Tod im Dutzend - Hansjörg Martin - E-Book

Tod im Dutzend E-Book

Hansjörg Martin

0,0
4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Tod ist sozusagen das, wovon Leo Klipp lebt – er ist Kommissar bei der Mordkommission. Und zwar im großen und ganzen ein erfolgreicher Kommissar: 6 Fälle löst er in diesem Kurzgeschichtenband. Sie beschäftigen ihn so, daß 6 weitere ohne ihn aufgeklärt werden müssen. Es sind nämlich 12 Stories. Ein rundes Dutzend.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 174

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



rowohlt repertoire macht Bücher wieder zugänglich, die bislang vergriffen waren.

 

Freuen Sie sich auf besondere Entdeckungen und das Wiedersehen mit Lieblingsbüchern. Rechtschreibung und Redaktionsstand dieses E-Books entsprechen einer früher lieferbaren Ausgabe.

 

Alle rowohlt repertoire Titel finden Sie auf www.rowohlt.de/repertoire

Hansjörg Martin

Tod im Dutzend

Kriminalstories

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Tod

ist sozusagen das, wovon Leo Klipp lebt – er ist Kommissar bei der Mordkommission. Und zwar

im

großen und ganzen ein erfolgreicher Kommissar: 6 Fälle löst er in diesem Kurzgeschichtenband. Sie beschäftigen ihn so, daß 6 weitere ohne ihn aufgeklärt werden müssen. Es sind nämlich 12 Stories. Ein rundes

Dutzend

Über Hansjörg Martin

Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.

Inhaltsübersicht

Der importierte TodDie HaarklemmeMan kann auch an Kabeljau sterbenDer Kommissar im CadillacRache mit ZeitzünderDer WitwenmacherEin Papagei weiß auch nicht allesPendelverkehrTödlicher TalismanDie bleierne Ente soll sterbenDie AusbrecherDie Tote mit dem Grübchen am Kinn

Der importierte Tod

Obschon es schlecht zum Berufsethos meiner Branche paßt, kann ich mich doch manchmal einer gewissen Bewunderung nicht erwehren, wenn Verbrechen so raffiniert geplant und ausgeführt werden, daß die gesamte, gut geölte Kriminalpolizeimaschinerie leer läuft oder gar ins Stocken gerät.

Da ist zum Beispiel der Fall Frommhold … An dem hab ich mir beinah die Zähne ausgebissen – und nicht nur ich allein. Er wäre vielleicht nie aufgeklärt worden, wenn nicht … Aber ich will Ihnen die Geschichte lieber von Anfang an erzählen.

Es war an einem Nachmittag Mitte August. Die Stadt stöhnte unter den Temperaturen eines ausgedehnten Azoren-Hochs. Die Gossen stanken seit Tagen, aber es kam und kam kein Regen. Der Asphalt war butterweich. Die Mädchen – das war das einzig Erfreuliche – hatten nur noch das Notwendigste an, und gar nichts drunter. Die Eisverkäufer und Bierverleger kamen nicht mehr nach mit dem Geldzählen. Es war unmenschlich zwischen den Häusermauern. Wer irgend konnte, fuhr an die See.

Ich konnte nicht.

Ich saß in meinem Büro (ohne Klima-Anlage) und nagte am harten Knochen eines Berichts über eine Wirtshausprügelei mit Todesfolge. Ich tippte die tausend Zeugenaussagen, von denen neunhundertneunundneunzig verschieden waren, und verfluchte zum aberhundertsten Male meinen Entschluß, zur Kripo zu gehen, statt Volksschullehrer zu werden.

Die hatten jetzt – wie meistens – Ferien.

Das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte nicht fluchen sollen. Die Strafe des Himmels folgte auf dem Fuße, das heißt per Telefon: Der Chef rief an, ich solle mal rüberkommen.

Es konnte sich kaum um eine Beförderung handeln – so schnell geht das nicht bei uns. Ich war erst vor vier Jahren (mit 87,50 DM Gehaltsaufbesserung) befördert worden. Also konnte es sich entweder um einen Auftrag handeln oder um einen Rüffel. Ein Rüffel wäre mir bei der Hitze lieber gewesen; Rüffel lassen einen nach neuneinhalb Dienstjahren kalt. Aber es war ein Auftrag:

„Fahren Sie gleich mal nach Hechtheim, Herr Klipp“, sagte der Chef. „Wissen Sie, wo das ist? In der Heide, Autobahnabfahrt Bergholz, vier Kilometer Richtung Obbelsen …“ fuhr er gleich fort, ohne meine Antwort abzuwarten. „Dort fragen Sie nach dem Dorfgendarm.“

„Was ist passiert?“ wollte ich wissen, denn man ist ja gern auf das eingestellt, was kommt. Die Vorfreude ist immer am schönsten.

„Eine Pilzsucherin hat einen Toten gefunden“, erwiderte er.

Daß sich die Leute nicht mit Pfifferlingen begnügen können! Hoffentlich war es wenigstens ein frischer Toter. Bei der Hitze …

Ich ließ die gebratene Luft aus dem Auto, den Motor an und alle Hoffnung auf einen Feierabend im Schwimmbad fahren und knatterte nach Hechtheim in der heißen Heide.

 

Ein dicker Beamter in einer schönen, warmen Uniform, rotgesichtig, bullrig, obrigkeitsgläubig – es war ihm nicht abzugewöhnen, ‚Herr Oberkommissar‘ zu blöken – und zu allem Überfluß mit dem Namen Nothdurft behaftet, wartete am Ortseingang im Schatten eines Apfelbaumes.

Er lotste mich, auf seinem Moped vorausfahrend, über Feldwege zum Wald. Sein umfangreiches Hinterteil wölbte sich wabernd über dem winzigen Sattel. Ich bestaunte die Tragkraft des spillerigen Fahrzeugs. Vielleicht war es eine Sonderanfertigung für Riesendamen, Ringkämpfer, Schwerathleten und Gendarmen.

Wir fuhren ungefähr zehn Minuten. Die abgeernteten Felder lagen in der Glut, als wären sie aus Pergament – so trocken, rissig, alt und leblos sahen sie aus. Der Wald war alles andere als der ‚schöne Wald, aufgebaut so hoch da droben‘, mit dem die deutschen Männerchöre es immerzu haben; es war ein grau-garstiger, staubiger, krüppeliger Heidekiefernwald mit vielen abgestorbenen Bäumen, die, braunschwarz und ineinander verfilzt, an angebranntes Sauerkraut erinnerten.

Am Rande dieses Waldes hielt Kollege Nothdurft an und stieg ab. Ich beschloß, ihn lieber mit ‚Herr Kollege‘ anzureden. Er winkte mir, ihm zu folgen.

Wir hatten nicht sehr weit zu gehen. Nach hundertzwanzig Schritten auf einem gewundenen Pfad zwischen den Krüppelkiefern, die weder Kühle noch Schatten spendeten, trafen wir an einer Art Lichtung auf den Waldhüter, der dort auf einem Baumstumpf hockte und Pfeife rauchte, wenige Meter von einem Schild entfernt, auf dem eine rote Flamme um die Worte Schützt den deutschen Wald! loderte.

Als ich ihm die Hand gab und meinen Namen nannte, sagte er „Blase!“, und ich dachte einen Augenblick lang, die beiden wollten mich auf die Schippe nehmen – Nothdurft und Blase … Das konnte doch wohl nicht wahr sein?

Aber Blase hieß tatsächlich Blase, wenn er auch eher wie eine verschrumpelte Preiselbeere aussah. Und er schien offenbar nicht einmal unter dem Namen zu leiden, denn er kicherte und grinste immerzu. Er blieb auch dann noch eine Frohnatur, als er mit dem Daumen nach links zeigte und sagte:

„Da liegt Frommhold!“

„Wer, bitte?“ fragte ich.

„Frommhold. Der Tote. Unser Volksschullehrer“, gab Blase zurück. Er strahlte.

Nun war mir vollends klar, daß dieser Auftrag eine Strafe der erzürnten Götter für mich darstellte, weil ich unter Fluchen gewünscht hatte, lieber ein Volksschullehrer als ein Kriminalbeamter zu sein.

Wenn man als Volksschullehrer so tot ist, nützen einem allerdings die längsten Ferien nichts mehr … Lehrer Frommhold – das war nun aber mal ein hübscher Name! – lag auf der Seite im Gras. Er sah aus, als schliefe er.

Ich sah ihn mir an. Allem Anschein nach war er noch nicht lange tot. Ich fand keine Spur irgendwelcher Gewaltanwendung, keine Schuß- oder Schlagverletzung, keine Stichwunde, kein Blut, keine Würgemale – nichts. Wenn ich Glück hatte, war es ein Hitz- oder Herzschlag, und es gab nichts zu tun außer der üblichen Meldung.

Aber ich hatte kein Glück.

Als ich ihn behutsam auf den Rücken drehte, entdeckte ich unter seinem Kopf etwas sehr Seltsames: Da lag auf dem Waldboden zwischen den gelb-braunen Grashalmen und Kiefernnadeln ein riesiges, schwarz-gelb gestreiftes Insekt – eine Superwespe. Sie war fast so lang wie mein kleiner Finger und sah noch im Tode äußerst bösartig aus.

„Schauen Sie sich mal das Vieh hier an!“ sagte ich zu Waldhüter Blase. „Sind bei Ihnen alle Wespen so groß?“

Blase trat näher, bückte sich, blinzelte, nahm die Pfeife aus dem Mund, stieß einen erstaunten Pfiff durch die Zähne, hob das Insekt mit seinen krummgearbeiteten Fingern auf und sagte: „Das is keine Wespe, Herr Kommissar; das is ’ne Hornisse … Aber ’ne besonders mächtige! Wir haben neulich gerade ’n Nest ausgeräuchert, drüben an den Fischteichen, da waren auch ’n paar so ’ne mächtigen dabei. Bei so trocknem Wetter gedeihen die wahrscheinlich gut. Na, wenn die ihn gestochen hat … Prost die Mahlzeit!“

Ich drehte den Kopf des Toten. Unter dem rechten Ohr trat eine walnußgroße Beule hervor, auf deren Mitte ein winziges Bluttröpfchen verkrustet war.

„Ja“, sagte ich, „sieht so aus … Sind Sie schon mal von so einem Biest gestochen worden, Herr Blase?“

„Nee“, sagte der Waldhüter, „Gott sei Dank nicht!“

„Kann so ein Stich denn tödlich sein?“

„Kommt auf die Stelle an … Ich weiß nicht.“ Kollege Nothdurft mischte sich ein: „In Hechtheim ist vor paar Jahren mal ein Pferd draufgegangen. Aber das waren mehrere Hornissen.“

„War es sofort tot?“ wollte ich wissen.

„Nein, erst nach ’ner Viertelstunde“, erwiderte er. „Das war wie tollwütig, das Tier.“

„Kennen Sie einen Menschen, dem es mal passiert ist?“ fragte ich weiter.

„Die Frau vom früheren Oberförster“, berichtete Blase grinsend, „die hat sogar mal zwei Hornissenstiche erwischt. Einen in den Arm und einen hier …“ Er zeigte auf sein Gesäß. „Also, die hat ganz hübsch getanzt! Hat mir der Alte damals selber erzählt.“

„Hm …“ Ich sah mir das Gras und den Waldboden an. „Der Herr Frommhold scheint nicht getanzt zu haben, wie?“

„Sieht nicht so aus“, bestätigte der Gendarm, der seine Dienstmütze abgenommen hatte und sich die Schweißperlen von der rotgeränderten Stirn wischte.

„Vielleicht hat er geschlafen?“ meinte Blase.

„Wann stechen Hornissen?“ fragte ich.

„Wie Wespen“, sagte er; „wenn sie sich angegriffen fühlen.“

„Komisch“, sagte ich, „wenn er geschlafen hat, wieso …?“

„Ja“, pflichtete mir der Kollege bei, „wirklich sehr komisch …“

„Fahren Sie ins Dorf, Herr Kollege“, ordnete ich an; „rufen Sie bitte die Zentrale an, lassen Sie sich Herrn Spannagel von der Abteilung IV geben …“

„Spannagel, Abteilung vier“, wiederholte er brav.

„… und sagen Sie einen schönen Gruß von mir; er soll einen Wagen schicken, jemand zur Spurensicherung und so weiter … Die wissen schon Bescheid, wenn Sie ihnen ausrichten, der Todesfall sähe komisch aus. Klar?“

„Jawoll, Herr Kommissar“, sagte er in strammer Haltung.

„Ich fahre inzwischen mal bißchen in der Gegend rum und versuche, mir ein Bild zu machen“, schloß ich. Dann wandte ich mich an den Waldhüter: „Und Sie, Herr Blase – Sie bleiben bitte noch die halbe Stunde hier, bis die Leute da sind, ja?“

Er nickte. „Flasche Bier wäre gut!“ sagte er.

„Ich schick Ihnen eine raus“, versprach ich.

„Oder zweie, wenn’s dauert …“ grinste er.

Ich mußte lachen. „Okay – dreie!“ sagte ich. „Decken Sie inzwischen ein paar Zweige über den Herrn Frommhold … die Fliegen!“

 

Am Waldrand stand der Gendarm noch. Er hatte vorhin vergessen, den Benzinhahn seines Mopeds abzudrehen. Jetzt kriegte er das Ding nicht in Gang. Er war völlig durcheinander, so peinlich war ihm die Panne. Ich half ihm. Wir schraubten zusammen die Zündkerze raus und machten sie trocken und sauber. Er erzählte mir dabei, daß der tote Frommhold älter gewesen war, als er aussah; daß er Junggeselle gewesen war: daß er gern einen hinter die Binde gegossen hatte und daß er – „so erzählen sich die Leute!“ meinte der Gendarm vorsichtig – der Weiblichkeit Hechtheims und aller umliegenden Ortschaften nicht gerade ablehnend gegenübergestanden hatte … Ganz interessant. Vielleicht war der Lehrer im Suff unter den Kiefern eingepennt … Aber warum sollte ihn dann die Hornisse …?

So, Nothdurfts Feuerstuhl knatterte wieder. Er bedankte sich überschwenglich und kutschierte davon.

 

Im Dorf, wo die Nachricht vom plötzlichen Tod des pädagogischen Don Juan bereits die Runde gemacht hatte und die Gemüter erregte, erfuhr ich nichts, was mir weitergeholfen hätte.

Die Pilzsucherin fand ich im Kreise wißbegieriger Weibsbilder. Sie saßen sensationslüstern um die alte Frau und ließen sich immer wieder erzählen, wie die Alte ahnungslos querfeldein gegangen war in der Hoffnung auf ein paar Rehpilze, Birkenpilze oder gar Steinpilze, obwohl bei der Trockenheit wenig Chancen bestanden, ja … und wie sie plötzlich auf den Toten gestoßen war. Zuerst, da habe sie gedacht, der schläft; vielleicht muß er wieder mal einen Rausch ausschlafen, oder so … Ja, und dann habe sie gerufen. Erst halblaut, dann immer lauter … Aber er habe sich nicht gerührt. Nein – anzufassen habe sie sich ihn nicht getraut. Ja … und dann sei ihr mit einemmal klargeworden, daß er ja am Ende tot sein könnte, ja … Und da sei sie fürchterlich erschrocken – so mit’m Toten ganz allein im Wald, nicht wahr – und sei auf und davon und in einer knappen halben Stunde ins Dorf zum Gendarmen gelaufen. Der wollte sie wieder mitnehmen – aber keine zehn Pferde hätten sie wieder dahin gekriegt, nee, nicht für hunderttausend Mark ginge sie noch mal in den verteufelten Wald, nee … Und so weiter.

Ich hörte mir das an, nachdem ich die erste Aufregung über mein Erscheinen hatte dämpfen können. Ein Kriminalbeamter … Oha! Also ein Verbrechen … Die Gemüter erhitzten sich.

Dann nahm ich die alte Frau beiseite und stellte ihr ein paar Fragen – aber ich hätte genausogut mit einem Sieb Wasser schöpfen können; das Ergebnis war gleich Null. Sie hatte nichts gesehen, nichts gehört, war niemandem begegnet und konnte nichts weiter sagen als immer wieder:

„… erst hab ich gedacht, er schläft, Herr Kommissar, so friedlich … Aber dann … Nee, angefaßt hab ich ihn wirklich nicht; bloß gerufen, ja … Und dann hab ich plötzlich gemerkt, der ist ja tot – so die Fliegen auf seinen Augen und Lippen, ja, ohne daß er gezuckt hat … Da bin ich gelaufen, Herr Kommissar, als ob einer hinter mir her wäre …“

Ich gab es auf. Keiner hatte Frommhold in den Wald gehen sehen, keiner wußte etwas über seine Feinde, die er gehabt haben könnte – jedenfalls sagte keiner etwas davon, obschon aus der Einsilbigkeit vieler Antworten, aus den verkniffenen Lippen und gesenkten Blicken der meisten Befragten deutlich wurde, daß der tote Lehrer nicht zu denen gehörte, an deren Grab echte Trauer herrscht.

 

Ich ging in die Dorfkneipe – Zum Deutschen Haus –, setzte mich unter einen Kernspruch in handgearbeiteter Brandmalerei – Pflücket die Rose, eh sie verblüht – und bestellte bei der offensichtlich nicht rechtzeitig gepflückten Wirtin ein Bier, trank es, kaufte noch drei Flaschen für den Waldhüter Blase, fand einen Jungen, der für fünfzig Pfennige damit hinaus in den Wald radelte, und ging dann zur Schule, um mich dort umzusehen.

Die Schule lag außerhalb Hechtheims auf halbem Wege zum nächsten Dorf an einem Hügel zwischen Wiesen und Feldern. Es war ein Neubau, großzügig und beinahe hübsch. Jetzt, in der Ferienzeit, wirkte er still und verlassen.

Nach einigem Suchen entdeckte ich die Wohnung des Hausmeisters, der zum Glück nicht, wie die meisten deutschen Angestellten und Beamten, auf Mallorca Urlaub machte, sondern zu Hause war. Ich bat ihn, von meinem Dienstausweis wirkungsvoll unterstützt, mir die Wohnung des Lehrers Frommhold ansehen zu dürfen.

„Die Lehrerwohnung?“ fragte der Mann. „Die vom Frommhold? Nicht die von Hiebel?“

Hiebel, erfuhr ich, war der zweite Lehrer, der hier wohnte. Aber er war nicht da. Er war mit seiner Frau ins Ausland gefahren – nein, nicht nach Mallorca; nach Dänemark.

„Richtig gut, daß die weg sind“, sagte der Hausmeister.

„Warum?“ fragte ich.

„Wenn Frommhold wirklich umgebracht worden ist, wie die Leute reden“, erklärte er, „dann wäre der Hiebel doch bestimmt gleich in Verdacht gekommen, so wie die miteinander gestanden haben in der letzten Zeit. Wie Hund und Katz, sag ich Ihnen! Wegen der Frau Hiebel … Aber na, das ist nicht meine Sache, Herr Kommissar … und die Hiebels sind ja auch gar nicht da, zum Glück.“

Ich hatte auch hier keinen Erfolg. Ich sah mir zwar auch die Wohnung des Lehrers Hiebel an – aber beide Wohnungen, die des Junggesellen und die des Ehepaares, waren ganz unergiebig, zumal ich sie ja auch nicht gründlich durchsuchen konnte ohne Haussuchungsbefehl. Ich hatte keine Ahnung, wonach ich hätte suchen sollen.

Auf den Gedanken, mir die Schule näher anzusehen, kam ich nicht. Es hätte mir weitergeholfen.

Unterdessen war es Abend geworden. Ich wollte noch einmal hinaus in den Wald, traf aber am Ortsausgang den Kollegen Nothdurft und erfuhr, daß Frommholds Leiche schon abgeholt worden war und die Kripo-Kollegen bereits den Heimweg angetreten hatten.

 

Am nächsten Nachmittag schlug das Wetter um. Nach einem Gewitter in der schönsten Ausführung, die Petrus so zu bieten hat, kühlte es ab. Eine dichte graue Wolkendecke sperrte die Sonne aus. Man konnte wieder atmen. Es hatte gerade ausgedonnert, als ich zum Chef gerufen wurde.

Er studierte eine Reihe Fotos und Berichte, die auf seinem Schreibtisch lagen, und forderte mich auf, Platz zu nehmen.

„Seit bald zwei Stunden hocke ich über dem Kram hier“, sagte er. „Aber die Geschichte wird eher komplizierter als klarer. Der Lehrer ist tatsächlich an dem Hornissenstich gestorben, sagt das Gerichtsmedizinische Institut. Das Biest hat die Halsschlagader getroffen, und das ist in neun von zehn Fällen tödlich. Aber außerdem hat der Mann unter Alkohol gestanden – und zwar erheblich … Seltsam ist auch, daß die Hornisse nicht am Leben geblieben ist. Hornissen sterben normalerweise nicht, nachdem sie gestochen haben. Aber diese war tot; sie ist gewaltsam getötet worden … Von wem? Frommhold hat sich, den Spuren nach, nicht gegen das Tier gewehrt. Das konnte er auch nicht, denn er war nicht nur betrunken, sondern auch noch mit einem Schlafmittel vollgepumpt bis an die Kiemen … Ja, und drittens meint die Spurensicherung, eine Schleifspur vom Waldrand durch die Kiefern entdeckt zu haben, die allerdings weitgehend – und zwar absichtlich, vorsätzlich, bewußt – verwischt worden sei …“ Er verstummte nach diesem langen kriminologischen Vortrag und saß da mit gefurchter Stirn.

Ich schwieg.

„Es war in jedem Falle richtig und gut, Herr Klipp“, sagte er dann und sah mich freundlich an, „daß Sie die Sache nicht einfach so abgetan haben.“

„Mord?“ fragte ich. „Sie glauben also auch …“

„Ich glaube, daß zweimal zwei vier ist“, unterbrach er mich knurrig, „sonst nichts … Aber wenn hier kein Verbrechen vorliegt, dann sattle ich um und werde Säuglingsschwester!“

 

Eins der wichtigsten und erfolgreichsten Hilfsmittel zur Aufklärung von Verbrechen sind die Socken der Kriminalbeamten. Ich machte mich also auf die Socken und klapperte, diesmal im Nieselregen, der die Heide auch nicht sehr viel sympathischer machte als die gestrige Affenhitze, am gleichen Abend noch ein zweites Mal das Dorf Hechtheim ab. Ich aß im Rahmen meines Spesensatzes unter dem gleichen Kernspruch wie gestern im Gasthaus Zum Deutschen Haus Abendbrot, trank mit dem Wirt zwei oder drei Klare, ohne daß mir die Sache dadurch klarer wurde, und redete anschließend mit Hinz und Kunz und Nothdurft und Blase, mit der Pilzfrau und dem Pastor, mit Schulkindern und schließlich auch mit dem Busfahrer, der die einzige Verkehrsverbindung zur Kreisstadt aufrechterhielt.

Und bei dem Busfahrer fand ich ein erstes dünnes Fädchen einer Spur. Das war noch kein Strick, um irgendwas dran aufzuhängen, geschweige denn irgend jemand. Aber es war ein Lichtblick, ein Anfang, eine Hoffnung.

Frommhold war mit dem Mittagsbus nach Bergholz gefahren. Er war an der Haltestelle außerhalb des Dorfes eingestiegen und außer einem städtisch aussehenden älteren Paar und zwei kichernden Backfischen – pardon: Teenagern – der einzige Fahrgast gewesen.

War dem Busfahrer irgend etwas an dem Lehrer aufgefallen?

Nee; der war wie immer.

Ich besorgte mir aus der Wohnung des Toten ein Foto, fuhr nach der Kreisstadt und lief bis nachts halb zwölf von Gasthaus zu Gasthaus, vom Bären über den Brückenwirt bis zum Hotel Zentrum – natürlich nicht in alphabetischer Reihenfolge, sondern von Straße zu Straße. Siebzehn Kneipen, Restaurants und Hotels waren es insgesamt, und ich hielt den Wirten, Wirtinnen, Kellnern, Kellnerinnen und sogar den beiden Bardamen des Städtchens das Foto vor die Nase – und fragte, fragte, fragte … Nichts!

Ein paar kannten ihn, jawohl; einige lächelten, als sie das Bild sahen und den Namen hörten – aber das Lächeln verging ihnen, sobald sie hörten, daß der zähe Zecher, der treffliche Trinker, eines mysteriösen Todes gestorben war. Keiner hatte ihn gestern gesehen. Mein Hoffnungsfädchen drohte bereits wieder zu reißen. Da ging ich noch in die Bahnhofswirtschaft, und dort – zwischen künstlichen Blattpflanzen, Rangiergeschepper und Rußgeruch – ja, sie fahren dort tatsächlich noch mit Dampfloks – kam ich endlich einen Schritt weiter.

Ein alter, müder Kellner mit einer Frisur wie ein Sardellenbrötchen hatte gestern am frühen Nachmittag Frommhold bedient. Der Lehrer hatte in Gesellschaft eines jüngeren Mannes da unter dem dunklen Ölbild mit dem röhrenden Hirsch gesessen und sich ganz schön einen angetüdelt. Bier und Korn und noch ’n Korn und wieder ’n Bier, wohl eine Stunde lang oder anderthalbe. Die beiden Männer hatten sich leise, aber lebhaft unterhalten. Wovon die Rede gewesen war, konnte der Sardellenbrötchenkellner beim besten Willen nicht sagen. Nein, direkt gestritten hatten sie sich nicht.

Der jüngere Mann war nüchtern geblieben. Er hatte nur Kaffee und einen einzigen Schnaps. Er hatte am Ende die Rechnung bezahlt, ein gutes Trinkgeld gegeben und den Lehrer fürsorglich gestützt, als sie zusammen die Bahnhofswirtschaft verließen. Das mußte so gegen zwei gewesen sein, denn der D-Zug war noch nicht durch.

Kurz vor vier hatte die Pilzsucherin den toten Frommhold gefunden.

Ich ließ mir den jüngeren Mann noch beschreiben, aber dabei kam nicht allzuviel raus: Helle Haare, eine Sonnenbrille, braungebrannt – ja, sehr braungebrannt; mittelgroß, mittelschlank, mittel … mittel … mittel … Das Übliche.

 

Ich rief am nächsten Morgen von zu Hause aus einen Schulfreund an, der sich, wie ich wußte, in der Zoologie gut auskannte, und fragte ihn nach den Gewohnheiten der Hornissen.

Er mußte nachschlagen, weil er mehr auf Zugvögel spezialisiert ist als auf Insekten. Dann las er mir einiges vor, was ich, bis auf die lateinischen Vokabeln, schon wußte – unter anderem z.B., daß die Hornissen, zu den Hymenoptera – Hautflüglern – zählende Wespenart, nur stechen, wenn sie gereizt werden, sich angegriffen fühlen … zur Verteidigung also. Daß sie mehrere Tage ohne Nahrung sein können, daß sie weitverbreitet, wenn selbstverständlich beileibe auch nicht so häufig sind wie Wespen, daß ihr Stich tödlich sein kann … Nun, das hatte ich gerade gesehen. Sonst nichts Neues. Es war zum Verzweifeln. Einziger Lichtblick: Ich wußte jetzt, daß es einen Mann gab, der mit Frommhold noch eine oder anderthalb Stunden vor dessen Tod gesoffen hatte.