Seht mich an - Anita Brookner - E-Book

Seht mich an E-Book

Anita Brookner

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Beschreibung

Frances Hinton arbeitet in einer medizinischen Bibliothek und führt ein zurückgezogenes Leben, gemeinsam mit der früheren Haushälterin ihrer längst verstorbenen Mutter. Doch ihre eintönige Existenz wird von neuem Glanz erfüllt, als sie ein extravagantes Paar kennenlernt, das sie in ihren illustren Freundeskreis aufnimmt. Frances kann sich der Bewunderung des charmanten Nick und seiner umwerfenden Frau Alix nicht erwehren und schafft es mithilfe des glamourösen Paares, endlich aus ihrem Schattendasein herauszutreten. Doch muss Frances bald erkennen, dass diese neue aufregende Welt nicht so glanzvoll ist, wie sie scheint…

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Seitenzahl: 355

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Das Buch

Frances Hinton führt ein zurückgezogenes Leben, gemeinsam mit der früheren Haushälterin ihrer längst verstorbenen Mutter. Als sie den charmanten Nick und seine umwerfende Frau Alix kennenlernt, ist sie von dem Paar so fasziniert, dass sie endlich aus ihrer Unsichtbarkeit heraustritt. Doch bald schon muss Frances erkennen, dass diese neue aufregende Welt nicht so glanzvoll ist, wie sie scheint …

Die Autorin

ANITA BROOKNER, 1928 als Tochter polnischer Juden in London geboren, studierte Kunstgeschichte am King’s College und absolvierte im Anschluss ein postgraduales Studium an der Universität von Paris. Brookner wurde Expertin für französische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts und übernahm 1967 als erste Frau die Slade-Professur der schönen Künste in Cambridge. Neben ihrer Tätigkeit als Professorin verfasste sie zahlreiche Sachbücher zur französischen Malerei. 1981 erschien ihr literarisches Debüt Ein Start ins Leben. Ihr Roman Hotel du Lac wurde 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet und zu einem preisgekrönten Fernsehfilm. Obwohl Anita Brookner erst in ihren Fünfzigern literarisch zu schreiben begann, verfasste sie bis zu ihrem Tod 2016 in London insgesamt 24 Romane. Brookner gilt als meisterhafte Stilistin, Seht mich an ist ihr dritter Roman.

Anita Brookner

ROMAN

Mit einem Nachwort von Daniel Schreiber

Aus dem Englischen von Herbert Schlüter

Besuchen Sie uns im Internet:

www.eisele-verlag.de

Die Originalausgabe »Look at Me« erschien 1983 bei Jonathan Cape, London.

ISBN 978-3–96161-161-4

© 1983 Anita Brookner

© 2023 der deutschsprachigen Ausgabe

Julia Eisele Verlags GmbH, München

© der deutschen Übersetzung: Piper Verlag GmbH, München 1987

Umschlaggestaltung: favoritbuero, München

Umschlagabbildung: © mauritius images / TopFoto

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über die Autorin
Titel
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Nachwort
Empfehlungen

1 Sobald eine Geschichte bekannt geworden ist, kann sie nie wieder unbekannt werden. Allenfalls kann man sie vergessen. Doch solange sie in unserem Gedächtnis lebt, wird sie, die Zeit überwindend, auch unsere Zukunft bestimmen. Weiser ist unter allen Umständen das Vergessen, weiser ist es, sich in der Kunst des Vergessens zu üben. Sich erinnern heißt, dem Feind ins Angesicht zu sehen. In der Erinnerung liegt die Wahrheit.

Ich heiße Frances Hinton, und ich schätze es nicht, wenn man mich Fanny nennt. Ich arbeite in der Präsenzbibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts, in dem die Probleme des menschlichen Verhaltens untersucht werden. Ich verwalte das Bildmaterial, ein Archiv, das, wie es heißt, seinesgleichen in der Welt nicht hat, mit seinen fotografischen Wiedergaben von Kunstwerken, aber auch von volkstümlichen Drucken, auf denen Ärzte und Patienten aus allen Jahrhunderten zu sehen sind. Es ist eine Enzyklopädie der Krankheit und des Todes, denn früher konnte man nur wenige Krankheiten heilen, und wohl deshalb übten sie eine so schaurige Faszination auf die Fantasie der Zeitgenossen aus. Unser spezielles Interesse gilt den Träumen und dem Wahnsinn, und natürlich liegt das Schwergewicht unserer Sammlung eher auf allem, was sich dem planen Verständnis oder der Diagnose entzieht. Es gibt menschliche Verhaltensweisen, die uns ein Rätsel geblieben sind, aber wenigstens haben wir sie ordentlich in unserer Bibliothek registriert.

Ich arbeite mit meiner Freundin Olivia zusammen. Wir schreiben an die Museen und Gemäldegalerien wegen der Fotografien. Sobald sie bei uns eintreffen, kleben wir sie auf Karteikarten und tippen alle sachdienlichen Informationen darüber auf einen Papierstreifen, der dann ebenfalls auf die Karteikarte geklebt wird. Es ist außerordentlich interessant, wenn auch auf eine etwas makabre Weise. So viele Irre, so viele Gefängnishospitäler, so viel Elend. Und dass es immer noch weitergeht, dass so vieles ungelöst geblieben ist. Aber das ist glücklicherweise nicht mein Problem, obschon es offenbar den meisten der Leute, für die ich arbeite, großes Kopfzerbrechen bereitet.

Nehmen wir zum Beispiel die Melancholie. Ich könnte beinahe eine Abhandlung über die Melancholie schreiben, und das allein dank den Blättern in meiner Kartei. Auf den alten Drucken findet man die Melancholie für gewöhnlich als Frau mit zerzausten Haaren dargestellt, verstört, umgeben von zerbrochenen Krügen, umgestürzten Fässern und zerrissenen Büchern. Sie ist vielleicht in einen unruhigen Schlaf versunken, eine schwergliedrige Gestalt, überwältigt von ihrer Unfähigkeit, die Welt zu verstehen; sie hat den Kompass und das Buch beiseite gelegt. Sie ist Furcht erregend, aber der Mensch, dem sie am meisten Furcht macht, ist sie selbst. Sie ist ihre eigene Krankheit. Dürer stellt sie uns geflügelt dar, in einem plumpen weiten Kleid, auf dem strähnigen Haar einen Kranz. Ihr Gesichtsausdruck ist grimmig und ihre Verwirrung groß; sie ist umgeben von den Symbolen für das Studium, die Pflicht und das Leiden: eine Glocke, ein Stundenglas, eine Waage, eine Weltkugel, ein Kompass, eine Leiter und Nägel. Manchmal wird diese Gestalt auch inmitten von wucherndem Unkraut gezeigt, über dem Haupt ein Spinnengewebe. Ein andermal schaut sie aus dem Fenster zum Vollmond hinauf, denn sie ist mondsüchtig. Ist aber ein Mann von Melancholie befallen, dann, weil er an einer romantischen Liebe leidet. Er stützt den Arm, der in wattiertem Atlas steckt, auf ein samtenes Kissen und blickt unter einem Hut mit wippender Feder hervor zum Himmel; oder er ergreift einen Dornenzweig oder eine Brennnessel und gibt uns damit zu verstehen, dass er nicht schlafen kann. Auf mich wirken diese Männer allerdings so, als würden sie ein bisschen posieren, ganz anders als die Frauen, bei denen die Melancholie nicht so malerisch in Erscheinung tritt. Die Frauen machen den Eindruck, als stünden sie im Bann eines Kummers, der zu groß ist, um ihn in Worte zu kleiden. Die Männer dagegen wirken, als hätten sie sich für die Gelegenheit herausgeputzt und legten Wert darauf, ihr Leid mit edler Duldermiene zu tragen. Was beweist, dass sich, mindestens in dieser Hinsicht, seit dem sechzehnten Jahrhundert nicht viel geändert hat.

Die Mittel zur Behandlung der Melancholie schließen die Musik ebenso wie die Geißel ein. Wie man glaubt, waren einige der großen religiösen Gestalten der Vergangenheit Melancholiker. El Greco suchte sich sogar die Modelle für seine Heiligen und Apostel in der Irrenanstalt von Toledo.

Gleich nach der Melancholie rangieren in unserer Kartei die Geisteskrankheiten; auch diese Abteilung wird von unseren Besuchern sehr in Anspruch genommen. Aber in diesem Bereich hat sich glücklicherweise eine ganze Menge geändert. Früher galten ja Verrückte als ungeheuer belustigend, und es gibt Unmengen von volkstümlichen Darstellungen – meistens englischer Herkunft, wie ich zu meinem Bedauern sagen muss – mit komischen Männern, die sich gegenseitig auf den Kopf hauen oder Grimassen schneiden. Natürlich kann es sich dabei auch um durchaus seriöses Material handeln, zumal es gar nicht so wenige Künstler gibt, die ein sehr weitgehendes Verständnis für diesen traurigen Zustand haben. Wie stark doch diese Irren sind! Auf alten Bildern sieht man sie nackt, wie sie sich in ihren Fesseln winden. Sie raufen sich die Haare, um ihr Gesicht damit zu verdecken. Ein mittelalterliches Sinnbild des Narren auf einer Tarockkarte zeigt eine gewaltige, in Felle gekleidete Gestalt mit einem Raben auf der Schulter, die Dudelsack spielt. Allein Géricault hat den Irren als ein Geschöpf mit eigener Würde gezeigt; freilich lebte er in dem großen Jahrhundert, in dem den Geisteskranken die Fesseln gelöst wurden und in einigen Fällen den Patienten erlaubt wurde, ihre eigene Kleidung zu tragen. Außerdem wird behauptet, dass Géricault selbst wahnsinnig war, wenigstens von Zeit zu Zeit, und das könnte zweifellos sein Gefühl von Artverwandtschaft zu diesem merkwürdigen Menschenschlag noch vertieft haben. Obsessionen und Wahnvorstellungen lassen bei Géricault die Augen der Irren rot und von Misstrauen entzündet sein – wenn sie nicht, mit einem Ausdruck vollkommener Unschuld, weit aufgerissen sind. Die einen halten sich für Kinder, andere für Generäle und wieder andere für Könige. Auf einem erschütternden Gemälde Goyas sehen wir in einem weiten, gewölbten, mit einem hohen Fenster ausgestatteten Raum einen wütenden Tumult nackter Gestalten, von denen einige in einer Schlägerei begriffen sind, während andere nur herumhocken oder auf dem Boden kriechen. Aber auch unter diesen kaum noch menschlichen Geschöpfen haben sich einige mit Papierkronen, Federn oder auch Amtsketten geschmückt. Goya zeigt uns auch eine Gestalt, die alles Menschliche hinter sich lässt, mit Tierkopf und riesigen Füßen und mit einem Körper, der von einem Hagel schwarzer Kohlestriche wie mit elektrischen Schlägen gezeichnet ist. Ich weiß sehr wenig über Goyas geistige Verfassung, nur so viel, dass sie kaum beneidenswert gewesen sein kann. Jedenfalls scheint er sein Leben lang am Rande seiner Leidensfähigkeit gestanden zu haben.

Wir verfügen außerdem über eine schier vollkommene Auswahl von Todesszenen, und hier ist des Grauens kein Ende. Auch der Tod kann eine Frau sein, von täuschender Schönheit, den Totenschädel in der Hand. Aber für gewöhnlich ist der Tod ein Gerippe, das man als männlich begreift. Der Tod kann die Mutter mit ihrem Kind bedrohen, er kann in das reich ausgestattete Haus des Handelsherren treten, kann plötzlich den Geizhals beim Zählen seines Goldes heimsuchen oder den Gelehrten in seinem Studium. Der Tod kann dem Bräutigam und dessen Braut auflauern; ja, er kann unter den Hochzeitsgästen sein. Der gekrönte Tod, den knöchernen Fuß auf eine Kugel gesetzt, hält einen Spiegel in der Hand, auf dem die Worte stehen: »Der Spiegel, der nicht schmeichelt.« Übrigens ist der Tod durchaus nicht friedlich, wie ich wohl weiß. Am Ende kommt die Versuchung in Gestalt von Ungeheuern und Teufeln, und rund um das Schmerzenslager ringen die Engel und kämpfen um die Seele des Sterbenden.

Am beliebtesten ist in unserer Bibliothek die den Träumen gewidmete Abteilung. Es gibt Träume, die von Frauen handeln, von Gott, von Wirbelwinden, Riesenvögeln, Hunden oder vom Ruhm. Die heilige Helena träumt vom Wahren Kreuz, das sie später finden sollte. Die berühmteste Traumdarstellung zeigt einen Mann, um den die Fledermäuse kreisen, während sein Kopf auf den verschränkten Armen ruht. All diese Träume müssen sehr quälend sein. Ich selbst träume nie, und ich glaube, das ist ein großes Glück. Auch bin ich so glücklich, mich einer ausgezeichneten Gesundheit zu erfreuen, und dieser Umstand, verbunden mit dem, dass mir alle Kenntnisse des Spezialisten fehlen, machen mir meine Arbeit erträglich. Wäre ich irgendwie belastet, glaube ich nicht, dass ich den ganzen Tag lang all dieses Zeug ansehen könnte. Glücklicherweise – sogar für jemanden, der so unverwundbar ist wie ich – gibt es auch Bilder von guten Ärzten, obwohl man zugeben muss, dass die meisten anscheinend nichts anderes taten als Zähne zu ziehen oder mit großen eisernen Instrumenten in offenen Wunden zu graben, falls sie nicht gerade eine Urinprobe musterten. Aber ich versuche, mir jenes Gemälde Goyas zu vergegenwärtigen (Sie sehen, wie sich dieser Name immer wieder aufdrängt), das der Künstler zum Zeichen seiner Freundschaft für seinen Arzt, Dr. Arrieta, gemalt hat. Für dieses Bild habe ich eine ganz besondere Vorliebe. Es zeigt den Maler im Schlafrock; er steht vor dem Beschauer als ein im höchsten Grade Leidender; die Struktur von Gesicht und Körper zerfällt unter dem Gewicht seiner Qual, und sein Ausdruck ist zugleich wehrlos und ungläubig. Hinter ihm steht sein Arzt, klein, adrett, hoffnungsvoll und resolut. Den einen Arm hat er um die Schulter seines Patienten gelegt, während er ihm mit der freien Hand eine Arznei reicht. Soviel ich weiß, starb Goya damals noch nicht, aber er dürfte sich auch kaum je wieder völlig erholt haben. Niemand weiß, was seine Krankheit war, aber sie war offensichtlich furchtbar. Dr. Arrieta war so etwas wie ein Experte auf dem Gebiet der Pest; er reiste nach Afrika, um sie zu erforschen. Ob er sich irgendwann ansteckte, weiß ich nicht. Hier endet meine Information.

Die meiste wirkliche Arbeit in unserer Bibliothek leistet ihr Leiter, Dr. Leventhal. Er durchkämmt die verschiedenen Nachschlagewerke auf der Suche nach Krankheiten und Bildern von Krankheiten, und er gibt dann seine Informationen an Olivia oder mich weiter. Unsere Arbeit besteht in der Führung und Ergänzung der Kartei, im Sammeln von Sonderdrucken wissenschaftlicher Veröffentlichungen und schließlich darin, dass wir uns um die Besucher kümmern, die unsere Archive zu Rate ziehen. Das allgemeine Publikum kennt uns kaum, was auch nicht unbedingt unser Wunsch wäre. Wir besorgen vielmehr das Material für unseren eigenen wissenschaftlichen Mitarbeiterstab, für auswärtige Fachkollegen und für die gelegentlichen, sehr seltenen Besucher. Im Augenblick können wir nur mit dem Erscheinen von Mrs. Halloran und Dr. Simek rechnen. Mrs. Halloran ist eine etwas wild dreinblickende Dame mit einer täuschenden Aura von Autorität, die behauptet, in Kontakt mit der überirdischen Welt zu stehen, und die sich bemüht, ihre Theorie zu beweisen, dass die meisten Anomalien im menschlichen Verhalten dem Einfluss des Saturn zuzuschreiben sind. Solche Grenzfälle begegnen einem sehr häufig in Bibliotheken. Dr. Simek ist ein ungemein zurückhaltender Tscheche oder Pole (wir sind uns nicht ganz sicher, was von beiden, und wir meinen, dass es auch nicht unsere Sache ist, dem nachzuforschen). Anhand einer Reihe kleiner Karteikarten arbeitet er über die Geschichte der Behandlung von Depressionen oder, wie man früher sagte, der Melancholie. Er kommt jeden Tag. Beide kommen jeden Tag, und zwar, wie ich vermute, hauptsächlich deshalb, weil die Bibliothek so gut geheizt ist.

Mrs. Hallorans Versuche, mit Dr. Simek ins Gespräch zu kommen – Bemühungen, die er ebenso höflich wie wortkarg ignoriert –, erreichen für gewöhnlich dann einen Höhepunkt, wenn sich beide auf die Durchsicht derselben Fotomappe kapriziert haben. Aus dem Disput geht Mrs. Halloran stets als Siegerin hervor, weil sie dermaßen laut wird, dass es in jedermanns Interesse liegt, sie zum Schweigen zu bringen. Sie macht es ebenso wie gewisse Leute, die durch ständiges Klagen allseits Mitleid erwecken. Dr. Simek pflegt bei diesen Gelegenheiten zu lächeln und etwa zu sagen: »Miss Frances, wenn Sie so gut wären …«, und um eine andere Fotomappe zu bitten. Um Dr. Simek kümmere ich mich, weil Olivia eine etwas rücksichtslosere Art hat und Mrs. Halloran zum Beispiel einmal empfohlen hat, ruhig zu sein oder eine andere Bibliothek aufzusuchen. Aber Mrs. Halloran weiß wohl, dass sie keine fünf Minuten außerhalb der Atmosphäre dieser besonderen Stätte – halb Studierzimmer, halb Kinderstube – leben könnte, und fügt sich, wenigstens für ein Weilchen. So um die Mittagszeit pflegt sie zu fragen: »Kommt jemand von euch mit zu den ›Bricklayers‹?« Worauf wir dann beide antworten, dass wir einfach zu beschäftigt seien und nur rasch in der Kantine ein Sandwich essen wollten. Darauf verschwindet Mrs. Halloran für ein paar Stunden und kommt dann schwer atmend zurück, unfähig, sich zu konzentrieren, was sich daran zeigt, dass sie lange nur aus dem Fenster sieht und dazu mit einem ihrer schweren Onyxringe auf den Tisch klopft. Sie scheint sich ihres Tuns nicht bewusst zu sein, und schließlich hebt Dr. Simek den Blick und sagt, den Kopf höflich geneigt: »Madam, wenn Sie so freundlich wären …«

Ich glaube, dies war die erste Redewendung, die er, als er in unser Land kam, gelernt hat. Er geht nie zum Lunch. Anscheinend isst er überhaupt nicht. Wenn ich Olivia ihren Tee bringe, habe ich manchmal auch für ihn eine Tasse übrig, was insofern lästig wird, als dann auch Mrs. Halloran eine Tasse haben will und schließlich Dr. Leventhal in der Tür zwischen der Bibliothek und seinem Büro erscheint und gern wüsste, ob hier eine Party stattfinde und ob uns nicht bekannt sei, dass die Hausordnung strikte Ruhe verlange. Er gehört zu den Männern, die ihr Schweigen nur brechen, um eine kritische Bemerkung zu machen. Aber sonst ist er ganz harmlos. Ich kann nicht behaupten, dass ihm unsere ganze Sympathie gehöre (das würde es kaum treffen), aber es ist leicht, für ihn zu arbeiten; er ist ein freundlicher, würdevoller Mann, wahrscheinlich im Grunde scheu, wahrscheinlich einsam, sehr korrekt und durchaus verträglich. Wir kommen alle gut mit ihm aus.

Die etwa drohende Langeweile unserer Routinearbeit wird von den Besuchen des einen oder anderen der wissenschaftlichen Mitarbeiter des Instituts unterbrochen, zumal wenn es einer der beiden ist, denen wir bei ihren Forschungen zuarbeiten, also James Anstey oder Nick Fraser. Besonders wenn es sich um Nick Fraser handelt. Nick ist bei allen beliebt, sogar bei Dr. Leventhal. Solange Olivia und ich ihn kennen, zeichnet er sich durch den Charme und das sichere Auftreten aus, die den gesellschaftlichen Erfolg verbürgen. Er ist groß und blond, ein Athlet, gehört zur guten Gesellschaft, hat Beziehungen, sieht gut aus und ist liebenswürdig. Kurz, er hat alles, was man sich bei einem Mann nur wünschen kann. Unser englischer Nationalheld, wie Olivia ihn nannte, als sie in ihn noch ziemlich heftig verliebt war. Vielleicht ist sie es noch heute, was weiß ich, aber sie spricht nicht darüber, und ich frage sie nicht danach. Manchmal bekommt sie einen schmalen Mund, wenn er bei einem seiner Blitzbesuche in einer Stimmung allgemeiner Heiterkeit oder Euphorie hereinkommt, den Arm Mrs. Halloran um die Schulter legt (»Delia, altes Ungeheuer, was treiben Sie hier?«), mit einem energischen Fingerschnalzen einen Stapel von Fotografien anfordert, darauf auf seine Armbanduhr blickt und sich erinnert, dass er gerade eine Verabredung hat, und dann mich mit seinem hinreißenden Lächeln bittet, die Fotos in sein Büro zu bringen, darauf wieder hinauseilt und eine Spur von Unordnung und Aufregung hinter sich lässt. Dr. Leventhal erscheint in der Tür seines Büros, sieht, wer da ist, und ist beruhigt. »Bringen Sie ihm nicht die Fotos«, sagt Olivia. »Wie kommen Sie dazu?« »Aber ich muss doch«, antworte ich. »Ich kann nicht seine Arbeit behindern. Er ist so brillant. Seine Arbeit, meine ich.«

»Sie meinen ihn. Er hat Sie in seinen Bann gezogen, wie alle anderen auch. Der diskrete Charme der Bourgeoisie ist wieder einmal überwältigt von der brutalen Faszination der oberen zehntausend.«

Das ist ihre Art zu sprechen. Sie ist in einer streng sozialistischen Familie groß geworden. Außerdem, glaube ich, kommt sie nicht darüber hinweg, dass Nick mit der ebenfalls brillanten Alix verheiratet ist, gegen die Olivia aus allerlei Gründen eine entschiedene Abneigung hat. Wir haben nie darüber gesprochen, denn es gibt Dinge, über die man besser schweigt, zumal dann, wenn man auch mit einer Änderung der Gefühle rechnen muss. Ich finde, dass wir beide ein bisschen altmodisch sind, und so tief und aufrichtig unsere Freundschaft auch ist, so gehören wir doch nicht unbedingt der feministischen Guerillabewegung an. Wir bewahren gern den Männern, die unsere Liebe und Zuneigung besitzen – oder besaßen –, eine gewisse Loyalität. Wir betrachten uns ein wenig mitverantwortlich für ihre Ehre. Es ist ja eigentlich lächerlich, wenn man es sich einmal überlegt. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es in dieser Hinsicht keine Gegenseitigkeit gibt. Aber wie auch immer, Olivia hat viel zu gute Manieren, um derlei Erörterungen nicht geschmacklos zu finden. Also sprechen wir nicht darüber, wenn ich auch sehr wohl bemerkt habe, wie nach solchen Besuchen ihre Augen dunkler und ihr Gesicht noch blasser als sonst werden. Natürlich ist die Sache hoffnungslos. Ich glaube, sie hat das noch vor mir eingesehen. Sie ist sehr tapfer.

Ich quäle mich also mit den Fotos für Nick die Treppe hinauf, und er lehnt sich einen Augenblick in seinem Sessel zurück und sagt mit einem Lächeln: »Fannyschatz, was für ein gutes Mädchen Sie doch sind!« Und ich steige die Treppe wieder hinunter und tue irgendetwas Mühsames und Langweiliges wie zum Beispiel im Eiltempo Karteikarten anlegen, bis Mrs. Halloran von ihrem Lunch zurückkommt, mit ihrer Handtasche etwas von einem Tisch fegt und der Nachmittag seinen Lauf nimmt.

Auch Nick arbeitet über Depressionen, und manchmal wundert es mich, dass er lieber mit Mrs. Halloran spricht, die er aus dem Pub kennt, als mit Dr. Simek, der doch sicher in seiner Heimat eine Autorität war. Ich hätte gedacht, dass sie vieles miteinander verband. Dr. Simek hat des Öfteren versucht, Nicks Aufmerksamkeit zu fesseln, aber er ist zu höflich, zu resigniert, und Nick ist immer zu sehr in Anspruch genommen, als dass die beiden je zusammenkommen könnten. Dr. Simek scheint es hinzunehmen, wie er auch sonst alles hinnimmt: den uneuropäischen Charakter unserer Bibliothek mit ihren Teetassen und Aschenbechern oder auch Mrs. Halloran, die manchmal richtig betrunken ist, sowie die Tatsache, dass eine der Bibliothekarinnen mehr oder weniger unbeweglich ist. Ich finde es ganz gut, dass Dr. Simek hauptsächlich über das neunzehnte Jahrhundert arbeitet, denn es kann gar keinen Zweifel geben, dass Nick alle Ehren einheimsen wird, wenn sein Werk über die Depressionen erscheinen wird. Dr. Simek wartet immer geduldig, bis Nick seine Scherze mit Mrs. Halloran beendet hat, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, die Lippen leicht gekräuselt, während er aufmerksam das Foto betrachtet, das er in der leicht zitternden Hand hält. Und wenn dann das Lachen verhallt ist, räuspert er sich und sagt: »Dr. Fraser, wenn Sie vielleicht so freundlich wären …« – das ist seine Allzweck-Redewendung –, und dann zeigt er ihm die Fotografie. Nick, der stets in rasender Eile ist und seine Forschungsarbeit und seine beruflichen Pflichten mit einem ausgefüllten gesellschaftlichen Leben zu verbinden hat, antwortet ihm mit einem Blick der Enttäuschung und des Bedauerns. »Joseph, es ist wirklich zu lächerlich, dass wir nie die Zeit finden, darüber ausführlich zu sprechen. Warum kommen Sie nicht einmal abends zum Essen? Ich werde meiner Frau sagen, dass sie Sie anrufen soll.«

»Ich habe kein Telefon«, sagt Dr. Simek, wie zu erwarten war. »Aber vielleicht könnten wir jetzt –«

»Ich werde ihr sagen, sie soll Sie hier anrufen«, versichert ihm Nick. »Eins von den Mädchen wird es Ihnen ausrichten.« Eigentlich dürfen wir den Apparat, der in Dr. Leventhals Büro steht und der allein sein Telefon ist, nicht benutzen, aber ich glaube nicht, dass er etwas dagegen hätte, wenn es sich um die wissenschaftliche Arbeit handelte. Ich nehme an, dass das Essen inzwischen stattgefunden hat, das Dr. Simek, nach seinem Aussehen zu urteilen, auch brauchen konnte. Trotzdem macht er keine Anstalten, Nick in Ruhe zu lassen, und manchmal kommt dieser hinter Dr. Simeks Rücken herein, wobei er mit übertriebener Vorsicht auftritt, damit Dr. Simek sich nicht nach ihm umdreht. Und Dr. Simek dreht sich niemals um. Ich vermute, dass er als Ausländer von einem so formlosen Hereinkommen keine Notiz nimmt. Natürlich weiß er, dass Nick da ist, weil er ihn hereinkommen sah, und ich glaube, er weiß auch, dass Nick ihm ausweichen will, aber er verzieht nur ein wenig den Mund und arbeitet ruhig weiter. Merkwürdigerweise befinde ich mich bei diesen Gelegenheiten zusammen mit Mrs. Halloran in einer Art Komplizenschaft mit Nick. Wir folgen mit den Blicken seinem Gang durch die Bibliothek, und mit einem Augenzwinkern dankt er uns, wenn er auf Zehenspitzen wieder hinausgeht.

Es ist seltsam, dass mich das nicht weiter stört, da ich doch im Allgemeinen empfindlich auf schlechte Manieren reagiere. Es ist einfach so, dass man gelegentlich – sehr gelegentlich – auf einen Menschen trifft, der sich so deutlich vom Durchschnitt unterscheidet, dass man instinktiv mit Bewunderung und Nachsicht reagiert und, wenn man nicht sehr aufpasst, mit Ergebenheit. Ich erörtere nicht, ob solches Verhalten richtig oder falsch ist; ich stelle nur die Tatsachen fest, wie sie mir erscheinen. Und nicht allein mir, denn ich habe die Beobachtung gemacht, dass ausnehmend nette Männer und ausnehmend schöne Frauen eine Macht auf andere ausüben, die zu analysieren sie selbst weder das Bedürfnis verspüren, noch die Zeit dazu hätten. Männer wie Nick finden ihre Bewunderer, Anhänger und Jünger. Sie ziehen auch Menschen wie mich an, die nur Beobachter sind. Man ist niemals ganz unbefangen im Umgang mit solchen Leuten, denn sie sind wie Königliche Hoheiten, die zu unterhalten unsere Pflicht ist. Fragen der Bedeutung oder des Verdienstes finden bei ihnen selten große Beachtung, zumal sie, ausgestattet mit der Macht der Wahl, die ihnen Schönheit oder Charme verleihen, ihre Meinung ändern, sobald es ihnen gefällt. Gerade weil ihre Möglichkeiten so weit reichen, ist die Spanne ihrer Aufmerksamkeit sehr begrenzt. Außerdem sind sie ihrer Schönheit wegen an die ständige Befriedigung ihrer Wünsche gewöhnt.

Ich finde solche Menschen – und ein paar von der Art habe ich kennengelernt – durchaus faszinierend. Ich bewundere sie, so wie ich eine Naturerscheinung, zum Beispiel einen Regenbogen, ein Gebirge oder einen Sonnenuntergang bewundere. Es ist mir klar, dass sie vielleicht gar kein wahres Verdienst haben, und doch werde ich mich immer bemühen, ihnen zu gefallen und ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Seht mich doch an!, möchte ich ihnen zurufen. Seht mich an! Außerdem fesseln mich ihre Schicksale, die fantastisch sein könnten oder sein sollten. Ich werde mich stets um solche Menschen bemühen, und ich werde ihnen stets nachtrauern, wenn sie nicht mehr da sind. Ich werde immer alles über sie erfahren wollen, denn ich neige nun einmal dazu, mich in ihr ganzes Leben zu verlieben. Das lässt die Macht ermessen, die ihnen eigen ist. Darum erwidere ich Nicks komplizenhaftes Lächeln, wenn er sich die Langeweile eines Gesprächs mit Dr. Simek erspart. Hier muss eine Art Naturgesetz walten.

»Dieser Mann«, erklärt Mrs. Halloran schwer atmend nach einem dieser aufregenden Besuche Nicks in der Bibliothek, »dieser Mann ist ein Mordskerl«, worauf Olivia sie um Ruhe bittet und an das hier geltende Schweigegebot erinnert, was Mrs. Halloran zu einer Erwiderung veranlasst wie etwa: »Miss Benedict, warum können Sie mir nicht diesen blöden Sonderdruck besorgen, um den ich Sie seit einem Monat täglich bitte, statt dass Sie mir sagen, was ich zu tun habe? Ich sage Ihnen doch auch nicht, was Sie zu tun haben, nicht wahr?«

»Sie haben es gerade getan«, sagte Olivia, die niemals ihre Fassung verliert. Danach verhalten sie sich für ein paar Stunden friedlich, bis es von neuem zu einer Meinungsverschiedenheit kommt, diesmal über die Frage, ob auch Mrs. Halloran eine Tasse Tee bekommen soll. Merkwürdigerweise mag Olivia Mrs. Halloran ganz gern, obwohl sie doch sicher deren Anwesenheit in der Bibliothek manchmal recht aufreibend findet. Aber sie würde nie etwas sagen. Wie könnte sie auch! Neben ihrer unausgesprochenen Liebe zu Nick empfindet sie ein ebenso unausgesprochenes Missfallen an seinem Benehmen. Natürlich wird er weder von dem einen noch von dem anderen je etwas merken. Wenn ich über all dies nachdenke, gratuliere ich mir, dass ich in niemanden verliebt bin. Ich bin nicht in Nick verliebt. Auch nicht in Dr. Leventhal (schwer vorzustellen), so wenig wie in Dr. Simek (noch schwerer vorzustellen), nicht einmal in James Anstey, obwohl er groß ist und toll aussieht, unverheiratet und eine präsentable Erscheinung ist und bestimmt das, was Mrs. Halloran einen Kerl von einem Mann nennen würde.

Ich pflegte meine Mutter zum Lachen zu bringen, wenn ich nach Hause kam und ihr die Typen beschrieb, die die Bibliothek aufsuchten. »Fan, Liebstes«, sagte sie und riss die Augen auf, »ich finde, du hast Talent.« Sie kannte inzwischen alle Gewohnheiten dieser Leute, und sie wusste, wo sie wohnten; für sie war es wie ein Roman in Fortsetzungen. Sie ermutigte mich, das alles aufzuschreiben; also kaufte ich mir ein gewöhnliches dickes Schreibheft und begann, eine Art Tagebuch zu führen. Ich spiele mit dem Gedanken, dieses Material eines Tages für einen komischen Roman zu verwenden, für eine dieser drolligen und pikanten Chroniken, wie sie die Dons an den Colleges von Oxford und Cambridge lieben. Ich weiß, dass ich das könnte. Seit dem Tod meiner Mutter habe ich niemanden mehr, mit dem ich über diese Dinge sprechen könnte, keinen, der so interessiert ist, der die Personen kennt und gern wüsste, wie es weitergeht, und dann mit solchem Entzücken reagiert. Wenn ich nun abends nach Hause komme, bemühe ich mich, ein bisschen weiterzuschreiben. Aber es ist nicht dasselbe wie früher, und ich habe alle Mühe, einen Ton von Mutlosigkeit aus dem herauszuhalten, was da zustande kommt. Ja, manchmal muss ich mich wirklich anstrengen, denn ich kann nun einmal keine deprimierten Leute leiden. Ich möchte sogar behaupten, dass ich unglückliche Menschen nicht ausstehen kann, was auch der Grund dafür ist, dass ich nicht allzu genaue Nachforschungen über Dr. Simek anstelle. Ich lehne es ab, mich damit zu beschäftigen.

Und es sieht ganz so aus, als sei es richtig, was ich da mache. Eine Erzählung, die ich geschrieben habe – tatsächlich über die Bibliothek, aber natürlich alles total verändert –, wurde damals gedruckt. Ich selbst war mit der Erzählung nicht ganz so zufrieden wie anscheinend alle anderen, aber ich freue mich doch, dass meine Mutter noch vor ihrem Tod davon erfuhr. Es war eine Geschichte, die ich ihr nicht vorgelesen hatte, und irgendwie war es wohl ganz gut so gewesen. Sie nahm die Menschen immer viel ernster, als ich das zu tun versuche.

Mein Leben verläuft in geregelten Bahnen. Ich stehe auf, gehe zur Arbeit, nehme mit Olivia zusammen den Lunch ein, klebe dann weiter meine Fotos ein und mache sogar den Versuch, einige Bilder zu meinem eigenen Vergnügen zu interpretieren. Ich empfinde sehr stark die Macht, die von Bildern ausgeht, auch wenn ich sie nicht verstehe. Manchmal steht ein Bild für etwas, dessen Bedeutung man erst zu einer bestimmten Zeit erkennt. Es kann ein Zeichen sein, das unsere Erinnerung weckt, ein verschlüsselter Text, oder auch, freilich nur selten, die Offenbarung eines Vorauswissens. Bilder erregen immer in hohem Maße meine Aufmerksamkeit, ob nun in der Bibliothek oder irgendwo sonst. Ich bin viel allein, und was mir da so durch den Kopf geht – beileibe nichts Ungewöhnliches –, überrascht mich zuweilen durch eine unvorhergesehene Bedeutsamkeit. Deswegen arbeite ich auch so gern in der Bibliothek: nicht nur wegen der Archivarbeit, welche die Hauptaufgabe unserer Bibliothek ist, sondern einfach wegen der Macht und Magie dieser Bilder, wie zum Beispiel des Narren auf der Tarockkarte oder der Melancholie mit dem zerrissenen Buch oder Goyas mit seinem Arzt.

Der Tag nimmt weiter einen sehr ruhigen Verlauf, schließlich wird es dunkel, und wir fangen an aufzuräumen. In Dr. Leventhals Büro geht das Licht aus, und wir fragen Dr. Simek, welche Fotografien wir für seine morgige Arbeit liegen lassen sollen. Nach einer Weile zieht er seinen alten, zu engen ausländischen Mantel an, setzt seine Astrachanmütze auf, bindet sich das graue Halstuch um, streift sich die dicken braunen Handschuhe über seine ständig zitternden Hände, verabschiedet sich mit einer leichten Verbeugung vor uns beiden und geht. Mrs. Halloran dagegen fragt uns, ob vielleicht eine von uns sie zu den »Feathers« begleiten wolle, die sie abends meistens besucht, und wenn wir ihr antworten, dass wir anderswo zum Dinner erwartet werden, zieht sie energisch einen Kamm durch ihr drahtiges Haar, wirft sich das Tweedcape über die Schultern und rauscht mit einem »Na schön, dann nicht« aus dem Raum. Sie kann einem schon auf die Nerven gehen. Ich habe einmal versucht dahinter zu kommen, warum sie eigentlich zu uns kommt. Sie braucht gar nicht unser Material für ihre Artikel, die sie in psychologischen Zeitschriften veröffentlicht, aber Olivia meint, dass sie sich in der Pension in South Kensington, in der sie wohnt, tagsüber nicht aufhalten könne; außerdem könne sie einfach nicht allein sein. Und ich glaube, dass ihr ihre Artikel etwas besser honoriert werden, wenn sie ein paar Illustrationen beisteuern kann. Jedenfalls bleibt sie hier jeden Tag bis zum bitteren Ende, und ich habe beobachtet, wie gegen Ende unserer Öffnungszeit ihre Gesichtszüge erschlaffen und einen geradezu verzweifelten Ausdruck annehmen. Die vorstehende Unterlippe, deren Innenseite man nun sieht, verleiht ihrem Gesicht etwas Kindisches und Leeres.

Ich begleite Olivia bis zu ihrem Auto, kaufe mir dann eine Zeitung und lese sie irgendwo bei einer Tasse Kaffee. Ich habe niemals Lust, nach Hause zu gehen, und schiebe es deshalb so lange wie möglich auf. Im Allgemeinen gehe ich vom Manchester Square, wo sich das Institut befindet, bis zur Edgware Road, an all diesen schrecklichen Geschäften vorbei, die mit Korsetts und Schwesternkleidung voll gestopft sind, mit Videokassetten oder indischen Lebensmitteln. Ich wandere vorbei an den Schnellwäschereien und billigen Friseurläden mit den violetten Neonröhren, bis ich das zuträglichere »Hochland« erreicht habe. Ich gehe bei jedem Wetter zur Fuß. Und wenn ich schließlich meine innere Unruhe und meine Neigung zur Grübelei überwunden habe, betrete ich meine Wohnung und bleibe für den Rest des Abends zu Hause. Es ist etwas zu essen da, und später versuche ich zu schreiben. So bringe ich den Rest des Tages hinter mich.

Gewiss, ich habe mit inneren Widerständen zu kämpfen. Das ist nur natürlich. Ich bin noch ziemlich jung, und ich bin mir bewusst, dass ich ein langweiliges Leben führe. Manchmal bereitet es mir eine fast physische Anstrengung, mich an den Schreibtisch zu setzen und mein Heft aus der Schublade zu ziehen. Manchmal entringt sich mir ein tiefer Seufzer, wenn ich das durchlese, was ich bereits geschrieben habe. Und manchmal ist die Mühe, zur Feder zu greifen, so groß, dass ich buchstäblich im Kopf einen Schmerz verspüre, so als ob die gesamte innere Ausstattung umgestellt, aufgereiht und bereitgemacht würde für die Abholung vom Lager. Doch wenn ich dann anfange zu schreiben, verschwindet der Druck; ich fühle mich wie von einer elektrischen Kraft durchströmt. An und für sich kein unangenehmes Gefühl, das aber unweigerlich wieder zu einer neuen, noch größeren Unruhe führt.

Zu meinem Glück bin ich nicht hysterisch. Ich bin es gewohnt, allein zu leben, und zuweilen bezweifle ich, dass ich überhaupt viel Aufregung aushalten könnte. Freilich bleibt das eine rein theoretische Frage, denn in dieser Beziehung bin ich bisher nie in Versuchung geführt worden. Ich bin sehr ordentlich und habe spartanische Gewohnheiten. Und ich bin bekannt für meine Selbstbeherrschung, die mir durch manche Krisen geholfen hat. Aber dank einer köstlichen Ironie des Schicksals ist meine Selbstbeherrschung so groß, dass diese Krisen den anderen unbekannt bleiben und ich deshalb als gefühllos gelte. Selbstverständlich spreche ich auch nie darüber. Es wäre mir unerträglich. Wenn ich je einsam sein sollte, dann darum, weil ich mich mit dem herben Geschick abgefunden habe, alle Probleme nur mit mir selbst abzumachen.

Manchmal wünsche ich mir, es wäre anders. Ich wäre gern schön, träge, verwöhnt und unzuverlässig. Kurz gesagt, ich hätte es gern etwas leichter. Es kommt vor, dass ich nach so einem stillen Abend wach im Bett liege und mich frage, ob das nun mein Schicksal sein soll, ob diese Einsamkeit mein ganzes Leben andauern soll. Solche Gedanken treiben mich bis an den Rand einer hysterischen Angst. Denn ich will mehr vom Leben, und ich finde auch, dass ich es verdient hätte. Ich habe etwas zu bieten. Ich bin keine Schönheit, sehe aber doch ganz nett aus. Tatsächlich sagt man mir, ich sei »attraktiv«, was mich allerdings immer deprimiert. Es ist so, wie wenn einem gesagt wird, man sei »brillant«, was rundheraus gesagt gar nichts bedeutet. Aber davon abgesehen bin ich gesund und verfüge über ein beträchtliches Vermögen. Ich habe, abgesehen von meiner spitzen Zunge, nur wenige schlechte Eigenschaften. Ich bin nicht fromm, beachte aber gewisse Verhaltensregeln mit aller schuldigen Pietät. Ich glaube, ich bin sehr empfindsam. Wenn ich nicht sehr Acht gebe, werde ich mich zu einem grässlichen alten Drachen entwickeln.

Das ist der Grund, warum ich schreibe und warum ich schreiben muss. Wenn ich mich von meiner Einsamkeit verschlungen fühle, von ihr versteckt, in Dunkel getaucht und unsichtbar gemacht, dann ist das Schreiben meine Möglichkeit, von mir zu reden. Die Leute daran zu erinnern, dass ich noch da bin. Und wenn ich meine Romanpersonen in Stellung gebracht habe, meinen Vorrat an Bildern erschöpft und die Trauer von ihnen genommen habe, die ich selbst in mir fühle, dann kann ich den Strom einschalten, der es mir ermöglicht, so leicht zu schreiben, wenn ich erst einmal angefangen habe, und die Leute zum Lachen zu bringen. Denn lachen mögen sie gern, wie es den Anschein hat. Und wenn mir das gut gelingt und ich alle Literaturkenner und Kritiker betört habe, dann werden sie mein eigentliches Anliegen nicht begreifen, das doch ganz einfach ist. Wenn mir mein Aussehen und mein Auftreten dabei mehr zustatten kämen, könnte ich mein Anliegen oder meine »Botschaft« auch persönlich übermitteln. »Seht mich an«, würde ich nur sagen. »Seht mich an!« Aber da ich in dieser Angelegenheit ganz auf mich allein gestellt bin, muss ich Ausflüchte und Listen gebrauchen; und mit ein bisschen Glück und Geschicklichkeit wird diese spezielle Botschaft nie entschlüsselt werden, und der Grund, warum ich sie in dieser Form vermittle, wird für immer im Dunkeln bleiben.

2 Dieses Gefühl von Einsamkeit hat vielleicht auch mit der unmittelbaren Umgebung zu tun, in der ich wohne und die man wohl anachronistisch nennen kann. Maida Vale ist für mein Gefühl ein sehr merkwürdiges Viertel voll von riesigen Wohnblocks, in denen lauter kleine, ältliche Leute wohnen. Nur wenige dieser Leute scheinen auf die Straße zu gehen, die immer verlassen wirkt, und die wenigen, die sich für einen kleinen Einkauf hinauswagen, tragen üppige Pelzmäntel und sind nie ohne Stock und Hund. Wenn ich abends nach Hause komme, sehe ich niemanden, obwohl ich auf jedem Treppenabsatz durch die geschlossenen Doppeltüren hindurch die verlockendsten Küchengerüche riechen kann. Ich stelle mir vor, wie hier eine Dinnerparty vorbereitet wird und wie die silberhaarige Gastgeberin mit den kleinen Diamantohrringen sich mühsam vorbeugt, um die Kerzen auf dem Nussbaumtisch anzuzünden. Ihre Gäste werden wohl von nicht viel weiter als von der nächsten Tür oder dem Stockwerk darunter kommen, aber sie werden sich für die festliche Gelegenheit ordentlich herausgeputzt haben, die Damen in alten, aber gut erhaltenen schwarzen Chiffonkleidern, die Herren in Samtjacketts und mit Krawatten. Allesamt haben leichte physische Beschwerden, wie sie ihrem Alter entsprechen, aber sie sind alle sehr zuvorkommend und gut aufgelegt und brechen in Rufe des Entzückens aus über den kräftigen Geschmack des Sherrys in der Bouillon und überschütten ihre Gastgeberin mit Komplimenten. Diese braven Leute gehen zu Vorträgen im Victoria-and-Albert-Museum und gelegentlich tun sie sich zusammen zu einem Besuch des National Theatre, das ihnen indessen keinen Genuss bereitet. »Also ich bekam einfach keine Luft da drinnen«, gestehen sie einander. Im Allgemeinen finden sich vier zum Bridge zusammen, manchmal auch zwei Gruppen; für die Damen gibt es eine Tasse Tee und für die Herren einen Whisky-Soda um halb zwölf. Beim Abschied küssen sich alle liebevoll und jeder sagt: »Das nächste Mal kommen Sie zu uns!« Ich kenne natürlich keinen Einzigen von ihnen. Ich rieche nur ihr Essen, und es riecht sehr gut. Einige Damen schickten Blumen, als meine Mutter starb, aber nachdem ich ihnen schriftlich gedankt hatte, warf ich ihre Beileidskarten weg. Ich bemerke im Vorübergehen ein Kopfnicken und ein Lächeln, wenn zufällig eine Tür auf dem Treppenabsatz offen steht. Aber da ich den ganzen Tag außer Haus bin und sie allem Anschein nach den ganzen Abend Bridge spielen – oder jedenfalls bis halb zwölf –, bietet sich die Gelegenheit zu einer Begegnung nicht eben oft. Außerdem sind sie alle so viel älter als ich.

Ich bin mir durchaus darüber klar, dass dies ein Haus für alte Menschen ist, mit dem roten Treppenläufer, dem schweren Lift mit Eisengitter, den blankgeputzten Messingbriefkästen und dem kleinen behäbigen Portier. Die Bewohner gehören jener Schicht und Generation an, der man nie gesagt hat, sie sollten leise sprechen, sodass man jetzt Rufe wie: »Phyllis, meine Liebe!« von Stockwerk zu Stockwerk hören kann, bis sich die Tür hinter der pelzbekleideten Besucherin geschlossen hat. Zur Weihnachtszeit habe ich kleine Enkelkinder zu Besuch kommen sehen, in mit Samtkragen besetzten Mänteln. Fest an der Hand der Mutter, benehmen sie sich über alle Maßen gut. Wenn sie wieder auftauchen, glühen ihre Wangen, sei es von dem Genuss des Weihnachtskuchens (»Kinder, das ist noch nach dem Rezept eurer Urgroßmutter!«), sei es in der Vorfreude auf das Aufschnüren der knisternden Pakete, die sie im Arm halten. Im Sommer geht es sogar noch ruhiger zu. Denn dann sind die alten Leute an der Reihe, ihre Kinder zu besuchen, und von meinem Fenster aus kann ich von der Straße herauf ihre Stimmen und das Tappen ihrer Stöcke hören, und wenn ich hinunterschaue, kann ich Mrs. Hunt oder Lady Cohen sehen und hören, wie sie die Schwierigkeiten beklagen, die ihnen das Einsteigen in den Wagen bereitet. »Auf Wiedersehen, Mr. Reardon, und nochmals besten Dank!«, rufen sie, während sie ihre alten Gliedmaßen in dem knappen Raum unterbringen. »Auf Wiedersehen, Madam«, grüßt der Portier und wartet auf dem Bürgersteig, bis sich der Wagen in Bewegung gesetzt und sicher seine Fahrt aufgenommen hat.

Ich empfinde dieses Haus kaum als mein Zuhause, obwohl ich immer hier gewohnt habe, und da die Wohnung jetzt mir gehört, besteht eigentlich kein Grund umzuziehen, zumal die Preise gerade jetzt so hoch sind. Im Grunde wohne ich ausgesprochen gern hier, und mein Leben verläuft in so geregelten Bahnen, dass mir der Gedanke an einen Wohnungswechsel nur selten in den Sinn kommt. Aber diese innere Unruhe, von der ich sprach, kommt zu einem Teil von der Langeweile und zum anderen von dem Mangel an Geselligkeit. Manchmal träume ich von einem Leben, in dem ich ganze Abende lang am Bett einer Freundin sitze, in vertraulichem Geplauder, und wir uns gegenseitig über unsere Liebesaffären auf dem Laufenden halten, wenn wir uns nicht unsere neuen Kleider zeigen oder eine andere Frisur ausprobieren … Dabei ist das alles nicht eigentlich nach meinem Geschmack. Aber es ist sehr schwer, hier überhaupt jemanden einzuladen. Sollte es einmal in meinem Leben einen plötzlichen Wechsel geben und ich einen völlig neuen Freundeskreis um mich scharen können, dann müsste ich allerdings einige radikale Änderungen vornehmen. Zwar ist es kaum wahrscheinlich, dass ich ein Dinner für zehn Personen oder eine Soiree für fünfzig geben werde, wenn auch die Räume groß genug dafür wären. Und ich sehe schon jetzt, dass es mir sehr schwer fallen würde, mich einmal von meinen Möbeln, die mir unerklärlicherweise so ans Herz gewachsen sind, zu trennen, obwohl ich doch in meinen kritischsten Jahren nur über sie gelästert habe. Die Veränderung in meinem Leben müsste schon sehr einschneidend sein, damit ich das Gefühl bekomme, endlich von dieser Wohnung Besitz ergriffen und damit das Recht zu haben, sie zu meinem persönlichen Zuhause zu machen.