, or wring the mind with anguish

Beyond comparison the worst are those

By our own folly, or our guilt brought on.

Robert Burns

Von all dem vielen Weh, das unseren Frieden stört,

Die Seele drückt, den Geist mit Ängsten quält,

Leiden wir unvergleichlich am schlimmsten

Durch eigene Torheit oder unsere Schuld.

Kapitel 1

Da wäre eine Besucherin, hatte man ihm mitgeteilt. Eine junge Frau, die mitten in der Nacht völlig durchnässt, durchgefroren und ganz allein an den Hintereingang des Hauses geklopft und noch beim Eintreten das Bewusstsein verloren habe. Man habe sie einstweilen in einem der Gästezimmer untergebracht, bis er entschieden hätte, was mit ihr geschehen solle.

Aidan spürte, wie sich bei diesem Gedanken jeder Muskel in seinem Körper versteifte. Eine junge Frau in seinem Haus, eine Fremde!

Er weigerte sich, diesen Gedanken weiterzuführen. Stattdessen beendete er das magere Frühstück, das er sich wie jeden Morgen auf sein Schlafzimmer hatte bringen lassen und das nur aus einem einfachen Haferbrei und starkem schwarzen Kaffee bestand. Mehr vertrug er um diese frühe Stunde nicht, und nach Nächten wie dieser war ihm die Vorstellung von einem üppig gedeckten Frühstückstisch besonders zuwider.

Der letzte Schluck des Kaffees war schon abgekühlt und schmeckte bitter. Doch er zeigte seine Wirkung, vertrieb die Schatten und ließ seine Lebensgeister zurückkehren.

Und mit ihnen die Realität! Aidan ballte die Fäuste. Als hätte er nicht genug eigene Sorgen – nun würde er sich auch noch um diese Fremde kümmern müssen. Herausfinden, wer sie war, was sie hierher verschlagen hatte, und sie dann zu ihrer Familie zurückschicken. Er konnte nur hoffen, dass sich die Sache rasch und ohne Schwierigkeiten regeln ließe und die Frau sein Haus alsbald wieder verlassen würde.

Während er an das hohe Fenster trat, das einen freien Ausblick auf den in morgendlichem Nebel liegenden Park und die angrenzende Hügellandschaft bot, begann er sich anzukleiden. Dabei verzichtete er auf die Hilfe eines Kammerdieners.

Nie hatte er wirklich eingesehen, weshalb ein Erwachsener bei einer solch einfachen Verrichtung Unterstützung benötigen sollte, als wäre er ein Kleinkind. Bei den Damen mit ihren unzähligen Knöpfen, Häkchen und Schleifen, den Miedern und den oft nur am Rücken zu schließenden Kleidern mochte es ja noch angehen. Aber bei ihm? Zudem würde wohl jeder Kammerdiener beim Anblick seines unbekleideten Körpers zurückschrecken.

Aidan wünschte sich, noch einen Schluck Kaffee übrig zu haben, denn plötzlich wurde sein Mund trocken. Mit entschlossenen Schritten ging er zu dem Stuhl, auf dem er am Tag zuvor ein frisches Hemd bereitgelegt hatte, streifte es über und verbarg seine Schande.

Er würde die junge Frau in Augenschein nehmen, aber zuerst gab es noch Dinge von größerer Dringlichkeit zu erledigen.

*

Eine Melodie hatte von Fionas Körper Besitz ergriffen. Eine Melodie, eine tiefe, dröhnende Vibration, die ihr ganzes Wesen erschütterte, begleitet von einem stetigen Rhythmus, wie ein unruhiger, hastiger Puls, ein heißer, hechelnder Atem. Staub schien sich auf ihre Zunge gelegt zu haben, auf ihre Lippen, Augen und Ohren. Ein leises Summen, irgendwo aus ihrem Innern, schwoll an, wurde lauter und hüllte sie schließlich vollständig ein. Rotes Licht blendete sie durch die geschlossenen Lider, verschmolz zu einem Punkt, brannte wie eine düstere, blutige Vorahnung.

Sie wollte weg, wollte ihren Blick abwenden, doch etwas zwang sie, weiter hinzusehen, als die Dunkelheit zu wabern begann und sich schließlich zu diesem maskenhaften, schwarzen Gesicht verdichtete, das sie aus hohlen Augen durchdringend anstarrte.

Ein Schrei zerriss die Stille und ließ die Szenerie explodieren wie Glas, in tausend feine Scherben zerfallen. Fiona riss die Augen auf und schreckte zurück. Der Nebel lichtete sich, und statt der dunklen Maske sah sie in das blasse, ein wenig grau schimmernde Gesicht einer Frau in den späten Sechzigern. Weiße Haare unter einem Spitzenhäubchen umrahmten faltige Züge. Ein Paar heller Augen musterte sie eindringlich.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte die Frau heiser.

»Danke, ich …« Ein Husten unterbrach Fionas Antwort. »Ich denke, mir geht es … wo bin ich?«

Fahrig glitt ihr Blick durch das Zimmer. Die spärliche Einrichtung bestand aus einem kleinen Tisch mit zwei Stühlen, einer Truhe, einer Kommode und einem Wandspiegel. Das breite Bett, in dem sie lag, war jedoch angenehm warm und weich.

»Auf Thirstane Manor«, lautete die knappe Antwort. »Ich bin Glenna Dunnett, die Haushälterin. Seit gestern Nacht sind Sie unser Gast.«

»Gestern Nacht?« Fionas Gedanken rasten. Unbewusst griff sie mit der Hand an die Stirn, hinter der ein rasender Schmerz zuckte. Dann umklammerte sie das Medaillon mit dem Bildnis ihrer Mutter, das an einer zierlichen Goldkette um ihren Hals hing und das sie seit dem Tag ihrer Taufe stets trug. »Wie bin ich …?«

Sie brach ab. Plötzlich stand ihr wieder alles vor Augen. Der Überfall, ihre nächtliche Flucht durch strömenden Regen und heftiges Gewitter. Ihre Kehle wurde eng, Tränen schossen ihr in die Augen.

Tante Maud und Mr Keith, sie sind tot. Bilder von Szenen wie aus einem Albtraum und dennoch die Wirklichkeit rasten durch Fionas Kopf. Die Schüsse, die Kutsche, wie sie in Flammen aufging, und die Ermordeten, die mit ihr verbrannt sein mussten. Ein Schluchzen stieg in ihr auf, drohte sie zu ersticken. Hilflos zuckten ihre Schultern, während Tränen auf das Kopfkissen tropften.

»Was ist geschehen?« In dem zuvor noch sachlichen Tonfall der älteren Frau lag ein Hauch von Mitgefühl. Eine Hand legte sich sanft auf Fionas Schulter.

Fiona blieb stumm, ihr fehlten die Worte, um von dem Grauen, das sie erlebt hatte, zu berichten.

»Haben Sie keine Erinnerung mehr an den gestrigen Abend? Sie haben völlig durchnässt an unsere Tür geklopft. Als ich öffnete, um Sie hereinzulassen, haben Sie das Bewusstsein verloren. Seither haben Sie geschlafen. Die ganze Nacht hindurch.«

Unwillkürlich wanderten Fionas Augen zu dem geöffneten Fenster, das den Blick in eine nebelverhangene Landschaft freigab. »Unsere Kutsche, sie …«, begann sie schließlich, ein wenig gefasster. »Ich war mit meiner Tante auf dem Weg von Edinburgh zu deren Stadthaus in Inverness. Einige Tage waren wir bereits unterwegs. Wir kamen gut voran, doch gestern Nacht …« Fiona hatte noch immer nicht ganz begriffen, was tatsächlich geschehen war. »Ein Überfall. Die Männer waren plötzlich da, sie …« Sie hörte die Ungläubigkeit, die in ihren Worten mitschwang. Keuchend rang sie nach Luft, als die ganze schreckliche Szenerie wieder auf sie einstürzte.

»Aber nun sind Sie in Sicherheit.« Der Griff an ihrer Schulter wurde ein wenig fester. »Wir werden sehen, was zu tun ist.«

»Meine Tante, der Anwalt meines Vaters und der Kutscher, sie … sie wurden bei dem Überfall getötet, die Kutsche in Brand gesetzt …« Fionas letzte Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

»Wo ist das geschehen?« Mrs Dunnetts Stimme klang belegt. Als Fiona die Achseln zuckte, fügte sie hinzu: »Es kann nicht allzu weit von hier entfernt gewesen sein, wenn Sie in der Lage waren, den ganzen Weg bis hierher zu laufen. Ich werde Duncan losschicken, nach der Stelle zu suchen, und dann …« Sie brach ab.

Tante Maud ist tot … Obgleich Fiona diese aufgrund ihrer Selbstgerechtigkeit und Herrschsucht nie wirklich ins Herz geschlossen hatte, war das, was am Tag zuvor geschehen war, zu schrecklich, um darüber nachzudenken.

»Wir müssen Ihre Familie benachrichtigen, Miss. Sie müssen wissen, was geschehen ist.« Die ruhigen Worte der alten Frau halfen Fiona ins Hier und Jetzt zurück.

Mühsam schluckte sie. »Sie haben recht.« Es kostete sie Mühe, ihre Stimme zu beherrschen. »Mein Name ist Fiona Hemington, meine Mutter … sie verstarb vor wenigen Monaten, und mein Vater hält sich derzeit in unserem Stadthaus in Edinburgh auf. Ich werde Ihnen die Anschrift notieren, und die des Verwalters meiner Tante. Dann können Sie …«

Fiona unterbrach sich, als sie den Gesichtsausdruck der Haushälterin bemerkte. Mit weit aufgerissenen Augen, als könne sie nicht glauben, was sie gerade vernommen hatte, blickte sie zu ihr herunter. Doch schon einen kurzen Augenblick später zeigte sie wieder eine unbeteiligte Miene, sodass Fiona glaubte, sich geirrt zu haben.

»Sie müssen Hunger haben und sollten etwas essen, Your Ladyship«, sagte sie höflich. »Ich habe Ihnen ein Frühstück zubereitet.«

Obgleich Fiona keinen Appetit verspürte, nickte sie. »Danke. Das ist sehr freundlich.«

Als sie sich mit Hilfe der Haushälterin erhob und an den kleinen Tisch wankte, auf dem eine leichte Morgenmahlzeit auf sie wartete, fragte sie sich, ob sie sich das schwarze Gesicht mit den fremden Zügen nur eingebildet hatte.

Kapitel 2

Es war bereits Mittag, als Aidan durch einen der Hintereingänge das Haus betrat. Die alten Scharniere quietschten laut und gemahnten ihn daran, dass es an diesem Gebäude so einiges gab, das einer Reparatur oder Überholung bedurfte.

Rhythmisch hallten seine Schritte auf dem kalten Steinboden nach, dröhnten in seinen Ohren und ließen Erinnerungen an einen anderen Rhythmus in ihm aufsteigen, so heftig, dass ihm trotz der Kälte in dem alten Gemäuer Schweißperlen auf die Stirn traten. Hastig streifte er seine Handschuhe ab und stürmte die Treppen hinauf.

Bevor er jedoch seine privaten Räumlichkeiten erreicht hatte, wurde er aufgehalten. Glenna stand an der Tür, blass, weißhaarig, ein so unwirklicher Schatten, dass ein unbedarfter Besucher sie für einen Geist hätte halten können. Doch ihre grauen Augen flackerten lebendig und besorgt. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte er, dass etwas vorgefallen sein musste.

»Master Aidan?«

Unwillig blieb er stehen.

»Die junge Dame im oberen Schlafzimmer …«

Aidan spürte, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete. »Ja?«, fragte er mürrisch.

»Was soll mit ihr geschehen?«

Ein kurzes Zögern, während er das Verlangen bekämpfte, sich einfach abzuwenden und die Frage unbeantwortet zu lassen. Doch trug er nun einmal die Verantwortung für Thirstane Manor und alles, was dazugehörte.

»Hat sie keine Familie?«, knurrte er barscher als beabsichtigt. »Jemand, der benachrichtigt werden und sich ihrer annehmen kann?«

»So wie ich verstanden habe, lebt nur noch ihr … Vater.« Das letzte Wort hatte Glenna nach einem kurzen Zögern hervorgebracht.

»Uill, dann sollten wir ihn von den Geschehnissen in Kenntnis setzen!«, beschied er knapp. »Je früher, desto besser.« Er wandte sich zum Gehen.

Ein Ziehen zwischen seinen Schulterblättern zeigte ihm, dass Glenna sich nicht von der Stelle rührte, sondern ihn weiterhin beobachtete.

»Die junge Dame sagt, ihr Name sei Lady Fiona Hemington.« Die Stimme der Haushälterin klang rau. »Aus Edinburgh.«

Aidan verlangsamte seine Schritte, blieb auf halber Höhe der Treppe stehen.

Hemington. Seine Gedanken begannen sich zu drehen. Dieser Name! Und dazu noch aus Edinburgh. Purer Zufall?

Trotz seines plötzlich schneller pochenden Herzens wandte sich Aidan nicht um, sondern wartete. Erst als das Geräusch von Schritten anzeigte, dass Glenna sich entfernte, setzte er seinen Weg fort. Statt jedoch seine Räumlichkeiten aufzusuchen, begab er sich zu einem der gegenüberliegenden Gästezimmer, in dem er die junge Frau vermutete.

Er musste sich Gewissheit verschaffen. Kurz entschlossen öffnete er die Tür und trat ein. Die halb hinter Wolken verborgene Sonne tauchte alles in ein milchiges Licht. Stille lag über dem Raum, und für einen kurzen Augenblick glaubte Aidan, niemand sei darin, er hätte sich womöglich in der Tür geirrt.

Doch dann fiel sein Blick auf das schwere, mit Schnitzereien verzierte und von massiven Pfosten gerahmte Himmelbett.

Da lag sie. Eine zierliche, mädchenhafte Gestalt, in den Kissen versunken, der schmale Körper nur halb von Decken verborgen.

Aidans Mund wurde trocken, als er sie genauer musterte: zimtfarbenes Haar, das sich in seidigen Locken um ihr Gesicht wellte, cremefarbene Haut und … Aidan schluckte, als er näher an sie herantrat … der Hauch von Sommersprossen, die sich kaum sichtbar auf ihren Wangen und der zierlichen Nase verteilten.

Noch nie hatte er ein solch hinreißendes Geschöpf gesehen. Und obgleich sie keine erlesene Schönheit war – zu mager ihre Statur, zu schmal ihr Gesicht, und die Wimpern ihrer Augen waren so blass, dass man sie beinahe nicht erkennen konnte –, gelang es ihm nicht, den Blick von ihr zu wenden.

Gleich darauf spürte Aidan jedoch, wie Zorn in ihm aufstieg. Zorn und Hass, als er in den Zügen der jungen Frau ein anderes Gesicht wiedererkannte. Eines, das sich für immer in sein Gedächtnis eingegraben hatte.

»Mac an donais!« Ungewollt hatte Aidan diesen Fluch laut hervorgestoßen. Glennas unausgesprochene Vermutung traf also zu. Diese Ähnlichkeit! Der letzte Zweifel schwand.

Keuchend umklammerten Aidans Hände die Bettpfosten. Er kämpfte darum, dieses andere Gesicht, das wie ein Gespenst aus der Vergangenheit plötzlich vor ihm aufgetaucht war, zu verdrängen. Spürte, wie Hitze und Kälte zugleich durch seinen Körper schossen, in seinem Kopf zu explodieren schienen.

Ciamar a dh’fhaodas sin a bhith? Wie konnte das sein? Was hatte ausgerechnet diese Frau hierher verschlagen? Hierher zu ihm?

Unberechenbares, launisches Schicksal!

Hastig wandte er sich zur Tür. Er würde sofort nach Edinburgh schreiben, verlangen, dass das Mädchen abgeholt würde. Unverzüglich! Und dann wäre der Spuk vorbei.

Spuk? Ein bitteres Lächeln umspielte seinen Mund. Würde er das, würde dieser Spuk wirklich irgendwann einmal vorbei sein?

Einen Moment verharrte Aidan, die Hand bereits nach der Tür ausgestreckt. Unwillkürlich wanderten seine Augen wieder zu der jungen Frau.

Dann riss er sich von dem Anblick los und verließ das Zimmer.

*

Feiner Nieselregen überzog die nebelverhangene Landschaft des Hochlandes und wirkte auf Fiona wie ein Trauerflor. Trauer war es auch, die sie empfand, während sie allein am geöffneten Fenster saß und hinausblickte. Dass dadurch ein Schwall von Kälte in ihr Zimmer drang, war ihr nur recht, denn auf diese Weise wurde sie aus ihrer Apathie geweckt, die sie jedes Mal zu überfallen drohte, wenn sie an ihre verstorbene Mutter dachte oder an den schrecklichen Überfall …

Ein verfluchter Flecken Erde, diese Highlands, kam es ihr in den Sinn. Ein Land, das von Tränen und Blut getränkt war. Zumindest, wenn auch nur ein Bruchteil von dem stimmte, was sie aus Büchern, Zeitungsberichten oder Gesprächsfetzen wusste – auch wenn ihr Vater stets versucht hatte, sie so weit von der Außenwelt abzuschirmen, wie es nur irgendwie möglich war. Hoffentlich würde er bald benachrichtigt werden und jemanden schicken, um sie abzuholen.

Nur, wie würde es dann mit ihr weitergehen, nachdem ihre Tante, bei der sie hätte leben sollen, umgebracht worden war? Nach dem Tod ihrer Mutter gab es keinen Menschen mehr, der ihr wirklich nahestand. Und selbst diese hatte die vergangenen Jahre meist in ihrem abgedunkelten Zimmer verbracht, ohne die Kraft, sich der Welt mit ihren täglichen Anforderungen zu stellen. So hatte sich Fionas Gesellschaft meist auf Zofe, Gouvernante und Ceitidh, die alte Köchin, beschränkt. Mit Ceitidh hatte sie sich immer am besten verstanden. Zu ihr konnte sie mit ihren Sorgen und Nöten kommen, sie hatte immer versucht, ihr Mut zuzusprechen und sie aufzumuntern. Doch vor zwei Wintern war sie einer schweren Grippe zum Opfer gefallen, und dadurch war es noch einsamer um Fiona geworden. Der Gedanke, nach Edinburgh zurückzukehren, in ein Haus ohne ihre Mutter und ohne Ceitidh, hatte wenig Verlockendes an sich. Da Fiona zudem aufgrund ihrer seltsamen Zustände nicht hoffen konnte, einen Mann für sich zu gewinnen, erschien ihr die Zukunft in düstersten Farben.

Wahrscheinlich würde sie den Rest ihrer Tage damit zubringen, ihrem alternden Vater den Haushalt zu führen, und dabei weitgehend unsichtbar bleiben müssen, um ihm keine Schande zu bereiten.

Das Grauen unterdrückend, das sie bei diesem Gedanken überkam, stand Fiona auf, nahm sich die Wolldecke vom Bettrand und schlang sie sich um die Schultern. Der seidige Stoff des Kleides, das sie trug, war von guter Qualität, doch hing er lose an ihrem schmalen Körper herab. In einem kühlen Eisblau gehalten, das ihrem sahnigen Teint nicht eben schmeichelte, musste das Kleidungsstück vor wohl zwei Jahrzehnten angefertigt worden sein, als die Mode noch freier, der Schnitt gerade und die Taille hochgerafft war. Sie hatte das Kleid zusammen mit einem dunklen Schultertuch über einer Stuhllehne gefunden und dies als Aufforderung verstanden, es anzuziehen. Ihr eigenes Gepäck war ja verbrannt.

Sie musste nach dem Frühstück wieder eingeschlafen sein, und als sie die Augen erneut aufgeschlagen hatte, war es bereits weit nach Mittag gewesen. Dennoch fühlte sie sich keineswegs erholt, sondern noch immer wie zerschlagen.

Neben ihrem Bett hatte auf einem kleinen Tisch ein Tablett mit einer Tasse Tee und etwas Gebäck gestanden. Obgleich der Tee schon kalt war, hatte Fiona ihn getrunken und versucht, sich notdürftig fertigzumachen. Da ihr niemand zur Hand gegangen war, hatte sie sich, so gut es ging, selbst angekleidet. Doch war ihr Korsett nicht fest genug geschnürt und stach ihr in die Rippen. Sie konnte nur hoffen, dass sie in dieser Aufmachung niemandem unter die Augen treten musste.

Erschrocken zuckte Fiona zusammen, als es an der Tür klopfte. Ein rundliches Gesicht mit roten Wangen und hellen Augen spähte herein.

»Entschuldigen Sie bitte, Mylady, wenn ich etwas spät dran bin. Mrs Dunnett schickt mich, um Ihnen ein wenig zu helfen.«

Verlegen, in einem solch unangemessenen Zustand angetroffen zu werden, gab Fiona ein Zeichen, einzutreten. Ein junges Mädchen schlüpfte ins Zimmer, das Fiona auf vielleicht sechzehn Jahre schätzte, auf jeden Fall jünger als sie selbst. Ihre pechschwarzen Haare waren zu einem Knoten aufgesteckt, auf dem eine helle Haube saß. Dazu trug sie ein schlichtes dunkles Kleid mit weißer Schürze.

»Mein Name ist Elspeth, Mylady … ich kümmere mich hier im Haus um die Wäsche, aber …« Sie unterbrach sich, als hätte sie zu viel gesagt, und lächelte verlegen. »Kann ich etwas für Sie tun, Mylady?« Sie knickste hastig, zupfte an ihrem Rock und sah zu Boden. Ganz offensichtlich fühlte sich die junge Wäscherin unsicher. Wahrscheinlich hatte sie bisher nur gröbere Arbeiten verrichtet und war von den Pflichten einer Zofe überfordert.

Dann sind wir ja schon zwei, die sich in ungewohnten Situationen zurechtfinden müssen, schoss es Fiona durch den Kopf. Sie unterließ es, das Mädchen darauf hinzuweisen, dass die korrekte Anrede Your Ladyship lauten müsste, und lächelte. »Das wäre wunderbar. Hilfst du mir bitte, das Korsett zu schnüren? Allein ist es doch etwas schwierig.«

Das Gesicht des jungen Mädchens nahm eine noch dunklere Farbe an, während es erneut unbeholfen knickste. »Keine Sorge, Mylady … ich krieg das schon hin. Ganz bestimmt, Mylady … nur …«

Erst jetzt ließ sie den Blick über Fiona gleiten, als würde sie abschätzen, ob sie mit der ihr zugeteilten Aufgabe tatsächlich zurechtkäme. Sie stutzte, schien einen Moment unschlüssig und sah dann noch einmal hin. Die blassen Augen weit aufgerissen musterte sie Fiona mit unverhohlener Fassungslosigkeit. Unangenehm berührt wusste diese nicht, was sie davon halten sollte.

»Ist etwas nicht in Ordnung mit mir?«, fragte sie geradeheraus.

Elspeth zögerte einen kurzen Augenblick. »Sie sehen furchtbar aus, Mylady, wenn ich das so sagen darf«, platzte sie dann heraus. Sie schluckte und errötete, als ihr offenbar bewusst wurde, was sie da geäußert hatte. Noch dazu einem hochrangigen Gast gegenüber. Schnell fügte sie hinzu. »Natürlich nicht Sie selbst, Mylady. Sie sind einfach wunderschön mit den … ähm … glänzenden Locken, dem hellen Gesicht …« Um Worte ringend, versuchte sich das Mädchen aus der Affäre zu ziehen. »Es ist nur … dieses Kleid, Mylady. Sie sehen darin aus wie ein …« Ein Husten verschluckte den Rest des Satzes. Ganz offensichtlich war Elspeth drauf und dran gewesen, etwas Unerhörtes zu sagen. »Es passt Ihnen gar nicht, Mylady«, flüsterte sie mit gesenktem Kopf. »Es hängt an Ihnen herunter, wie …«

Unbehaglich stand Fiona auf. Es war ihr schon unangenehm genug, abgelegte Kleidung von fremden Menschen tragen zu müssen, deren Geruch noch immer dem Gewebe anhing. Aber wenn selbst Elspeth mit ihrem einfachen Gemüt auffiel, wie unmöglich sie darin aussah, war das doch mehr als beschämend zu nennen.

»Mrs Dunnett hat gesagt, Ihr eigenes Kleid wäre nicht mehr zu retten gewesen.« Mit gerunzelter Stirn machte sich das Mädchen an Fionas Robe zu schaffen. »Ich werde es hier ein wenig raffen, aber ich fürchte …«

Obgleich Elspeth nicht weitersprach, wusste Fiona, was sie meinte. Hier war nichts mehr auszurichten. Das Material mochte edel sein, aber das Kleid war nicht nur zu weit, sondern auch hoffnungslos altmodisch geschnitten.

Schließlich gelang es der jungen Bediensteten, das darunterliegende Korsett etwas fester zu schnüren. Dann versuchte sie mithilfe des Schultertuches, das sie Fiona um die Taille schlang, das Kleid irgendwie in Form zu bringen. Dennoch zeigte Fiona ein Blick in den Spiegel, dass sie auf den ersten Blick eher wie eine Streunerin wirkte als wie eine junge Dame, die Tochter eines Earls.

»Noch etwas, Mylady …«

Langsam wandte sich Fiona vom Spiegel ab und bemerkte, dass Elspeth angespannt ihre Finger verknotete und ihrem Blick auszuweichen versuchte.

»Ja?«

»Ich soll Ihnen etwas mitteilen, Mylady.« Auf dem runden Gesicht zeichnete sich eine Spur von Verlegenheit ab. »Ich soll Ihnen ausrichten, dass der Herr des Hauses, Sir Aidan, Sie heute Abend zum Dinner erwartet, und zwar um sieben Uhr im kleinen Speisesaal. Ich werde Sie dann abholen und dorthin bringen. Aber nun … nun muss ich mich schnell um die Wäsche kümmern …«

Nach einem linkischen Knicks war Elspeth aus dem Raum verschwunden.

Fiona blieb allein zurück, mit der beschämenden Gewissheit, für diese Begegnung nicht gerade passend gekleidet zu sein.

Kapitel 3

Es dämmerte schon, als Aidan sich umgekleidet hatte und hinunter zu Glenna in die Küche ging. Bis zum Abendessen blieb noch eine halbe Stunde Zeit, und zuvor musste er unbedingt etwas mit ihr besprechen.

Rauch, salzige Dampfschwaden und der Geruch nach Speck, Kohl, Zwiebeln und scharf angebratenen Kartoffeln schlugen ihm entgegen, als er das Reich der Frau betrat, die zugleich Haushälterin, Köchin, Kammerfrau war … und noch viel mehr.

Das Gesicht der Alten war von der Hitze am Ofen gerötet, als sie von ihrer Arbeit aufsah und ihm entgegenblickte. Ohne ein Lächeln, doch wach und aufmerksam. So wie er sie seit jeher gekannt hatte. Von Kindheit an.

»Du musst sie fortschicken!« Selbst in seinen Ohren klangen diese Worte wie ein Knurren. Er zwang sich, die in ihm aufsteigenden Bilder der Vergangenheit zu verscheuchen und sich auf das Wesentliche zu besinnen, das Hier und Jetzt.

»Wen?« Mit dem Stoff ihrer Schürze umwickelte Glenna das heiße Schüreisen, als sie die Ofenklappe öffnete und die Glut darin erneut entfachte. »Wen soll ich deiner Meinung nach fortschicken?«

Zorn und Unruhe stiegen in ihm auf wie die Flammen in dem alten, vom Ruß der Jahre geschwärzten Herd. »Du weißt genau, wen ich meine. Dieses Weibsstück, das gestern Nacht hier …«

»Chan fhaodadh sin a bhith.« Die Worte der Frau, hart und unverblümt, zeigten ihm ihre Entschlossenheit, sich auf keine Diskussion einzulassen. »Kommt nicht infrage. Das Mädchen war knapp dem Tode entronnen, bis auf die Haut durchnässt und halb erfroren, als sie hier ankam. Nur ein gottloser Narr würde es fertigbringen, ein solch jämmerliches Geschöpf seinem Schicksal zu überlassen. Also denke erst gar nicht über eine solche Möglichkeit nach.«

»Aber sie …«, brauste Aidan auf, hatte sich dann aber gleich wieder in der Gewalt. »Wenn sie länger hierbleibt, könnte sie die ganze Sache gefährden. Sie ist …«

Einen kurzen Moment zögerte er. Und wenn er sich irrte? Aber der Name, dieses Gesicht. Da war doch kein Zweifel möglich!

»Wenn du Angst hast, das junge Ding könnte womöglich mehr in Erfahrung bringen, als dir lieb ist, musst du achtsam sein, solange sie in diesem Hause weilt. Zum Glück weiß Elspeth nichts von der ganzen Sache, sonst könnte es heikel werden. Doch hierbleiben wird sie. So oder so. Zumindest, bis sie halbwegs wiederhergestellt ist und ihre Familie sie abholt.«

Aidan fühlte, wie sich sein Mund zu einem dünnen Strich verengte, seine Hände sich unwillkürlich zu Fäusten ballten. Widerstrebend nickte er. »Sieh zu, dass das Mädchen bald wieder auf den Beinen ist. Aber dann muss sie fort. So schnell wie möglich.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte Aidan sich umgedreht und stapfte die Treppe hinauf. Mit dem Gefühl, das Gewicht schwerer Eisenfesseln zöge ihn zu Boden.

*

Perlende Regentropfen, wie die leisen Klänge eines Glockenspiels. Sanfte Töne, die sich fokussierten und immer weiter anschwollen zu einem rollenden Crescendo, das fremdartig und zugleich seltsam vertraut wirkte. Das Knarren der alten Dielen, das Knacken des Holzes, das Trappeln der Schritte, die von irgendwoher, aus einem der zahllosen Flure oder Räume des alten Gebäudes, zu kommen schienen.

Dieses Haus hier hatte seine eigene schwermütige Melodie. Und je länger Fiona allein an dem eingedeckten, ansonsten jedoch leeren Tisch des geräumigen Speisezimmers saß, desto stärker verdichteten sich diese Töne in ihrem Innern und verwandelten sich in schattenhafte Bilder, die sie jedoch nicht festzuhalten vermochte. Stets zerflossen sie wie die Spiegelung auf einer Wasseroberfläche, über die ein Wind strich.

Das Quietschen einer Tür zerriss das Gespinst an Stimmen und Bildern und ließ sie erschrocken den Kopf heben. Einer der schweren Flügel öffnete sich, und aus dem düsteren, nur schwach beleuchteten Flur trat eine hohe Gestalt.

Groß, breite Schultern, ein Schritt, so fest und dröhnend, dass Fiona einen Moment lang nicht wusste, ob sie es tatsächlich hörte oder ob es lediglich die Reflexion ihres eigenen Innern war. Erst als der Mann näher kam und das flackernde Licht der Kerzen sein Gesicht beleuchtete, war sie in der Lage, Einzelheiten auszumachen.

Harte, verschlossene Züge, pechschwarzes Haar, dessen Spitzen kaum die Schultern berührten, eine gerade, fast klassisch zu nennende Nase. Doch das Beherrschende an dem Gesicht waren die Augen. Dunkel, scharf und eindringlich schienen sie den Raum zu erkunden, als könnte ihnen kein noch so kleines Detail entgehen. Augenblicklich begann Fiona, sich unwohl zu fühlen. Aufgrund der schlechten Lichtverhältnisse vermochte sie nicht zu sagen, welche Farbe diese Augen hatten, doch wirkten sie beinahe schwarz. Auch seine gesamte Kleidung war in Schwarz gehalten. Passend zu diesem düsteren Ort.

»Guten Abend, Sir.« So unsicher und leise verhallte ihre Stimme, dass Fiona sich fragte, ob der Mann sie überhaupt vernommen hatte.

Statt einer Antwort trat er zwei Schritte näher auf sie zu und musterte sie schweigend. Ohne zu wissen, weshalb, spürte sie ein brennendes Schuldgefühl in sich aufsteigen. Hastig senkte sie den Kopf. Welchen Anblick musste sie in diesem unmöglichen Kleid bieten. Sah er sie deshalb so durchdringend an?

»Danke, dass Sie mich aufgenommen haben, Sir. Das war sehr großmütig von Ihnen. Meine Kutsche, sicher haben Sie davon gehört, sie wurde …«

Die Dielen unter dem Teppich knarrten, als der Hausherr wortlos an ihr vorbeischritt und auf der gegenüberliegenden Seite der Tafel seinen Platz einnahm.

»Ja, ich habe davon gehört und alles Notwendige in die Wege geleitet, damit dieser Überfall untersucht wird.« Er räusperte sich. »Bis dahin bin ich bereit, Ihnen in meinem Haus Gastfreundschaft zu gewähren.« Damit schien er alles gesagt zu haben, was er beabsichtigt hatte.

Kein Wort des Bedauerns über das schreckliche Ereignis, den Tod ihrer Tante und des Anwalts. Nicht die Spur einer üblichen Beileidsbezeugung, wie sie von einem Mann seines Standes zu erwarten gewesen wäre.

Verwirrt sah Fiona ihn an. Habe ich irgendetwas Falsches gesagt oder getan? Sie war sich keiner Schuld bewusst. Eine plötzliche, unerklärliche Angst stieg in ihr auf, das Gefühl, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmte. Etwas, das sie sich nicht erklären konnte.

Wie auf ein unsichtbares Zeichen öffnete sich eine kleinere Tür an der Seite, und Mrs Dunnett trug eine Auswahl an Speisen auf einem Silbertablett herein.

Grundgütiger, die Haushälterin selbst! Gab es hier denn keine weiteren Bediensteten, keine Lakaien für derartige Aufgaben?

Nur am Rande nahm Fiona wahr, was ihr auf den Teller gelegt wurde. Stumm murmelte sie ein Tischgebet, dann, auf ein Nicken des Mannes hin, begann sie zu essen. Er tat es ihr gleich, ohne aufzusehen, ohne ihr auch nur einen weiteren Blick zu gönnen.

Eine seltsame Mischung aus Zorn und Unsicherheit ergriff sie. Die Wände des Raums schienen sich zu bewegen und näher zu rücken.

Was war das für ein merkwürdiger Ort, an dem kaum Personal anzutreffen war und der Hausherr jede Etikette mit Füßen trat, indem er einen Gast, eine Dame noch dazu, derart mit Missachtung strafte? Als hätte sie etwas verbrochen, als wäre sie ein Eindringling in seinen heiligen Hallen. Sie unterbrach ihren Gedankengang und wandte sich wieder den Speisen zu. Pflichtschuldig führte sie die Gabel zum Mund und kaute langsam.

Noch immer beschäftigte sich ihr Gegenüber ausschließlich mit seiner Mahlzeit. Unbehaglich ließ Fiona die Augen durch das Speisezimmer schweifen. Dunkle, schwere Möbel, denen ihr Alter anzusehen war, dominierten die Einrichtung. Ebenso dunkle Holzvertäfelungen bedeckten die Wände, an denen befremdlicherweise kein einziges Gemälde hing. Lediglich eine Reihe Hirschgeweihe, die aus ihren knöchrigen Schädeln ragten, dienten als Dekoration. Durch zwei hohe, von dunkelroten Vorhängen eingefasste Sprossenfenster schimmerte die nächtliche Dunkelheit.

Alles wirkte bedrückend und aus einer anderen Zeit stammend. Der Knoten in Fionas Magen verstärkte sich. Schwer lag das angelaufene Silberbesteck in ihrer Hand. Das weiße Baumwolltuch, das den wuchtigen Esstisch bedeckte, hellte die düstere Atmosphäre etwas auf, ebenso das blau-weiße Keramikgeschirr, das Motive von malerischen Landschaften und halb verwitterten Ruinen zeigte.

Schließlich fiel ihr Blick wieder auf den Hausherrn, der ihr nach wie vor keine Beachtung schenkte. In dem brennenden Wunsch, das ungute Gefühl zu vertreiben, das sie gefangen hielt, unternahm Fiona einen weiteren Versuch, ein Gespräch in Gang zu bringen.

»Man sagte mir, Sie seien Laird Thirstane. Habe ich das richtig verstanden?« Eine solch direkt an ihn gerichtete Frage konnte ein Gentleman doch nicht ignorieren!

Tatsächlich sah der Hausherr auf. Nur einen Moment, und Unwillen blitzte in seinen Augen auf. »In der Tat, Mylady, da hat man Sie richtig informiert. Baronet Aidan Thirstane, zu Ihren Diensten«, entgegnete er und wandte sich wieder den Kartoffeln zu, die er sorgfältig mit der Gabel zerkleinerte.

»Mein Name ist Fiona Hemington. Ich komme aus Edinburgh. Mein Vater ist …«

»Earl und königlicher Richter«, beendete Sir Aidan den Satz.

Verblüfft nickte Fiona. »Genau so ist es, Sir. Aber woher …«

»Mrs Dunnett. Während Sie noch schliefen, hat sie mir bereits ausgiebig Bericht erstattet«, erklärte er in gleichgültigem Ton. »Aber nun lassen Sie sich doch das Essen schmecken. Bevor es kalt wird.«

Seine Stimme war rau und tief, wie ein Wind, der über eine sandige Ebene strich. Trotz seiner offensichtlichen Grobheit schwang darin etwas mit, das Fiona … berührte? Bilder formten sich vor ihrem inneren Auge, die sie jedoch nicht festzuhalten vermochte. Töne erklangen in ihrem Kopf, eine wilde, unzugängliche Melodie. Die Umgebung um sie herum drohte zu verschwimmen, ihr Blick schlierig zu werden. Was verband sie mit diesem Mann, mit dieser fremden Umgebung?

Einen vagen Moment lang fragte sie sich, ob sie Mrs Dunnett gegenüber die Tätigkeit ihres Vaters erwähnt hatte, konnte sich jedoch nicht mehr genau entsinnen.

Fest umklammerte sie mit der Hand das Messer, und durch die Berührung mit dem kalten, harten Metall kam sie wieder zu sich. Die Klänge verstummten, die Bilder verblassten, nichts mehr war zu hören, nur das gleichmäßige Schaben von Besteck auf Porzellan, ein leises Klirren, wenn eine Gabel an den Rand des Tellers stieß.

Fiona griff so fahrig nach ihrem Glas, dass sie einige Tropfen des Inhalts verschüttete. Hastig trank sie einige Schlucke, in der Hoffnung, dadurch ihre innere Unruhe zu bekämpfen. Undenkbar, wenn sie ausgerechnet jetzt, an diesem Ort einer jener seltsamen Zustände ereilen würde, in denen sie nicht mehr Herr über ihre Sinne war. Der leichte Weißwein legte sich beruhigend auf ihren Gaumen, glitt prickelnd ihre Kehle hinab und breitete in der Magengegend einen Hauch von Wärme aus. Ihre Hände entkrampften sich, und plötzlich spürte sie, wie hungrig sie war. Trotz der seltsamen Umgebung, trotz der Erinnerungen an den entsetzlichen Überfall, trotz des kalten, abweisenden Mannes, der ihr gegenübersaß.

Erleichtert, keinen Anlass für Peinlichkeiten geboten zu haben, beschloss sie, nicht länger auf Konversation zu bestehen, sondern setzte ihre Mahlzeit schweigend fort.

Tag 2 auf Thirstane Manor

But, when to all the evil of misfortune

This sting is added, »Blame thy foolish self!«

Or worser far, the pangs of keen remorse,

The torturing, gnawing consciousness of guilt.

Robert Burns

Doch wenn zu allem Übel des Unglücks

Der Stachel tritt: »Schuld trifft dein törichtes Selbst!«,

Weit schlimmer noch, der Reue scharfer Schnitt,

Quälend und nagend das Bewusstsein der Schuld.

Kapitel 4

»Madainn mhat, a bhean-uasal!« Bevor Fiona richtig wach war, bevor sie überhaupt begriff, wo sie sich befand, wurden schwere Gardinen beiseite gerissen, und das Morgenlicht strömte ins Zimmer. »Haben Sie gut geschlafen, Mylady?«

Verwirrt blieb sie einige Momente liegen, bis ihr alles wieder einfiel. Eine entsetzliche Nacht lag hinter ihr. Immer noch war ihr Körper verkrampft, ihre Muskeln schmerzten, als hätte sie mit jemandem gerungen, der größer und wesentlich stärker war als sie selbst. Und auch wenn sie nur noch eine vage Erinnerung daran hatte, wusste sie, dass sie in der Nacht mehrfach aufgeschreckt war, um dann erneut in einen schweren, albtraumhaften Schlaf zu sinken.

Leise Kopfschmerzen pochten hinter ihrer Stirn, als sie versuchte, sich an Einzelheiten dieser Traumbilder zu entsinnen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, so sehr verschwammen sie immer wieder. Was blieb, war ein unbestimmtes Grauen und die Gewissheit, etwas gesehen zu haben, das so erschreckend war, dass sich ihr Geist sogar vor der Erinnerung daran in dumpfes Vergessen zu flüchten schien.

»Ich habe gefragt, ob Sie gut geschlafen haben, Mylady.« Mit einem freundlichen Lächeln stand Elspeth vor dem Bett. »Kann ich Ihnen etwas bringen?«

Ein wenig schwindelig setzte sich Fiona auf und zog das Nachthemd bis zu den Knöcheln hinab. »Eine Tasse Tee wäre ganz wunderbar.«

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Mylady?« Fiona hatte Mühe, die mit starkem Akzent hervorgebrachten Worte des Mädchens zu verstehen, das sie nun mit schlecht verhohlener Neugierde anstarrte, gepaart mit etwas, das wirkte wie … war es Sorge oder gar Mitleid? Das Unbehagen in Fiona verstärkte sich. Mitleid – mit ihr?

Dann plötzlich fuhr Elspeth erschrocken zusammen.

»A thighearna! Ich trödele hier herum, dabei gibt es noch so viel zu tun. Ich helfe Ihnen rasch beim Ankleiden, dann bringe ich Ihnen den Tee.«

Lautlos seufzte Fiona auf. Von dem spärlichen Personal hier wurde wirklich viel verlangt. »Ja, beeilen wir uns«, sagte sie freundlich und stand auf. »Der Tee kann warten.«

*

Aidan hatte wieder keinen Schlaf gefunden. Die ganze Nacht über hatte er wach gelegen, sich von einer Seite auf die andere gewälzt, unfähig, zur Ruhe zu kommen. Schließlich war er aufgestanden und durchs Haus gewandert, dieses Gemäuer, das ein eigenes Leben, seine eigene Aura zu haben schien. Aber immer wenn er glaubte, für einen kurzen Moment zur Ruhe zu kommen, hörte er leise Stimmen wispern, deren Echo von den Wänden widerzuhallen schien. Fast bis zum Morgengrauen war er umhermarschiert, verzweifelt um inneren Frieden kämpfend, wie ein gefangenes Tier in einem Käfig.

Ein Käfig! Aidan lachte bitter auf. Eine durchaus passende Bezeichnung für dieses Bauwerk. Ein Käfig wie für einen Gefangenen, wo er doch der Herr des Anwesens war. Der Gebieter über Haus, Stallungen und Ländereien, die sich so weit erstreckten, wie das Auge reichte, und doch …

Mit verkrampften Fingern fuhr sich Aidan durch das schulterlange Haar. Bisweilen wünschte er sich, einfach davonzulaufen, all dem hier einfach den Rücken zuzukehren und Thirstane Manor dem Verfall preiszugeben. Hoffnungslos. Seine Verantwortung band ihn an diesen Ort, trotz seiner quälenden Erinnerungen, trotz allem, wovor er floh – oder zu fliehen versuchte. Für ihn gab es ohnehin kein Entkommen, sein Gefängnis würde er stets mitnehmen, ganz gleich, wohin er sich auch wandte. Gefangen, verdammt … bis ans Ende seines natürlichen Lebens.

Die Knöchel seiner Finger knackten, so fest ballte er die Hand zur Faust, doch konnte er sich gerade noch im letzten Moment beherrschen, um nicht auf irgendetwas einzuschlagen.

Wie er es schon so oft getan hatte. So oft, so sinnlos.

Aidan wusste, weshalb diese Erinnerungen, die wie schwarze Schatten über seiner Seele lagen, plötzlich wieder mit ungehemmter Macht über ihn herfielen. Es war der Anblick dieser jungen Frau, die mitten in der Nacht Zuflucht in seinem Haus gesucht hatte. Ihr Gesicht, mit den unverkennbaren Zügen der Hemingtons, hatte den alten schwärenden Schmerz wieder neu entflammt.

Doch weder die Etikette noch seine soziale Stellung erlaubten es ihm, einen Gast vollständig zu ignorieren. So war er gezwungen, ihren Anblick zumindest zeitweise zu ertragen. Eine Herausforderung, die größer war, als er angenommen hatte. Er musste umgehend dafür sorgen, dass ihre Familie benachrichtigt und sie baldmöglichst abgeholt würde. Vielleicht würde er dann den zwar brüchigen, aber halbwegs erträglichen Seelenfrieden zurückgewinnen, zu dem er gefunden hatte.

Und sich wieder der eigentlichen Aufgabe widmen können, die es für ihn zu erfüllen galt. Seiner Lebensaufgabe, seiner ganz persönlichen Form der Vergeltung.

Er unterdrückte ein Stöhnen, richtete sich auf und erhob sich von dem harten Boden, auf dem er zusammengesunken war. Trotz der Kälte spürte er Schweißperlen auf seinem Gesicht. Unwirsch fuhr er sich mit dem Unterarm über die Stirn und öffnete die Tür. Es wurde Zeit, sich seiner Pflicht zu stellen.

*

Der Herr des Hauses war ein Mysterium. Erst ein Mal, beim Abendessen, hatte Fiona ihn bisher zu Gesicht bekommen, und diese Begegnung war nicht dazu angetan gewesen, dass sie sich nach einer Wiederholung sehnte. Dennoch irritierte sie seine ständige Abwesenheit, der Mangel an Präsenz.

Irgendwann im Laufe des Morgens war Elspeth mit dem Tee und einem kleinen Imbiss in ihr Zimmer gekommen. Auf Fionas Frage, ob sie denn nicht zusammen mit dem Hausherrn das Frühstück einnehmen würde, hatte das Mädchen nur mit den Schultern gezuckt.

Fiona dachte darüber nach, ob Sir Aidan vielleicht wichtigen Geschäften nachging, die ihn von seinem Zuhause fernhielten und seine gesamte Zeit in Anspruch nahmen. Aber welche Geschäfte mochten das sein? Hier in dieser Einöde? So weit entfernt von jeder größeren Stadt?

Nachdenklich schüttelte sie den Kopf und sah durch das Fenster in den trüben Oktobervormittag. Eine geraume Zeit saß sie nun schon in einem Sessel in ihrem Zimmer, eine Decke über ihre Beine gebreitet. Doch weder der dicke Wollstoff noch das knisternde Torffeuer im Kamin waren in der Lage, die Kälte zu vertreiben, die sich weiter in ihrem Inneren auszubreiten schien, je länger sie hier in diesem Haus weilte. Ohne zu wissen, was wirklich geschehen war …

Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zurück zu dem Überfall, der ihr ganzes Leben verändert hatte. Niemals würde sie die grausamen Szenen aus ihrer Erinnerung verbannen können. Dabei kämpfte sie ohnehin, schon seit sie denken konnte, gegen unerklärliche Bilder an, die sie quälten und verwirrten. Bilder und Klänge, denen sie hilflos ausgeliefert war.

Immer wieder hatte ihr Vater ihr zu verstehen gegeben, dass er seine Tochter nicht nur für überspannt und absonderlich hielt, sondern geradezu für krank. Geisteskrank. Und obgleich alle Ärzte, die er in dieser Angelegenheit konsultiert hatte, nicht wussten, woran sie litt, noch, was man tun konnte, um sie zu heilen, hatte er mehrfach damit gedroht, sie in einem dieser Häuser unterzubringen, in denen man Geistesgestörte eher wegsperrte als behandelte. Fiona schauderte bei der Erinnerung, hatte sie doch die grausamsten Geschichten über derartige Einrichtungen gehört.

Dennoch zweifelte sie nicht daran, dass der Earl keine Skrupel hätte, seine Drohung wahr zu machen. Mit der gleichen Selbstgerechtigkeit und Härte, mit der er zu seinen Zeiten als Colonel sicher auch seine Soldaten geführt hatte und mit der er – wie man ihm nachsagte – seine Urteile über Kriminelle und Verbrecher zu fällen pflegte. Entschlossen, überlegt, unverrückbar. Nach seiner Meinung hatte jeder in der Gesellschaft seinen festen Platz, und alles hatte sich dem Recht und der Ordnung zu beugen.

Sogar – oder insbesondere – seine eigene Tochter.

Allerdings wäre dann ihre Schande, die auch seine Schande war, an die Öffentlichkeit gelangt. Und wahrscheinlich war das der Grund dafür, dass es bisher bei Drohungen geblieben war.

Fionas Blick schweifte durch das große Sprossenfenster hinaus auf die herbstliche Landschaft. Erst jetzt nahm sie diese Aussicht bewusst wahr und spürte die Faszination, die diese karge, aber eindrucksvolle Gegend auf sie ausübte.

Im Süden Schottlands, in den großen Städten der Lowlands – und, wie Fiona mehr aus den Zeitungen denn aus eigener Anschauung wusste, selbst unten in England – rankten sich zahlreiche Mythen und Legenden um diesen einsamen Landstrich. Man erzählte sich von ungebändigten Wilden, die diese Hügel, Täler und Moore besiedelten. Menschen, die sich bereits seit Jahrhunderten, wenn nicht sogar länger, jeglicher Zivilisation widersetzten – und der Vorherrschaft der rechtmäßigen Krone im Besonderen. Halbe Heiden sollten sie sein, die noch immer uralten Bräuchen und Ritualen folgten. Das Land selbst galt als lebensfeindlich und unheimlich. Es wurde von Feen und Elfen gemunkelt sowie von Ungeheuern, die dort in den tiefen Gewässern hausten. Und diese Mischung aus Herablassung und Bewunderung, Grusel und Faszination war es, die bei vielen Adeligen eine wahre Begeisterung für diese Gegend auslöste. Fiona wusste, dass bereits der verstorbene König George IV. eine Vorliebe für dieses archaische Fleckchen seines Reiches gehabt hatte. Und womöglich würde seine junge Nichte Victoria, die ihm auf den Thron nachfolgte, auch seine Leidenschaft für die Highlands teilen.

Doch gab es auch die andere Seite, jenseits aller Romantik und alten Mythen. Fiona erinnerte sich an die anschaulichen Erzählungen der alten Köchin Ceitidh. Ihr Vater hatte es nicht gern gesehen, wenn seine Tochter zu viel Zeit mit der »verschrobenen Alten« verbrachte. Doch neben wunderlichen Sagen und Legenden hatte Ceitidh Fiona hin und wieder auch ganz andere Geschichten erzählt. Solche von Entrechtung, Krieg und Gewalt.

Nur mühsam gelang es Fiona, sich von ihren Gedanken und dem Anblick loszureißen und sich um das Nächstliegende zu kümmern. Sie schaute an sich herunter, und das Gefühl der Unruhe verstärkte sich. Wieder trug sie das geliehene Kleid, das Elspeth und sie notdürftig zusammengestellt hatten und in dem sie einen desolaten Eindruck machte. Ihr eigenes Kleid, so hatte Elspeth ihr ja erklärt, sei durch den Überfall und ihre Flucht durch Regen und Schlamm wirklich unbrauchbar geworden. Lediglich das darin eingenähte Geldtäschchen hatte Mrs Dunnett gerettet und ihr ausgehändigt, sodass sie nicht völlig mittellos dastand.