Eine Studentin - Peter Schmidt - E-Book

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Peter Schmidt

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Beschreibung

Professor Hollando, Nobelpreis­träger im Fach Me­di­zin, hat als Hirn­for­scher einen ge­ne­ti­schen Schal­ter ent­deckt, der so­wohl für kör­per­liches wie seeli­sches Lei­den – Schmer­zen, Angst, De­pressi­onen – ver­ant­wort­lich ist. Eine Ent­de­ckung, die Medi­zin­ge­schichte schrei­ben könnte … Carolin ist von Cesare Hol­lan­do nicht nur als Wis­sen­schaft­ler fas­zi­niert und folgt ihm zur Preis­ver­lei­hung nach Stock­holm. Sie will unbe­dingt in den en­geren Ar­beits­kreis sei­ner Stu­denten auf­ge­nom­men wer­den. Da ihr Bruder Robert gerade zum Haupt­kom­missar be­för­dert wurde, bit­tet sie Hol­lan­do als ehe­mali­gen Profiler um Rat in einem mys­teri­ösen Fall von Frau­en, die alle auf rät­sel­hafte Weise ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben. Sie kön­nen sich we­der an ihre Na­men erin­nern, noch was mit ih­nen pas­siert ist. Der Kör­per einer Frau ist voller blau­er Fle­cke. Eine an­dere macht dau­ernd ob­s­zö­ne Be­mer­kun­gen. Ein drit­tes Op­fer war bei der Ver­neh­mung kahl­ ge­scho­ren. Be­sonders ver­stö­rend: Das rechte Auge eines vier­ten Op­fers wur­de über dem Al­tar der Kir­che St. Ma­ria Mag­da­lena an einer An­gel­schnur ge­fun­den … Doch bei Roberts Nachforschun­gen gerät Ca­ro­lin selbst ins Vi­sier des Tä­ters. Der ent­puppt sich als Geg­ner mit un­er­war­te­ten Fä­hig­kei­ten. Das Böse scheint ein nie da gewe­senes Hoch­fest raffi­nier­ter Grau­sam­kei­ten zu ze­lebrie­ren … Schon bald geht es nicht mehr nur um Sieg und Nie­der­lage und Ca­ro­lins Über­le­ben, son­dern um die Deu­tungs­ho­heit zwei­er geis­tiger Gi­gan­ten – Tä­ter und Op­fer – über den wah­ren Cha­rak­ter der mensch­li­chen Na­tur. Copyright © 1/2019: Peter Schmidt

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Seitenzahl: 319

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Peter Schmidt

Eine Studentin

Thriller

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

ZUM BUCH

TEIL I

Preisverleihung

1

8. Dezember, Karolinska-In­sti­tut Stock­holm

2

Vorstellungsgespräch

3

Vier Frauen

4

Vorlesung

5

Stelldichein

6

Institut

7

Arbeitskreis

8

9

Zweifel

10

Seminar

11

12

Liste

13

14

Auf der Spur

15

Die Schlinge zieht sich zu

16

17

18

Auf der Suche

19

Robert

20

Spiegeldecke

21

Implantat

22

Der erste Tag

23

Zweiter Tag

24

Dritter Tag

25

26

27

Zweite Stufe

28

Hoffnung …

29

Das Spiel ist aus

30

Amelie

31

Beerdigung

32

Amelies Heimkehr

33

Starker Wille

34

35

36

37

Endloses Leiden

Impressum neobooks

ZUM BUCH

Peter Schmidt

________________

Eine Studentin

Thriller

Auch als Taschenbuch lieferbar

ISBN: 978-1717843135

Druck & Vertrieb:

Amazon EU SARL 80807 München

Amazon: portofreie Lieferung

Neopubli-Ausgabe, 10997 Berlin

VLB, Stationärer Buchhandel: ISBN: 978-3-746779-73-7KNV-verfügbar: Großhandel  Titelnummer: 74805973

Copyright © 1/2019:

Peter Schmidt

[email protected]

Professor Hollando, Nobelpreis­träger im Fach Me­di­zin, hat als Hirn­for­scher einen ge­ne­ti­schen Schal­ter ent­deckt, der so­wohl für kör­per­liches wie seeli­sches Lei­den – Schmer­zen, Angst, De­pressi­onen – ver­ant­wort­lich ist. Eine Ent­de­ckung, die Medi­zin­ge­schichte schrei­ben könnte …

Carolin ist von Cesare Hol­lan­do nicht nur als Wis­sen­schaft­ler fas­zi­niert und folgt ihm zur Preis­ver­lei­hung nach Stock­holm. Sie will unbe­dingt in den en­geren Ar­beits­kreis sei­ner Stu­denten auf­ge­nom­men wer­den.

Da ihr Bruder Robert gerade zum Haupt­kom­missar be­för­dert wurde, bit­tet sie Hol­lan­do als ehe­mali­gen Profiler um Rat in einem mys­teri­ösen Fall von Frau­en, die alle auf rät­sel­hafte Weise ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben. Sie kön­nen sich we­der an ihre Na­men erin­nern, noch was mit ih­nen pas­siert ist.

Der Kör­per einer Frau ist voller blau­er Fle­cke. Eine an­dere macht dau­ernd ob­s­zö­ne Be­mer­kun­gen. Ein drit­tes Op­fer war bei der Ver­neh­mung kahl­ ge­scho­ren.

Be­sonders ver­stö­rend: Das rechte Auge eines vier­ten Op­fers wur­de über dem Al­tar der Kir­che St. Ma­ria Mag­da­lena an einer An­gel­schnur ge­fun­den …

Doch bei Roberts Nachforschun­gen gerät Ca­ro­lin selbst ins Vi­sier des Tä­ters. Der ent­puppt sich als Geg­ner mit un­er­war­te­ten Fä­hig­kei­ten. Das Böse scheint ein nie da gewe­senes Hoch­fest raffi­nier­ter Grau­sam­kei­ten zu ze­lebrie­ren …

Schon bald geht es nicht mehr nur um Sieg und Nie­der­lage und Ca­ro­lins Über­le­ben, son­dern um die Deu­tungs­ho­heit zwei­er geis­tiger Gi­gan­ten – Tä­ter und Op­fer – über den wah­ren Cha­rak­ter der mensch­li­chen Na­tur.

„Dass nun ein solcher verderbter

Hang“ (zum Bösen) „im Menschen

verwurzelt sein müsse, darüber

können wir uns, bei der Menge

schreiender Beispiele, welche uns

die Erfahrung an den Taten der

Menschen vor Auge stellt,

den förmlichen Beweis

ersparen.“

Immanuel Kant

TEIL I

Preisverleihung

1

8. Dezember, Karolinska-In­sti­tut Stock­holm

Als sie Cesare Hollando zum ers­ten Mal sah, war es wie ein be­freien­der Ge­witter­re­gen – oder als stürz­ten Re­gen­fluten von den Ber­gen und ris­sen alles gleicher­ma­ßen in die Tiefe, Mensch und Tier, Haus und Hof, Gut und Böse – wie um end­lich reinen Tisch zu ma­chen …

Professor Hollando schrieb ge­rade Me­di­zin­ge­schich­te. Er stand am Red­ner­pult, den Zei­ge­stock auf einer Ta­bel­le aus der Hirn­for­schung. Auf der Vi­deo­lein­wand hin­ter ihm war über­le­bens­groß sein Ge­sicht zu se­hen: eine Mi­schung aus wa­chem In­tel­lektu­el­len, braun­ge­brann­tem Ski­leh­rer – und ver­schla­ge­nem Po­ker­spie­ler.

Laut Sta­tuten hielten Nobelpreis­träger vor der eigent­li­chen Preis­ver­lei­hung im Karo­lins­ka-Insti­tut eine Vor­le­sung über ihre Ar­beit.

Carolin war ihm bis nach Stock­holm ge­folgt, und sie wür­de al­les da­ran set­zen, an seinen wei­teren For­schun­gen mit­zu­ar­bei­ten, selbst wenn sie da­für den Rest ih­rer weib­li­chen Kon­kur­ren­tin­nen um­brin­gen musste.

Schon bei der An­tritts­vor­le­sung in Deutsch­land soll­te der Saal vol­ler Stu­den­tin­nen ge­we­sen sein, die ihn an­him­mel­ten wie einen neu­en Gott im Olymp der Wis­sen­schaf­ten, Ce­sare Hol­lan­do, der mit ge­ra­de ein­mal vier­und­vier­zig Jah­ren den No­bel­preis für Me­di­zin er­hielt.

Eine eigentümliche Faszination ging von ihm aus. Es war die Art, wie er sprach. Als sei ihm das In­teresse der Me­dien eher läs­tig, als gehe ihn das Thea­ter um seine Per­son nichts an. Manch­mal ver­harr­te sein Zei­ge­stock se­kun­den­lang auf den Da­ten der Ta­belle, wie ver­sun­ken in sei­ne For­schun­gen, als arbei­te er selbst hier noch wei­ter.

Komm wieder auf den Boden der Tat­sa­chen zu­rück!, er­mahn­te sie sich. Es ist auch nur ein ganz ge­wöhn­li­cher Kerl. Ver­mut­lich ist er im Bett ge­nau­so lang­wei­lig wie al­le an­de­ren …

Trotzdem konnte sie kaum den Blick von ihm las­sen. Es waren sei­ne Augen, die ihm den Ruf ein­ge­tra­gen hat­ten, ein Frau­en­ver­ste­her zu sein, was auch im­mer das ge­nau be­deu­ten sollte.

„Professor Hollando“, mel­dete sich ein Jour­na­list im Saal. „Er­lau­ben Sie vor­ab eine Frage zur Per­son?“

„Gern, wenn sie nicht zu in­tim ist?“

„Sie lehren als Deutscher an einer deut­schen Uni­versi­tät, aber Ihr Na­me klingt eher ita­lie­nisch?“

„Oh, deswegen bin ich noch kei­nes­wegs ita­lie­ni­scher Ab­stam­mung“, er­klär­te Hol­lando lä­chelnd. „Es scheint, dass einer mei­ner Groß­vä­ter in fer­ner Ver­gan­gen­heit uns die­sen Na­men ver­erbt hat. Ich spre­che üb­ri­gens we­der Ita­lie­nisch noch war ich je­mals in Ita­lien. Meine ver­stor­bene Mut­ter – eine Deut­sche – muss dann wohl ge­glaubt ha­ben, dass Ce­sa­re gut zu un­se­rem italie­ni­schen Nach­na­men pas­se.“

„Und könnten Sie uns“ – dabei blick­te sich der Jour­na­list fra­gend im Saal um – „eine auch für Lai­en ver­ständ­li­che Er­läu­te­rung ge­ben, was im Kern Ih­ren Fort­schritt in der Hirn­for­schung aus­macht?“

„Gern, dazu sind wir ja heute hier zu­sam­men­ge­kom­men?

Wie wir alle nur zu oft leid­voll er­fah­ren müs­sen, ist es vor al­lem der Schmerz, der uns zu schaf­fen macht, Schmerz im wei­tes­ten Sin­ne ver­stan­den. Denn schmerz­voll sind auch Trau­er, De­pres­sion, Trau­mata. Lan­ge Zeit glaub­te man, für ge­wöhn­lichen Schmerz sei­en al­lein die Schmerz­re­zep­to­ren des Kör­pers zu­stän­dig.

Mei­ne Ent­de­ckung be­steht nun da­rin, dass es so et­was wie einen ge­ne­ti­schen Schal­ter im Ge­hirn gibt, den sogenannten Aver­sio-Ge­ne­tic-Toggle-Switch –, der so­wohl für kör­per­li­che Schmer­zen wie auch das gan­ze Spek­trum see­li­scher Be­las­tun­gen zu­stän­dig ist. Las­sen Sie mich dazu kurz ein we­nig in Fach­chi­ne­sisch ver­fallen …

Schmerzrezeptoren, Man­del­kerne, un­ser ge­sam­tes Ge­fühls­system, wer­den oh­ne einen sol­chen ge­ne­ti­schen Schal­ter gar nicht ak­tiv. Es bie­tet sich also an, ihn durch ge­ziel­te Be­ein­flus­sung ein- oder ab­zu­schal­ten. Ver­suche im Re­search De­part­ment of Neu­ro­science (RDN) – so der Na­me mei­nes In­sti­tuts – sind äu­ßerst viel­ver­spre­chend.“

„Was dann wohl eine der preis­wür­digs­ten Ent­de­ckun­gen in der Ge­schich­te des No­bel­prei­ses wäre?

Handelt es sich bei Ihrer Ent­de­ckung um einen ähn­li­chen Me­cha­nis­mus wie beim so­ge­nann­ten Dream-Gen, das kana­di­sche For­scher un­längst bei Mäu­sen ge­fun­den ha­ben?“

„Mit dem ent­scheiden­den Un­ter­schied, dass da­bei le­dig­lich ein Gen ent­fernt wurde, wo­durch es zu er­höh­ter Dy­nor­phin-Pro­duk­tion kam. Dy­nor­phin ist ein vom Kör­per er­zeug­tes Opi­oid, ver­gleich­bar dem Opi­um. Es wur­de also nicht der eigent­li­che Schmerz ein- oder ab­ge­schal­tet, son­dern le­dig­lich ein Be­täu­bungs­mit­tel ak­ti­viert.“

„Nehmen Sie mit Ihrer Entde­ckung den Schmerz­mit­tel­produ­zenten nicht die Ge­schäfts­ba­sis?“

„In gewissem Sinne, ja. Wahr­schein­lich wird die Phar­ma­in­dust­rie dem­nächst einen Kil­ler auf mich an­set­zen, wenn ihre Ge­schäf­te in den Kel­ler ge­hen …“

„Bedeuten Ihre Forschun­gen, Pro­fes­sor Hol­lan­do, wir Men­schen wer­den dem­nächst ein völ­lig schmerz­freies Le­ben füh­ren?“

„Oh, nein …“, wehrte Hollando lä­chelnd ab. „Ganz ohne Schmer­zen dürf­ten wir auch in Zu­kunft nicht aus­kom­men. Stel­len Sie sich nur mal vor, was pas­sie­rt, wenn sich Ihre vol­le Bla­se nicht mehr mel­det?“

Lacher im Saal …

„Negative Gefühle werden für eine Viel­zahl von Le­bens­vor­gän­gen be­nö­tigt, wie Flucht und Kampf oder als Hin­weis auf Er­kran­kun­gen. Und ohne Trau­er wür­den wir uns beim Tod naher Ver­wand­ter auch nicht ganz in­takt füh­len, oder?

Da hal­ten wir es doch lie­ber mit der al­ten öst­li­chen Weis­heit: Selbst Bud­dha hat­te Schmer­zen …“

Nach Hollandos Vorlesung kehrte Caro­lin oh­ne Um­weg zum Flug­ha­fen zu­rück.

Für die eigent­liche Preis­ver­lei­hung durch den schwedi­schen Kö­nig wür­de es we­gen des be­grenz­ten Plat­zes im Kon­sert­hu­set kaum freie Kar­ten ge­ben. Die meis­ten Plätze wa­ren für ehe­mali­ge Preis­trä­ger und die Mit­glie­der des No­bel­preis-Ko­mi­tees re­ser­viert.

Als sie in Düsseldorf landete, stand ihr Bru­der am Aus­gang ne­ben der Zoll­theke und wink­te ihr mit einer Zei­tung zu.

Ro­bert war über­zeug­ter Jung­ge­selle und ge­ra­de zum Haupt­kom­mis­sar be­för­dert wor­den – zur Über­ra­schung seiner Kol­le­gen, die geglaubt hat­ten es werde Paul Bro­der, für den es dann nur zum Stell­ver­treter reichte.

Nach dem Tod ihrer Eltern liebte Ro­bert es im­mer noch, sich an den ge­deck­ten Tisch zu set­zen. Viel­leicht war Carolin ja jetzt so et­was wie ein Mut­terer­satz für ihn …

So jung und schlaksig – ma­geres Ge­sicht und schel­mi­sche Au­gen – war es schwer, sich Ro­bert als Kom­mis­sar vor­zu­stel­len. Aber der harm­lose Schein trog. Eigent­lich sah er ein we­nig schwind­süch­tig aus. Viel­leicht, weil er zu vie­le Jahre in dunk­len Bü­ros ver­bracht hatte.

Draußen schien es, als wenn der Him­mel auf die Lan­de­bah­nen stürz­te. Later­nen­mas­ten wa­ckel­ten im Wind und von den fernen Hü­geln Rich­tung Rhein brei­tete sich eine dunk­le Wol­ken­de­cke aus.

„Lass uns erst mal ins Flughafen-Café ge­hen“, schlug Ro­bert vor. „Bei dem Wetter blei­ben wir noch im Stau ste­cken.“

Er bestellte wie immer nur einen Es­presso.

„Sieh dir das mal an“, sagte er und reichte ihr die Zei­tung. „Et­was Selt­sames geht mo­men­tan in der Stadt vor. Es wer­den im­mer mehr Frauen auf­ge­grif­fen, die ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben …“

Carolin erinnerte sich, dass Ro­bert vor ihrem Ab­flug eine jun­ge Frau er­wähnt hatte, die nur mit einem blauen Unter­rock und dün­ner Bluse be­klei­det am Fluss­ufer un­ter­halb der Uni­ver­si­tät auf­gegrif­fen wor­den war – bei Frost, wäh­rend auf dem Was­ser Eis­schol­len trie­ben. Ein Poli­zei­be­am­ter hatte sie beim mor­gend­lichen Lauf­trai­ning ent­deckt.

„Schon der dritte Fall, seit du nach Stock­holm ge­flo­gen bist“, sag­te Ro­bert. “Und jetzt auch noch ein vier­ter. Grau­en­haft, diese Sa­che mit dem Auge …“

Die erste Frau war etwa zwan­zig Jahre alt. Als Ca­ro­lin ihr Bild in der Zei­tung sah, er­starrte sie. Es war Ma­nue­la, eine Kom­mi­li­to­nin …

Sie studierte Theater­wis­sen­schaf­ten und Me­di­zin – an­schei­nend, ohne sich für ein Fach ent­schei­den zu kön­nen.

Einmal hatte Manu­ela sich von Ca­rolin ein paar Euro gelie­hen, um in der Cafe­te­ria be­zah­len zu kön­nen. An­geb­lich, weil ihr Por­te­mon­naie im Hand­schuh­fach des Wa­gens lag. Caro­lin erin­ner­te sich nicht, das Geld je­mals zu­rück­be­kom­men zu ha­ben.

Auf dem Foto sah Manuela stark ab­ge­ma­gert aus. Doch das eigent­lich Ver­stö­rende war die Schlag­zeile:

JUNGE FRAU OHNE GE­DÄCHT­NIS AN

FLUSSUFER AUF­GE­FUN­DEN

Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erin­nern, wo sie wohn­te und wie sie hieß.

Amnesie, das wusste Caro­lin aus dem Stu­dium, konnte durch einen Un­fall, zum Bei­spiel ein Hirn-Schä­del-Trau­ma, aber auch durch Schlag­an­fall oder ver­schie­dene an­dere Krank­hei­ten aus­ge­löst wer­den. Manch­mal blie­ben die Ur­sa­chen auch völ­lig un­be­kannt.

Das ist Manuela Winter – nein, Win­ters“, be­rich­tigte sie. Sie hat das­selbe Se­minar be­legt wie ich.“

„Dann solltest du unbe­dingt deine Anga­ben zu Pro­tokoll ge­ben. Bis­her tap­pen wir näm­lich noch völ­lig im Dun­keln. Von Seiten ihrer Uni­ver­sität – kann sein, aus dem Uni­versi­täts­sek­reta­riat – gibt es einen Hin­weis, sie könnte sich mo­mentan ir­gend­wo in den USA aufhal­ten“

„Heißt das, man hat dir den Fall über­tra­gen, Ro­bert? Gratu­liere …“

„Nicht mir allein, ein gan­zer Stab ar­beitet daran. Also bitte kei­ne Vor­schuss­lor­bee­ren.“

„Na, wenn das kein Karrie­re­sprung ist …“

„Die Presse läuft Sturm we­gen der rät­sel­haf­ten Vor­fälle. Un­se­re Tele­fone klin­geln Tag und Nacht.“

„Dann zieh einfach den Ste­cker aus der Wand …“

„Leichter gesagt als getan. Es gibt da ein paar Politi­ker, die uns ge­nau auf die Fin­ger schau­en, schon we­gen des Echos in den Me­dien. Diese Frau­en ha­ben nicht nur ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren. Der Kör­per der einen ist vol­ler blau­er Fle­cke. Eine an­dere war bei der Ver­neh­mung kahl­köp­fig und am gan­zen Kör­per ra­siert.“

„Rasiert, wozu?“

„Keine Ahnung. Eine an­dere macht dau­ernd ob­szöne Bemer­kun­gen.“

„Vielleicht, weil sie etwas Schreckli­ches er­lebt hat?“

„Eine Vergewaltigung?“

„Oder so was Ähnliches.“

„Dafür haben wir bisher keiner­lei Hin­weise ge­fun­den. Wenn man die Frau­en an­spricht, hat man den Ein­druck, sie ver­ste­hen einen gar nicht. Es dau­ert im­mer eine Zeit­lang, bis man eine halb­wegs plau­sible Ant­wort be­kommt.“

„Aber dann reden sie wie­der nor­mal?“

„Nein. Sie wirken eher geis­tes­ab­we­send.“

Woran erinnert mich das aus mei­nen Semi­na­ren?, über­legte Ca­ro­lin. Beim Stu­dium von Kran­ken­be­rich­ten hatte sie schon viel mit selt­sa­mem Ver­hal­ten zu tun ge­habt. Das ge­hör­te zur Aus­bil­dung. Aber was be­deu­te­ten in der Neu­rologie ver­zö­gerte Reak­ti­onen beim Spre­chen?

„Wir haben jetzt vier Fälle ohne jeden An­halts­punkt“, sagte Ro­bert.

Sie sah sich noch einmal die Fo­tos in der Zei­tung an.

„Was ist mit der vierten Frau? Sieht aus, als wenn ihr … ein Auge fehlt?“

Carolin hob die Zeitung ins Licht, um bes­ser se­hen zu kön­nen. Oder lag es nur am schlech­ten Druck? Nein, es war kein Feh­ler. Es war ein­deu­tig eine leere Au­gen­höhle.

„Robert …?“

Keine Antwort.

„Gibt es etwas, über das du nicht mit mir re­den willst?“

„Ihr fehlt ein Auge, ja …“

„Was bedeutet das?“

„Ich glaube nicht, dass jetzt der rich­tige Zeit­punkt ist, darüber zu reden – so kurz nach dei­ner Rück­kehr.“

„Heißt das, du willst mich scho­nen? Schon mal was von Resi­lienz ge­hört?“

„Mentale Abhärtung … oder so ähn­lich.“

„Resilienz ist in unserem Fach be­son­ders wich­tig, weil stän­dig ziem­lich üble Dinge auf uns zu­kom­men. Einige bre­chen des­we­gen so­gar ihr Stu­dium ab. Und ein ge­öff­ne­tes Ge­hirn, wenn wir im Lim­bi­schen Sys­tem mit dem Skal­pell Teile des Ce­re­brums oder des For­nix cere­bri freile­gen, ist auch nicht ge­ra­de ap­pe­tit­lich.“

Robert nickte nur unmerklich und schwieg.

„Irgendwas nicht in Ord­nung?“

„Ihr rechtes Auge hängt an einer An­gel­schnur – Mi­nia­tur­ha­ken Größe 24, so die Be­zeich­nung im Ka­talog für Zu­be­hör – über einem Kirchenal­tar.“

„Ihr Auge hängt … wo?“, fragte sie.

Ihr Bruder gab keine Antwort.

„Robert …?

„Spielt es denn eine Rolle, wo?“

„Ja, wieso nicht …“

„Es hängt über dem Kru­zi­fix am Altar St. Ma­ria Mag­da­lena, das ist eine Kirche hier in der Nähe. Das Auge darf erst nach der Spu­ren­si­che­rung ab­genom­men wer­den. Die Siche­rung von ge­neti­schem Ma­teri­al erfordert im­mer be­son­dere Vor­keh­run­gen, des­halb ist der Zutritt bis auf Weite­res ge­sperrt.“

„Aber wer hängt denn ein Auge über einen Kir­chen­al­tar – und wozu?“

„Keine Ahnung.“

„Hört sich das nicht nach durch­ge­knall­tem Psy­cho­pa­then an?“

„Wir haben noch nicht den ge­rings­ten Hin­weis, was da­hin­ter­steckt.“

Als sie das Café verließen, wink­te Ro­bert ei­nem vor­über­fah­ren­den Wa­gen zu …

Carolin konnte nicht erken­nen, wer am Steuer saß – viel­leicht eine sei­ner zahllo­sen Freun­din­nen. Ihr Bru­der war trotz seines schwächli­chen Aus­se­hens eine Art Frau­en­held. Was denn auch sonst bei ei­nem Kerl, der jede Nacht mit einer groß­kalibri­gen Waffe ins Bett ging?

Auf dem Park­platz öff­nete er das Hand­schuh­fach und nahm ein Farb­foto her­aus.

„Sind deine Nerven stark ge­nug, dir das hier anzu­se­hen?“

„Was?“, fragte sie argwöh­nisch.

„Na, das Auge …“

Sie musste sich übergeben, als sie das Foto sah. Es kam so plötz­lich und war ein so star­ker Re­flex, dass sie nur noch die Wa­gen­tür auf­sto­ßen konn­te und sich auf den Park­plat­z er­brach. Robert reich­te ihr ein Ta­schen­tuch …

Aber da stol­perte sie auch schon mit wei­chen Kni­en auf ein Ge­sträuch nahe der Lan­de­bahn zu. Sie streckte tas­tend ihre Arme aus, als sei sie plötz­lich er­blin­det …

Der Sturm hatte nach­gelassen, doch die röh­ren­för­mi­gen Wind­an­zei­ger aus rot-wei­ßen Stoff­hül­len flat­ter­ten im­mer noch waa­ge­recht in der Luft. Hin­ter dem Draht­zaun weit drau­ßen lan­dete mit wie­gen­den Trag­flä­chen ein Lang­strecken­flie­ger.

Großer Gott! – das Bild mit dem am Per­lon­fa­den hän­gen­den Auge war so­fort wie­der da, als sie die Augen schloss …

Aus der Pupille bog sich die win­zige Spitze eines An­gel­ha­kens bis in den wei­ßen Aug­apfel hin­ein, ohne ir­gend­eine Blut­spur zu hin­terlas­sen, chi­rur­gisch sau­ber durch­trennt. Und da­hinter – un­scharf we­gen der Ein­stel­lung des Ob­jek­tivs und wie male­risch ar­ran­giert – war sche­men­haft das Bild­nis des Ge­kreu­zig­ten zu er­ken­nen.

Sie kannte die Kir­che von frü­her, weil dort ein his­tori­scher Pil­ger­weg ver­lief und sie oft mit ih­ren El­tern hier ge­we­sen war. Das Kreuz im Chor­raum von St. Ma­ria Mag­da­lena war um 1300 in den Pyre­näen ent­stan­den.

Robert stieg aus und legte den Arm um ihre Schul­tern.

„Geht’s wieder …?“, fragte er.

„Professor Hollando gründet einen Ar­beits­kreis aus­ge­wähl­ter Stu­den­ten“, sagte Caro­lin wäh­rend der Rück­fahrt. Sie war froh, das Thema wech­seln zu können. „In den muss ich un­be­dingt auf­ge­nom­men wer­den.“

„Deshalb bist du zur Preis­verlei­hung nach Stock­holm ge­flo­gen?“, fragte Ro­bert. „Um ihn darauf anzu­spre­chen?“

Sie hatte kaum Zeit, zu antwor­ten …

Er be­schleunigte so stark, dass sie den Rah­men der Rü­cken­leh­ne im Schaum­stoff spürte. Ihr Bru­der liebte schnel­les Fah­ren. Der An­trieb sei­nes Zwei­sit­zers war mit 12-Zylin­dern und 800 PS kein nor­ma­ler Mo­tor, son­dern eher ein Ra­ke­ten­trieb­werk.

Dann kam eine enge Kurve und sie holte tief Luft …

„Nein, man hat mir schon vor Ab­flug ei­nen Vor­stel­lungs­termin ge­ge­ben. Ich wollte ein­fach da­bei sein und se­hen, wie Hol­lan­do auf mich wirkt.“

„Und – wie wirkt er auf dich?“

Sie gab keine Antwort.

„Carolin …?“

„Geht dich das was an?“

„Na, ich will doch, dass meine klei­ne Schwes­ter glück­lich wird.“

„Beeindruckend, mehr oder weni­ger.“

„Du willst einen No­bel­preis­trä­ger, hab ich recht?“

„Und du wirst bald Polizei­präsi­dent.“

„Ausgezeichnete Idee …“ Ro­bert lachte. „Glaubst du denn, dass dein Charme aus­reicht, ihn um den Fin­ger zu wi­ckeln?“

„Hollando ist ziemlich schwie­rig, ein har­ter Bro­cken. Intel­lek­tuell und in je­der Hin­sicht. Kei­ne Ah­nung, ob er mich ak­zep­tiert.“

„Akzeptiert als Studentin? Oder als Frau?“

„Kommt drauf an.“

„Du bist gerade dabei, das he­rauszu­fin­den?“

„Ich habe noch keinen Men­schen ken­nen­ge­lernt, der ihm in­tel­lek­tu­ell das Was­ser rei­chen könnte, Robert. Mit so einem Mann ins Bett zu ge­hen, ist noch mal eine völ­lig an­dere Sa­che. Darü­ber den­ke ich erst gar nicht nach. Ich muss höl­lisch auf­pas­sen, dass ich bei mei­nem Vor­stel­lungs­ge­spräch kein dum­mes Zeug rede.“

„War der Kerl nicht ur­sprüng­lich Domi­ni­ka­ner? Und ist erst neu­er­dings zu den Zis­ter­zien­sern über­ge­lau­fen?“

„Er ist immer noch Mönch und Do­mini­ka­ner und zu nie­man­dem über­ge­lau­fen. Ce­sare wohnt nur vo­rüber­ge­hend in der Zis­ter­zien­ser­abtei, wo er übri­gens sehr gast­freund­lich auf­ge­nom­men wur­de. Da­vor lebte er im Do­mini­kaner­klos­ter St. Al­bert in Leip­zig.“

„Im Kloster, aha. Das heißt, ohne Frauen? Und Ce­sare … du nennst ihn also schon beim Vor­na­men?“

„Es ist wichtig für mich, den Job zu be­kom­men.“

„Wird doch wohl nicht wieder eine dei­ner be­rüch­tigten Schick­sals­phan­ta­sien sein?“

Carolin winkte verächtlich ab. „Mach dich ru­hig lus­tig über mich. Ich se­he eben manch­mal Zei­chen und Hin­weise – echte An­zei­chen als Rat­schlä­ge für mein künf­tiges Le­ben, kei­ne Hirn­ge­spinste.“

„So? Welche Zeichen sind es denn dies­mal?“, fragte Ro­bert und legte grin­send sei­nen Arm um ihre Schul­tern.

„Ein Dreieck zwi­schen den Hoch­haus­tür­men der Uni­versi­tät, dem al­ten Zis­ter­zien­ser­kloster einen Hü­gel wei­ter und dem Haus un­serer El­tern.“

„Das meinst du nicht im Ernst?“

„Es ist ein Dreieck“, wieder­holte sie. „Luft­linie we­nige hun­dert Me­ter. Sieh es dir mal auf der Kar­te an. Die Schen­kel al­ler Li­ni­en sind gleich lang. Glaubst du, so was ist Zu­fall?“

„Lieber Himmel …“ Robert schüt­telte un­gläu­big den Kopf. „Bei dei­ner Nei­gung zum Aber­glau­ben könn­test du auch im Kaf­fee­satz lesen.“

Er stoppte an einer dunklen Haus­fas­sade, über deren Schau­fens­ter eine de­fekte Neon­reklame fla­ckerte.

„Was ist los?“, fragte sie.

„Du sprichst doch fließend Italie­nisch. Geh mal in die Piz­ze­ria und besorg uns was zum Abend­es­sen.“

„Wieso, weil es besser schmeckt, wenn man auf Italie­nisch be­stellt?“

„Wäre ja möglich, dass der Piz­zabä­cker dei­nem Charme erliegt…“

„Du meinst das Lokal da drü­ben? Sieh dir die Bruch­bude doch mal an. Die Schau­fens­ter­scheibe ist mit einem Tuch ver­hängt.

„Vielleicht heißt der Pizzabäcker ja Ce­sare wie dein Pro­fessor …“

Das Haus ihrer verstorbenen El­tern war ein mas­si­ver Fels­stein­bau aus dem sieb­zehnten Jahr­hun­dert. Im Gar­ten stan­den alte Apfel­bäume.

Sie liebten diesen Ort über alles, auch wenn sie aus einem un­be­stimm­ten Ge­fühl un­gern da­rüber spra­chen. Viel­leicht war es so et­was wie Res­pekt vor der Ver­gan­gen­heit.

Durch die Dach­fenster sah man den Stau­see und et­was wei­ter seit­lich auf den Hü­geln die Hoch­haus­tür­me der Uni­ver­si­tät. Kurze Zeit vor dem Tod ih­rer El­tern hatte man das Ge­bäude un­ter Denk­mal­schutz ge­stellt.

Aber Ro­bert wusste, wie man sich über Vor­schrif­ten hin­weg­setzte. An­ders als sein Stell­ver­treter Paul Bro­der, der so et­was kaum ge­wagt hätte, ließ er es ein­fach in Nacht- und Ne­bel­ak­tio­nen von einem be­freun­de­ten Bau­un­ter­neh­mer sa­nie­ren.

Das hätte ihn zwar sei­ne Be­för­de­rung zum Haupt­kom­mis­sar kos­ten können, doch in der Be­zie­hung war er kaum we­ni­ger skru­pel­los als die Ver­bre­cher, die er jagte.

2

Vorstellungsgespräch

Genau genommen war sie Ce­sare Hol­lando gar nicht zum ersten Mal bei sei­nem Vor­trag in Stock­holm be­geg­net, son­dern schon frü­her in ei­nem voll­ge­stopf­ten Fahr­stuhl der Uni­ver­si­tät, wenn auch nur flüch­tig, für we­nige Se­kun­den.

Stu­denten stiegen ein und aus und es war die plötzli­che Nähe zu einem dun­kelhaa­ri­gen Hü­nen, die sie völ­lig un­vor­be­rei­tet traf. Als ge­rate man in ir­gend­et­was Myste­ri­öse – wie ein rät­sel­haf­tes Mag­net­feld …

„Das ist Professor Hol­lando“, hörte sie einen Stu­den­ten hin­ter sich flüs­tern. „Un­ser kom­men­der No­bel­preis­trä­ger und künf­ti­ger Lehr­stuh­linha­ber für Neu­ro­wis­sen­schaf­ten.“

Obwohl Carolin im Gedränge so gut wie nichts von ihm sah, war es, als ste­he auf ein­mal ihr Herz still. Und einen Mo­ment spä­ter, als sich in der zwei­ten Eta­ge die Fahr­stuhl­tür öff­nete, flüch­tete sie – wie um ihr Le­ben zu ret­ten – ins Trep­pen­haus und lehnte sich auf­at­mend an die Wand.

Was war das denn? Doch nicht etwa ein An­fall von Klaus­tro­phobie?

Jetzt im selben Fahr­stuhl, kurz vor ihrem Vor­stel­lungs­ge­spräch, fühl­te sie plötz­lich wie­der die glei­che Be­klem­mung. Als wür­de sie, sobald sie Hol­lando erst einmal ge­gen­über­saß, kein Wort he­r­aus­brin­gen.

Dabei war sie immer stolz darauf gewe­sen, nicht be­son­ders ängst­lich zu sein. Ro­bert nann­te sie gern – wenn auch mit ironi­schem Unter­ton – „mei­nen un­be­sieg­ba­ren weib­li­chen Ge­fechts­stand“ und lobte ihre Furcht­lo­sig­keit und dass sie durch kaum et­was aus der Fas­sung zu brin­gen war.

Gib dir selbst einen Tritt in den Hin­tern, er­mahn­te sie sich. Das ist die Chan­ce deines Le­bens!

Du stehst schon fast im Vor­zim­mer. Und da sitzt auch nur ir­gend­eine be­brill­te Schleier­eule, die sich nach dei­nem Ter­min er­kun­digt …

Doch in Cesare Hollandos Insti­tut gab es gar kein Vor­zim­mer. Als sie oh­ne an­zu­klop­fen die Tür öff­nete, saß er kaum fünf Me­ter ent­fernt am Schreib­tisch, ver­sun­ken in das Stu­di­um von Pa­pie­ren. Der Raum war über­ra­schend karg einge­rich­tet. An der einen Wand ein schwarz-wei­ßes Wap­pen mit Do­mi­nika­ner­kreuz, an der an­de­ren eine Ko­pie des Heili­gen Do­mi­ni­kus von Ti­zian.

„Nein, nein, Sie sind nicht falsch“, mur­melte Hol­lando, ohne auf­zubli­cken – als kön­ne er ihre Ge­dan­ken le­sen. „Ich richte mich ge­rade erst ein. An­de­rer­seits schät­ze ich auch die Ein­fach­heit, wie es sich für einen Do­mi­nika­ner ge­hört.“

„Man sagt, Sie bewohnten nur ein win­zi­ges Zim­mer­chen drü­ben im Klos­ter?“

„Obwohl man bei einem Pro­fes­sor mei­ner Besol­dungs­stufe eher an eine opu­lente Dienst­vil­la den­ken würde? Ja, ich lebe bei den Zis­ter­zien­sern, al­ler­dings nur vor­über­gehend.“

„Carolin Meyers, wenn ich mich vor­stel­len darf?“

Hollando sah prüfend in eine Liste und nickte.

„Und nun sind Sie hier we­gen der Ar­beits­gruppe? Ihr Ge­sicht kommt mir übri­gens be­kannt vor. Wa­ren sie im Ka­ro­linska-In­sti­tut?“

Carolin erstarrte … Großer Gott, sie war ihm dort aufge­fallen …

„Hab im Univer­sitäts­se­kreta­riat einen der letz­ten Stu­dien­plätze für Ihre Semi­nare er­gat­tert, weil das An­ge­bot we­gen zu großer Nach­frage be­grenzt wer­den musste. In Ihre Ar­beits­grup­pe auf­ge­nom­men zu wer­den, wür­de mir einen Traum er­fül­len.“

„Einen Traum, aha. Und was, glau­ben Sie, befä­higt Sie in mei­nem Ar­beits­kreis mit­zuar­bei­ten? Un­ter so vie­len hoch qua­lifi­zierten Stu­den­ten?“

Ir­gend­etwas war in sei­nen Augen, das sie nicht ein­ord­nen konnte.

„Nehmen Sie doch Platz, Caro­lin ….“

„Ja, gern.“

„Also …? Warum sollte ich Sie in meine Ar­beits­gruppe auf­neh­men?“

„Weil ich besser bin als alle ande­ren.“

Ihre Antwort schien ihn zu amü­sie­ren. Hol­lando lehnte sich im Ses­sel zu­rück und fal­tete die Hände über dem Bauch.

„Sie glauben also nach zwei Se­mes­tern Neu­ro­wis­sen­schaf­ten, Sie seien ande­ren Stu­den­ten überle­gen? Was macht Sie so si­cher?“

„Stellen Sie mir eine Frage, Pro­fes­sor.“

Er nickte versonnen und blät­terte in sei­nen Noti­zen. Aber nichts ge­schah. Als exis­tie­re sie plötz­lich nicht mehr für ihn …

Hol­lando schien mit sei­nen Ge­dan­ken an ir­gend­ei­nem fer­nen Ort zu wei­len. Doch was viel schlim­mer war – sie hatte nicht die ge­ring­ste Ah­nung, mit wel­cher Frage er sie gleich auf die Pro­be stel­len würde.

Carolin schob langsam ihr rech­tes Bein übers linke Knie – ihr hel­ler Kat­tun­rock be­wegte sich ein paar Zenti­meter in Rich­tung Ober­schen­kel – und dabei be­merkte sie, dass sein Blick ih­rer Be­we­gung folg­te und kurz auf ih­ren Bei­nen ruhte.

Also schwul ist er schon mal nicht, dach­te sie. Al­les halb so schlimm …

„Wenn Sie jemand fragte, wel­che gene­relle In­ten­tion wir Men­schen im Le­ben ha­ben, Ca­rolin, was wür­den Sie dar­auf ant­wor­ten? Gleich­gül­tig, ob wir uns des­sen im­mer be­wusst sind oder nicht. Un­ge­wöhn­liche Frage, zu­gege­ben. Aber ver­su­chen Sie Ihre Ant­wort mög­lichst auf den Punkt zu brin­gen.“

„Sie meinen einen generel­len Nen­ner? Et­was, dass auf alle Akti­vi­tä­ten im Le­ben zu­trifft? Nur einen Nen­ner oder meh­rere?“

„Was auch immer Sie als Ant­wort für rich­tig hal­ten …“

„Dann würde ich mich für das Posi­tiv- und Ne­ga­tiv­sein des Le­bens ent­schei­den, im wei­testen Sinne. Auch wenn es ziem­lich philo­so­phisch klingt und als Defi­nition noch et­was vage wirkt. Man müsste ge­nauer erläu­tern, worum es sich dabei han­delt.“

Hollando lehnte sich zu­rück – und nickte.

„Aus­ge­zeich­net, Ihre Ant­wort über­rascht mich …“

„Was nicht weiter schwie­rig war, weil ich weiß, dass Sie als Vor­sit­zen­der die Ethik­kom­mis­sion lei­ten. Da es mich in­ter­es­siert, habe ich Ihre Pu­bli­kat­ionen zum The­ma stu­diert.“

„Inzwischen hat jemand anders den Vor­sitz. Hab’s auf­gege­ben, weil es zu viel Zeit kos­tet. Und Posi­tiv- und Ne­ga­tiv­sein ha­ben auch mit Mo­ral zu tun?“

„Als Gut und Böse, laut Ihrer Defi­ni­tion. Aber Posi­tiv- und Ne­ga­tivsein im Le­ben sind na­tür­lich viel mehr, als sol­che abstrak­ten Beg­rif­fe aus­drü­cken kön­nen – eben auch Glück, Lust, Spaß und Freude, Le­bensqua­lität, Lei­den, Schmerz, Trau­er und De­pres­sion.“

„Und das lernt man an unserer Uni­versi­tät in den Neu­ro­wis­sen­schaf­ten?“, fragte er.

„Nein, nur wenn man umfassend infor­miert sein will.“

„Seltsam vielseitige Neugier bei einer jun­gen Frau wie Ih­nen, oder?“

„Finden Sie? Nicht jedem Gesicht sieht man so­fort an, ob es ein Dum­mer­chen ist.“

Hol­lando wiegte nach­denk­lich den Kopf. Es sah aus, als ver­su­che er ein Grin­sen zu un­ter­drücken.

„Ich be­ginne zu ver­ste­hen, was Sie da­mit mein­ten, Sie seien bes­ser als alle an­de­ren Kan­dida­ten …“

„Für einen Domi­ni­ka­ner­mönch ist die kri­ti­sche Ana­lyse un­se­rer ge­sell­schaftli­chen Prob­leme si­cher eines der wich­tig­s­ten An­lie­gen über­haupt. Es war also nicht all­zu schwie­rig, mich da­rauf vor­zu­be­rei­ten.“

Hollando lehnte sich mit ver­schränk­ten Ar­men im Dreh­stuhl zu­rück – an­schei­nend be­saß das Ding einen Wipp­me­cha­nis­mus – und beug­te sich gleich dar­auf un­er­war­tet nach vorn, die rech­te Hand über den Schreib­tisch ­aus­ge­streckt …

„Nennen Sie mich ab jetzt doch ein­fach Ce­sare, Ca­rolin! Auf gute Zu­sam­men­ar­beit in mei­ner Ar­beits­gruppe …“

Sie ver­spür­te ein leich­tes Zit­tern im rech­ten Arm, als sie kurz mit den Fin­ger­spit­zen seine Hand­flä­che be­rührte.

„Übrigens liegen Sie ganz rich­tig und ich bin wei­ter­hin Do­mi­nika­ner­mönch und kei­nes­wegs ab­trün­nig ge­wor­den“, sagte er. „Auch wenn die Zister­zien­ser mich freund­lich auf­ge­nom­men ha­ben, weil ihr Klos­ter so nahe bei der Uni­ver­si­tät liegt.“

Ja, ich weiß, dachte sie. Aber nett von dir, das noch mal zu er­wäh­nen. Ganz so, als wä­ren wir bald beste Freunde …

Carolin fand es faszinierend, wie ihr Bru­der an sei­nen Job heran­ging. Er schien ein wirk­lich be­gab­ter Er­mitt­ler zu sein. Falls man es nicht als zwang­hafte De­tail- und Spu­ren­ver­liebt­heit be­zeich­nen wollte. Von sei­nem Hang, alle nur denk­baren Theo­ri­en über einen Tat­her­gang zu ent­wi­ckeln, ganz ab­ge­se­hen. Er nann­te es Mög­lich­kei­ten­ana­lyse, ein Be­griff, den er in der Wis­sen­schafts­the­orie auf­ge­schnappt hatte. Und der er­folg­reichs­te Er­mitt­ler war im­mer je­ner, der früh­zei­tig alle mög­li­chen Ab­läu­fe und Mo­ti­va­tio­nen er­wog.

Wenn sie beim Frühstück waren, be­richte­te er ihr manch­mal über den letz­ten Stand sei­ner Er­mitt­lun­gen. Er saß nicht etwa in sei­ner eige­nen Woh­nung eine Etage tie­fer, son­dern lieber bei ihr im Halb­dun­kel un­ter der Dach­schrä­ge.

Seine Hände umklammerten eine Kaf­fee­tasse und von sei­nem Platz aus, einem Tisch aus der Zeit Mar­tin Lut­hers, konnte man un­ten das See­ufer mit der Stau­mau­er und Al's Do­ra­do See-Ki­osk se­hen. Die Sonne schob sich ge­mäch­lich über den Hü­gel, als ar­bei­te sie alle Par­zellen aus Wie­sen und Laub­wald nach einem fest­leg­ten Plan ab.

Eine der vier Frauen ohne Ge­dächt­nis war in­zwi­schen ver­stor­ben. Man hatte ihr Auge ge­ne­tisch ab­ge­gli­chen. Der Ge­richts­medi­zi­ner ver­mu­tete eine In­fek­tion, die von der Augen­höhle ins Ge­hirn ge­langt war. Die Art, wie das Auge ent­fernt wor­den war, deu­tete da­ge­gen eher auf Gewal­tein­wir­kung hin.

Allerdings schien Roberts Vor­gehen gar nicht er­laubt zu sein. Er lud die überleben­den Frau­en ohne Ge­dächt­nis der Reihe nach in den Ver­hör­raum – und jag­te den Rest des Kom­mis­sariats in die Mit­tags­pau­se, damit es kei­ne Zeu­gen für seine Ver­höre gab.

„Gönnt euch mal ein gutes Es­sen auf meine Kos­ten. Wir haben in den letz­ten Ta­gen vergeblich Da­ten ge­sam­melt wie Kö­ter, die an jedem La­ter­nen­pfahl schnüf­feln. Und was ist da­bei her­aus­ge­kom­men?“

Es gab zwar Videoaufnah­men von den Ver­hören der Frau­en. Doch die Fil­me wur­den un­ter Ver­schluss ge­hal­ten und Ro­bert be­hielt sei­ne Ge­heim­nisse für sich, falls es wel­che gab. Nur bei ihr woll­te er eine Aus­nah­me ma­chen.

„Aber du sagst nie­man­dem et­was da­von, Ca­ro­lin?“

„Und warum erzählst du es ausge­rech­net mir?“

„Weil ich mit ­jeman­dem dar­ü­ber re­den muss.“

„Was passiert denn, wenn man von dei­nen – na ja, Ver­hör­me­tho­den er­fährt?“

„Es könnte mich in Schwie­rig­kei­ten brin­gen.“

Robert zündete sich eine Ziga­rette an. Er inha­lierte tief den Rauch und blies ihn ge­dan­ken­verlo­ren zur De­cke.

„Großer Gott …“

„Sag nicht dauernd ‚großer Gott’, Ca­ro­lin. Sag zwi­schen­durch ein­fach mal ‚lie­ber Him­mel’ …“

„Hast du nicht kürzlich mit dem Rau­chen auf­ge­hört?“

„Diese Frauen reden nur, wenn man sie un­ter Druck setzt. Es ist, als sei­en sie blo­ckiert – ir­gend­wie um­pro­gram­miert.“

Robert schob seine Kaffeetasse bei­seite und ging hin­über zum Schrank.

Das un­tere Fach war abge­schlos­sen und er zog einen Schlüs­sel­bund aus der Ho­senta­sche. Hin­ter der Schrank­tür be­fand sich – wie Caro­lin jetzt erst ent­deck­te – ein Schließ­fach.

„Schau dir das mal an“, sagte er und legte ein Vi­deo in das Ab­spiel­gerät auf der An­richte.

„Was denn, du hast Beweis­mate­rial aus dem Büro mit­ge­nom­men? Ist das denn ge­stat­tet?“

Robert gab keine Antwort. Er drückte die Taste und drehte am Laut­stär­ke­reg­ler. Dann wand­te er sich lä­chelnd nach ihr um … und so wur­de sie seine ein­zi­ge Ver­trau­te bei den Er­mitt­lun­gen.

3

Vier Frauen

„Wir haben inzwischen alle Opfer iden­ti­fi­zie­rt“, sag­te Ro­bert. „Das vierte erst dank deiner Hil­fe.

Die Frau mit den blauen Flecken am Kör­per, die ge­ra­de ver­stor­ben ist, war Non­ne in ei­nem Klos­ter bei Köln und nur zu Be­such in der Stadt. Ihr Name ist Eli­sa­beth Her­schel. Im Or­den wurde sie Beta ge­nannt. Es gibt kei­nen Hin­weis auf einen Lieb­ha­ber – was ja auch bei je­man­dem, der sein Le­ben Gott ge­weiht hat, eher nicht zu er­war­ten ist …

Manuela Winters, deine Kom­mi­lito­nin, dürf­te das erste der vier Op­fer ge­wesen sein, denn seit­dem sie ver­schwun­den ist, hat sie nach Aus­kunft von Stu­dien­kol­le­gen außer­or­dent­lich stark ab­ge­nom­men. So et­was wä­re nicht in ei­ner Wo­che mög­lich ge­we­sen. Sie ist das Opfer, das an­dau­ernd ob­szöne Sätze wie­der­holt, so­bald sie mit sich allein ist. Zwang­haft, wohl eine Art Tick.

Das dritte Op­fer ist eine Bür­ger- und Frau­en­recht­lerin na­mens Eri­ka Haard – du musst dir all die Na­men übri­gens nicht mer­ken, Ca­ro­lin, ich er­wähne sie nur der Voll­stän­dig­keit hal­ber. Sie hat ge­le­gent­lich in den Me­dien mit un­kon­ven­tio­nellen Äu­ße­run­gen über Men­schen­rechte Auf­merk­sam­keit er­regt.

Die vierte Frau ist, wie wir durch Hin­weise dank des Fotos in der Pres­se wis­sen, ein be­kann­tes Man­nequin na­mens Va­nes­sa Roth. Sie hat mit füh­ren­den Mo­de­schöp­fern zu­sam­men­ge­ar­bei­tet.“

„Ist Vanessa Roth die Frau, der man den Kopf ge­scho­ren hat?“

„Und nicht nur den Kopf“, sagte er. „Einer at­trakti­ven und auf ihr Äuße­res be­dach­ten Frau wie ihr muss das be­son­ders weh­getan ha­ben.“

„Gibt es denn Zeichen für sexu­el­len Miss­brauch?“

„Nein, bislang haben wir dafür keine Hin­wei­se ge­fun­den.“

„Nonne, Studentin, Bürger­recht­le­rin und Man­ne­quin – schon merk­würdig, oder?“, fragte Caro­lin.

„Ja, es könnten zufällige Op­fer ge­we­sen sein, die nichts mit­einan­der ver­bin­det.“

„Außer dass es junge, gut aus­se­hen­de Frau­en sind?“

„Falls es sich immer um den­sel­ben Tä­ter han­delt – was ich we­gen ihres Ge­dächt­nis­ver­lustes ver­mute –, schei­den Frau­en in al­ler Re­gel aus. Es sei denn, als Mit­tä­terin­nen, die ih­rem Part­ner ver­fal­len sind.“

„Oder wesensverwandt?“

„Schau dir mal an, wie viel Zeit sie brau­chen, um auf Fra­gen zu ant­wor­ten“, sag­te Ro­bert. Er spulte den Film zu­rück, bis die Frau mit dem kah­len Kopf er­schien.

Va­nessa Roth trug ein ab­ge­trage­nes grau­es Kleid, vom Glanz eines Man­ne­quins war nicht mehr viel üb­rig. Um ihre Au­gen lag ein fah­ler Schat­ten und ihr Blick war selt­sam leer und un­stet. Sie schien Robert gar nicht wahr­zu­neh­men, ob­wohl er vor ihr stand.

„Ich habe dich etwas ge­fragt“, sagte er und griff blitz­schnell und un­er­war­tet nach ihrem Hals …

Sein Griff musste schmerz­haft sein, denn sie ver­zog das Ge­sicht.

Großer Gott, dachte Caro­lin ent­setzt.

„Wie ist dein Vor­name?“

„Ich … weiß nicht …“

„Vielleicht Vanes­sa?“

„Ja, Vanessa.“

„Und weiter?“

Sie schüttelte hilflos den Kopf.

„Wie oft hab ich dir schon ge­sagt, dass du Va­nes­sa Roth heißt? Du warst mal ein be­rühm­tes Man­ne­quin. Er­in­nerst du dich wie­der daran?“

„Ja.“

„Und wenn ich dich das in einer Stun­de noch ein­mal fra­ge? Wie lau­tet dann dein Na­me? Va­nes­sa Roth, oder?“

„Ja, ich …“

„Wo befandest du dich, bevor du dein Ge­dächt­nis ver­lo­ren hast? War je­mand bei dir? Viel­leicht ein Mann?“

„Ein Mann?“

„Ja, ein Mann, oder zwei oder meh­rere Män­ner. Wie sahen sie aus? Groß oder klein, alt oder jung?“

„Ich erinnere mich an kei­nen Mann …“

„Und wo genau ist das alles pas­siert? Viel­leicht in einem Haus? Falls ja, be­schreib mir, wie die Räume aus­sahen. Und ver­such dich an die Ad­res­se zu erin­nern.“

Vanessa schüttelte hilflos den Kopf. Dann brach sie unver­mit­telt in Trä­nen aus …

„Kein Problem, alles in Ord­nung“, sagte er und griff beru­hi­gend nach ih­rem Ober­arm. „Wir klä­ren schon noch, wer dich so zu­ge­rich­tet hat. Da­für sind wir da.“

Dabei blickte er kurz in die Ka­mera und schüt­telte un­merk­lich den Kopf.

Als Va­nessa sich abwenden wollte, drehte er sie blitz­schnell und uner­war­tet mit einer gro­ben Hand­bewe­gung in seine Rich­tung. „Und jetzt sag mir auf der Stel­le, wer der ver­damm­te Kerl war …“

„Geht das nicht zu weit?“, pro­tes­tierte Caro­lin. „Bitte schalte den Film ab, ich kann mir das nicht län­ger an­se­hen …“

Robert drückte achselzu­ckend ein paar Tas­ten und rief ein an­deres Vi­deo auf.

„So ging’s mir mit allen drei Frauen. Kei­n Fort­schritt, keine Indi­zien, keine Hin­weise. Wir fin­den nichts, das auf den Täter hin­weist. Wo­mög­lich gibt es gar kei­nen Täter und es kur­siert ge­rade nur so etwas wie ein Le­bens­mittel­virus in der Stadt, der ein paar Frauen­hirne durchein­an­der ge­bracht hat?“

„Unsinn …“, sagte Carolin.

„Also hab ich einen zwei­ten Ver­such ge­star­tet und sie alle drei al­lein in einem Raum zu­sam­men­ge­bracht, ohne Zeu­gen. Schau dir die Auf­nah­me mal ge­nau an …“

„Allein? Wozu denn allein?“, fragte Caro­lin.

„Wäre doch möglich gewe­sen, dass sie sich un­ter­ein­ander aus­tau­schen, wenn sie nicht ver­hört wer­den.“

„Du meinst, sie verheimli­chen dir et­was?“

„Unser Job ist es schließ­lich, allen denk­ba­ren Ver­mu­tun­gen nach­zuge­hen.“

„Ja, richtig, deine sogenannte Mög­lich­kei­ten­ana­lyse aus der Wis­sen­schafts­the­o­rie. Aber ob das auch beim Men­schen mit sei­nen un­end­lich vie­len Mo­tiva­tio­nen funk­tio­niert? Wenn das mal keine Illu­sion ist.“

Als erste betrat Carolins Kom­mi­li­tonin Ma­nuela Win­ters den Ver­hör­raum. Ro­bert ge­lei­tete sie an den Tisch und bat sie, sich zu set­zen. Er stellte ihr ein Glas Was­ser hin und bot ihr eine Zi­ga­rette an. Aber sie schien gar nicht wahr­zuneh­men, was er von ihr wollte.

Manuela sah erschreckend ab­ge­ma­gert aus. Ihre Be­we­gun­gen wa­ren fah­rig und ihr Blick wirkte ge­nauso leer wie der Va­nes­sas.

Die eine Hälfte ihres wei­ßen Kra­gens war abge­ris­sen und an ihrer rechten Schläfe be­fand sich ein blauer Fleck, der ge­rade alle Far­ben des Re­genbo­gens an­nahm.

Gro­ßer Gott!, dach­te Ca­rolin … oder lie­ber Him­mel. Er wird sie doch nicht beim Ver­hör ge­schla­gen ha­ben?

„Ich lasse sie erst mal eine halbe Stunde war­ten, um sie mür­be zu klop­fen, ehe die nächste in den Ver­hör­raum kommt“, erläu­terte Ro­bert. „Viel­leicht fan­gen sie ja ein­fach aus purer Lan­ge­weile an, mit­ein­ander zu plau­dern. Die Pau­sen ha­be ich natür­lich he­raus­ge­schnit­ten …

Nein, der blau­e Fleck an Ma­nu­ela Win­ters Schlä­fe stammt nicht von mir, falls du das denkst?“, fügte er grin­send hin­zu. „Den hatte sie schon, als sie un­ten am Fluss­ auf­ge­grif­fen wurde. Steht alles im Pro­tokoll des Be­am­ten, der sie beim mor­gend­li­chen Lauf­trai­ning ent­deckt hat.“

Als die Bür­ger­rechtle­rin Eri­ka Haard an die Reihe kam, er­innerte sich Ca­ro­lin, sie schon ein­mal in einer Fern­seh­dis­kus­sion ge­se­hen zu ha­ben.

Der Moderator zi­tierte damals Charles Bu­kowski, wohl um sie zu pro­vozie­ren:

„Femi­nis­mus exis­tiert doch nur, um häss­liche Frau­en in die Ge­sell­schaft zu in­te­grie­ren.“

Worauf sie ant­wor­tete: „Kluge Frauen wider­spre­chen häss­li­chen Män­nern nicht.“

Auffallend war, dass die bei­den Frauen kein Wort mit­einan­der spra­chen. Erika Haard nickte nur kurz, als sie den Raum betrat, blickte sich su­chend um und setzte sich dann an das ge­gen­über­lie­gende Ende des Tischs.

„Wieso sprechen die bei­den nicht mit­einan­der?“, fragte Caro­lin.

„Weil sie sich nicht kennen.“

„Aber Erika Haard weiß inzwi­schen, wer sie ist?“

„Wir haben es ihr gesagt, nach­dem sie durch Fo­tos iden­tifiziert wer­den konnte.“

„Hat sie denn jemanden, der sich um sie küm­mert?“

„Nein, sie lebt allein. Ihre Freun­din – es war wohl eine lesbi­sche Be­zie­hung – hat sie ver­las­sen. Dann ein Se­cond­hand-Shop in Pa­ris – viel­leicht als Flucht. Ge­schei­terte Be­zie­hung zu ei­nem Far­bi­gen. Alko­hol­pro­bleme. Spä­ter hat sie wie­der die Kur­ve ge­kriegt. Und dann zu­letzt diese üble Ge­schichte mit ihrem Ge­dächt­nis­ver­lust. Ohne frem­de Hilfe wäre sie mo­men­tan kaum le­bens­fä­hig.“

„Wie schrecklich …“

„Den anderen geht es auch nicht bes­ser.“

„Jetzt beugt sie sich vor und flüs­tert Ma­nuela et­was zu“, sagte Ca­ro­lin. „Aber es ist nicht zu ver­ste­hen …“

„Wir haben die Tonauf­nahme im La­bor ver­stärkt. Sie sagt nur: Scheiße, ich hab meine Ziga­retten ver­ges­sen …“

„Na, wenigstens daran kann sie sich noch erin­nern.“

„Mich wun­dert, wieso man wei­ter ganz nor­mal re­det, wenn man sein Ge­dächt­nis verlo­ren hat“, sag­te Ro­bert.

„Amnesie bedeutet nicht schon Sprach­ver­lust. Meis­t bleibt die Sprach­fä­hig­keit erhal­ten. An­dern­falls sind oft das Broca-Areal oder das Wer­nicke-Zent­rum im Ge­hirn be­schä­digt.“

„Erklärt das auch, wie­so die­ Frau­en ihr Ge­dächt­nis ver­lo­ren ha­ben?“

„Nein, wohl eher nicht. Aber ich könnte Pro­fes­sor Hol­lan­do da­nach fra­gen.“

„Hab mich mal kun­dig ge­macht. Der Mann war ja frü­her ein ziem­lich ange­sehe­ner Kri­mina­list, be­vor er ins Fach Hirn­for­schung wech­selte?“

„Ach, davon wusste ich nichts?“

„Versuch ihn doch mal zu über­re­den, uns in der Sa­che zu hel­fen.“

„Du meinst, als Profi­ler?“

„Wir nennen das ope­ra­tive Fall­ana­lyti­ker“, sagte Ro­bert. „Da­bei geht’s weni­ger um psy­cholo­gi­sche Täter­pro­file, son­dern was man aus den Fakten fol­gert. Non­ne, Stu­den­tin, Bür­ger­recht­lerin und Man­ne­quin – nach wel­chen Krite­rien hat er sei­ne Op­fer aus­ge­wählt? Und was be­deu­tet das her­aus­ope­rierte Auge über dem Al­tar?“

„Ich kann ihn ja mal fra­gen“, sagte Ca­ro­lin. „Aber ver­sprich dir nicht zu viel da­von.“

Als Va­nes­sa Roth den Raum betrat, blick­ten Erika und Ma­nuela nur kurz auf. Die drei Frau­en schie­nen sich nicht zu ken­nen. Va­nessa Roth trug im­mer noch das­selbe ab­ge­tra­ge­ne grau­e Kleid. Sie zog den Rock über den Knien zu­recht und fragte:

„Was will man von uns?“

„Keine Ahnung“, sagte Manu­ela. „Die­ser Kerl stellt mir dau­ernd Fra­gen, die ich nicht beant­wor­ten kann.“

„Geht mir genauso“, sagte Eri­ka Haard. „Er will wis­sen, wo ich wohne und ob ich mich an Paris erin­nere. Er fragt mich, mit wie vielen Niggern ich dort geschlafen habe.“

Carolin starrte ihren Bruder un­gläu­big an. „Um Got­tes wil­len, geht das nicht zu weit?“

Robert stoppte den Film und hob besch­wich­ti­gend die Hände.

„Das gehört zum Job, Caro­lin. Wir ha­ben beim Ver­hör­trai­ning ge­lernt, mög­lichst emo­tiona­le Fra­gen zu stel­len, um eben­so emo­tio­nale Ant­wor­ten zu pro­vo­zie­ren. Starke Ge­fühle wie Em­pö­rung könn­ten hel­fen, alte Er­inne­run­gen zu re­ak­tivie­ren.“

4

Vorlesung

Die erste Seminarstunde nach Hol­lan­dos Rück­kehr war ent­täu­schend. In der Menge der Stu­den­ten schien er Ca­rolin gar nicht wahr­zu­neh­men …