Einer flieht vor gestern nacht - Hansjörg Martin - E-Book

Einer flieht vor gestern nacht E-Book

Hansjörg Martin

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Beschreibung

Die Frau im Bett neben ihm ist nackt. Das ist das erste, was Moritz Maier feststellt – das, und daß er einen fürchterlichen Kater hat ... Wie bin ich bloß hierher geraten? denkt er. Er sieht sich in dem fremden Zimmer um, betrachtet die Frau. Die Frau ist nicht nur nackt. Sie ist auch schön. Richtig ... Er wollte noch einen Brief zur Post bringen; ein wildfremdes Mädchen hat ihn auf der Straße angesprochen – es gehe um eine Wette; sie habe gewettet, daß sie den fehlenden Herrn für die Party auftreiben werde. Er solle kein Spielverderber sein ... Er war kein Spielverderber gewesen. Er war mit dem wildfremden Mädchen und einigen anderen wildfremden Leuten in eine wildfremde Wohnung gegangen, in die Wohnung der nackten Frau neben ihm ... Er betrachtet sie wieder. Sie liegt sehr still. Sie liegt zu still. Dann entdeckt er das Messer, das vor seinem Bett liegt. Das Messer ist blutig. Die schöne nackte Frau ist tot. Maier springt aus dem Bett, durchsucht die Wohnung: Sie ist leer. Alle Spuren der Party sind beseitigt ... Wie ging das überhaupt weiter mit der Party? Wieso kann ich mich an nichts, an rein gar nichts erinnern? Wer hat die Frau ... Maiers Gedanken jagen sich: Habe ich die Frau ...? Fassungslos starrt er aus dem Fenster. Da fährt unten ein Polizeiauto vor.

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Hansjörg Martin

Einer flieht vor gestern nacht

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Die Frau im Bett neben ihm ist nackt.

Das ist das erste, was Moritz Maier feststellt – das, und daß er einen fürchterlichen Kater hat ... Wie bin ich bloß hierher geraten? denkt er. Er sieht sich in dem fremden Zimmer um, betrachtet die Frau.

Die Frau ist nicht nur nackt. Sie ist auch schön.

Richtig ... Er wollte noch einen Brief zur Post bringen; ein wildfremdes Mädchen hat ihn auf der Straße angesprochen – es gehe um eine Wette; sie habe gewettet, daß sie den fehlenden Herrn für die Party auftreiben werde. Er solle kein Spielverderber sein ... Er war kein Spielverderber gewesen. Er war mit dem wildfremden Mädchen und einigen anderen wildfremden Leuten in eine wildfremde Wohnung gegangen, in die Wohnung der nackten Frau neben ihm ... Er betrachtet sie wieder. Sie liegt sehr still. Sie liegt zu still. Dann entdeckt er das Messer, das vor seinem Bett liegt. Das Messer ist blutig.

Die schöne nackte Frau ist tot.

Maier springt aus dem Bett, durchsucht die Wohnung: Sie ist leer. Alle Spuren der Party sind beseitigt ... Wie ging das überhaupt weiter mit der Party? Wieso kann ich mich an nichts, an rein gar nichts erinnern? Wer hat die Frau ... Maiers Gedanken jagen sich: Habe ich die Frau ...? Fassungslos starrt er aus dem Fenster.

Da fährt unten ein Polizeiauto vor.

Über Hansjörg Martin

Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.

Inhaltsübersicht

Die Hauptpersonen„Hallo, Sie!“ rief ...

Die Hauptpersonen

MORITZ MAIER (mit ai)

gerät an ein schönes Mädchen, auf eine fremde Party und in Teufels Küche.

 

 

BRIGITTE (BIGGY) ROKOSZNY

hat keine Ahnung, was gespielt wird. Aber sie macht mit.

 

 

KARL HEMLING

hingegen weiß, worum es geht: um Kopf und Kragen. Für ihn jedenfalls.

 

 

ZIZIE

ist hellblond und vermutlich zu dumm, um Gewissensbisse zu haben.

 

 

JONNY KRAMER

schläft gern lang, und nun wird er nie wieder aufwachen.

 

 

FEE

will kein Spielverderber sein und stirbt daran.

 

 

LOTTE WOLFF

ist einmal reingefallen, und das reicht ihr.

 

 

ANTON KRASKE

fürchtet für seine Karriere und wird vorsichtshalber zum Spielverderber.

 

 

RUSCHEWEY

schreibt Pornographie und ist schon deswegen nicht scharf auf die Polizei.

 

 

JOHANNES HEMLING

muß lernen, daß es Dinge gibt, die man auch mit Geld nicht ungeschehen machen kann.

 

 

KRIM. OB. INSP. KREUZER

ein Beamter.

 

 

KOMMISSAR KLEMENS

ein Beamter, der gelegentlich mit Bleistiften spielt.

„Hallo, Sie!“ rief das Mädchen.

Maier blieb stehen. Er blieb verdutzt und ungläubig stehen und sah sich um, ob vielleicht ein andrer gemeint sei … Aber es war kein andrer da. Nur eine alte Frau mit einer riesigen, rissigen Ledertasche humpelte durch die trübe Bahnhofshalle.

„Meinen Sie mich?“ fragte Maier.

Das Mädchen kam näher und sah ihn aus großen, dunklen Augen an, ohne zu lächeln, ohne irgendeinen Ausdruck im Gesicht – wie ein Analphabet ein Buch ansieht … Ja, genauso.

Das Mädchen nickte. „Ja. Sie.“

Das war so, daß Maier sich in den Arm kniff, urn zu kontrollieren, ob er wach sei. Das war so, wie man es sich tausendmal wünscht, ohne zu hoffen, daß es jemals in Erfüllung geht. Das war so unwahrscheinlich – denn dieses Mädchen war keine Nutte; bestimmt nicht.

Aber vielleicht ging es auch nur um Feuer für eine Zigarette, oder um: ‚Wissen Sie bitte, wo die Leibnizstraße ist?‘ oder so etwas.

Leibnizstraße wäre schon wunderbar. Da könnte man dem Mädchen anbieten, es hinzufahren … und dann … Denn es war ein sehr hübsches Mädchen. Sehr hübsch. Kleiner als Maier, ein ganzes Stück kleiner, zierlich, dunkelblond, mit braunen Augen.

„Entschuldigen Sie!“ sagte das Mädchen, stand nun vor Maier, einen halben Meter vor ihm, wehte ihm einen Hauch kühles, schweres, süßes, aufregendes Parfum zu und lächelte jetzt und wischte sich mit einer schmalen, bräunlichen rechten Hand, an der kein Ring oder Armband war, eine vorwitzige Haarsträhne aus der Stirn. „Entschuldigen Sie – ich weiß, daß es ganz ungewöhnlich ist … aber Sie sehen nicht aus wie ein Spießer!“

Maier merkte, daß er rot wurde. Er griff zur Krawatte, wich dem Blick des Mädchens aus, der nichts mehr vom Blick eines Analphabeten auf ein Buch hatte, ganz im Gegenteil – und stotterte: „Sehr … sehr liebenswürdig …“ Dann hatte er sich wieder in der Gewalt. „Was kann ich für Sie tun?“

Die Antwort des Mädchens wurde vom Donnern eines Güterzuges verschluckt, der durch die Halle fuhr. Der Zug nahm kein Ende. Kühlwaggons, Waggons, die in zwei Etagen mit neuen Autos beladen waren, Waggons mit großen grauen Flüssigkeitsbehältern, drei … vier … fünf Viehwaggons … Von der Decke der Halle senkte sich wie Nebel der Dampf der Lokomotive auf Maier, das Mädchen und die alte Frau, die ihre Tasche vor einem Automaten abgesetzt hatte und daran herumfingerte.

Es war halb zwölf.

Das Mädchen faßte Maiers Arm und wies mit einer Kopfbewegung zum Ausgang. Maier merkte, daß er den Brief noch in der Hand hatte, wegen dem er hergefahren war.

„Augenblick!“ schrie er – vier Waggons mit Schrott dröhnten klirrend und scheppernd vorüber –, lief die zwanzig Schritte zum Nachtbriefkasten und warf den Brief ein. Der Güterzug war vorüber. Einen Moment meinte Maier die plötzliche Stille fast körperlich zu spüren, wie eine dicke Wolldecke. Er machte kehrt und ging zurück.

 

„Na, wie ist das?“ fragte das Mädchen, dem nicht klargeworden war, daß Maier die Antwort nicht verstanden hatte. „Kommen Sie mit?“

„Verzeihung“, sagte Maier, „ich konnte bei dem Krach nicht verstehen, was …“

„Ach so“, sagte das Mädchen mit einem Anflug von Ungeduld, warf einen Blick zum Ausgang der Halle und trat dann – wieder lächelnd – noch einen Schritt näher an Maier heran, so daß er nun richtig eingehüllt war von ihrem Parfum, eingehüllt wie ein Fisch in die Arme eines Kraken.

„Ja, also … Wir sind fünf, ja? Wir waren im Theater und wollen noch ein bißchen feiern. In der Wohnung einer Freundin, gleich hier, fünf Minuten, am Röhrs Park, und …“ Das Mädchen wurde unsicher, brach ab, biß sich verlegen auf die Lippen, holte aber schließlich tief Luft und fuhr fort: „… und … Ja, wissen Sie … Wir haben gewettet, ob ich jemand finde, jemand Nettes, der mitmacht. Damit nicht immer eine ohne Partner ist und rumsitzt beim Tanzen und so … Verstehn Sie?“

Maier zwinkerte. Ihm fiel ein, wie er manchmal abends allein aus dem Kino oder aus einer tristen Kneipe oder sonstwoher spät unterwegs gewesen war und wie er sich dann ausgemalt hatte, daß eine Frau käme oder ein Mädchen und ihn aufforderte mitzukommen … nur so, nicht für Geld … aus Langerweile, oder aus Einsamkeit oder aus Sehnsucht, oder aus Hunger nach ein bißchen Liebe. Das waren immer ganz absurde Ideen gewesen, völlig unrealistisch in dieser blödsinnigen Gesellschaft, wo nur die Männer aktiv sein dürfen, wenn sie Sehnsucht haben oder einsam sind.

Eine Party? Nachts halb zwölf von einem fremden, hübschen Mädchen zu einer Party eingeladen werden?

Maier wischte die Assoziationen weg, die ihn anflogen. Blödes Zeitungsgequatsche … Sexorgien? Aber doch nicht in Hamburg-Othmarschen! Unsinn.

Er deutete eine Verbeugung an und sagte: „Ja. Aber warum nicht? Gern!“

„Prima!“ Das Mädchen gab ihm die Hand, eine zarte, warme, gut anzufassende Hand. „Ich heiße Brigitte – sagen Sie Biggy zu mir; so nennen mich alle.“

„Maier“, sagte Maier, „mit ai. Und wenn Sie dann auch bitte Moritz …“

„Okay“, lachte das Mädchen, „Moritz ist Klasse. Kommen Sie, Moritz – gehen wir!“

„Muß ich nicht irgendwas mitbringen?“ wollte Maier wissen. „Eine Flasche oder zwei oder wenigstens Zigaretten?“ Er sah sich suchend um. Die Kioske waren alle geschlossen, aber vielleicht hatte die Bahnhofswirtschaft noch auf.

„Nein“, sagte das Mädchen, „es ist alles da. Haben Sie einen Wagen?“

„Vor dem Bahnhof, neben der Bushaltestelle.“ Sie gingen nebeneinander her dem Ausgang zu.

„Fein“, sagte das Mädchen. „Ich fahre mit Ihnen. Da drüben sind die andern – dort in dem weißen Mercedes. Ich mache Sie nachher bekannt. Fahren wir hinter ihnen her, ja?“

Und sie winkte, ohne Maiers Antwort abzuwarten, über die Straße dem großen Auto zu, aus dessen Vorderfenster ein Männerarm mit breiter weißer Manschette zurückwinkte.

Maier lüftete unsicher den Hut vor der Manschette.

***

„Sie hat einen! Ich werd verrückt!“ sagte der Mann, drehte das Fenster, aus dem er gewinkt hatte, wieder hoch und zündete sich eine Zigarette an.

„Hast du daran gezweifelt?“ fragte der Schwarzhaarige, der neben ihm saß.

„Hoffentlich ist er richtig“, murmelte eine Frauenstimme im Hintergrund.

Der Mann am Lenkrad ließ den Motor an und schaltete die Scheinwerfer ein. Er wartete, bis im Rückspiegel ein VW auftauchte, die Straße querte, zweimal mit der Lichthupe Zeichen gab und langsam hinter den Mercedes rollte. Dann legte der Mann den Gang ein und fuhr vom Parkplatz auf die leere, hellerleuchtete nächtliche Straße. Ab und zu prüfte er im Rückspiegel, ob der VW ihnen noch folgte.

***

Als Maier erwachte, wußte er fünf, sechs Atemzüge lang nicht, wo er war.

Sein Kopf tat weh. Er hatte Mühe, die Augen zu öffnen. Erst das rechte … so. Es war verklebt und verschwollen. Nun das linke … Scheußlich. Er kniff die Augen wieder zu und öffnete sie von neuem, und noch mal, und noch mal … Jetzt sah er über die Wölbung des gestreiften Kopfkissens hinweg einen Stuhl, auf dem zerknautscht eine Jacke lag.

Der eine leere Ärmel hing auf den Fußboden. Dort, wo er den verrutschten Bettvorleger berührte, stand ein Schuh. Er kannte den Schuh. Es war sein Schuh. Neben dem Schuh ringelte sich seine Krawatte. Auf dem schmalen Ende der Krawatte lag ein umgekipptes Whiskyglas in einer eingetrockneten schwarzbraunen Lache. Am Rande der Lache lag ein Messer. Ein langes Messer mit einem Holzgriff und einer Sägeklinge, wie man es zum Brotschneiden gebraucht.

Maier fuhr sich mit der Hand über die Augen. Seine Handfläche fühlte sich rauh an. Er betrachtete sie. Eine bröcklige schwarze Kruste bedeckte die Finger. Die Kruste roch seltsam süßlich.

Maier hob den Kopf und sah sich verstört um. Er befand sich in einem Schlafzimmer, das mit hellen Möbeln ausgestattet war, Rüster oder so was. Ein breiter Schrank, dessen mittlere Tür einen großen Spiegel … In diesem Augenblick sah er im Spiegel, daß rechts neben ihm im Bett eine Frau lag.

Maier ließ den Kopf aufs Kissen sinken und schloß die Augen und befahl sich wach zu werden.

So ein irrer Traum!

In der Hoffnung, jetzt seine vertraute Waschkommode zu sehen und den gelben Spannteppich und die Pantoffeln vor dem Bett, öffnete er wieder die Augen – aber da war noch immer die zerknautschte Jacke, der Schuh, der Schlips, das umgekippte Glas und das Messer.

Mit einem Ruck setzte sich Maier auf. Sein Kopf dröhnte. Die Luft in diesem Zimmer war wie Sirup. Er warf noch einen Blick in den Spiegel. Da lag die Frau. Ihr schwarzes Haar sah aus wie Pudelfell – lauter kleine, kräuselige Locken. Sie drehte ihm den Rücken zu.

Maier ließ den Blick vom Spiegelbild auf das Original wandern. Die Bettdecke war der Frau von den Schultern gerutscht. Sie war nackt und schlief ganz fest. Keine Bewegung. Kein Geräusch. Nicht mal ein Atemzug war zu hören.

Der nackte Rücken war sehr hübsch. Er war von einem ebenso hübschen Hals und Nacken gekrönt und von einem runden, braunhäutigen Arm flankiert, der in einer feingliedrigen Hand mündete, die mit geöffneten Fingern auf der Bettdecke lag.

Maier sah das alles wie ein Traumwandler.

Zu jeder anderen Stunde hätte es ihn aufgeregt, angeregt, erregt – aber jetzt saß er in dem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, neben einer fremden Frau und versuchte sich zu erinnern.

***

Wie war das gewesen?

An die Bahnhofshalle erinnerte er sich genau. Er hatte den eiligen Brief an Schobes zum Nachtbriefkasten gebracht – jawohl … Und dann war das Mädchen gekommen. „Hallo, Sie!“ hatte das Mädchen gerufen. Das war der Anfang.

Er war mitgegangen, ja, richtig. Sie waren hinter dem weißen Mercedes hergefahren, der das komische Kennzeichen hatte: SE - X-69 – aber er hatte dem Mädchen gegenüber, das schweigend und rauchend neben ihm im Auto saß, sein Grinsen und eine Bemerkung über die Autonummer unterdrückt, natürlich … Er wußte ja nicht, wie das Mädchen so etwas aufnehmen würde.

Und schließlich, nach kurzer Fahrt durch die stille Stadt, hatten sie vor einem der hohen, hochherrschaftlichen Miethäuser aus der späten Gründerzeit gehalten, hatten die Wagen geparkt – der Mercedes stand unter einer dicken Kastanie: Maier fand Platz für seinen VW neben einer Telefonzelle, zehn, zwanzig Meter weiter – und hatten sich auf der nächtlichen Straße rundum die Hände geschüttelt und Namen genannt und Floskeln getauscht wie: „Sehr erfreut!“ – „Ganz meinerseits!“ – „Angenehm!“

Zwei junge Männer und ein weiteres Mädchen waren aus dem Mercedes gestiegen. Maier konnte sich auch an die Namen des einen Burschen erinnern und an den des zweiten Mädchens: Karl und Zizie. Das Mädchen Zizie hatte lange, weißblonde Haare, himmelblaue Augen und eine Stimme, die nach viel zu vielen Zigaretten und nach Mitternacht klang.

Es war übrigens genau Mitternacht gewesen, als die Händeschüttelei vor sich ging. Von einer Kirche, die nicht zu sehen war, hatte es zwölf geschlagen, während sie zu fünft auf die hohe, geschnitzte, schwere Tür des Gründerzeithauses zugingen.

Maier hatte seine Mitfahrerin gefragt, wo denn die dritte Dame sei, und die hatte mit dem Daumen nach oben gezeigt, zum zweiten oder dritten Stockwerk des Hauses:

„Sie ist schon vorgefahren, um den Korn kaltzustellen.“

Bis dahin erinnerte sich Maier gut. Sogar Einzelheiten fielen ihm wieder ein. Im Hausflur, der nach irgendwelchen Chemikalien roch, hatte der schwarzhaarige junge Mann, den sie Jonny nannten, „Pst!“ gemacht, und sie waren flüsternd an einer verblaßten Wandmalerei vorbei zum Fahrstuhl gegangen.

Der holzgetäfelte Kasten hatte sie knarrend in den 2. Stock gebracht. Maier erinnerte sich an einen prüfenden Blick des weißblonden Mädchens, den er im narbigen Spiegel des Fahrstuhls aufgefangen hatte. Er erinnerte sich an die Tür der Wohnung … Gelbliche Mattglasscheiben … ein dicker Abtreter … ein Porzellanklingelknopf, der ein Pingpangping-Geläute auslöste, als der Schwarzhaarige ihn drückte … Und er erinnerte sich an die Frau, die geöffnet hatte.

Sie war älter als die beiden Mädchen, vielleicht schon dreißig, sah gut – oder besser: interessant – aus, hatte schmale graue Augen, aus denen sie Maier neugierig angesehen hatte, und – ja, es war die Frau, die jetzt nackt neben ihm lag und schlief.

„Guten Morgen miteinander!“ hatte sie gesagt und dabei auf einen kleinen Mosaiktisch gezeigt, auf dem gefüllte Gläser standen.

Von da an war der Film gerissen.

Maier bemühte sich um eine zusammenhängende Rekonstruktion der Vorgänge, aber es tauchten nur verschwommene Bruchstücke auf: Er hatte getanzt. Die Frau, mit der er getanzt hatte, war sehr gut anzufassen gewesen. Sie trug ein seidenes Hosenkleid und offenbar nichts darunter. Von einer Wand des hohen großen Zimmers grinsten ein paar mexikanische Masken …

Er hatte sich, rauchend und trinkend – Wodka war das, kühler, starker Wodka – mit einem der Männer unterhalten, mit dem, der Karl gerufen wurde, und hatte sich ein bißchen ausgefragt gefühlt … Er hatte in einem Sessel gesessen, die weißblonde Zizie vor ihm auf dem Fußboden, so daß er von oben in ihre Bluse sehen konnte … Er hatte irgendwas gegessen – Käse, richtig; Käse und Oliven … und er hatte versucht, Biggy, das Mädchen aus der Bahnhofshalle, zu küssen, als sie mit ihm tanzte. Aber das war schiefgegangen, weil der schwarzhaarige Bursche seinen Arm zwischen sie beide geschoben hatte und „Laß das sein!“ gesagt hatte.

Darauf gab es irgendeine Streiterei und ein paar Worte, die Maier nicht verstand und die sich seltsamerweise in ein allgemeines, großes Gelächter auflösten.

Sonst nichts. Wirres Zeug. Wortfetzen. Gefühlsscherben. Erinnerungssplitter. Irgendein Kuß, irgendeine Frauenbrust in seiner Hand. Gläser, Musik, Zigarettenrauch …

Am liebsten hätte Maier weitergeschlafen. Wie spät mochte es sein? Es war schon hell draußen. Kurz vor sechs, zeigte die Armbanduhr.

Wenn nur sein Kopf nicht so schwer wäre!

Er schob die Daunendecke von den Beinen, stellte erstaunt fest, daß er die Hose anhatte – schlimm sah die aus –, und hob langsam und leise die Füße über die Bettkante.

Kaltes Wasser! dachte er; kaltes Wasser … Viel, viel kaltes Wasser! Dann wird mir besser werden. Ich muß das Badezimmer … Es wird ja wohl ein Badezimmer geben. Aber ich darf sie nicht wecken. Auch die andern nicht … Wo sind die eigentlich alle? Nebenan? Oder fort? Maier bückte sich im Sitzen, um seinen zweiten Schuh zu finden. Ihm wurde jedoch so schwindlig, daß er sich sofort wieder aufrichtete. Das Bett knarrte.

Er stand langsam auf und ging in Strümpfen zur Tür. Dabei mußte er um das breite Doppelbett herumgehen. Durch einen Vorhangspalt fiel das Tageslicht auf die Schlafende. Als Maier die Tür erreicht hatte, wandte er sich ihr zu, um sich zu vergewissern, daß sie schliefe.

Er erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Hand schwebte über der Türklinke, sein Oberkörper verharrte in der Drehung.

Die Frau sah ihn an. Sie sah ihn aus ihren grauen, schmalen Augen unverwandt an, ohne irgendeine Reaktion.

„Ich … Ich wollte, Pardon …“ sagte Maier heiser und ließ die Hand sinken. „Ich suche …“

Er vollendete seinen Satz nicht, weil er sah, daß die Augen der Frau unverändert starr geradeaus blickten, ohne zu zwinkern. Er schluckte. Ihm wurde … Nein, unbehaglich war zu wenig. Er konnte den Blick nicht von dem Gesicht der Frau wenden und flüsterte: „Hallo! So sagen Sie doch was! Sagen Sie doch irgendwas … bitte …!“

Nichts.

Draußen ratterte ein Motor. Von einer Kirche schlug es sechs. Maier nahm seinen Mut zusammen und ging näher. Noch bevor er das Bett erreicht hatte, wußte er, daß die Frau tot war.

Maier scheute sich, sie zu berühren. Er hätte ihr gern die Augen zugedrückt, denn dieser tote Blick machte ihn fast verrückt – aber er wagte es nicht.

Als er die Bettdecke ein wenig beiseite zog, sah er die Wunde. Es war ein zwei Zentimeter breiter Einstich, eine Handbreit über der linken Brustwarze. Ein dunkelrotes, glitzerndes Rinnsal sickerte aus der Wunde über den Leib der Frau. An den Rändern war das Rinnsal zu einer schwarzen und bröckeligen Kruste geronnen. Das Bettlaken schimmerte dunkel – und es roch irgendwie süßlich und so widerlich, daß Maier gegen aufsteigende Übelkeit ankämpfen mußte und schnell die Decke wieder über die Schulter der Toten schob. Dabei berührte er nun doch aus Versehen ihre Haut und fuhr zurück, weil sie sich wie Porzellan anfühlte … Nein, wie Fisch. Oder wie das Blatt eines Gummibaums. Oder nein – wie eine aufgeblasene Plastiktüte …

Maier sah seine Hand an, starrte drei – vier – fünf Sekunden lang auf die schwarze, bröckelige Kruste an seinen Fingern, und sein benebeltes, verkatertes, schwerfällig arbeitendes Gehirn glich einer Fernsprech-Selbstwählautomatik, es schien zu schnarren, zu klicken, zu rasseln … bis auf einmal die Verbindung hergestellt war. Und Maier, noch immer seine Hand vor Augen, spürte plötzlich sein Herz im Hals klopfen.

„Nein!“ sagte er laut und erschrak über den Klang seiner Stimme. Er hatte Angst, und die Angst wuchs.

Er rannte kopflos um das Bett herum, raffte sein Jackett vom Stuhle, sammelte seine Schuhe und seinen Schlips auf, nahm auch das blutbeschmierte Messer mit und lief zur Tür, ohne die tote Frau noch mal anzusehen. Raus! dachte er nur; raus hier … schnell raus … raus!

Die Tür quietschte.

Der Flur, in den Maier trat, war dunkel und roch nach Mottenpulver. Nur durch die Mattglasscheiben der Flurtür drang gelbes Licht. Schwer festzustellen, ob das Sonnenschein oder die Hausbeleuchtung war.

Es war nichts zu hören.

Von den fünf Türen, die am Flur lagen, waren drei halb offen. Maier legte Jackett und Schlips auf einen hochlehnigen Stuhl mit gedrechselten Beinen, stellte die Schuhe davor und schlich, das Messer in der Rechten, zur ersten Tür, drückte sie sachte auf und steckte den Kopf durch den breiten Spalt.

Er erkannte den Raum wieder, in dem sie heute nacht getanzt hatten – aber es war keine Spur der Party mehr zu sehen. Die Flaschen und Gläser, die überall herumgestanden hatten, waren verschwunden. Der große Aschenbecher aus Muranoglas stand leer und sauber auf dem viereckigen Marmor-Couchtisch, die Möbel waren an ihrem Platz, die dunkelblauen Samtvorhänge waren aufgezogen.

Durch die großen Fenster konnte Maier das grüngoldene Geflimmer einer Pappel sehen, die vor dem Hause in den Himmel ragte und von der frühen Sonne beschienen wurde.

Maier ließ die Tür offen und schlich zur nächsten, die ebenfalls nur angelehnt war. Er fand dahinter einen dunkeltapezierten Raum mit einem langen, weißgedeckten Tisch, auf dem eine große Blumenschale stand. Sonst waren nur zwei Gläser- und Geschirrvitrinen und acht steife Stühle in diesem Zimmer. An der Wand hing ein Bild von der Größe eines mittleren Schwimmbeckens, und es stellte auch ausschließlich Wasser dar, das sich unter einem zerrissenen Himmel in den hochseeüblichen Zuckungen erging. Das Bild war so naturgetreu gemalt, daß einem bei längerem Hinsehen die Augen vom Salzwasser brannten. Das Zimmer roch – wie schon das Party-Zimmer nebenan – frisch gebohnert, sauber, unbenutzt, ein klein wenig modrig – so wie die ‚guten Stuben‘ auf großen Bauernhöfen wochentags riechen, wenn sie verschlossen sind. Im nächsten Zimmer – auch hier war die Tür offen – standen rundum klobige Schränke an den Wänden; Koffer und Hutschachteln lagen darauf. Zwischen den Schränken stand ein Bügeltisch und auf einem Hocker ein leerer Wäschekorb. Das schmale, hohe Fenster war ganz und gar von verschiedenen Zierpflanzen umrankt. Eine davon trug handgroße rosa Blüten, und es roch heftig nach Anis, Vanille, Zimt und Kardamon im ganzen Raum.

Die Tür nebenan war geschlossen. Maier bückte sich und spähte durchs Schlüsselloch. Der Raum schien – soweit das festzustellen war – ganz leer zu sein.

Maier drückte die Klinke vorsichtig herunter. Mit einem kleinen Knacken öffnete sich die Tür und gab den Blick auf leere Wände frei. Lediglich links vom Fenster standen zwei ziemlich schäbige kleine Sessel und ein runder dreibeiniger Tisch, auf dem sich ein seltsames Gerät befand. Maier hielt es für eine Wasserpfeife und würde sich gewiß darüber gewundert haben, wenn er nicht im Augenblick andere Sorgen gehabt hätte.

Die fünfte Tür führte in eine weiß-blau gekachelte Küche, von der aus noch eine weitere schmale Tür in das große Badezimmer ging, das zugleich, durch einen Plastikvorhang getrennt, die Toilette beherbergte.

Maier ging zum Abwaschbecken, drehte den Kaltwasserhahn auf und warf das blutverkrustete Messer unter den zischenden Strahl. Dann schüttete er sich aus hohlen Händen Wasser über den Kopf und ins Gesicht und spürte, daß seine Benommenheit verging wie ein Frühnebel in der Sonne.

Er wusch sich gründlich die Hände, trocknete sich mit dem blaugrauen Handtuch, das neben dem Elektroherd hing, ab – und erst jetzt fiel ihm auf, wie sauber die Küche war: kein Stück schmutziges Geschirr, kein benutztes Glas, nichts Dreckiges außer dem Messer, von dem sich nun im Abwaschbecken unter dem Wasserstrahl wolkige rotbraune Schlieren lösten.

Maier reinigte das Messer und wischte es gründlich trocken. Er sah in den Mülleimer: nicht ein Zigarettenstummel. Er sah in den Wandschrank, in den Kühlschrank, in die Klappfächer über dem Spültisch … Alles war tadellos aufgeräumt; es gab kein einziges Anzeichen dafür, daß ein paar Stunden zuvor sechs Menschen in dieser Wohnung gefeiert hatten. Nur auf dem Küchentisch stand ein kleines Tablett mit einer halbvollen Whisky-Flasche und einem leeren Glas.

Maier war in Versuchung, sich – gleich aus der Flasche – einen Schluck zu genehmigen. Er streckte schon die Hand aus …

Da hörte er durch das offene Küchenfenster in der Ferne die Sirene eines Peterwagens.

***

„Hier“, sagte der Polizist: „Priebe … stimmt!“ Er drückte auf den Porzellanknopf. Pingpangping, machte die Klingel.

Es rührte sich nichts.

„Klingle noch mal!“ sagte der zweite Polizist.

Der erste drückte den Knopf dreimal hintereinander. Die Männer warteten.

Das Haus blieb still. Die Treppenhausbeleuchtung erlosch. Der zweite Polizist ging zum rotglimmenden Lichtschalter und schaltete sie wieder ein.

„Neee …“ sagte der erste. Und nach einer weiteren kleinen Pause fragte er: „Machen wir auf?“

„Klar!“ erwiderte der zweite und zog seine Pistole. Das Klicken des Sicherungshebels war bis oben zur Dachbodentür zu hören.

Der erste bückte sich zum Schlüsselloch und holte dann einen Bund Dietriche aus der Tasche.

„Steckt ein Schlüssel drin?“ fragte der zweite.

„Nein!“ sagte der mit den Dietrichen.

„Um so besser.“ Der zweite stellte sich seitlich in den Türrahmen, die Pistole in Hüfthöhe. „Stoß sie auf, wenn du das Schloß offen hast, und spring beiseite!“ Seine Stimme war jetzt leise und gespannt.

Der erste Polizist, ein mittelgroßer, dicklicher Mann, dessen dichtes hellrotes Haar unter der Dienstmütze hervorquoll, versuchte nacheinander mehrere Dietriche, ohne den Schnapper des Schlosses zu fassen zu kriegen. Er kam langsam ins Schwitzen, schob sich die Mütze ins Genick, so daß auf seiner schweißbeperlten, sommersprossigen Stirn ein tiefeingedrückter roter Streifen vom Mützenrand sichtbar wurde.

„Scheiße …“ murmelte er und steckte den fünften Dietrich ins Schlüsselloch.

„Soll ich mal?“ fragte der zweite, ein großer, schmaler, dunkler Mann mit einem Profil, bei dem man an Häuptling Fliegender Pfeil denken mußte. Seine Spannung war abgeflaut. Er hatte die Hand mit der Pistole sinken lassen und beugte sich zu dem ärgerlich fummelnden Kollegen.