Eine Mesalliance - Anita Brookner - E-Book

Eine Mesalliance E-Book

Anita Brookner

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Beschreibung

Die verletzte weibliche Seele Nach zwanzigjähriger Ehe steht Blanche Vernon allein da. Ihr Mann Bertie hat sie für eine Jüngere verlassen. Blanche glaubt, dass Bertie ironischerweise gerade deswegen gegangen ist, weil sie es ihm zu leicht gemacht hat. Ihre Umgebung sieht das ein wenig anders. Ist Blanche nicht vielmehr eine exzentrische Person, deren ausgefallene Gesprächsthemen und übersteigertes Interesse an Romanfiguren für andere eher anstrengend sind? Während Blanche sich die Zeit zunächst mit Museumsbesuchen und der Aufrechterhaltung ihres perfekten äußeren Erscheinungsbilds vertreibt, gerät sie zunehmend in den Bann einer jungen Frau und eines vierjährigen Mädchens, von denen sie annimmt, dass sie ihrer Hilfe bedürfen. Doch je näher sie der chaotischen Familie kommt, desto unklarer wird, wer eigentlich wen instrumentalisiert und ob Blanche andere ähnlich schlecht einzuschätzen vermag wie sich selbst ...

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Seitenzahl: 329

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Das Buch

Blanche Vernons Leben gerät aus den Fugen, als ihr Mann sie nach zwanzig Jahren Ehe für eine Jüngere verlässt. Sie versucht sich abzulenken mit Museumsbesuchen und einem strikt geregelten Tagesablauf. Doch den bringt eine neue Bekanntschaft ins Wanken: eine egozentrische junge Frau mit einem zweifelhaften Liebesleben. Fasziniert von dieser so unkonventionellen neuen Freundin und dem dreijährigen Mädchen, das sich in deren Obhut befindet, lässt sich Blanche mehr und mehr manipulieren ...

Die Autorin

ANITABROOKNER, 1928 als Tochter polnischer Juden in London geboren, studierte Kunstgeschichte am King’s College und absolvierte im Anschluss ein postgraduales Studium an der Universität von Paris. Brookner wurde Expertin für französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts und übernahm 1967 als erste Frau die Slade-Professur der schönen Künste in Cambridge. Neben ihrer Tätigkeit als Professorin verfasste sie zahlreiche Sachbücher zur französischen Malerei. 1981 erschien ihr literarisches Debüt Ein Start ins Leben. Ihr Roman Hotel du Lac wurde 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet und zu einem preisgekrönten Fernsehfilm. Obwohl Anita Brookner erst in ihren Fünfzigern literarisch zu schreiben begann, verfasste sie bis zu ihrem Tod 2016 in London insgesamt 24

Anita Brookner

ROMAN

Aus dem Englischen

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

Dieser Roman ist früher bereits unter dem Titel

»Vergangenheit ist ein anderes Land« erschienen.

Die Originalausgabe »A Misalliance«

erschien 1984 bei Jonathan Cape, London.

ISBN 978-3-96161-125-6

© 1984 Anita Brookner

© 2021 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

© der deutschen Übersetzung: Piper Verlag GmbH,

München 1990

Umschlaggestaltung: favoritbuero, München

Umschlagabbildung: © Lesley Aggar / Trevillion Images

E-Book:

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Empfehlungen

1 Blanche Vernon füllte ihre Zeit damit aus, ihre Gefühle wirkungsvoll in Schach zu halten. In diesem unbehaglichen Monat – es war ein kalter April mit langen, kühlen Abenden – hielt sie es für eine Ehrensache, beschäftigt und heiter zu sein, bis die Nacht hereinbrach und sie ihrer Verpflichtungen enthob. Zwar waren es nur geringfügige und selbstauferlegte Pflichten, aber eben deshalb nahm sie sie umso genauer, denn niemand sonst kam ihnen nach. Da sie keine Witwe und daher ohne jeden Anspruch auf die Rücksichtnahme ihrer Umgebung war, trug sie ihre Scheidung mit Würde, dennoch empfand sie ein Gefühl der Schande. »Ich bin unschuldig«, hätte sie besonders an unfreundlichen Tagen am liebsten verkündet, »und bin es immer gewesen. Mein Mann hat mich um einer jungen Frau willen verlassen, die ein Studium der Informatik beendet hat und an der ich nicht den geringsten Funken von Phantasie entdecken kann.« Dieses Ereignis war ihr unverständlich geblieben, und sie empfand es als Demütigung. Gedemütigt, ratlos und unschuldig fühlte sie umso stärker die Notwendigkeit, den Kopf hochzuhalten und der Welt mit einem Lächeln zu begegnen, das ein zurückhaltendes, doch vergnügtes Interesse an allem andeutete, was das Leben ihr zu bieten hatte. Bevor sie am Morgen das Haus verließ, machte sie sich aufs Sorgfältigste zurecht – bis zum Nagellack auf dem kleinen Finger.

Das Haus zu verlassen – ein großes Backsteingebäude mit mehreren geheimnisvollen Wohnungen und hohen Räumen – war das Ereignis des Tages. Danach konnte sie aufatmen, da sie sich wieder einmal in die Welt hinausgewagt hatte, ohne auf Widerstand gestoßen zu sein. Sie schritt zügig aus, obwohl sie sich über ihr Ziel noch nicht ganz klar war. Die Wallace Collection besuchte sie häufig, ebenso die National Gallery, seltener das British Museum, wo sie einmal nahezu ohnmächtig geworden war. Im Victoria and Albert Museum hatte sie einmal zwischen zwei Vitrinen mit Dinanderien eine wahrhaft beunruhigende Todesahnung gehabt. Sie war diesen unerklärlichen Gefühlen ausgeliefert, die sich meistens auf ihr eigenes Ende bezogen, und sie musste eine Menge Selbstironie aufbieten, um ihre Panik zu bekämpfen. Ihre Nachbarn hielten sie für unnahbar und versuchten deshalb gar nicht erst, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Das wunderte sie nicht, denn sie war so intensiv mit der Lösung ihrer inneren Widersprüche beschäftigt, dass sie selten ihre Wirkung auf andere wahrnahm. Manchmal kam ihr ein Gesicht bekannt vor, und sie lächelte, aber zu spät, und so welkte ihr Lächeln langsam dahin, um einer sorgenvollen Miene Platz zu machen, die ebenfalls nur langsam verschwand, langsamer, als sie wusste.

Ihr Ehemann, Bertie, hatte sie nach zwanzigjähriger Ehe verlassen, und diese zwanzig Jahre konnte sie nicht aus ihrem Bewusstsein verdrängen. Sie war sehr glücklich gewesen, aber sie nahm an, dass er es nicht gewesen war. Sie hatte in diesen Jahren einen so großen Tatendrang verspürt, dass sie sich gezwungen hatte, ihre Überschwänglichkeit zu drosseln. Sie hielt solche Überschwänglichkeit für peinlich, wenn man sich nicht ganz sicher war, anderen zu gefallen. Sie kultivierte deshalb einen Geschmack, von dem sie instinktiv spürte, dass er so spröde und herb war wie der sehr trockene Sherry, von dem Bertie annahm, sie trinke ihn ebenso gern wie er. Sie war denn auch, wenn sie zusammen Sherry tranken, stets zu einer anregenden Konversation bereit, die sie reichlich mit Anekdoten würzte, weil sie beobachtet hatte, dass ihn alles Persönliche, alles Emotionelle verlegen machte. Der Bedarf an Anekdoten hatte zur Ausweitung ihres Tätigkeitsfeldes geführt, was ihr jetzt zustatten kam. Durch ihre ehrenamtliche Tätigkeit am städtischen Krankenhaus hatte sie an Ernsthaftigkeit gewonnen, denn das, was sie von diesen Nachmittagen heimbrachte, war oft wenig erfreulich. Sie entwickelte sich schließlich zu einer glänzenden Gesellschafterin, und sie vergaß nie, Sherry nachzubestellen. Nachdem er ihr untreu geworden war, zog ihr Mann es vor, sie als gefühlskalte Frau zu sehen, obwohl er wusste, dass das nicht zutraf. Manchmal schaute er auf seinem abendlichen Heimweg bei ihr herein. Blanche hatte immer eine kleine Auswahl an leichtem Gesprächsstoff bereit, so wie sie auch über einige Vorräte in ihren Schränken verfügte. Sie selbst pflegte neuerdings, ziemlich regelmäßig Wein zu trinken.

Sie behielt auch ihr außerordentlich gepflegtes Äußeres bei, und zwar weniger, weil sie besonderen Wert darauf legte, als vielmehr deshalb, weil sie auf diese Weise viel überflüssige Zeit verbrauchen konnte. Morgens pflegte sie eine ganze unwillkommene Stunde ausschließlich dafür zu verwenden, sich zurechtzumachen und so etwas Glanz auf den leeren Tag zu stäuben. Sie war nicht stolz darauf, obwohl sie es hätte sein können, denn ein solcher Altruismus und solche Gewissenhaftigkeit haben in der Tat etwas Heroisches. Das allerdings sah sie nicht darin, sondern nur eine Form der Verzweiflung: Denn den Morgen empfand sie als eine üble Zeit. Etwas an dem grauen Londoner Licht, das hell, aber doch kalt durch die hohen Fenster drang und die fahlen Wände ihrer großen Zimmer noch fahler erscheinen ließ, rief stets ein unbehagliches Gefühl in ihr hervor, als könne sie sich nur dann wohlfühlen, wenn die Sonne wieder so schien wie in ihrer Erinnerung oder in ihrer Vorstellung. Die Sonne ist Gott, hatte der Maler William Turner gesagt. In dem unbestimmten Licht dieser unbestimmten Tage dachte sie an Bilder einer unwirklichen, strahlenden Hitze, bei der der Himmel weiß wurde, die Luft trocken und voller Duft, und während das Aufheulen eines vorüberfahrenden Wagens nachließ und verschwand, wurde der Nachmittag leer, und jede Bewegung erschlaffte. Sie stellte sich die Abende solcher Tage vor, wenn die Sonne sich rot färbte und der Himmel erst in einem hellen, leuchtenden Grün und dann in einem Weiß, das über ein Indigoblau gelegt schien, abkühlte. Und sie dachte an Nächte, die so mild waren, dass man die Fenster öffnete – späte Musik, der Rauch einer letzten Zigarette und kühle, trockene Betttücher, um die noch immer warmen Glieder zu empfangen. Jetzt aber hatte sie es nur mit diesen Aprilmorgen zu tun, die kalt, hell und unfreundlich waren, sie zu früh weckten und zu rasch dem Tag aussetzten. Deshalb ließ sie sich im Schlafzimmer Zeit und wählte ihre Rüstung mit Bedacht.

Diese Vorstellung eines heißen Tages steigerte sich allmählich zu einer Art Obsession, wenn sie im Tweedkostüm und mit glänzend polierten Schuhen durch das künstliche Dämmerlicht eines Museums schritt. Manchmal hielt sie noch beharrlicher als sonst nach einem Bild, das ihrer Phantasie entsprechen könnte, Ausschau. Aber die Bilder, die sich ihren Augen darboten, zeigten zu viel Andersartiges, waren befrachtet mit Hinweisen, denen nachzugehen sie sich nicht imstande fühlte: Entweder war der Himmel zu wolkenlos oder zu stürmisch, die Vegetation zu exotisch oder die Farbgebung zu zurückhaltend für das, was ihr vorschwebte. Das Halbdunkel dieser leeren Tage und langen grauen Nachmittage versetzte sie in einen Zustand seelischer Hilfsbedürftigkeit, und so saß sie auf vielen Museumsbänken und betrachtete viele Bilder. Doch was sie vor sich sah, war auf keinem einzelnen Gemälde dargestellt, es war vielmehr ein Kaleidoskop von Ausschnitten, die sie hier und dort gesehen und unbewusst bewahrt hatte. Diese offenbar zusammenhanglosen Bruchstücke, die kaum einen Bezug zu ihrer gegenwärtigen Situation hatten, schienen dennoch eine gewisse Kraft zu besitzen und stellten sich unaufgefordert ein. Sie sah ein Fenster mit Blick auf einen prächtigen Garten und dort, im Garten, eine Art Teegesellschaft. Die Sonne spiegelte sich in einer silbernen Teekanne. Dann wieder einen Garten am frühen Morgen, mit glitzernden Wassertropfen auf den schweren Fliederblüten, eine Katze, die geziert durchs taufrische Gras schritt. Und dann einen weißen Tisch und einen Stuhl in demselben Garten, mit den zerlesenen Sonntagszeitungen, die ins Haus gebracht werden sollten. Dieses letzte Bild erkannte sie wieder. Es war im Haus seiner Mutter, dachte sie. Damals, als wir verlobt waren. Ich hatte Bertie den Tee in den Garten gebracht. Als gewissenhafte Frau hätte sie keinen persönlichen Erinnerungen nachhängen sollen, wo es doch an den Wänden der Galerie so viel zu bewundern gab. Sie erwartete von der Kunst keinen Trost. Warum auch? Vielleicht gab es überhaupt keinen Trost. Aber wie die meisten Menschen erwartete auch sie, dass die Kunst sie über sich hinaushebe, und war immer wieder überrascht, dass die Kunst ihr Geheimnis bewahrte und sie auf sich selbst zurückverwies. Das Lächeln gewisser Nymphen schien sie sogar zu verspotten, als sie endlich aufstand, um zu gehen. Die rundlichen Arme schienen sie feierlich aus dem Saal hinauszukomplimentieren. Darum fühlte sie sich durch die Kunst der Vergangenheit immer ein wenig gedemütigt, ihrer Sanftmut wegen getadelt und ihrer Ernsthaftigkeit wegen verlacht. Die Vergangenheit hatte ihre Geheimnisse, und sie hätte sie nur zu gerne enträtselt. In der National Gallery fühlte sie sich oft zu Vermutungen darüber herausgefordert; ein Grund, immer wiederzukehren. Es bestand sogar ein gewisser Zusammenhang zwischen ihrer Ohnmacht im British Museum und der Erinnerung an einen enttäuschenden Ferienaufenthalt in Griechenland, die sie dort, umgeben von der Kälte griechischen Marmors, überfallen hatte. Damals wie jetzt war sie auf ihrem Rundgang durchs Museum auf das archaische Lächeln der Kuroi gestoßen, Votivfiguren, die ein geheimnisvolles Wissen zu bergen schienen, das sich ihr immer entzogen hatte. Dieses Lächeln kündete, gleich dem der Göttin mit dem Granatapfel in Berlin, von Gewissheit und Erfüllung. Darum vermied sie die hallenden Säle, vermied die Begegnung mit Bildern, die Feste darstellten, von denen sie sich ausgeschlossen fühlte, und ging den Mysterien aus dem Weg, die sie nur dunkel erahnen konnte. Es war nicht einfach Ängstlichkeit. Vielleicht war es die Furcht des Ungläubigen, der weder Heide noch Christ war, aber es war gewiss auch die Scheu vor dem eigenen Gefühl. Wenn sie zu diesen Mysterien Zugang bekommen sollte, dann würden sie ihr auch offenbart werden. Sie war der Meinung, dass sie nur warten müsse. Dennoch suchte sie Hinweise, hoffte auf ein Zeichen, hoffte, weiterzukommen. Die National Gallery erachtete sie als entscheidend für ihre noch unvollkommene Bildung und besuchte sie zwei- bis dreimal in der Woche.

Nach diesen Museumsbesuchen war die Rückkehr zu dem glanzlosen Leben ihres nüchternen Alltags nicht leicht. Sie zwang sich, ihre Besorgungen zu machen, eine Abendzeitung zu kaufen, ihre Heimkehr vorzubereiten. Noch immer gewissenhaft, kaufte sie höchst überlegt ein, prüfte alles auf seine Frische, und bedauerte ihre Selbstdisziplin, die sie hinderte, große Mengen zu kaufen, phantastischen Essgelüsten zu frönen und verschwenderischen Überfluss auf den Tisch zu häufen. Aber sie hielt sich zurück, denn an wen sollte diese Verschwendung verschwendet werden? Statt auf den Marktplätzen ihrer Träume einzukaufen, sah sie sich auf den kalten Neonglanz eines einzigen Geschäfts beschränkt. Ihre blank polierten Schuhe trugen sie auf ausgetretenen Wegen bis zur Bushaltestelle vor Selfridges, wo sie für eine Weile ausruhte. Fragmente fremden Lebens umgaben sie, fremde Gespräche, Amerikanisch, Arabisch, Italienisch, Französisch. Eine lange Reihe von Schulkindern lungerte vor dem Schaufenster des Kaufhauses; sie sprachen laut, tranken Orangensaft aus der Flasche und trugen ihre Baseballmützen verkehrt herum. Sie wirkten stark, selbstsicher, modern. An der Haltestelle zeterten zwei dunkelhaarige Frauen, Arm in Arm, laut über eine dritte. Ein großer, bärtiger Mann mit Kopfhörern spreizte stumm, doch kraftvoll die Finger der linken Hand, als wolle er in die Saiten einer unsichtbaren Gitarre greifen. Die Witwen der Gegend – ältlich, verbraucht und zu elegant gekleidet – tauchten jetzt aus ihren tristen Wohnungen zu ihrem Nachmittagsbummel auf. Blanche sah die starken, dick aufgetragenen Farben auf den schlaffen Wangen und Lippen, sah die in Lackschuhe gezwängten plumpen, schmerzenden Füße und die zu unnatürlichen Frisuren aufgetürmten goldenen Haare. Blanche beobachtete eine Frau in einem schweren Pelzmantel, die mit dem Stock den Rand des Bürgersteigs zu ertasten suchte. Aus dem üppigen weiten Ärmel kam eine schuppige Hand mit langen roten Fingernägeln und mit Ringen überladen wie ein kleines Gürteltier zum Vorschein. Ein Grauen überkam sie bei der Vorstellung, wie mühsam sich die Toilette dieser Frau gestalten musste, das Anlegen all dieser unpersönlichen Besitztümer eines wohlhabenden Alters, mit denen sie sich umgab, ähnlich den Nymphen in der National Gallery, die mit ihren Perlen, ihren goldenen Haaren und dem aristokratischen Lächeln auch die Last ihrer Attribute trugen und sich über Blanches gegenwärtige Situation lustig machten. Die Nymphen hatten Blanches Ausgeschlossensein aus ihrer Welt der Liebe und des Vergnügens verspottet, die Witwen verspotteten sie gleichgültig und unbewusst wie die Parzen, doch in einer Art Prophezeiung: So wird es auch dir einmal gehen. Du wirst werden wie wir, allein, immer noch elegant, couragiert, mit steifen Gliedern und traurigen Gedanken, halsstarrig, hart und stets geneigt, allen Menschen Vorwürfe zu machen – den Schwiegertöchtern, weil sie nicht oft genug anrufen, den Enkeln, die wir bei aller Liebe doch nicht verstehen können, dem Hausmeister unseres teuren Wohnblocks, weil er uns nicht die Wäsche heraufgebracht hat, der Friseurin oder der Maniküre, weil sie zur falschen Zeit Ferien macht. Blanche, die weder Diamanten noch Pelze noch Schwiegertöchter hatte, musterte diese Frauen sehr aufmerksam, in deren stoische Enttäuschung sie sich nur allzu gut einfühlen konnte. Unter dem goldenen Haar starrten die alten Augen ohne Neugier zurück, jedes Mitgefühl war längst erstorben, die Herzenskälte war zu einer Art Disziplin stilisiert, die Erwartungen an das Leben waren gering. Als einen Augenblick lang die Sonne durchkam, verzogen sich die grellgeschminkten Lippen zu einem Lächeln, das geisterhaft die jungen Mädchen längst vergangener Tage heraufbeschwor. Dann verschwand die Sonne und ließ nur den Alltag zurück, und alle Gesichter nahmen wieder den gewohnten Ausdruck der Resignation an.

Die Person, die Blanche gern mit all diesem illusionsträchtigen Überfluss und dieser Verschwendung verwöhnt hätte, diese Person war nicht länger da, und ebenso wenig gab es eine Familie, für die sie hätte Mahlzeiten zubereiten können, um sie zu verwöhnen. Als das einzige Kind längst verstorbener und fast schon vergessener Eltern hatte Blanche von früher Jugend an gelernt, allein zu leben. Sie war sozusagen eine Expertin im Alleinsein geworden. Nun ist ein Experte nicht notwendigerweise mit seinem Spezialwissen glücklich, und Blanche fand ihre Fertigkeit auf eine harte Probe gestellt, als sie älter wurde. Die Ehe war ihr ein Anlass zur Verwunderung gewesen, weil immer jemand da war, zu dem sie sprechen konnte. Am Anfang hatte sie zu viel und zu naiv geredet. Die Novizen der Liebe glauben, sie müssten dem anderen ihre Kindheit erklären, ja, ihre ganze Lebensgeschichte, bis zu dem Augenblick, in dem sie den Gegenstand ihrer Wahl getroffen hatten. Und sie lernen auch nicht aus der Tatsache, dass dieser Vorgang vielleicht wiederholt werden muss. Blanche hatte, bei all ihrer Unschuld, bald begriffen, worauf es ankam, und war bereits nach kurzer Zeit zu jenem unpersönlichen Geplauder übergegangen, das ihren Mann so sehr erfreute. Wie viele reiche Männer setzte er Erfahrungen in Anekdoten um, und wie viele unkomplizierte Frauen benutzte sie die Begriffe des praktischen Lebens. Er nannte sie schwärmerisch, war aber gleichzeitig stolz auf sie. Er reiste gern an schöne, elegante Orte. Während er dort alte Freunde traf, streifte sie durch die Stadt, ging am Strand spazieren, allein, doch zufrieden, denn sie wusste ja, dass er da sein würde, wenn sie zurückkam. Wenn sie sich dann am Abend wieder sahen, in diesen schönen, mondänen Badeorten, versuchte sie, ihm von ihren schlichten Freuden zu erzählen, einer einsam genossenen Tasse Kaffee, einem Spaziergang im Park oder einem Gespräch, das sie belauscht hatte. Aber er brachte dafür nur wenig Geduld auf und hatte selbst so viel zu erzählen. Seine Berichte waren aufregender, so als führten seine Freunde genau wie er ein flotteres, abwechslungsreicheres, sozusagen konkreteres Leben. Damals hatte sie gelernt, ihre Gespräche seinen und den Ansprüchen seiner Freunde anzupassen – nicht aus Berechnung, sondern nur aus dem Wunsch, ihm zu gefallen. Sie war dabei überaus erfolgreich, denn seine Freunde, die durchaus nicht auch die ihren waren, fanden sie recht amüsant. Da sie auch eine natürliche Eleganz besaß, akzeptierte man sie gern. Sie aber dachte immer noch an die erste Zeit zurück, als sie ihn abends atemlos willkommen hieß und dann in die Küche stürzte, um ihm eine Kostprobe von dem zu geben, was sie nachmittags für den Abend zubereitet hatte. Er fand, sie führe sich auf wie die Heldin eines sentimentalen Romans. Ihre Verwandlung in die beherrschte, ein wenig zum Spott neigende junge Frau hatte sich schmerzlos vollzogen, ihr Mann hatte sie zu der Frau gemacht, die sie heute war, unabhängig, von guter Haltung und fähig, allein mit dem Leben fertigzuwerden.

Bilder von Verschwendung und Hitze tauchten plötzlich vor ihren Augen auf, als der Bus rund um Hyde Park Corner fuhr: Sie erinnerte sich an einen Markt in Südfrankreich mit Körben voller Pflaumen, die ihren Duft in der Sonnenwärme verströmten. An einem der Stände war eine Nelke in die Pyramide aus schwarzrosafarbenen feuchten, schon überreifen Früchten gesteckt worden. Sie hatte eine kleine Menge davon gekauft, und bald sickerte der Saft durch die Tüte. Nachdem sie den Duft der Früchte eingeatmet hatte, die fast wie Wein rochen, hatte sie sie weggeworfen. Geistesabwesend, wie so oft in diesen Tagen, grüßte Blanche mit zurückhaltendem Lächeln eine Frau, deren Gesicht ihr bekannt vorkam, und stieg in den Bus. Wegen des Wirrwarrs in ihren Gedanken hatte sie ziemliche Mühe, diese Frau zu identifizieren. Ihr Lächeln war so herzlich gewesen, dass Blanche annahm, sie müsse sie kennen – wahrscheinlich eine Nachbarin – und dass es nur an ihrer zunehmenden Zerstreutheit liege, wenn es ihr so schwerfiel, daraufzukommen, wer die Frau war. Der besorgte Ausdruck ihrer braunen Augen, aus dem Sympathie mit dem Mitmenschen sprach, brachte Blanche auf den Gedanken, die Frau sei nicht nur eine Bekannte, sondern ihr auch in irgendeiner beruflichen Eigenschaft vertraut. Eine Ärztin? Eine Zahnärztin? Das kam der Sache schon näher. Wie sie sie jetzt vor sich sah, beugte diese Frau ihren Kopf über eine Art Kontobuch oder vielmehr einen Terminkalender. Natürlich, die Sprechstundenhilfe des Zahnarztes! Genauer gesagt, Mrs. Duff, seine Frau, die stolz war, aushelfen zu dürfen, wenn die Sprechstundenhilfe ihren freien Tag hatte, und die, wenn sie nicht gerade in der Harley Street arbeitete, ihre Nachbarin war. Sie wohnten in derselben vegetationslosen Straße im Viertel West Brompton. Phyllis Duff – eine beispielhafte Frau. Das Bild war jetzt klar. Eine vorzügliche Ehe- und Hausfrau und ein guter Kamerad. Eine Frau, die mit der Zeit ging, immer in Form war, die ihre Garderobe bescheiden, aber vornehm, mit der nötigen Sorgfalt, doch ohne übertriebene Eitelkeit zusammenstellte. Man konnte sie jederzeit vorzeigen in jener traditionellen Art der Frauen aus besseren Kreisen, wie man sie meistens in einem makellosen Heim antrifft. Mrs. Duff hatte nicht den Ehrgeiz, der neuen Frauengeneration anzugehören, die stolz auf ihre Selbständigkeit ist, und es hätte sie auch niemand dazugerechnet. Mit den eleganten Strümpfen, dem rosa Seidenschal und der teuren Handtasche zeigte sie das gepflegte Äußere einer Frau, die sich für einen Tag in der Stadt angezogen hat. Ein bisschen zögernd taucht sie auf aus der Festung ihrer herrschaftlichen Wohnung, sieht sich alle Auslagen an und kehrt doch schließlich mit nichts anderem als etwa einer Borte zur Verzierung eines Lampenschirms heim. Eine Frau von einer gewissen Bedeutung, zumindest in ihren eigenen und den Augen ihres Mannes, mit geheiligten Gewohnheiten, wie etwa: mein freier Tag, an dem ich mir nichts vornehme, mein Backtag, mein Abend für die Quäker, für meine spastisch Gelähmten. Eine Frau wie aus einer anderen Zeit mit ihrem vertrauensvollen, zutraulichen Lächeln, mit einem Hang zu höflichen, abgedroschenen Scherzen, eine Frau, bei der man vor Überraschungen sicher war. Blanche dachte über die ausgeglichene Natürlichkeit von Mrs. Duff nach, die so himmelweit entfernt war von der Welt beruflicher Tüchtigkeit mit all dem technischen Wissen und der vollkommenen Furchtlosigkeit, in der Berties neue Freundin lebte. Wie die tugendhafte Frau im Alten Testament wachte Mrs. Duff darüber, wer das Haus verließ und wer hereinkam. Wenn ihr Gatte sie am Morgen verließ, wusste er, dass sie, wenn er das Ende der Straße erreicht hatte, noch immer am Fenster oder auf dem kleinen Balkon stand und ihm mit ihren traurigen braunen Augen nachsah und nachwinkte. Und dass ihn, wenn er abends heimkam, ein Kuss und der Duft einer ordentlichen Mahlzeit erwartete. Während Blanche aus dem zugleich trockenen und klebrigen Papier eine frische Seezunge auspackte, stellte sie sich Mrs. Duff bei ihren Vorbereitungen in ihrer vor Sauberkeit blitzenden Küche vor, die Ernsthaftigkeit und Geschicklichkeit bei jedem Handgriff und ihre Vorfreude auf das abendliche Zusammensein. Kurz gesagt, ihre ganze so aus der Mode gekommene und so unendlich verführerische Fraulichkeit. Da der Tag zu einem guten Teil schon überstanden war, befand sich Blanche in einem Zustand nervöser Munterkeit, und sie fragte sich, ob Bertie vielleicht auf dem Heimweg bei ihr vorbeischauen würde. Sie nahm deshalb ein frühes Bad und zog dann eine weiße seidene Hemdbluse und einen gemusterten Samtrock an, den er früher gern an ihr gesehen hatte. Allerdings war sein Urteil in Farb- und Geschmacksdingen enttäuschend unsicher, und vielleicht erinnerte er sich gar nicht mehr an den Rock. Sie rief sich wieder ins Gedächtnis, wie unangemessen er auf alle ästhetischen Reize zu reagieren pflegte, mit denen sie ihn zu erziehen versucht hatte. Sie konnte sich sein ohne solche Eindrücke armes Leben kaum vorstellen, obwohl er selbst nichts zu vermissen schien. Wenn sie ihn zum Beispiel interessiert fragte: »Was hast du heute Mittag gegessen?«, schien er angestrengt in allen Winkeln seines Gedächtnisses zu suchen, bis er schließlich antwortete: »Etwas mit Fleisch.« Oder: »Irgend so einen Fisch.«

Während sie jetzt geschäftig in der Küche hantierte, sah sie sich die Seezunge noch einmal genau an, fand aber den Anblick entmutigend und schob sie ganz hinten in den Kühlschrank. Sie würde sie erst später zubereiten, denn sie nahm es ernst mit ihrem Wohlergehen und hielt es für eine Art von Feigheit, zu den Essgewohnheiten vieler Alleinlebender herabzusteigen, die sich von einem Stückchen Käse, einem Apfel und gelegentlichen Resten ernähren. Sie liebte einen schön gedeckten Tisch, auch jetzt noch, sodass, wenn ein überraschender Besuch käme, alles ordentlich, gepflegt und fern allem Selbstmitleid wäre. Selbst nach einem Jahr dieser Lebensweise tat sie alles mit dem Gedanken an einen möglichen Besuch Berties, der ja auch tatsächlich zuweilen vorbeikam. Sie legte Wert darauf, ob nun aus Stolz oder Liebe, ihm ein Gefühl der Peinlichkeit zu ersparen, das er ihrer Überzeugung nach haben musste. Sie holte eine gut temperierte Flasche Vouvray aus dem Kühlschrank und stellte sie, zusammen mit ein paar hauchdünnen trockenen Keksen, auf ein kleines silbernes Tablett. Das war ungefähr alles, was sie in diesen Tagen gekauft hatte.

Das matte und doch blendende weiße Licht eines Aprilabends ohne Sonne, mit einer Feuchtigkeit in der Luft, die das Papier der Abendzeitung weich und schlaff werden ließ, dazu das ewige Grün des Gartens unter ihrem Fenster verursachten ihr eine Art Schüttelfrost, den sie mit einem ersten Glas Vouvray bekämpfte. Der Abend ließ sich, wenn Bertie ausblieb, nicht eben verheißungsvoll an. Alles, was sie erwarten konnte, war ein Anruf ihrer Schwägerin Barbara, der Entschluss, ein paar Briefe zu beantworten, ein bisschen Musik im Radio und dann die Entlassung aus der Tagespflicht – das Bett. Wie ist es nur möglich, dachte sie, während sie sich ein zweites Glas einschenkte, dass mir das Leben so durch die Lappen gegangen ist? Zwar lebe ich erst seit einem Jahr allein und bin noch immer ein bisschen mitgenommen, aber vielleicht gewöhne ich mich noch an diese … Untätigkeit. Sie kam sich schwunglos und langweilig vor und wusste nicht, dass viele Menschen dieses Gefühl haben, Männer ebenso wie verlassene Frauen. Aber sie empfand auch ohne eine Spur von Sentimentalität, dass ihr Leben genauso gut vorüber sein könnte und dass sich nichts mehr ereignen würde, obwohl sie doch gerade erst das Bild von Bacchus und Ariadne in der National Gallery so intensiv betrachtet und bis zur Ekstase den Augenblick des Lebendigwerdens beschworen hatte – so unmittelbar, dass Bacchus’ Fuß nicht mehr die Zeit fand, den Boden zu berühren, als dieser aus seinem Triumphwagen sprang, so jäh, dass Ariadne abwehrend die Hand ausstreckte. Ihre Abende würden weiterhin im Grau des Himmels ertrinken, und ihre Tage würden mit dem Ablauf des Alltags und mit sinnlosen Verschönerungsplänen vergehen. Was sie brauchte, war die unwillkürliche Tat, das Geschenk, die Entdeckung, die ihr die Wärme jener trügerischen Sonne wiederbringen würde, die einmal für sie geschienen hatte und von der sie nicht mehr wusste, wo sie jetzt schien. Als sie vom Fenster aus den leeren Himmel betrachtete und hörte, wie der letzte der heimkehrenden Lohnempfänger unten seinen Wagen parkte, seufzte sie bei dem Gedanken, dass Bertie nun nicht mehr kommen würde.

Das Telefon läutete: Barbara. Die beiden Frauen waren auch nach der Scheidung in gutem Kontakt geblieben, da Barbara, eine eher zum Spott neigende Ausgabe ihres Bruders, dessen Treiben von jeher mit einer gewissen Skepsis beobachtet hatte. Als er seiner Schwester die Computerexpertin, in die er sich verliebt hatte, vorstellte, war sie unbeeindruckt geblieben. Allerdings hatte sie ihm später den Rat gegeben: »Du solltest dich auf deinen Geisteszustand untersuchen lassen!« Bertie hatte schwer daran geschluckt, denn die Zustimmung seiner Schwester war ihm immer wichtig gewesen.

»Amanda ist die Frau, die ich mir immer gewünscht habe«, war seine Antwort gewesen. »Wir haben uns fast gleichzeitig ineinander verliebt. Sie hat mir ein neues Leben geschenkt.« »Mit anderen Worten: Sie ist zwanzig Jahre jünger als du«, sagte Barbara ungerührt. »Und was hast du mit Blanche vor? Sie war auch einmal alles, was du dir immer gewünscht hast.« »Blanche hat so etwas Überspanntes bekommen«, erwiderte er.

Da war allerdings nichts zu leugnen. Blanche, dachte Barbara, war immer so bemüht, immer so piekfein angezogen – und dann diese abgebrochenen Bemerkungen, aus denen niemand schlau wurde. Und diese Gespräche über irgendwelche Romanfiguren oder über Menschen, die ihrer Meinung nach in einen Roman gehörten, und dieser ungehemmte Griff nach dem Weinglas. Und doch war sie, ganz unbestreitbar, eine großartige Frau, wenn auch nicht mehr ganz so interessant und offenherzig wie damals, als Bertie sie zum ersten Mal mitgebracht hatte. Und überhaupt nicht nachtragend, vielmehr stets bereit, sich selbst die Schuld zu geben. Blanche hatte nur den Kopf gesenkt, als Bertie ihr erklärte, dass er sich in diese Amanda – oder Mousie, wie er sie, nicht sehr schmeichelhaft, nannte – verliebt hatte. Mit gesenktem Kopf hatte sie gefragt: »Möchtest du, dass ich ausziehe?« Selbst Bertie war angesichts dieser übrigens vollkommen aufrichtigen Demut verlegen geworden und hatte Mousie anschließend ziemlich energisch erklärt, sie müssten sich nach einer Wohnung umsehen. Blanche würde bleiben, wo sie war. Mousie hatte das für eine ziemlich törichte Idee gehalten – und Blanche, in mancher Hinsicht, auch. Sie hatte eigentlich keine Lust, allein in der Wohnung zu leben, und dachte daran, ins Ausland zu gehen, zwang sich dann aber zu bleiben, weil sie begriff, dass Bertie großzügig sein wollte, und sie nicht das Herz hatte, ihn zu enttäuschen.

»Das war ja wohl das mindeste, was er tun konnte«, fand Barbara, die ebenso wie Bertie die Situation nicht richtig erfasste. »Zahlt er dir monatlich einen angemessenen Betrag? Er ist kein armer Mann, Blanche. Ich hoffe, du bist nicht dumm.«

»Ich war nicht dumm genug«, sagte Blanche bekümmert. »Ich glaube, meine ständige Anpassung ist ihm auf die Nerven gegangen.« Im Stillen dachte Barbara, dass Blanche alles andere als angepasst sei, ließ es aber auf sich beruhen. »Jetzt wäre es jedenfalls viel zu spät, die kleine Närrin zu spielen«, fuhr Blanche fort. »Außerdem habe ich eigenes Geld. Ich brauche nicht mehr.«

Mit einem Seufzer musterte Barbara Blanches Gesicht. Sie empfand so etwas wie Mitleid.

»Vielleicht wirst du dich wieder verheiraten«, sagte sie. »Du bist noch eine junge Frau. Und immer noch schön.«

Sie fragte nicht: »Wie willst du jetzt leben?« Aber das hatte sie gemeint, und beide wussten es.

»Ich komme schon zurecht«, sagte Blanche mit ihrem einschüchternden Lächeln. »Ich denke an das Telekolleg. Aber ich könnte auch meine Doktorarbeit über Madame de Staël zu Ende schreiben. Ich könnte so viel tun! Ich werde einen Kurs für die Feine Küche besuchen.«

»Du kochst sehr gut, Blanche«, sagte Barbara. »Also sei nicht albern.«

»Ich habe mich schon immer für Archäologie interessiert«, fuhr Blanche abwehrend fort, denn die Situation drohte außer Kontrolle zu geraten. »Vielleicht fange ich auch etwas ganz Neues an. Ich werde gar keine Zeit für Langeweile haben. Außerdem habe ich immer Frauen verachtet, die behaupten, sie seien zu ängstlich, um allein zu leben. Für diesen Frauentyp ist kein Platz mehr in unserer Zeit.«

Barbara wusste sehr wohl, dass Blanche eben dieser Frauentyp war, und hatte es sich deshalb angewöhnt, sie allabendlich anzurufen. Da sie sich sehr gut verstanden, unterließen beide jeden Versuch zu einem seriösen Gespräch.

»Störe ich gerade?«, fragte Barbara. »Bist du allein?«

»Ja, zufällig bin ich allein«, antwortete Blanche in einem Ton, als sei sie selbst überrascht über diesen Zufall. Danach verlief das Gespräch freundlich, neutral und voller Wiederholungen, da beide willens waren, den leichten Ton beizubehalten. Beide hatten zu wenig zu tun, und beide waren bemüht, das Beste daraus zu machen. Und beide litten unter ihrem altmodischen Beharrungsvermögen. Es war ihnen bewusst, dass sie von der Zeit überholt wurden, fast schon antiquiert waren. Trotz all ihrer Tätigkeiten aus sozialem Engagement kamen sie sich nutzlos vor. Aufmerksam und mit kritischen Augen betrachteten sie den Wandel der moralischen Werte, aber sie unterhielten sich weiterhin über unwichtige Dinge, da sie die Kunst nicht beherrschten, ihre geheimsten Wünsche und Gedanken auszusprechen. Lieber behielten sie ihre Geheimnisse für sich, verstanden sich aber hervorragend.

»Wie geht es Jack?«, fragte Blanche an diesem Abend.

»Er spürt seine Gicht. Ist also nicht gerade bester Laune, wie du dir denken kannst. Aber er besteht auf seinem Bridge heute Abend mit dem Ehepaar von nebenan. Ich glaube zwar, dass wir an der Reihe sind, aber ich vergesse so etwas gern. Sag mal, Blanche, was meinst du, wie lange sich Taramasalata hält? Ich bringe es nicht über mich, das Zeug wegzuwerfen, obwohl es am Rand schon hart geworden ist.«

»Im Zweifelsfall wirf es weg. Du gibst doch diesen Leuten nicht etwa ein Essen?«

»Nein, nur Kaffee und Kuchen.«

»Sehr gut. Bridgespieler kämpfen so erbittert, dass ich zweifle, ob sie überhaupt merken, was sie essen. Aber es ist ganz gut, um die Streitereien zu schlichten, findest du nicht?«

»Wahrscheinlich wird es heute Abend so weit kommen.« Pause. »Gibt es irgendwas Neues?«

»Nein, nichts.«

»Geht’s dir gut?«

»Phantastisch.«

»Du hättest nicht zufällig Lust, heute Abend dazuzukommen?«

»Sehr lieb von dir, Barbara, aber du weißt, dass ich nicht spiele. Ich habe die Lust verloren, es zu lernen, als ich sah, wie meine Mutter dabei immerfort in Tränen ausbrach und mogelte. Eine fürchterliche Stimmung! Bei dem bloßen Gedanken daran wird mir heute noch, nach so viel Jahren, übel. Trotzdem vielen Dank!« Und nach einer Pause: »Grüß Jack von mir!«

»Ich werd es ihm ausrichten. Also dann bis morgen!«

»Bis morgen und alles Liebe«, sagte Blanche und legte den Hörer auf. Heute Abend würde es keine weiteren Gespräche mehr geben.

Und das heißt heutzutage Freiheit, dachte Blanche, als sie ihre Seezunge grillte. Die Freiheit, zu tun, was man will, und sich von niemandem etwas sagen zu lassen. Die Freiheit von den Ansprüchen der Familie, des Ehemanns, des Arbeitgebers; die Freiheit von gesellschaftlichen Verpflichtungen; die Freiheit, keine Rolle spielen zu müssen. Und es gibt wohl so manchen, der sich eine solche Freiheit wünscht, denn sie gilt als das höchste Gut. Das heißt, man wünscht sie sich wohl in der Theorie, aber praktisch gesehen empfinde ich die Freiheit, nach seinem eigenen Willen zu leben, als schreckliche Last. Wenn man nicht aufpasst, kann diese Freiheit eines Tages dazu führen, dass man nicht mehr viel Sinn darin sieht, morgens aufzustehen, dass man in geradezu lächerlicher Weise vom Wetter abhängig wird, dass man mit sich selbst redet und keine interessanten Gespräche mit anderen mehr führt. Die Gedanken kreisen nur noch um das Ich und sind nicht mehr mitteilbar. Die Welt wartet nicht immer auf einen neuen Entdecker, zumal wenn er mein Alter hat. Die Welt, dieses oft so verschmähte Gebilde, ist in Wahrheit eine unendliche Vielfalt von streng getrennten Interessen und Affären. Und keine davon betrifft mich.

Langsam und wie erleichtert glitt der Tag in die Nacht hinüber. Es hatte angefangen zu regnen wie an jedem dieser Abende. Die Reifen der wenigen vorbeifahrenden Wagen zischten auf dem nassen Asphalt. Die Sonne ist Gott, dachte Blanche und zog die schweren Vorhänge zu.

Sie schenkte sich noch ein Glas ein, während sie darüber nachdachte, dass Zeit eine andere Bedeutung hatte, wenn man allein war. Es wurde so viel Unsinn über menschliche Beziehungen geredet, dachte sie. Dieses lüsterne Interesse an den »zwischenmenschlichen Beziehungen« und diese gewaltige Literatur, große und triviale Literatur, die über dieses Thema verfasst worden war, sie hatte im Grunde nichts gebracht. Liebe – denn die war gemeint – war wie das königliche Lächeln auf den Gesichtern der Nymphen in der National Gallery, war Teilhabe an den Privilegien dieser Welt, war Willkür, nichts, das man lehren konnte, und kaum eine Sache der Vernunft oder freien Wahl. Liebe war nicht zu erklären und ungeachtet aller mit ihr befassten Theorien nicht mitteilbar. Sie war die flüchtige Gunst, ausgeteilt von den alten spöttischen und ungerechten Göttern der Antike, war der Zugang zu jener Landschaft, über der die Sonne ewig schien und in der die Fülle der Früchte der warmen Luft ihren Duft schenkte. Aber den von den Göttern Verschmähten – und zu ihnen zählte sich Blanche – war diese Welt die Welt nach dem Sündenfall, in der nur Mühe und Sorge zu einem Versprechen von Sicherheit führen mochten, in der Sünden anscheinend nur ohne Freude begangen werden durften und in der auf kein Geschenk zu hoffen war. Es war eine Welt ohne Verschwendung, in der der Partner, die Bezugsperson, das Gegenüber, der Spiegel unser selbst, zu einer bloßen Bekanntschaft ungewisser Vertraulichkeit wurde, zu einem Wesen, mit dem das einst so ersehnte Gespräch nun zu einem Dialog wie zwischen Fremden wurde, verlegen, langweilig und voller Ressentiments.

Blanche, in der Welt nach dem Sündenfall ganz zu Hause, rüstete sich zum abendlichen Ritual der Waschungen und Reinigungsopfer, das ihr erlauben würde, endlich die Augen zu schließen. Sie ließ das zweite Bad des Tages ein und goss eine nach Blumen duftende Essenz in das Wasser. Gewissenhaft reinigte und pflegte sie ihren Körper, der sich ungeachtet aller Gefährdungen des Tages sichtlich gut in Form gehalten hatte. In dem beschlagenen Spiegel hatte ihr Gesicht den ängstlichen, traurig-bleichen Ausdruck einer Frau aus dem mittelalterlichen Flandern. Sorgfältig wusch sie sich den Tag ab, bürstete ihr Haar und glättete es mit balsamischen Essenzen. Unter dem langen weißen Nachthemd schimmerten weiß ihre Füße. Bereit für die nächtliche Reise ins Unbekannte, die einzige Reise, vor der sie sich nicht fürchtete, stand sie noch kurz am Fenster, den Vorhang mit der Hand zur Seite raffend. Durch den dunklen, stillen Garten stolzierte lautlos eine Katze. Die Bäume standen unbewegt unter der Last ihrer Nässe. Feuchter Dunst stieg von der durchtränkten Erde auf. Als Blanche in der Ferne die Eule, die Begleiterin der Athene, rufen hörte, ließ sie den Vorhang fallen, legte ihr Gewand ab und ging zu Bett.

2 Dienstag war der Tag Miss Elphinstones und daher einigermaßen ausgefüllt. Sie hatten sich kurz nach der Scheidung auf einen Tag in der Woche geeinigt, als Miss Elphinstone Blanche in der blitzsauberen Küche fand, wo sie auf sie gewartet hatte. »Es hat nicht viel Sinn für Sie«, hatte sie damals erklärt, »mich für nichts zu bezahlen. Ich komme jeden Dienstag, und wenn Sie mich noch einmal in der Woche brauchen, rufen Sie mich einfach an.« Ihre Besorgnis, aus dem ereignisreichen Leben Miss Elphinstones für immer ausgeschlossen zu sein, bewog Blanche dazu, zwar die leeren Flaschen wegzuräumen, aber eine gebrauchte Tasse und Untertasse ungespült im Becken stehen zu lassen. Außerdem ließ sie eine noch nicht aufgeschlagene Zeitung im Wohnzimmer liegen. Mit alledem deutete sie eine momentane Unordnung an, die dringend nach Miss Elphinstones ordnenden Händen verlangte und sie bis zur Mittagszeit im Hause halten würde.

Miss Elphinstone schien ihr abwechslungsreiches, dramatisches Leben im Schatten einer allen Strömungen offenen Kirche zu genießen, die mit ihren Anforderungen den größten Teil ihrer Zeit in Anspruch nahm und deren Mitglieder in Aktionen selbstloser Nächstenliebe wetteiferten. Damit war schon eine Fülle von Gesprächsstoff gesichert, der fast den ganzen Morgen ausfüllte. Miss Elphinstone trug einen seriösen Hut auf dem Kopf und war mit einem Arbeitskittel bekleidet, der unter einem von Blanche abgelegten, noch ziemlich neuen Mantel hervorschaute, sie hatte eine ebenfalls sehr seriös wirkende schwarze Ledertasche bei sich, in der sie ein Paar Gummihandschuhe, Schuhe zum Wechseln und eine religiöse Zeitschrift als Lektüre für die Busfahrt zu verstauen pflegte. Da sie aber während der Fahrt stets etwas Interessantes zu beobachten fand, blieb die Zeitschrift meist ungelesen.