Mallorca sehen und dann sterben - Hansjörg Martin - E-Book

Mallorca sehen und dann sterben E-Book

Hansjörg Martin

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Beschreibung

Als Sonja Menzel die Stelle als Reiseleiterin auf Mallorca annahm, da hatte sie ihr Spanisch aufpolieren wollen. Aber insgeheim waren da auch Wunschvorstellungen gewesen: Das große Abenteuer ... In Sonjas Alter verständlich und verzeihlich. Ja, und nun ist es da, das große Abenteuer. So hat sie es sich nun wieder nicht vorgestellt. Der vermummte Mann vor ihrem Bett, das muß der Mörder sein, der seit Tagen die Reisegesellschaft und das Hotelpersonal in Atem hält. Die spanische Polizei weniger; die hat den Todessturz von Frau Kleebusch ebenso als Unfall abgetan wie das Ertrinken von Herrn Fichtel ... Aber die Polizei ahnt ja auch nicht, daß in einem Fall Schmuck verschwunden ist, im anderen Reiseschecks gefehlt haben. Der Kellner Ramón hat Sonja überredet, es zu verschweigen ... Warum eigentlich? Und warum hat sie mitgespielt? Der Vermummte vor ihr, das muß jedenfalls der Mörder sein.

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Hansjörg Martin

Mallorca sehen und dann sterben

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Als Sonja Menzel die Stelle als Reiseleiterin auf Mallorca annahm, da hatte sie ihr Spanisch aufpolieren wollen. Aber insgeheim waren da auch Wunschvorstellungen gewesen: Das große Abenteuer ... In Sonjas Alter verständlich und verzeihlich. Ja, und nun ist es da, das große Abenteuer.

So hat sie es sich nun wieder nicht vorgestellt.

Der vermummte Mann vor ihrem Bett, das muß der Mörder sein, der seit Tagen die Reisegesellschaft und das Hotelpersonal in Atem hält. Die spanische Polizei weniger; die hat den Todessturz von Frau Kleebusch ebenso als Unfall abgetan wie das Ertrinken von Herrn Fichtel ... Aber die Polizei ahnt ja auch nicht, daß in einem Fall Schmuck verschwunden ist, im anderen Reiseschecks gefehlt haben. Der Kellner Ramón hat Sonja überredet, es zu verschweigen ...

Warum eigentlich?

Und warum hat sie mitgespielt?

Der Vermummte vor ihr, das muß jedenfalls der Mörder sein.

Über Hansjörg Martin

Hansjörg Martin (1920–1999) war ursprünglich Maler und Graphiker. Nach dem Krieg arbeitete er als Clown, war Bühnenbildner und Dramaturg, dann freier Schriftsteller. Er schrieb Kriminalromane und Kinder- und Jugendbücher.

Inhaltsübersicht

Die HauptpersonenDer Autor versichert, ...Auftritt SonjaZwischenspiel 1Auftritt Ramón Riéra – und KnothZwischenspiel 2Auftritt AnitaZwischenspiel 3Auftritt Straubinger (in einer Nebenrolle)Großes Zwischenspiel 4Massenauftritt – voran Frau KleebuschAuftritt Fräulein HellriegelAbgang Frau KleebuschAuftritt eines UnsichtbarenAbgang Berthold Fichtel, GoslarLetztes ZwischenspielAuftritt eines unsichtbaren jungen MannesAuftritt des MördersFinale

Die Hauptpersonen

Sonja Menzel

hat sich das große Abenteuer so nun wieder auch nicht vorgestellt.

 

 

Ramón Riéra

hält nicht viel von Touristen, aber seine schlimmsten Erwartungen werden übertroffen.

 

 

Knoth

übertrifft regelmäßig die schlimmsten Erwartungen der meisten Leute.

 

 

Marianne Sotemeier

ist gelähmt und wird im Rollstuhl überfallen.

 

 

Jakob Sotemeier

sucht gelegentlich Trost bei beweglicheren Damen.

 

 

Hertha Hellriegel

vermißt etwas und findet unerwartet Kontakt.

 

 

Bertha Kleebusch

findet ein vorzeitiges Ende.

 

 

Berthold Fichtel

löst nach seinem Ableben Schecks ein.

 

 

Der Boss, Der Breitschultrige, Der Nervöse, Der Brillenträger

führen einen genialen Plan fehlerfrei aus, aber dann bremst einer von ihnen zu scharf.

Der Autor versichert, daß die in diesem Buch auftretenden Personen einschließlich sämtlicher Touristen, Reiseleiter, Ganoven, Polizisten, Bank- und Hotelangestellten, Taxichauffeure sowie der hier möglicherweise nicht eigens Genannten ebensowenig reale Vorbilder haben wie die geschilderten Ereignisse.

Auftritt Sonja

„Señorita! Kommen nach hier, por favor!“ sagte der große, uniformierte Mann mit dem komisch geformten schwarzen Lackhut auf dem Kopf. „Por favor!“ wiederholte er ungeduldig, als sie erstaunt zögerte und sich umsah, ob das nicht ein Irrtum wäre …

Wieso ich? dachte sie. Meint der mich?

Por favor, das heißt ‚bitte‘; aber es klang hier eher wie ‚Dalli! Los! Na, wird’s bald!‘

Seltsamer Empfang … Vielleicht hätte sie doch nicht am Dreizehnten fliegen sollen, obschon die Dreizehn sonst ihre Glückszahl war.

Aber so ging es ihr stets: Wann und wo immer Stichproben gemacht wurden – sie war dran. Kontrolleure in Straßenbahnen oder Autobussen fragten immer zuerst sie nach der Fahrkarte. Wenn an Grenzstationen Autokolonnen lässig weitergewinkt wurden – das Auto, in dem sie saß, wurde mit Sicherheit auf Schmuggelware durchsucht. Sie mußte so was an sich haben.

‚Eine unsichtbare Warze‘, hätte ihre Großtante Emmy gemurmelt. Des alten lange adligen Geschlechtes Feststehendes im Augenbogenbau … Rilke. Möglicherweise war eine ihrer vier Urgroßmütter eine Zigeunerin gewesen oder einer ihrer acht Urgroßväter ein Schnapspanscher im Böhmischen, und die Gesetzeshüter aller Nationen, die eine Nase für so was haben, rochen das heute noch, wenn sie sie sahen – wer weiß?

Sie trat aus der Touristenschlange, die sich vor dem Schalter gebildet hatte, hinter dem ein anderer, anders Uniformierter saß, einer ohne Lackhut, und die Pässe der Einreisenden mit so wichtiger Miene prüfte, als sei er das Jüngste Gericht persönlich.

Sie trat also aus der Schlange und wurde damit sofort zur Außenseiterin. Das sagte zwar niemand, aber die Blicke ihrer bisherigen Mitmenschen drückten es deutlich aus: ‚Aha!‘ sagten die Blicke, als sie nun neben dem langen Lackhut-Polizisten stand. ‚Aha, so eine ist das!‘ Und: ‚Hab ich mir doch gleich gedacht!‘ Und: ‚Da sieht man’s mal wieder – außen hui, innen pfui!‘ Und so weiter … Alle die Klischees wurden gedacht, die in der Volksseele aller Nationen hochkommen, sobald die Polizei einen einzelnen mit ihrem Interesse deutlich auszeichnet.

Es wäre gewiß ganz komisch gewesen, wenn sie gewußt hätte, was der spanische Ordnungshüter von ihr wollte, was ihr die Ehre seiner Aufmerksamkeit verschaffte.

Er war ein hübscher Kerl: groß, breitschultrig, schmalhüftig; und er hatte eigentümlicherweise strahlend blaue Augen unter dem Rand dieses blödsinnigen Hutes oder Helmes, dieses … Jetzt fiel es ihr wieder ein: tricornio heißen die verrückten Kopfbedeckungen, die wie eine Mischung aus Nonnenhaube, Narrenkappe und jenen mittelalterlichen deutschen Helmen aussehen, die man Hundsgugel nannte.

Wie kommt ein Spanier zu so strahlend blauen Augen?

Sie stellte wieder einmal fest, daß man auf Schulbänken unzulänglich belehrt wird. Oder gab’s da irgendwelche Germanen-Wandergruppen, die vor zweitausend Jahren … Ja, richtig; es dämmerte ihr: Nächtlich am Busento lispeln … Am Ende war ihr blauäugiger Bewacher ein verspäteter Westgote? Aber halt – der Busento, bei dem sie im Gymnasium immer gegrinst hatten, floß doch in Italien … Oder?

Ihre historischen Gedankengänge wurden unterbrochen.

„Kommen mit, por favor!“ sagte der potentielle Westgote, nahm ihr den Paß aus der Hand und machte eine auffordernde Schulterbewegung.

Sie hievte gehorsam ihr Handgepäck hoch und zottelte neben ihm her durch die Halle. Auf die Idee, ihr tragen zu helfen, kam er nicht.

Alle Männer der Welt sind unhöflich, wenn sie ‚im Dienst‘ oder gar in Uniform sind. Sie hatte noch nie einen Offizier mit einem Baby auf dem Arm gesehen. Machen, ja. Aber tragen … Nee!

An der Tür des Raumes, den sie nach einem, wie ihr schien, Fünfundzwanzig-Kilometer-Marsch durch den riesigen modernen Flughafen Palmas erreichten, stand: Prohibida la Entrada! – das heißt: Eintritt verboten. Ihre vier Semester Spanisch begannen sich bezahlt zu machen.

Der Westgote mit ihrem Paß in der Hand ließ ihr den Vortritt.

Die Innenarchitektur des Zimmers überraschte sie nicht; sie heimelte sie eher an. Sie glich – bis auf die spanischen Monats- und Tagesnamen des Shell-Reklame-Kalenders – einer bundesrepublikanischen Polizei-Dienststellen-Einrichtung aufs Haar. Sogar die toten Fliegen auf dem Fensterbrett schienen die gleichen zu sein.

Die abgestandene Luft allerdings unterschied sich vorteilhaft von der heimatlichen Dienststellenluft durch einen intensiven Knoblauchduft, der weniger martialisch wirkte als der Fußbodenöl- und Zigarrenmief westdeutscher Polizeibüros.

Hinter einem der beiden schlichten Schreibtische saß ein weiterer Uniformträger. Das war offenbar ein höherer als der blonde Westgote, denn er hatte mehr Glitzerzeug am Kragen und auf den Schultern.

Er blickte nicht auf, sondern beschäftigte sich stirnrunzelnd mit einem Bündel Papiere. Vielleicht sollte das seine Bedeutung unterstreichen.

Sie räusperte sich.

Der Mann hinter dem Schreibtisch hob den Blick. „Buenas tardes!“ sagte er, was ‚Guten Tag‘ heißt.

Sie beschloß, ihre Spanisch-Kenntnisse zu verleugnen, und erwiderte: „Wie bitte?“

„Guten Tack!“ sagte er daraufhin, streckte die Hand nach ihrem Paß aus, den ihm der Blonde beflissen reichte, und begann darin zu blättern.

Sie setzte ihr Handgepäck ab, wartete und sah sich verstohlen um, ob bei den bebilderten Steckbriefen an der Wand neben der Tür vielleicht auch ihr Porträt zu entdecken wäre. Sie hatte zwar ein wirklich pieksauberes Gewissen – aber es soll schon viele Leute mit sauberem Gewissen gegeben haben, die steckbrieflich gesucht worden sind.

„Sie sind Señorita Menzel?“ fragte der Höhere jetzt. Er blieb sitzen und sah sie an.

Er war, was das Äußere angeht, ein richtiger Bilderbuch-Spanier: schwarzhaarig, schwarzäugig, schwarzschnurrbärtig, schlank, drahtig, mit einer Haut, die an vergilbtes Zeitungspapier erinnerte.

„Ja, gewiß“, sagte sie. „Worum geht es?“

„Momento, por favor – einen Augenblick!“ sagte er. Er sprach gut Deutsch; nur die weichen, schlüpfrig gesprochenen Vokale verrieten den Südländer.

Er blätterte.

Sie schwieg.

Der Westgote stand stumm hinter ihr an der Tür.

Ein Steckbrief mit ihrem Bild war nicht an der Wand.

Sie hatte Appetit auf eine Zigarette.

„Tenga la bondad de sentarse!“ sagte der Südländer plötzlich.

Und da hätte sie beinahe verraten, daß sie seine Sprache verstand; sie war schon drauf und dran, sich nach einem Stuhl umzusehen – aber im letzten Sekundenbruchteil fragte sie statt dessen: „Was haben Sie gesagt, bitte?“

„Verstehen Sie nicht Spanisch?“ wollte er wissen.

„Nur ein kleines, winziges bißchen“, log sie.

„Bitte, nehmen Sie Platz!“ wiederholte er seine Aufforderung auf deutsch.

Blauauge hinter ihr schob einen Stuhl an ihre Kniekehlen. Sie setzte sich.

„Sonja Menzel?“ fragte der hinter dem Schreibtisch.

Sie nickte.

„Aus Hamburg?“

Sie nickte wieder.

„Dreiundzwanzig Jahre alt, einsfünfundsechzig groß, mittelblond, graue Augen, schlank, keine besonderen Kennzeichen …“ las er.

Sie nickte nicht, denn er sah sie nicht an.

„Beruf?“ fragte er.

„Studentin“, sagte sie.

„Ah!“ machte er; sie hatte den Eindruck, daß er eine Nuance freundlicher – aber zugleich auch unsicherer wurde.

„Was studieren Sie?“ fragte er.

„Anglistik“, erklärte sie, obschon das nicht so ganz stimmte.

In Wahrheit hatte sie sich zwei Jahre lang an einem privaten Institut mit dem Erlernen der englischen und spanischen Sprache herumgeschlagen und genossen, was man dort etwas euphemistisch als Dolmetscher-Ausbildung bezeichnete. Von Geschichte, Literatur und Kunst, ganz zu schweigen von der Mentalität der beiden Völker, deren Sprache sie sich angeeignet hatte, waren ihr kaum mehr als die oberflächlichsten Kenntnisse vermittelt worden – aber na, dazu war sie ja nun hier, hatte sich für ein Jahr nach der Insel Mallorca verdingt, um als ‚Reiseleiterin‘ Geld zu verdienen, ihre Schulbank-Sprachkenntnisse lebendig und brauchbar zu machen und eben die Mentalität des spanischen Volkes zu studieren.

Daß die erste Unterrichtsstunde im Polizeibüro des Flughafens stattfinden und gleich so eindrucksvoll sein würde, hatte sie allerdings nicht gedacht.

Ihre beiden Studienobjekte schwiegen.

Blauauge hinter ihr hatte sich eine Zigarette angezündet, was ihren Appetit nach Tabak ins Quälende steigerte; der spanische Spanier am Schreibtisch schrieb irgendwas auf irgendein Formular.

Auf dem Steinfußboden kroch eine Ameise. Die Zeit kroch hinterher.

„Sie wollen Ferien machen auf Mallorca?“ unterbrach der Schreibtisch-Polizist die Stille.

„Nein, ich will hier arbeiten“, sagte sie, „für elf Monate als Reiseleiterin der GLOBAL – eine deutsche Reisegesellschaft, die …“

„Ich kenne die Gesellschaft“, unterbrach der Mann am Schreibtisch. „Die Zentrale ist in Arenal.“

„Ja“, nickte sie, „und ich hoffe sehr, daß ich im Laufe des Monats März noch dorthin komme. Heute ist der zweite.“

Er hob die schwarzen Augenbrauen und begann irritiert zu zwinkern, als sie ihn anlächelte. Sie lächelte ihr schönstes Lächeln, obwohl ihr der Sinn mehr danach stand, Hornochse zu ihm zu sagen.

Der durch ihr Lächeln verunsicherte Hornochse erhob sich, was er nicht hätte tun sollen, denn das schmälerte seine Silberlitzen-Autorität, da er ein Sitzriese war und nun im Stehen eher den Eindruck eines Pikkolos machte – eines Pikkolos in Uniform. Aber die Uniform machte ihn auch nicht größer.

Er erhob sich also, kam mit zierlichen, auf dem Steinfußboden klackernden Schritten um den Schreibtisch herum und reichte ihr wie ein Geschenk den Paß mit einer eleganten Geste, die sie an die Segensgesten eines hohen katholischen Würdenträgers erinnerte.

„Ich bitte Sie sehr um Verständnis und Entschuldigung, Señorita“, sagte er ernst. „Wir tun nur unsere Pflicht!“

Sie nahm den Paß, stand auf, blickte auf den Zwerggockel in Uniform aus ihren einhunderfünfundsechzig Zentimetern Höhe hinab, neigte freundlich und fast gnädig den Kopf und säuselte: „Gewiß, Sie tun nur Ihre Pflicht, Señor General!“

Der Kleine kniff die Lippen zusammen, weil er sich wohl veralbert fühlte. Blauauge hinter ihr hustete.

Sie nahm Handtasche, Handkoffer und die versiegelte Duty-Free-Shop-Plastiktüte mit Schokolade und Zigaretten auf und verließ die gastliche Stätte, ohne zu fragen, warum man ausgerechnet sie aus der Menge herausgepickt hatte … Sie hätten es ihr doch nicht beantwortet. Dabei ist die Antwort sehr einfach: Überall in der Welt üben Männer, die Machtbefugnisse besitzen, diese am liebsten an hübschen Mädchen aus. Und da Sonja ein außerordentlich hübsches Mädchen war, erklärte sich die spanische Polizeistichprobenaktivität eigentlich von selber.

 

In der großen Halle dröhnten die Lautsprecher: Die Passagiere nach Frankfurt werden gebeten, sich zum Ausgang zu begeben!

Am liebsten wäre sie mitgegangen und wieder heimgeflogen. Es war ein unangenehmer Anfang.

Aber dann pfiff sie drauf, suchte nach etwas, worüber sie sich freuen könnte, freute sich beim Hinaustreten aus der Halle über die strahlende Sonne und den seidigen blauen Himmel, rief einen Träger, holte mit ihm ihr großes Gepäck, charterte sich ein Taxi und fuhr am blauen Mittelmeer entlang dem großen Abenteuer entgegen, so hoffte sie, von dem sie schon als Schulmädchen immer geträumt hatte – vornehmlich in der Mathematikstunde. Ihre Noten waren entsprechend gewesen.

Hätte sie allerdings gewußt, wie abenteuerlich die nächsten Tage werden sollten, dann wäre sie wahrscheinlich mit der nächsten Maschine heimgeflogen nach Deutschland. Oder vielmehr: bestimmt.

Zwischenspiel 1

Die drei Männer saßen schweigend und rauchend in den karminrot bezogenen Plüschsesseln des möblierten Zimmers und warteten.

Sie warteten bereits seit zweieinhalb Stunden, und daran, wie sie sich während des Wartens verhielten, waren ihre verschiedenen Charaktere zu erkennen.

Der Breitschultrige mit dem blauschattierten Drosselbart-Kinn, der unter dem goldgerahmten Ölbild Abend am Königssee saß, hatte in den zweieinhalb Stunden kaum gesprochen. Er nuckelte an einem erloschenen Zigarrenstummel und verfolgte mit dunklen, halb geschlossenen Augen ohne Interesse das Liebesspiel und die Geschlechtsakte eines Stubenfliegenpärchens auf der gelblichen Klöppeldecke des runden Tischs. Ab und zu – in Abständen von drei bis vier Minuten – zog er den Inhalt seiner geräumigen Nase hoch, kaute träge und schluckte. Das trug ihm jedesmal einen angewiderten Blick des schlanken jungen Mannes ein, der am Fenster saß; aber er beachtete die Blicke nicht, nuckelte und quadderte ungerührt weiter und ließ die vergehende Zeit an sich ablaufen wie ein Ackergaul den Regen.

Der junge, schlanke Mann vibrierte vor Nervosität. Im Aschenbecher, den er vor sich auf das Fensterbrett gestellt hatte, häuften sich verkrüppelte Kippen. Zwischen seinen nikotinbraunen, schmalen Fingern qualmte die zwanzigste Zigarette. Er hatte lockiges hellbraunes Haar, das sich lang um die Ohren und in den Nacken ringelte, aber oberhalb der Stirn dünn und schütter war wie Grasnarbe an einem vielbefahrenen Bahndamm. Seine Kleidung war – im Gegensatz zum einfachen anthrazitfarbenen Konfektionsanzug des Breitschultrigen – betont modisch: eine blau-weiß gestreifte Hose, oben eng und unten mit Schlag, ein handbreiter Gürtel, ein tailliertes Hemd aus rosegetönter Honanseide, eine großknotige Krawatte aus ultramarinblauem Samt. Seine Bewegungen waren geziert, bewußt, einstudiert, wie die eines noch unsicheren Schauspielers. Seine Stimme verstärkte den Eindruck: „Um zehn wollte er kommen, hat er gesagt!“ Er sprach langsam, sehr betont, mit klingenden Konsonanten. „Um zehn – ich bitte euch: Jetzt ist es halb eins vorbei! Er könnte wenigstens anrufen und Bescheid sagen!“

Der Mann unter dem Ölgemälde gab einen Knurrlaut von sich.

Der Dritte, ein blasser, blinzelnder Brillenträger in den Vierzigern, hob die Augen von dem Buch, in dem er gelesen hatte, und sagte mit leiser, heller, ein bißchen näselnder Stimme: „Anrufen! Was soll er denn sagen? ‚Ich habe Schwierigkeiten mit der Beschaffung der Waffen …‘ oder so? Meine Güte! Wir arbeiten nun seit Monaten an diesem Plan. Es ist ein großartiger Plan, eine erstklassige Idee – und du wirst hippelig, weil du mal zwei Stunden warten mußt!“

„Zweieinhalb“, sagte der junge Mann.

„Na schön, zweieinhalb. Das ist doch kein Grund, die Nerven zu verlieren. Josef ist ein alter Hase. Zuverlässig und mit allen Wassern gewaschen. Ihm passiert sicher nichts. Du mußt geduldiger werden, mein Kleiner. Frag mal den Kurt, wie geduldig man wird, wenn man acht Jahre absitzen muß, was, Kurt?“ Er drehte den Kopf zu dem Breitschultrigen und sah ihn über den Rand seiner Brille an.

„Hm“, machte der und zog seine Nase leer.

„Hast du kein Taschentuch, zum Teufel?“ fragte der junge Mann, und vor Ekel hob er die Oberlippe, so daß seine kleinen, spitzen Zähne sichtbar wurden. Mausezähne. Rattenzähne.

„Nee“, sagte der Breitschultrige unerschüttert, kaute, schluckte und schob – oder richtiger, drehte – den kalten Zigarrenstummel mit den Lippen in den anderen Mundwinkel.

Der junge Mann stand auf, quetschte wütend seine Zigarette zwischen den Kippen aus und sah zum Fenster hinaus auf die belebte Straße.

„Waffen!“ singsangte er nach einer Weile. „Wenn ich das bloß höre! Ich denke, die Idee ist so gut, daß wir keine Waffen brauchen? Das eine sag ich euch: Ich jedenfalls weigere mich, irgendeine Waffe …“

„Brauchst du ja auch nicht, Kleiner“, sagte der Brillenträger verächtlich lächelnd. „Du bleibst ja sowieso draußen im Auto, während wir drin die Arbeit machen.“

Es trat wieder Stille ein.

Der Breitschultrige sah den Fliegen zu.

Der junge Mann mit dem Schauspieler-Gehabe setzte sich in den Sessel am Fenster, zündete die 21. Zigarette an, wobei ihm drei Streichhölzer zerbrachen, ehe sie brannte, und spielte auf den Sessellehnen mit seinen langen, schmalen Fingern Klavier.

Der Brillenträger nahm sein Buch vom Tisch, schlug es auf und las weiter. Es war ein Lehrbuch der englischen Sprache. Der Lesende bewegte leicht die Lippen. Er memorierte unregelmäßige Verben.

Eine schöne alte Wanduhr schlug volltönend ein Uhr.

Auftritt Ramón Riéra – und Knoth

Da man, wie schon gesagt, auf Schulen, Hauptschulen, Berufsschulen, Oberschulen, Fachschulen, Hochschulen und Fachhochschulen im allgemeinen alles mögliche lernt, nur nicht die Dinge, die man im täglichen Leben braucht, da Sonja Menzel zwar einigermaßen die Sprache gelernt hatte, aber nichts von Umgangsformen, Gepflogenheiten, ungeschriebenen Gesetzen, Sitten und Unsitten der Menschen wußte, die diese Sprache sprechen, da sie also in das Land kam wie ein Trockenskikursteilnehmer auf eine schneeverwehte Slalompiste (obschon der Vergleich unpassend ist, denn es herrschten ca. 29 Grad Celsius im Schatten an diesem Märztag auf Mallorca) – aus allen diesen Gründen hatte sie es versäumt, mit dem Taxichauffeur einen Preis auszuhandeln.

Vom Flugplatz Palma bis zum Hotel Navarra an der Avenida Nautica in Arenal sind es zehn oder zwölf Kilometer.

Sonja genoß die zwanzig Minuten Fahrt durch das verrückte Stück Landschaft: Palmen neben Betonpisten, große Plakatwände an der Seite, auf denen wechselweise Kaugummi, Coca-Cola, Camel und andere entbehrliche Kulturgüter der westlichen Zivilisation angepriesen werden; ab und zu ein verwittertes, flaches, lehmgelbes Haus mit schiefen Holzläden; übermannshohe Kakteen auf den rissigen, staubtrockenen Feldern, und dann – plötzlich – ein, zwei, vier, zehn, zwanzig Hotelhochhäuser, blendend weiß im gleißenden Licht, bunte Markisen, leuchtende Bougainvillea-Ranken an den pompösen Eingängen aus Glas und Stahl … Verrückt. Als hätte ein Riesenkind seine Spielzeugkiste ausgekippt.

Sonja fand das alles faszinierend, entdeckte entzückt den ersten Esel, schnupperte das Geruchsgemisch aus Benzin und Blumen, Ferien und Fäulnis und dachte natürlich nicht an den Fahrpreis, zumal auch das Taxi keinen Taxameter hatte, oder wie die klickenden Zählautomaten heißen, die bei ihr zu Hause die gefahrene Strecke in Mark und Groschen anzeigten.

Und dann bog der Taxichauffeur von der breiten, sonnigen Avenida Nacional ab und ließ das ansichtspostkartenblaue Meer und den schmalen Sandstrand hinter sich, der um diese Jahreszeit noch nicht sardinenbüchsenvoll war. Er bog in eine schmale Straße ein, mehr eine Schlucht, dunkel zwischen den himmelhohen Hotels und Apartmenthäusern, und hielt nach zweihundert Metern vor der Sandsteintreppe, die zum Eingang des Hotels Navarra führte.

Sonja sah aus den Augenwinkeln, daß hinter einer schaufenstergroßen Glasscheibe zwei Kellner in weißen Leinenjacken standen und ihre Ankunft beobachteten.

„Mil pesetas, por favor!“ sagte der Chauffeur über die Schulter.

Sie erschrak. „Mil …?“ fragte sie. 1000 Peseten – das durfte doch nicht wahr sein! Über 50 Mark für knapp zwanzig Minuten Fahrzeit?

„Sí, Señorita!“ erwiderte der Mann, wandte sich um und sah sie aus kleinen schwarzen Augen unter buschigen Brauen herausfordernd an. Er bohrte die Zunge in die Backe; über die Beule, die sich dadurch bildete, spannte sich dunkle, pockennarbige Haut.

„Lo siento mucho“, sagte sie. „Esto es demasiado caro!“

Es überraschte ihn, daß sie auf spanisch gegen den unverschämten Preis protestierte; er merkte, daß er sich in ihr geirrt hatte. Aber nun konnte oder wollte er nicht klein beigeben und begann aufgeregt mit den Händen zu fuchteln, die Augen zu rollen und so schnell zu reden, daß sie nur noch Bruchstücke seiner Sätze verstand.

Sie öffnete die Wagentür, stieg aus, hob das Handgepäck heraus und forderte den Automobilpiraten auf, ihre zwei großen Koffer aus dem Gepäckraum zu heben.

„Erst mein Geld!“ kreischte er – auf spanisch natürlich.

„Zweihundert Pesetas!“ bot sie ihm an.

Er tat so, als ob ihn der Schlag rührte, brach über dem Lenkrad zusammen, stöhnte, jammerte, verkündete, daß sie ihn, seine Frau, seine sieben kleinen, kranken, hilflosen Kinder ruinieren wolle und daß alle Heiligen seine Zeugen seien, wie er hier betrogen und ausgebeutet würde. Am Schluß der langen, lauten Tirade sagte er: „Ochocientos!“

800. 200 Pesetas – etwa zehn Mark – hatte sie also schon verdient. Mal sehn, wie das weitergeht, dachte sie; ich hab Zeit … Sie schüttelte energisch den Kopf.

Der Mann stieg aus. Er war klein und breitschultrig. Auf seinem nackten rechten Unterarm trug er eine dreifarbige Tätowierung: eine Muttergottes in Zigarettenschachtelgröße. Wenn seine Muskeln spielten, verzog die heilige Mutter lächelnd das Gesicht.

Sonja sah es und mußte lachen.