Eines jungen Mannes Reise in die Nacht - Håkan Nesser - E-Book

Eines jungen Mannes Reise in die Nacht E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Eine schwedische Kleinstadt. Zwei rätselhafte Morde. Ein Ermittler, der im Dunkeln tappt.

Es ist Frühsommer und Prüfungszeit in Kymlinge. Sportlehrer und ehemaliges Multitalent Allan Fremling beschließt eines Abends, seinem strengen Ernährungsplan zum Trotz, eine Pizza nach Hause zu bestellen. Noch bevor sie abgekühlt ist, liegt er tot in seinem eigenen Hausflur. Zwei Schüsse in die Brust, einer in den Kopf. Inspektor Borgsen, der wegen seines melancholischen Gemüts oft Sorgsen genannt wird, soll sich der Sache annehmen. Als sich jedoch praktisch direkt unter Borgsens Balkon ein zweiter Mord ereignet, ist es Zeit für Gunnar Barbarotti und dessen Frau Eva Backman, zu übernehmen. Die Morde geben Rätsel auf. Fast sieht es so aus, als stelle jemand sich die Frage: Ist es immer falsch zu töten?

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Seitenzahl: 538

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Zum Buch

Es ist Frühsommer und Prüfungszeit in Kymlinge. Sportlehrer und ehemaliges Multitalent Allan Fremling beschließt eines Abends, seinem strengen Ernährungsplan zum Trotz, eine Pizza nach Hause zu bestellen. Noch bevor sie abgekühlt ist, liegt er tot in seinem eigenen Hausflur. Zwei Schüsse in die Brust, einer in den Kopf. Inspektor Borgsen, der wegen seines melancholischen Gemüts auch Sorgsen genannt wird, ermittelt. Als sich jedoch praktisch direkt unter Borgsens Balkon ein zweiter Mord ereignet, ist es Zeit für Gunnar Barbarotti und dessen Frau Eva Backman, zu übernehmen. Die Morde geben Rätsel auf. Fast sieht es so aus, als stelle jemand sich die Frage: Ist es immer falsch zu töten?

Zum Autor

Håkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt auf Gotland.

Håkan Nesser

Eines jungen Mannes Reise in die Nacht

Roman

Aus dem Schwedischen von Paul Berf

Die schwedische Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel »Ung mans färd mot natt« im Albert Bonniers Förlag, Stockholm.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © der Originalausgabe 2024 by Håkan Nesser

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2025 by btb Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Coverabbildung: © depositphotos.com

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32787-3V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/penguinbuecher

Einleitende Bemerkung

Die Stadt Kymlinge existiert immer noch nicht auf der Landkarte. Dagegen findet man dort sowohl Luleå als auch Kalix sowie Ängesbyn. Die letztgenannte Ortschaft ist im Buch ein wenig entstellt worden, dafür bittet der Autor um Verzeihung. Viele der beschriebenen Menschen und Ereignisse sind fiktiv, könnten aber wohl auch in der sogenannten Wirklichkeit vorkommen. So viel dazu.

Angesichts dessen, wie viele Leben es tatsächlich gibt, sollte man dem eigenen wohl keine allzu große Aufmerksamkeit schenken.

Werner Klimke

I. Mai 2022

1

Es war ein Abend Ende Mai.

Der ungerechte Krieg in der Ukraine wurde seit genau drei Monaten geführt, aber in der Provinz Västra Götaland im malträtierten Königreich Schweden herrschten Frieden und angenehme Vorsommerwärme. Gegen Viertel nach neun beschloss der Sportlehrer und frühere Mehrkämpfer Allan Fremling, sich eine Pizza liefern zu lassen. Abgesehen davon, dass sie zeitlich zusammenfielen, hatten die drei Phänomene – der Krieg, das Wetter und die Pizza – nichts miteinander zu tun. Natürlich nicht.

Fremlings Wahl des Lieferdienstes fiel auf das Ristorante Orientale in der Östra Järnvägsgatan in Kymlinge. Bei der Wahl seiner Pizza entschied er sich für Nummer acht: Rinderfiletstreifen, getrocknete Tomaten und Sauce béarnaise. Kein Salat, aber eine Dose Cola, bitte. Schnellstmögliche Lieferung.

In einer halben Stunde?

Okay.

Es kam nicht oft vor, dass Allan Fremling Pizza aß. Oder Cola trank. Wirklich nicht, denn wenn es etwas gab, worauf er in seinem Leben besonders achtete, dann war es seine Ernährung. Sie sollte nahrhaft und sorgsam zusammengestellt sein. Sich positiv auf die Darmflora auswirken: viel Gemüse, höchstens einmal in der Woche Fleisch, zweimal Fisch, aber nicht irgendein Fleisch und irgendeinen Fisch. Ein ausgewogenes Verhältnis von Proteinen und Kohlenhydraten, maßvoller Alkoholkonsum, niemals Bier, niemals Spirituosen, eventuell zwei, drei Gläser Wein mit Rebecca an einem Freitag- oder Samstagabend. Nicht mehr.

Rebecca Nilzon war seit gut einem Jahr seine Freundin, sie betrieb mit einer Freundin ein Reformhaus in der Innenstadt von Kymlinge und hatte in den letzten zwanzig Jahren mit Sicherheit keine Pizza gegessen. Jedenfalls keine, die vom Ristorante Orientale oder einer anderen Einrichtung dieses Kalibers geliefert worden wäre.

Fremling hatte deshalb auch nicht vor, von seinem späten Abendessen an diesem Maiabend zu erzählen, weder von der Teigware noch von dem Getränk, und zwar niemandem und erst recht nicht seiner äußerst ernährungsbewussten Geliebten. Aber es war, wie es war, er arbeitete an den verfluchten Zeugnisnoten, die spätestens um zwölf Uhr am nächsten Tag eingetragen sein mussten, und er hatte einen Hunger wie ein Wolf, der gerade aus dem Winterschlaf erwacht war.

Falls Wölfe sich während der kalten Jahreszeit eine solche Ruhephase gönnten, was höchst unklar war, aber egal. Gegen seinen Hunger mussten Maßnahmen ergriffen werden, aber er hatte vergessen einzukaufen, und was keiner weiß, tut auch keinem weh.

Dass gerade diese Pizza in den kommenden Tagen eine recht große Rolle in den Nachrichten spielen sollte, konnte er nicht ahnen. Was jedoch von untergeordneter Bedeutung war, da er zu jenem Zeitpunkt für jede Form der Kritik unerreichbar sein würde. Von wem auch immer sie kommen sollte; möglicherweise nagte es ein wenig an seinem Nachruhm, aber man kann auf dieser Welt nicht alles haben.

Fremling hatte kürzlich den Satz Kartenspiel voll gemacht, war also zweiundfünfzig geworden. Rebecca war zehn Jahre jünger als er, hatte niemals Kinder geboren und besaß einen Körper, der auch einer Fünfundzwanzigjährigen gut gestanden hätte. Wenn er nicht sämtliche Anzeichen falsch deutete, standen sie im Begriff, im Herbst zusammenzuziehen. Vielleicht sogar zu heiraten. Mit ihrem strikten und gesunden Lebensstil waren sie wie geschaffen füreinander, das konnte jeder sehen, und in den Visionen beider für die Zukunft stand ganz oben die Idee von einem eigenen Haus. Mit genügend Platz für einen ordentlichen Fitnessraum, im Untergeschoss oder in welcher Etage auch immer. Kraftproben unterschiedlicher Art gehörten ebenfalls zu ihren halb ausgesprochenen Plänen: Marathonläufe, Triathlonwettbewerbe, Bergsteigen, Skilanglauf und so weiter und so fort. Mens sana in corpore sano war der Wahlspruch von Fremlings Vater gewesen, auch er seinerzeit ein Mehrkämpfer. Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.

Jedenfalls war für Fremling die Zeit gekommen, Kvarnbo zu verlassen. Im Volksmund wurde der Stadtteil »Schwanzlos« genannt, und er hatte dort nun mehr als drei Jahre gewohnt, seit der Trennung von seiner früheren Lebensgefährtin, Claudine, die von einem Skilehrer aus Östersund schwanger geworden war. Drecksäcke alle beide, aber mit dem Kind stimmte etwas nicht, es war kränklich und zurückgeblieben und was auch immer. Fremling war nicht gänzlich uninformiert, auch wenn es ihn nicht besonders interessierte. Denn so läuft es, und so war es gelaufen. Das traute Paar wohnte noch in Örebro, wo auch Fremling gelebt hatte, ehe er sich auf eine Stelle an der Kvarnbo-Schule am Stadtrand von Kymlinge beworben und sie bekommen hatte.

Sport und Mathematik, fast nur Sport. Hart, aber gerecht. Er wusste, dass er nicht sonderlich beliebt war, aber er war diszipliniert. Kein jämmerlicher Teenager sollte ankommen und gegen Allan Fremling aufbegehren. Besser respektiert als beliebt, er hatte während seiner Ausbildung zum Feldjäger so manches gelernt, unter anderem das. Hart wie ein guter Schwanz, aber ohne Furcht davor abzuschlaffen hatte auf den eigens für ihre Einheit produzierten Kaffeebechern aus gehärtetem Stahl gestanden, und das war eine Wahrheit, die nicht schlechter war als andere. An diesem speziellen Abend im Mai, warm und verheißungsvoll, standen die Zeugnisnoten auf der Tagesordnung. Es war nicht so, dass Fremling etwas gegen Noten gehabt hätte, aber sie sollten gerecht sein und erforderten deshalb Zeit und Überlegungen. Er hatte sechs Klassen in Sport, eine in Mathematik, was fast zweihundert Schüler bedeutete, und sie sollten bekommen, was sie verdient hatten. Vielleicht etwas weniger, als sie verdient hatten, aber auf keinen Fall mehr. Schließlich wollte man nicht in eine Situation geraten, in der man sich gezwungen sah, die Note eines früheren Halbjahres nach unten zu korrigieren, weil man jemanden überschätzt hatte. Das galt natürlich nur für die siebten und achten Klassen, denn wenn es um die Abgangsnoten in der neunten ging, konnte man sich eine gewisse, nota bene, eine gewisse, Großzügigkeit gestatten.

Um neun Uhr waren vier Klassen fertig. Blieben also noch drei. Hunger und Zuckermangel nagten wie Wühlmäuse in seinem Magen.

Er ging auf die Toilette und pinkelte, überlegte einen Moment und klickte dann im Internet das Orientale an. Schaute das Sortiment durch und rief an. Not kennt kein Gebot.

Es dauerte nicht mehr als zwanzig Minuten, bis jemand an die Tür klopfte. Fremling suchte einhundertfünfzig Kronen heraus, dem Einwanderer zufolge, mit dem er telefoniert hatte, war Barzahlung am einfachsten. Cash is king, und das letzte kleine Königreich, in dem dies noch galt, hieß offenbar Pizzaland.

Er öffnete die Tür und wunderte sich, dass die Person, die davorstand, keinen flachen Karton in der Hand hielt. Sie hielt etwas völlig anderes in ihren ausgestreckten Händen, und ihr Gesicht war von etwas verhüllt, das wie eine Sturmhaube aussah. Und genau genommen auch eine Sturmhaube war.

Möglicherweise kam Fremling außerdem noch dazu, sich darüber zu wundern, dass der Gegenstand, der auf ihn gerichtet wurde, eine schwere Pistole war, die trotz ihrer Größe nur zweimal leise paff von sich gab, ehe der Schmerz in die Brust des Sportlehrers drang wie ein spitzer Schrei.

Er schaffte es noch, die Hände halbwegs zu heben, ehe ein drittes paff das Letzte war, was er in diesem Leben hörte, und als er schräg nach hinten fiel und mit dem Kopf auf der gusseisernen Schuhablage aufschlug, die seit seinem Einzug in die Wohnung ihren zweckmäßigen Platz im Flur hatte, war er, wenn nicht schon tot, so doch mit Sicherheit unbekümmert, sowohl über den Aufprall als auch den ungestillten Hunger sowie die noch ungeschriebenen Noten.

Alles hat seine Zeit, und nichts währt ewig.

2

Wenn du ein elfjähriges Einzelkind bist und erfahren hast, dass deine Mutter deinen Vater ermordet hat, hast du ein Problem.

Mit diesen Worten begann seine geplante Autobiografie.

Weiter war er nicht gekommen, obwohl der einleitende Satz seit Jahren feststand. Es war, wie es war, und in seinem tiefsten Inneren ahnte er, dass daraus nie etwas werden würde. Es gibt Geschichten, die sich einem entziehen, das liegt in ihrer Natur. Sie lassen sich nur ungern erzählen, ihre Wahrheiten fühlen sich am wohlsten in Scham, auf tiefem und dunklem Wasser.

Und genau deshalb hatte sich sein Leben so entwickelt, wie es sich entwickelt hatte. Um eine lange Geschichte kurz zu machen.

Im Mai 2022 war er neunundfünfzig. Fast ein halbes Jahrhundert war seit jenem Ereignis vergangen, und es gab tatsächlich Tage, an denen er keinen Gedanken daran verschwendete. Weder an das, was passiert war, noch an seine Mutter, die nach wie vor lebte und nördlich von Lillehammer in einem Heim wohnte. Einige Kilometer das Gudbrandstal hinauf mit Aussicht auf den Fluss und die westliche Talseite, und was die meisten Dinge anging, in glücklicher Unwissenheit lebend. Sie war alles andere als klar im Kopf und dachte offenbar gar nicht daran zu sterben; er hatte aufgehört, sie zu besuchen, hielt jedoch sporadisch Kontakt zum Pflegepersonal.

Seit er in Kvarnbo gelandet war, kam es ihm dennoch so vor, als wäre er seiner Kindheit nähergekommen, erst recht nach seiner COVID-Infektion. Er hatte sich im Oktober 2020 angesteckt und gehörte leider zu der Gruppe von Menschen, die das Virus sehr mitgenommen hatte. Sicher, er war mit dem Leben davongekommen, konnte aber erst Monate später wieder zur Arbeit gehen, und heute, anderthalb Jahre danach, hielt er lediglich gut die Hälfte der Zeit durch. Am meisten machte ihm die Müdigkeit zu schaffen, aber darüber hinaus war er häufig verwirrt und hatte regelmäßig Erinnerungslücken. Seinen Kollegen hatte er nie erzählt, wie schlecht es in Wahrheit um ihn stand, aber vielleicht hatten sie es auch so verstanden.

Oder auch nicht. Hoffentlich nicht. Es war möglich zu simulieren, dass man gesund war.

Jedenfalls verbrachte er viel Zeit allein zu Hause, in seiner Dreizimmerwohnung in Kvarnbo, in der er seit seiner Scheidung lebte, also seit fünf Jahren, und manchmal erschien es ihm, als wäre sein Leben zusammengepresst worden. Als wäre der Abstand zwischen Lillehammer und Kymlinge, in Zeit gemessen, zu etwas lächerlich Kleinem geschrumpft. Mein Leben, dachte er manchmal, es wurde nicht mehr daraus als das hier. Eine Nichtigkeit. Und das liegt ganz und gar an dem, was Anfang der Siebzigerjahre passiert ist. Oder?

Oder? Wie immer eine ebenso gute wie sinnlose Frage.

Falls es ihm jemals, trotz allem, gelingen sollte, diese Autobiografie in Angriff zu nehmen, die Geschichte seines Lebens, durfte er nicht vergessen, ausführlich der Schuldfrage nachzugehen. Seiner eigenen Schuld, der Schuld des neunjährigen Jungen, der seiner Mutter eines Abends anvertraut hatte, dass er sich vor seinem Vater fürchtete. Hätte er das nicht getan und stattdessen beschlossen, ihr sein Herz lieber doch nicht auszuschütten, hätte sein Vater vermutlich weiterleben dürfen.

Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Woher sollte man das wissen?

Und wie sollte man die Schuld wiegen und das Gewicht in Worte fassen können? Von so etwas?

Neutral zu beschreiben, was sich tatsächlich ereignet hatte, war bedeutend einfacher. Dazu reichten wenige Sätze. Zum Beispiel:

In einem Krankenhaus in Lillehammer arbeiteten Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre zwei Ärzte. Sie hießen Øysten und Ingvild Borgsen und waren verheiratet. Øysten war Oberarzt für Orthopädie, Ingvild Oberärztin für Anästhesie. Sie hatten einen Sohn namens Lars. Øysten war von Natur aus resolut und prinzipientreu, Ingvild sanfter und freundlicher. Ja, fröhlich war sie, die Mutter des Kindes, und sie lachte gern und oft. Eines Abends im Herbst 1972 erzählte Lars ihr, dass er sich vor seinem Vater fürchtete. Und zwar nicht bloß ein bisschen, er hatte Probleme, nachts zu schlafen, weil er so häufig von der Härte des Vaters träumte und davon, wie dieser seine Unzufriedenheit mit dem Sohn zum Ausdruck brachte. Es war nicht so, dass er ihn schlagen würde, es ging eher um dieses Zarte, das Seele heißt. Und darum, dass Lars nichts taugte.

Die Mutter nickte und hörte zu, sagte aber nicht viel.

Etwa ein Jahr später gingen die Eltern übers Wochenende wandern. Lars muss währenddessen bei einer Schwester des Vaters bleiben. Sie heißt Tante Torvi und wohnt in Hamar, sie mag den Jungen nicht, aber es ist ihre Pflicht einzuspringen. Während der Wanderung in den Bergen hat Øysten Borgsen einen Unfall, er stürzt in einen Abgrund und kommt ums Leben. Der Trauergottesdienst findet in der Kirche von Lillehammer statt, und Lars trägt zum ersten Mal in seinem Leben Anzug und Krawatte.

Ein weiteres Jahr später erzählt Ingvild ihrem Sohn, dass das, was sich ereignete, als die Eltern wandern waren, gar kein Unglück war. Sie hatte ihren Mann so gestoßen, dass er in die Schlucht gefallen und in den Tod gestürzt war.

Du hast dich doch so vor ihm gefürchtet, ergänzt sie. Das hast du mir gesagt. Jetzt geht es uns besser, dir und mir. Wenn du das irgendjemandem erzählst, komme ich ins Gefängnis, und du musst bei Torvi wohnen.

Das war alles. Sicher, er konnte auch über anderes schreiben, über seine Einsamkeit und seine Grübeleien. Über das Unfassbare, über Betrübnis und darüber, ein Außenseiter zu sein. Über das Traurige daran zu existieren, niemals Freude zu finden. Über die Gedanken, sich in denselben Abgrund zu stürzen wie der Vater.

Über seine Mutter?

Nein, nicht über sie. Das war unmöglich, sie ist ein Rätsel. Nie wieder erwähnten sie, was wirklich mit Lars’ Vater geschehen war. Mit keinem Wort. Es war nicht nötig. So etwas vergisst man nicht.

Aber über sein weiteres Leben könnte man wohl ein paar Zeilen zusammenbekommen.

Darüber, wie er die Jugendjahre und Schulen hinter sich brachte. Das Abitur 1982, den Umzug nach Oslo und die Zeit an der Polizeihochschule. Die Dienstzeit, zuerst in Drammen, später zurück in Lillehammer. Irgendwann die Olympischen Winterspiele, jene Wochen 1994, als Norwegen das beste Land der Welt war und er Camilla kennenlernte. Sie war eine freie Journalistin aus Schweden, sie verliebten sich, zumindest bildete er sich das damals ein, sie wurde ungewollt schwanger, und sie zogen nach Schweden. Nach Göteborg, wo sie zur Welt gekommen und in einer freireligiösen Familie aufgewachsen war. Sie heirateten, da man das in ihren Kreisen so machte, wenn ein Kind unterwegs war. Ein paar Monate später ließen sie sich in Kymlinge nieder, wo er eine Stelle bekommen hatte.

Ihr Sohn Robert wurde im Dezember geboren, ein properer Junge von fast vier Kilo. Ihre Tochter Nora kam zwei Jahre später zur Welt und war genauso proper.

Danach nahm die Zeit ihren gewohnten Lauf. 2017 waren die Kinder erwachsen und ausgezogen. Camilla wollte nicht mehr mit ihm zusammenleben. Sie ließen sich scheiden und zogen auseinander. Sie kehrte nach Göteborg zurück, er landete im Wohnviertel Kvarnbo am Rand von Kymlinge. Im Volksmund wurde der Stadtteil »Schwanzlos« genannt, weil die Mehrzahl seiner Bewohner geschiedene, alleinstehende Frauen waren. Es hätte für ihn nicht weiter schwierig sein sollen, eine neue Partnerin zu finden, aber das war nichts für ihn.

Nach der Scheidung war sein Leben eins mit seiner Arbeit. Er war ein hervorragender Ermittler, vor allem, wenn er nicht im Außendienst arbeiten musste. Seine Fähigkeit, Spuren und Zusammenhänge im Internet zu finden, war allseits bekannt, und er wusste, dass er eine Bereicherung für die Kripo in Kymlinge war.

Er wusste zudem, dass man ihn wegen seines düsteren Auftretens Inspektor Sorgsen nannte, weil sorgsen auf Schwedisch traurig bedeutete, aber er scherte sich nicht darum. Man hat den Charakter, den man nun einmal hat, und in seinem Fall gab es dafür tiefgreifende Ursachen, die seinen Kollegen jedoch nicht bekannt waren. Die genau gesagt niemandem bekannt waren, niemandem außer ihm selbst und seiner Mutter in ihrem Heim im fernen Gudbrandstal. Falls es in ihrem verdorrten Schädel noch solche alten Gedanken geben sollte.

Obwohl weder Frau noch Kinder bei ihm waren, war er mit seinem Leben und dessen Bedingungen nicht unzufrieden. Es hätte schlimmer kommen können; tatsächlich erging es den meisten Menschen auf der Welt schlimmer. Außerdem hielt er über Instagram und Telefon trotz allem Kontakt zu Robert und Nora. Nein, Lars Borgsen beklagte sich nicht.

Aber im Oktober 2020, dem ersten Jahr der Pandemie – von Gott weiß wie vielen –, hatte er sich mit dem Virus angesteckt. Drei Wochen im Krankenhaus, drei Monate krankgeschrieben zu Hause; das war schon schlimm genug gewesen, aber erst die Fortsetzung machte das Ganze so viel schlimmer. So viel schwieriger zu bewältigen; die hartnäckige Müdigkeit und seine anderen Probleme. Das Post-COVID-Syndrom, wie es genannt wurde.

Denn wenn er nicht richtig arbeiten konnte, womit sollte er dann seine Zeit verbringen?

Ja, natürlich konnte er auch darüber einige Zeilen verlieren. Über die Angst, aus allen Zusammenhängen herauszufallen. Zu einem dieser lebenden Toten zu werden. Über die klinische Sinnlosigkeit.

Es fehlte nur der Anlass. Auch wenn man über sich selbst schrieb, war ja wohl vorgesehen, dass ein anderer lesen sollte, was man zu Papier gebracht hatte. Lars Borgsen befürchtete jedoch, dass selbst seine Kinder kein Interesse daran haben würden, und deshalb hatte er es gelassen. Unter anderem deshalb. Es musste bei dieser einzigen Zeile bleiben. Wenn du ein elfjähriges Einzelkind bist …

An einem Abend Ende Mai klingelte kurz vor Mitternacht sein Telefon. Er hatte seit neun Uhr unruhig geschlafen; das Handy lag wie üblich zum Laden auf dem Nachttisch, und er bekam es zu fassen.

»Borgsen.«

»Hier ist Stigman.«

»Chef? Guten Abend …«

»Hör zu. Fünfzig Meter von deiner Wohnung liegt ein Typ, ermordet. Zieh dich an und sieh zu, dass du hinkommst. Sein Name ist Fremling … Allan Fremling. Tussilagovägen 12B. Ein Streifenwagen ist gerade eingetroffen, Spurensicherung und Arzt sind unterwegs, aber du musst das Kommando übernehmen.«

»Ich … verstehe«, sagte Borgsen.

»Tussilagovägen 12B. Fremling.«

»Kapiert«, sagte Borgsen.

»Ermordet«, wiederholte Stigman.

»Kapiert«, wiederholte Borgsen.

Monsieur Chef, Kommissar Stig Stigman, legte auf.

Aber ich bin doch so müde, dachte Lars Borgsen.

3

»1998 war er schwedischer Meister im Zehnkampf«, sagte Eva Backman.

Gunnar Barbarotti nickte.

»Da ist man am besten.«

Eva Backman sah von ihren Notizen auf.

»Wie bitte?«

»War er nicht Jahrgang 1970?«

Eva Backman konsultierte erneut ihre Notizen.

»Ja, das stimmt.«

»Also war er achtundzwanzig, als er schwedischer Meister wurde. Als Sportler hat man in dem Alter seinen Zenit erreicht … jedenfalls in den meisten Sportarten.«

Er erhielt keine Antwort, nur ein mildes Kopfschütteln, das alles Mögliche bedeuten konnte.

»Es gibt natürlich Ausnahmen«, sah Barbarotti sich genötigt zu ergänzen. »Turnen, zum Beispiel, wir kennen ja mehrere Russinnen, die bei der Olympiade schon als Jugendliche Gold gewonnen haben. Der Spatz von Minsk zum Beispiel … Olga Korbut.«

Kein Kommentar.

»Beim Skilanglauf kann es dagegen von Vorteil sein, wenn man älter ist, ein paar Jahre über dreißig. Bei Pistolenschützen ist es noch schlimmer, manche erreichen ihren Zenit erst jenseits der fünfzig … Ragnar Skanåker …«

Eva Backman gab auf.

»Wie kommt es, dass du das alles weißt? Und warum ist das überhaupt relevant?«

Barbarotti machte eine vage Geste mit den Händen.

»Ich weiß es, weil ich im Gymnasium ein Referat darüber gehalten habe. Es war nicht so, dass ich mir das Thema ausgesucht hätte, ich habe es einfach zugeteilt bekommen. Aber du hast recht, was Allan Fremling betrifft, ist es bestimmt nicht relevant. Es war nur eine Reflexion.«

»Ausgezeichnet«, sagte Eva Backman. »Wollen wir zur Abwechslung versuchen, stattdessen etwas zu finden, das relevant sein könnte … was hältst du davon?«

Barbarotti kratzte sich am Kopf.

»Schwierig«, sagte er. »Es gibt fürs Erste nicht gerade viel, dem wir nachgehen können.«

»Drei Kugeln in einem Körper und eine nicht verzehrte Pizza«, erwiderte Eva Backman. »Das ist immerhin etwas. Im Übrigen auch eine ungeleerte Dose Cola.«

»Sowie ein Fünfzig-Kronen-Schein«, ergänzte Barbarotti. »Nicht zu vergessen, wie man so sagt. Welche Schlüsse ziehst du, was das Geld betrifft?«

»Ich glaube, der Geldschein und die Pizza hängen zusammen«, antwortete Eva Backman nach kurzer Denkpause. »Da die Pizza in einem Karton vor der Tür lag, ist sie offensichtlich nicht bezahlt worden … und die Cola auch nicht.«

»Aber fünfzig Kronen reichen dafür doch nicht? Mit der Cola müsste das Ganze mehr als hundert Kronen gekostet haben, oder?«

»Richtig. Und den Pizzaboten können wir mit Sicherheit von unserer Liste der Verdächtigen streichen.«

»Mit Sicherheit?«

»Vorläufig.«

»Okay. Wie viele stehen sonst noch auf der Liste?«

»Null«, sagte Eva Backman.

»Eine sehr kurze Liste«, meinte Barbarotti.

»Da bin ich ganz deiner Meinung«, sagte Eva Backman.

»Und ich bin ganz deiner Meinung, dass der Pizzatyp … wie hieß er noch? Boromir …?«

»Jaromir. Boromir ist der aus ›Der Herr der Ringe‹.«

»Ach, wirklich? Nun ja, Jaromir dürfte jedenfalls unschuldig sein. Dass er Fremling erschossen haben soll, als der die Tür aufmachte, um anschließend seine Lieferung stehen zu lassen und davonzufahren, erscheint mir sehr unwahrscheinlich. Wann war er da?«

Eva Backman blätterte in ihren Papieren.

»Ein paar Minuten nach zehn, er kam anscheinend etwas zu spät, hätte schon um Viertel vor da sein sollen.«

»Und Fremling rief um Viertel nach neun an und bestellte die Pizza?«

»Japp. Was bedeutet, dass wir eine Lücke von etwa einer Dreiviertelstunde haben. In der unser Mörder zugeschlagen hat.«

»Immerhin haben wir den Zeitpunkt ganz gut eingekreist.«

»Das haben wir«, stimmte Eva Backman ihm zu. »Fällt dir noch etwas ein, das wir eingekreist haben?«

»Wir kennen den Tatort und wissen, wer das Mordopfer ist«, antwortete Barbarotti. »Und wir kennen die Methode: Er wurde mit drei Schüssen getötet, zwei in die Brust, einer in den Kopf.«

»Brillant«, sagte Eva Backman. »So weit eine hübsche Analyse. Aber Sorgsen ist ja zuständig, wir sind nur seine Handlanger. Wollen wir einen Kaffee trinken gehen? Das schaffen wir noch vor der Besprechung.«

»Ja, Sorgsen«, sagte Barbarotti und stand auf.

»Das klang jetzt ein wenig besorgt.«

»Das liegt daran, dass ich ein wenig besorgt bin«, erwiderte Barbarotti.

Zu dem Treffen im Besprechungsraum in der vierten Etage waren sieben Personen erschienen, sechs Kriminalpolizisten und eine Staatsanwältin, und geleitet wurde es von Kommissar Stig Stigman. Die übrigen sogenannten Bullen waren die Kommissare Barbarotti und Backman, die Inspektoren Sorgsen und Lindhagen sowie der junge Neuzugang, Kriminalanwärterin Paola Borgada, erst achtundzwanzig Jahre alt und seit einem knappen Monat bei der Polizei in Kymlinge. Die Staatsanwältin hieß Ebba Bengtsson-Ståhle, was bedeutete, dass die Geschlechterverteilung bei vier zu drei zugunsten der Männer lag, was immer eine solche irrelevante Reflexion wert sein mochte. Aber sie tauchte wahrscheinlich nur in Gunnar Barbarottis Kopf auf, der an diesem schönen Tag im Mai ein Spielfeld, um nicht zu sagen ein Tummelplatz, für genau das zu sein schien: irrelevante Reflexionen.

Oder auch für frühe Anzeichen von Demenz, dachte er und ließ sich zwischen Lindhagen und der Staatsanwältin nieder. Wundern würde es einen nicht.

»Kavafis?«, begann Kommissar Stigman und sah auf seine schwere Armbanduhr. »Wo haben wir Inspektor Kavafis?«

»Wahrscheinlich auf der Entbindungsstation«, antwortete Eva Backman. »Seine Frau bekommt gerade ihr Kind.«

»Stimmt ja, hm«, murmelte Stigman, möglicherweise leicht verlegen. »Das war mir entfallen. Nun ja, wollen wir hoffen, dass alles gut geht, sodass er möglichst bald wieder im Dienst ist. Wir haben es jedenfalls mit einem neuen Mord zu tun. Ein gewisser Allan Fremling wurde gestern Abend in Kvarnbo erschossen. Bis auf Weiteres übernimmt Inspektor Borgsen die Leitung der Ermittlungen, ich übergebe dir das Wort. Bitte, Borgsen, du hast das Wort.«

Sorgsen dankte ihm, stellte sich vor ein leeres Whiteboard und präsentierte die Fakten im aktuellen Fall. Etwas umfassender, als Barbarotti und Backman sie eben in Backmans Büro abgehandelt hatten, aber nicht viel.

Der Sportlehrer Allan Fremling war am Vorabend im Zeitraum 21.15 – 22.00 Uhr in seiner Wohnung erschossen worden. Drei Schüsse, zwei in die Brust, einer in den Kopf. Leere Patronenhülsen waren sichergestellt worden. Möglicherweise war die Waffe mit einem Schalldämpfer versehen gewesen, denn keiner der bislang befragten Nachbarn hatte Schüsse gehört. Das war vorerst jedoch nur eine Vermutung, Handfeuerwaffen knallten früher lauter als heute.

Fremling war kurz nach dreiundzwanzig Uhr von seiner Freundin Rebecca Nilzon gefunden worden, als diese zu einem ungeplanten Besuch eintraf und seinen leblosen Körper in einer großen Blutlache auf dem Fußboden des Flurs direkt hinter der Haustür fand. Die Vermutung lag nahe, dass der Mörder geklingelt und sein Opfer erschossen hatte, als es die Tür öffnete. Rebecca Nilzon hatte durch die Entdeckung einen schweren Schock erlitten und war, nachdem sie die Polizei gerufen hatte, zur Beobachtung ins Krankenhaus von Kymlinge gebracht worden. Sie war also noch nicht vernommen worden.

»Backman und Borgada fahren gleich nach unserer Besprechung zu ihr«, entschied Sorgsen. »Die Zeugenvernehmungen mit den Nachbarn laufen. Die Tatortgruppe ist seit Mitternacht vor Ort.«

Lindhagen sah auf die Uhr.

»Inzwischen sind also etwa zwölf Stunden vergangen. Nicht viel, aber eine ganz andere Frage: Gibt es hier eine Verbindung zu kriminellen Gangs? In der heutigen Zeit ist das ja immer die erste Frage, die man sich stellen muss. Gibt es in Kvarnbo Gangkriminalität?«

Sorgsen erklärte, man sehe im aktuellen Fall keine Verbindung zu einer oder mehreren kriminellen Gangs. Fremling hatte als Mittelstufenlehrer gearbeitet, war zweiundfünfzig Jahre alt, hatte in Schweden geborene Eltern und war in Grums aufgewachsen, nichts davon ließ einen an Gangs denken, und in der Gegend gab es kaum Kriminalität. Seine Kollegen in der Kvarnbo-Schule würde man im Laufe des Tages und der nächsten Tage vernehmen. Man wusste noch nicht, ob Fremling ausgesprochene Feinde hatte oder welche Motive es dafür geben könnte, ihn zu töten.

»Bei der Frage des Motivs stehen wir noch ganz am Anfang«, verdeutlichte Stigman. »Wissen wir schon etwas über die Lebensverhältnisse des Opfers? Die Lebensverhältnisse, bitte!«

»Ledig«, erklärte Sorgsen. »Wie gesagt, eine Freundin. Er war nie verheiratet, keine Kinder … aber wir werden später darauf zurückkommen müssen, sobald wir mehr Material haben.«

»Nun ja«, sagte Stigman. »Irgendjemand muss jedenfalls einen Grund gehabt haben, ihn zu erschießen. Es sei denn, der Mörder hat sich zufällig in der Tür geirrt. Das ist schon vorgekommen, und dann könnte es doch mit unseren verdammten Gangs zusammenhängen. Wir werden das nicht ausschließen.«

»In der Gegend gibt es eine ziemlich komplizierte Verteilung der Hausnummern«, warf Barbarotti ein. »Ich habe dich ja mal zu Hause besucht, Borgsen, und eine Weile gebraucht, bis ich das richtige Haus gefunden habe.«

»Korrekt«, stimmte Sorgsen ihm zu. »Die Nummerierung ist ein bisschen wirr. Aber können wir nicht dennoch bis auf Weiteres davon ausgehen, dass Allan Fremling das vorgesehene Opfer war?«

»Sicher, das vereinfacht die Dinge etwas«, bestätigte Lindhagen. »Und wenn ein anderer die Zielscheibe war, kommt es vielleicht noch dazu. Ich meine, zu dem Mord am eigentlichen Opfer.«

»Ein richtiger Gedanke«, sagte Barbarotti. »Wenn auch nicht besonders optimistisch.«

»Darüber lässt sich streiten«, erwiderte Lindhagen. »Wenn du ermordet wirst, ist es dann besser oder schlechter, wenn es dafür gute Gründe gibt?«

»Ich weiß nicht, was ich bevorzugen würde«, antwortete Barbarotti. »Ich habe das Gefühl, dass es letztlich aufs Gleiche hinausläuft.«

Kommissar Stigman blinzelte schlecht gelaunt.

»Darf ich euch daran erinnern, dass dies keine Diskussionsrunde ist? Ihr könnt eure Hypothesen privat erörtern … hat die Frau Staatsanwältin irgendwelche Ansichten? Nicht zu Lindhagens und Barbarottis Gewäsch, sondern zum Fall. Zu dem, woran wir arbeiten …«

Ebba Bengtsson-Ståhle räusperte ein unabsichtliches Lächeln weg und schüttelte den Kopf.

»Nein, nichts. Aber wie gesagt, wir stehen ja noch ganz am Anfang. Ihr haltet mich wie gewohnt auf dem Laufenden.«

»Natürlich«, versicherte Stigman ihr. »Wie immer. Und ich spreche um dreizehn Uhr mit den Medienvertretern. Also um eins. Ich denke, die Staatsanwältin und ich können es euch überlassen, die Arbeit zu verteilen. Nicht wahr, Inspektor Borgsen?«

»Danke, natürlich«, antwortete Sorgsen. »Kein Problem. Haut einfach ab!«

Die letzte Aufforderung war wahrscheinlich als kleiner Scherz gemeint, aber Kommissar Stigman zuckte dennoch zusammen, hüllte sich jedoch in Schweigen, rückte seine Krawatte gerade, an diesem Tag war sie gelb, und stand auf.

Sorgsen sollte ernst bleiben, dachte Barbarotti. Da ist er zu Hause.

4

Eva Backman mochte Paola Borgada.

Vielleicht, weil sie so gar nicht den unwahrscheinlichen Polizistinnen ähnelte, die in Fernsehserien vorkamen. Gut aussehend, scharfsinnig und häufig mit irgendeinem interessanten mentalen Defekt behaftet. Autismus oder Tourette-Syndrom oder etwas in der Art.

Paola Borgada wirkte stattdessen völlig normal. Sie war das Kind einer chilenischen Einwanderin in zweiter Generation und eines småländischen Bauern in sechzehnter Generation und war Polizistin geworden – und hier endete das Normale –, weil es in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war (Rumskulla), einen ungelösten Mord gab, und sie beabsichtigte, den Fall zu lösen.

Aber das hatte keine Eile, denn der Mord war 1999 geschehen, und die Ermordete war die Großmutter von Ellen gewesen, Paolas bester Freundin im Kindergarten. Die Mädchen waren fünf, als es zu der schrecklichen Tat kam, und da Paola als schlau galt und die Polizei offensichtlich auf Granit biss, hatte Ellen ihrer besten Freundin das Versprechen abgenommen, dass sie den Mord aufklären würde. Paola hatte es versprochen, und das war der Stand der Dinge.

Die junge Kriminalanwärterin hatte die Geschichte ihrer mehr als dreißig Jahre älteren Kollegin eines Abends, als die beiden ein Glas Wein trinken waren, mit kleidsamer Selbstironie, unter weiblichen Bullen, erzählt. Es war nach der ersten Woche der Neuen in Kymlinge gewesen, und Eva Backman hatte gedacht, dass man mit dieser Einstellung die besten Aussichten hatte, eine Ermittlerin zu werden, die das Polizeicorps gebrauchen konnte.

Dass sie darüber hinaus eine Frau war, abgesehen von Eva die erste seit Langem unter den Ermittlern der Kriminalpolizei in Kymlinge, war auch nicht von Nachteil.

Genauso wenig war es von Nachteil, dass Paola zurückhaltend und klug war. Lernwillig. Voller Fragen und nicht so forsch, wie gewisse jüngere Kollegen es gerne einmal waren. Nicht alle, aber viele. Männer, wenn man genau sein wollte.

Sie könnte ebenso gut in meinem Alter sein, hatte Eva Backman angesichts des Eindrucks allgemeiner Reife gedacht, den Paola vermittelte. Oder zumindest wie eine etwas jüngere Schwester. Hoffentlich hatte sie nicht vor, ein paar Jahre in Elternzeit zu gehen. Ihr Freund hieß Gustaf und arbeitete bei einer Bank, mehr war bis jetzt nicht geklärt worden.

Jedenfalls war es ein gutes Gefühl, Paola Borgada an ihrer Seite zu haben, wenn es nun darum ging, sich mit der geschockten Lebensgefährtin eines frisch ermordeten Sportlehrers zu befassen.

Es war nicht Rebecca Nilzon, die ihnen die Tür zur Bruksgatan 30 öffnete, wo die Freundin des Ermordeten in einer Zweizimmerwohnung aus den Siebzigerjahren wohnte. Es war stattdessen eine gewisse Helena Gratte, die Mitbesitzerin des Reformhauses Grundsund, das im Zentrum von Kymlinge eingeklemmt zwischen der Apotheke Draken und dem Systembolaget lag. Sie war eine kleine, stämmige Frau um die vierzig mit blonden Haaren und blauem Blick, und ihrem Zungenschlag nach zu urteilen stammte sie aus Nordschweden. Möglicherweise sogar sehr weit aus dem Norden, vom Polarkreis oder dessen Umgebung, aber Eva Backman war keine Expertin für die Dialekte nördlich des Flusses Dalälven in Mittelschweden.

Nach der Vorstellung wies die Frau ihnen den Weg in ein Wohnzimmer, das vorrangig mit großen grünen Pflanzen eingerichtet war. Es gab dort allerdings auch eine Sitzecke, in der Rebecca Nilzon bereits halb liegend auf der Couch saß und wie erwartet aussah: halb ohnmächtig und mit einem verquollenen und rot verheulten Gesicht.

»Sie hat diese Nacht kaum geschlafen«, erklärte Helena Gratte. »Ich habe sie heute Morgen um halb sechs im Krankenhaus abgeholt. Sie nimmt niemals Schlaftabletten, aber diesmal hätte sie vielleicht welche gebraucht. Sie müssen behutsam mit ihr umgehen.«

»Selbstverständlich«, sagte Eva Backman und wandte sich an die Rotverheulte auf der Couch. »Guten Tag, Rebecca, Sie verstehen sicher, dass wir Ihnen ein paar Fragen stellen müssen. Was passiert ist, war natürlich ein Schock für Sie, aber wir gehen es in aller Ruhe an. Ist das okay für Sie?«

Rebecca Nilzon nickte, und sie setzten sich.

»Soll ich dabei sein?«, erkundigte sich Helena Gratte.

»Nein, das ist nicht nötig«, sagte Eva Backman. »Aber könnten Sie vielleicht in der Wohnung bleiben?«

»Ich würde meine beste Freundin nicht für allen Blutpudding in Piilijärvi allein lassen. Wenn etwas ist, ich bin in der Küche.«

Sie verließ den Raum und zog die Schiebetür zu.

»Ich begreife es nicht«, sagte Rebecca Nilzon mit einer Stimme, die gerade so trug. »Ich begreife es einfach nicht.«

»Es ist auch für uns ziemlich unbegreiflich«, erwiderte Eva Backman.

»Könnte es ein Irrtum gewesen sein … also, dass der Schütze es auf jemand anderen abgesehen hatte? Ich habe von so etwas gelesen.«

»Wir wissen es nicht«, sagte Eva Backman. »Vielleicht, aber Kvarnbo ist eigentlich kein Problemviertel. Es gibt dort keine Gangkriminalität. Sie haben ihn gefunden? Sind Sie in der Lage, es uns mit Ihren eigenen Worten zu schildern?«

»Ich kann es versuchen«, antwortete Rebecca Nilzon und richtete sich auf der Couch auf. »Entschuldigen Sie bitte, darf ich Ihnen etwas anbieten? Helena könnte in der Küche Kaffee oder Tee kochen, während wir reden.«

Eva Backman lehnte dankend ab und dachte, was immer auf der Welt passiert, man kann es stets mit einer Tasse Kaffee hinunterspülen und zur Normalität zurückfinden, zumindest in diesem lang gestreckten Land.

»Ich nehme unser Gespräch auf«, sagte sie. »Sie erhalten später eine Abschrift, die Sie gutheißen oder kommentieren können. Sind Sie einverstanden?«

»Ja … ja, natürlich.«

»Schön. Dann wäre es gut, wenn Sie uns erzählen könnten, was gestern Abend passiert ist.«

Rebecca Nilzon atmete tief durch und schloss für eine Sekunde die Augen.

»Ich hatte eigentlich gar nicht vorgehabt hinzufahren … zu Allan, meine ich. Er wollte an den Zeugnisnoten arbeiten, deshalb hatten wir geplant, uns stattdessen heute zu treffen. Aber als er sich nicht meldete … ich habe um Viertel vor zehn angerufen, um ihm Gute Nacht zu sagen … ja, da habe ich noch zweimal angerufen und mir Sorgen gemacht.«

»Er meldet sich sonst?«, fragte Paola Borgada.

»Immer. Und wenn er beschäftigt ist, ruft er kurz darauf zurück.«

Sie verstummte und wurde von einem Schauer durchlaufen. Allan Fremling gab es jetzt nur noch in der Vergangenheitsform.

»Meldet sich«, sagte sie. »Er meldete sich … mein Gott, es ist nicht zu fassen, dass er einfach … wir wollten doch heiraten.«

»Wie lange sind Sie zusammen gewesen?«, fragte Eva Backman.

»Ein Jahr … etwas länger. Wir wollten nach dem Sommer zusammenziehen … waren auf der Suche nach einem Haus. Und jetzt … nein, was haben Sie gefragt?«

»Sie hatten beschlossen, zu Allan zu fahren«, sagte Eva Backman. »Wie spät war es da?«

»Ich wollte erst mit dem Fahrrad fahren, aber dann dachte ich, dass es dumm ist, spätabends mit dem Rad durch die Stadt zu fahren. Also habe ich das Auto genommen, ich bin gegen Viertel vor elf hier losgefahren. War ungefähr um elf da, dachte, dass ich vielleicht bei ihm übernachte …«

Dann brach sie zusammen. Rebecca Nilzon schlug die Hände vors Gesicht und fiel, von Tränen geschüttelt, auf die Couch zurück. Backman gab Borgada ein Zeichen zu warten, und nach zehn, fünfzehn Sekunden war der Anfall vorüber. Backman dachte an etwas, das sie einmal gelesen hatte: Tränen werden gebraucht und gehen immer vorbei. Sie waren die Methode des Körpers, Druck abzulassen, sobald dieser zu stark geworden war. Rebecca Nilzon setzte sich wieder auf, schnäuzte sich und bat um Entschuldigung.

»Können Sie weitermachen?«

Sie nickte und atmete erneut tief durch.

»Ich will es versuchen. Ehrlich gesagt gibt es da nicht viel zu erzählen … furchtbar, aber nicht viel. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht anzuklopfen, ich habe natürlich einen Schlüssel, aber er hatte ohnehin nicht abgeschlossen, er lässt … ließ die Wohnungstür immer offen. Entschuldigen Sie. Ja, und als ich sie aufmachte, lag er da. Überall Blut, ich glaube …«

»Ja?«

»Ich glaube, ich habe sofort begriffen, dass er tot war. Ich habe seinen Puls nicht gefühlt und so, obwohl ich Erste-Hilfe-Kurse besucht habe … er lag in einer großen Blutlache. Ich habe nur die Tür zugemacht, ich weiß nicht, warum ich sie zugemacht habe, und dann habe ich es irgendwie hinbekommen, eins eins zwei anzurufen. Danach habe ich mich neben die Tür gesetzt, mich an die Wand gelehnt, und dann kam der Schock … von dem, wie es weiterging, weiß ich nicht mehr viel, nur, dass es plötzlich von Polizisten wimmelte und man mich ins Krankenhaus brachte. Ja, sie haben natürlich meinen Namen und so aufgenommen … ach ja, genau, bevor die Polizei kam, war da eine Katze, die zu mir kam und schmusen wollte. Als ich sie gestreichelt habe, hat sie geschnurrt … ich glaube, ich bildete mir ein, dass sie Allan war, der zu mir zurückgekehrt war.«

Sie schluchzte auf. Eva Backman spürte auf einmal, wie auch in ihr Tränen aufstiegen. Vielleicht merkte Paola Borgada es, denn sie sagte:

»Danke, das haben Sie schön erzählt. Manchmal tauchen Tiere aus einem Grund auf.«

Rebecca Nilzon warf ihr einen erstaunten Blick zu, und für den Bruchteil einer Sekunde schlich sich ein Lächeln an. Die Vernunft und die Umstände ließen es jedoch gleich wieder ersterben.

Sie machten noch eine Weile weiter. Spulten vorschriftsmäßig die üblichen Fragen ab: ob Fremling Feinde hatte, wie er in der letzten Zeit gewesen war, ob er jemals erzählt hatte, dass er sich bedroht fühlte, ob seine Freundin glaubte, dass er ihr gewisse Dinge verheimlicht haben könnte, und so weiter und so fort – kamen aber nie auch nur in die Nähe eines Grunds dafür, warum ihr Freund erschossen worden war.

Es gab einfach keinen Grund. Allan Fremling war allgemein respektiert gewesen, er war anständig und sorgsam darauf bedacht gewesen, ein guter Bürger zu sein, der sich stets korrekt verhielt. Was seine Freizeitinteressen anging, so hatten sie in völligem Einklang mit denen seiner Freundin gestanden. Gesunde Lebensweise, körperliche Aktivitäten verschiedener Art, die eigenen Grenzen austesten mithilfe von Langlauf und verschiedenen Ausdauersportarten wie Triathlon und Ähnlichem.

Freunde und Bekannte?

Einige gemeinsame, aber Allan hatte auch eine Reihe von Trainingskumpeln und ein paar Kollegen in der Schule, von denen Rebecca wusste, dass er sich gelegentlich ohne ihre Begleitung mit ihnen traf.

Sie bekamen eine Anzahl Namen, aber als es um Fremlings Familie ging, wusste seine Freundin im Grunde nur, dass beide Eltern tot waren und er eine Schwester in Dänemark hatte, die er niemals sah. Niemals gesehen hatte. Eine frühere, recht lange Beziehung war in die Brüche gegangen, ehe er vor ein paar Jahren nach Kymlinge gezogen war. Keine Kinder.

Gab es überhaupt etwas, das in Rebeccas Augen Licht in die Tragödie bringen konnte, die sich ereignet hatte?

Nein, nichts. Absolut nichts. Der Mörder könne nur ein Irrer gewesen sein oder sich in der Person geirrt haben.

»Aber das mit der Pizza …«, fiel ihr am Ende ein.

»Was ist mit der Pizza?«, fragte Borgada.

»Wir essen niemals Pizza. Das ist Junkfood, und wir achten sehr genau auf unsere Ernährung.«

»Klug«, erwiderte Eva Backman und bereute es im selben Moment, weil ihr die gesunde Wahl in diesem Fall ein wenig überholt zu sein schien. Und wie man es auch sah, Allan Fremling war es immerhin erspart geblieben, als Letztes in seinem Leben Junkfood zu essen. Da der Karton und die Cola vor der Tür gestanden hatten.

Sie schaltete das Aufnahmegerät aus, bedankte sich und erklärte, dass sie an einem der nächsten Tage wiederkommen würden, Rebecca Nilzon sich aber auf jeden Fall bei der Polizei melden sollte, wenn ihr etwas einfiele, von dem sie glaubte, es könne für die Ermittlungen von Nutzen sein. Besser einmal zu viel anrufen als einmal zu wenig.

Bevor sie aufbrachen, nutzten sie die Gelegenheit, in der Küche noch ein paar Worte mit Helena Gratte zu wechseln, aber die Freundin/Geschäftspartnerin hatte nicht mehr beizusteuern als das, was sie bereits gesagt hatte, als sie ankamen.

»Wir werden sicher noch einmal mit Ihnen sprechen müssen, wir melden uns dann bei Ihnen«, sagte Eva Backman abschließend. »Sind Sie in den nächsten Tagen in der Stadt?«

»Zumindest bis Mittsommer«, versicherte Helena Gratte. »Sie sind jederzeit willkommen. Allan ist ja tot und kommt nicht zurück. Aber das Schwein, das ihn erschossen hat, soll hinter Schloss und Riegel landen.«

»Dafür werden wir sorgen«, versprach Paola Borgada ihr.

5

Die Kvarnbo-Schule war eine moderne Schule, die zu altbewährten Methoden zurückgekehrt war. An ihr gab es sowohl Klassen als auch Klassenzimmer und eine Schulglocke, die am Anfang und am Ende der Stunden klingelte. Natürlich benutzte man Computer, aber auch ehrenwerte Bleistifte, und die Lehrer hatten das Recht, selbst über die Inhalte der Schulstunden zu bestimmen. Es war eine schwere Zeit gewesen, solange die Pandemie wütete, aber seit einigen Monaten funktionierte alles bestens, darin waren sich Schüler und Personal einig. Die Noten wurden immer besser, und bald begannen die Sommerferien.

Diese grundlegenden Informationen erhielten Kommissar Barbarotti und Inspektor Lindhagen während der einleitenden Minuten in Gesellschaft von Rektor Svedjemyr, einem optimistischen Herrn Anfang fünfzig. Groß und durchtrainiert mit einem glatt rasierten, faltenlosen Gesicht, das von einem Leben ohne entscheidende Komplikationen zeugte.

»Jetzt sind wir ja keine Abgesandten der Schulaufsichtsbehörde«, konterte Lindhagen. »Oder wie die heutzutage heißt. Wir sind Polizisten, und der Anlass unseres Besuchs ist, dass gestern Abend einer Ihrer Lehrer ermordet wurde.«

Damit war aus dem Optimismus die Luft raus.

»Selbstverständlich, selbstverständlich«, sagte der Rektor. »Das ist ja wirklich furchtbar. Wir haben heute Morgen die ganze Schule in der Aula versammelt. Wohin entwickelt sich unsere schöne Gesellschaft nur?«

Gute Frage, dachte Barbarotti. Wenn auch etwas abgedroschen. Und wir werden ganz sicher nicht versuchen, sie zu beantworten.

»Wie war er?«, fragte er stattdessen. »Können Sie Allan Fremling für uns kurz beschreiben?«

»Äh …?«, sagte der Rektor. »Wie meinen Sie das jetzt?«

»War er ein guter Lehrer?«, präzisierte Lindhagen. »Zu meiner Zeit hatten wir gute und schlechte Lehrer, die meisten waren schlecht. War er beliebt? Konnte er für Ordnung sorgen … tja, plaudern Sie einfach ein bisschen aus dem Nähkästchen, wenn wir bitten dürfen.«

»Ich verstehe«, versicherte der Rektor und schluckte. »Fremling ist seit ein paar Jahren bei uns gewesen, und er ist ein ausgezeichneter Lehrer … ich meine, war. Er hat ja in erster Linie Sport unterrichtet, aber auch ein paar Stunden Mathematik. Er konnte zweifellos für Ordnung sorgen, etwas anderes ist mir niemals zu Ohren gekommen.«

Ah ja?, dachte Barbarotti. Das war eine Wahrheit mit Rissen.

»Aber?«, sagte er.

»Aber?«, sagte der Rektor und hob eine Augenbraue.

Vielleicht hat er irgendeine Krankheit, dachte Barbarotti. Man muss ihm wirklich sehr auf die Sprünge helfen.

»Ich hatte den Eindruck, dass Sie noch etwas sagen wollten. Oder nicht?«

Rektor Svedjemyrs großer Körper wand sich auf dem Schreibtischstuhl.

»Nein, nein, ich möchte betonen, dass es an Fremlings Unterricht nie etwas auszusetzen gab. Es ist völlig unbegreiflich, dass jemand ihn erschossen hat, und ich bin mir sicher, dass es …«

Er zögerte, aber Lindhagen gefiel dieses Zögern nicht.

»Sicher, dass was?«

Der Rektor zögerte weiter und wischte Staub vom Schreibtisch.

»Ich wollte nur sagen, dass das, was passiert ist, natürlich nichts mit uns an der Schule zu tun hat.«

»Sie sagen, Sie sind sich sicher, aber in meinen Ohren klingen Sie eher unsicher«, hakte Lindhagen nach.

Barbarotti stellte sich seinen Kollegen manchmal als cholerischen Staatsanwalt in einem alten amerikanischen Gerichtsfilm vor, und an diesem Tag machte er dieser Fantasie alle Ehre.

»Also, es ist so«, intonierte der Rektor nach einer kurzen Denkpause. »Er konnte recht hart sein, der gute Fremling. Aber das ist an einem solchen Arbeitsplatz auch manchmal nötig, und er ist nie zu weit gegangen.«

»Fahren Sie fort«, sagte Barbarotti und versuchte, etwas freundlicher zu klingen. »Es ist wichtig, dass wir uns ein möglichst klares Bild machen. Ein Lehrer hat an einer Schule ja sehr viele Kontakte. Sie können sich auf unsere Diskretion verlassen. Alles, was nicht von direkter Bedeutung für die Ermittlungen ist, sieht nie das Licht des Tages.«

Kontakte und Licht des Tages, dachte er. Lindhagen wird mir eine aufs Maul geben.

Aber Lindhagen begnügte sich damit, leise zu knurren. Der Rektor streckte sich und schien in der höheren Sphäre neue Autorität zu finden.

»Ich verstehe«, sagte er. »Man kann nicht alles unter Kontrolle haben, was in einer Schule passiert, und ich werde natürlich nicht spekulieren. Es passieren heutzutage ja die bizarrsten Dinge an den Schulen in aller Welt. Und grässliche Sachen. Schüsse und Messerstechereien und alles Mögliche. Die Morde an dem Gymnasium in Malmö waren wohl die bisher letzte Untat in unserem Land, aber in dieser schrecklichen Hinsicht liegen wir natürlich weit hinter den USA zurück … was ich sagen will, ist, dass ich natürlich nicht garantieren kann, dass der schauerliche Mord an unserem Kollegen nichts mit unserer Schule zu tun hat … auf irgendeine Art. Aber ich glaube es nicht. Ich glaube es wirklich nicht.«

»Wollen wir hoffen, dass Sie recht haben«, sagte Barbarotti. »Aber fällt Ihnen irgendein Zwischenfall ein, der mit Fremling zu tun hat? Ein kleines Detail oder Ereignis, das … nun, das irgendwie heraussticht?«

Lindhagen blieb still, und der Rektor dachte einen Moment nach. Dann schüttelte er seinen wohlgeformten Kopf.

»Nein, da fällt mir nichts ein. Ich verstehe, worauf Sie hinauswollen … auf eine Art Konflikt, für den keine akzeptable Lösung gefunden wurde. Nicht?«

»Exakt«, sagte Barbarotti, erhielt aber erneut eine verneinende Antwort.

»Nein, da kommt mir auf Anhieb nichts in den Sinn.«

»Wie lief es denn zwischen ihm und seinen Kollegen?«, fragte Lindhagen in einer ungewöhnlich neutralen Tonlage.

»Gut, glaube ich«, antwortete der Rektor. »Ich habe jedenfalls von nichts anderem Kenntnis erhalten.«

»Wir müssten mit einigen von denen sprechen, die ihm im Kollegium am nächsten standen«, meinte Barbarotti. »Können Sie uns zwei, drei Kandidaten nennen?«

»Kein Problem«, antwortete Rektor Svedjemyr. »Überhaupt keins.«

»Ausgezeichnet«, sagte Barbarotti.

»Na dann«, sagte Lindhagen.

Lena Hjort wartete in einem leeren Gruppenraum in der oberen Etage der Schule. Sie war eine dunkelhaarige Frau um die vierzig, trug einen roten Trainingsanzug und ein breites Band im gleichen Ton, um ihre üppigen Haare hochzuhalten. Sie war spürbar nervös.

Barbarotti stellte sich und sein Anliegen umstandslos vor.

»Sie wissen, was passiert ist, und ich möchte ein ernsthaftes Gespräch mit Ihnen führen. Sie sind ja Sportlehrerin und die Kollegin, die Fremling hier wahrscheinlich am besten gekannt hat. Habe ich das richtig verstanden?«

Lena Hjort nickte.

»Ja, das dürfte stimmen.«

»Wir haben eine Stunde, nicht?«

Sie sah auf die Uhr.

»Fünfundvierzig Minuten … aber wenn es nötig ist, können wir natürlich auch eine Stunde ausfallen lassen.«

»Wir werden versuchen, es zu vermeiden. Es ist besser, wenn der Schulalltag möglichst normal weitergeht.«

»Das mag sein«, entgegnete Lena Hjort, »aber es ist einfach nicht möglich, so zu tun, als wäre nichts passiert … es kommt mir sehr seltsam vor. Wir könnten die Schule natürlich auch für einen Tag schließen, aber während der Pandemie ist sie so viel geschlossen gewesen, dass … ach, ich weiß nicht. Die Schule zu schließen, käme mir ein bisschen so vor, als würde man die Verantwortung von sich abwälzen.«

Barbarotti nickte.

»Das sehe ich genauso. Bei der Polizei stecken wir recht oft in dieser Bredouille, den Anschein zu erwecken, dass wir alles unter Kontrolle haben, auch wenn es gar nicht zutrifft.«

Warum habe ich das gesagt?, dachte er. Reiß dich zusammen, Herr Kommissar.

»Also business as usual?«, sagte Lena Hjort, schon etwas ruhiger.

Sie hat entdeckt, dass ich ein Mensch bin, vermutete Barbarotti.

»So ungefähr«, sagte er. »Wie auch immer, ich möchte, dass Sie mir ein Bild von Allan Fremling zeichnen, und es ist wichtig, dass Sie es nicht in schöne Worte packen. Sie können sich auf meine Diskretion verlassen.«

Lena Hjort schien abzuwägen, und es vergingen einige Sekunden.

»Ich habe natürlich darüber nachgedacht«, sagte sie.

»Gut«, meinte Barbarotti.

»Aber es ist so schockierend. Als Svedjemyr heute Morgen anrief, traute ich meinen Ohren nicht. Man kann es einfach nicht verstehen …«

»So ist es«, gab Barbarotti ihr recht. »Leider gehört das zu meinem Alltag, aber um den geht es hier ja nicht. Jemand hat Ihren Kollegen erschossen, und dafür könnte es einen Grund gegeben haben. Erzählen Sie mir bitte von Allan Fremling.«

Sie nickte und faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. Jetzt reicht es aber mit den Vorreden, dachte Barbarotti.

»Ja, sicher, natürlich. Ich hoffe, dass das, was ich sage, nicht weitergetragen wird.«

»Sie haben mein Wort«, sagte Barbarotti.

»Danke. Es ist nämlich so, dass … dass Allan an der Schule nicht besonders beliebt war. Nicht bei seinen Kollegen, aber vor allem nicht bei den Schülern. Die meisten hatten schlicht und ergreifend Angst vor ihm.«

»Angst?«

»Ja. Unsere besten Schüler in Sport mochten seinen Stil vielleicht, aber die anderen nicht. Er war viel zu hart, irgendwie militärisch, wie manche Männer gern sein wollen. Manchmal verhöhnte er die Schüler, die in Sport nicht so gut waren. Oder war zumindest ironisch. Wir haben ja eine gemeinsame Stunde Sport für Jungen und Mädchen in jeder Klasse, in der er und ich zusammengearbeitet haben, ich habe also einiges gesehen und gehört. Davon abgesehen haben alle eine Doppelstunde Sport in der Woche, die nach Geschlechtern aufgeteilt ist …«

»Wie lange haben Sie mit ihm zusammengearbeitet?«

»Ungefähr drei Jahre. Während der Pandemie herrschte natürlich ein großes Durcheinander, aber vor März 2020 war es wie immer … und in den letzten Monaten auch. Fremling kam im Herbst 2019 an die Schule.«

»Und Sie selbst?«

»Wie lange ich schon in Kvarnbo arbeite?«

»Ja.«

»Seit die Schule eröffnet wurde … 2017. Ich unterrichte auch Biologie, eigentlich soll es hier vier Sportlehrer geben, aber eine Kollegin ist in Elternzeit, und eine Stelle ist nicht besetzt. Sparmaßnahmen, falls Sie davon schon einmal gehört haben?«

»Das habe ich«, bestätigte Barbarotti. »Aber erzählen Sie mir bitte mehr von Fremling. Wie sieht es aus, hat das Problem seines harten Stils zu Diskussionen geführt?«

Lena Hjort schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht, dass ich wüsste. Letzten Endes hat es ja funktioniert. Solange Ordnung und Disziplin herrschen, fragt keiner nach den Methoden.«

Es gab einen deutlichen Anstrich von Verbitterung – oder Zorn – in dieser letzten Antwort, und Barbarotti fragte sich, ob es sich an der Schule genauso verhielt wie überall sonst, wo das Starke, vermeintlich Männliche, immer am längeren Hebel saß. Letztlich. Was die Weltlage widerspiegeln würde, die davon geprägt war, dass es mehr als genug Führer gab, die höchstens Trainer von Mannschaften im Tauziehen hätten werden sollen. Wie konnte das, was sich in der Ukraine abspielte, in unserer heutigen Zeit geschehen? Wer hätte vor zwanzig Jahren geglaubt, dass testosterongesättigte Clowns wie Trump, Putin, Bolsonaro, Erdogan und andere die zerbrechliche Zukunft der Welt in ihren Fäusten halten würden? This is a man’s world, wie es im Lied hieß. Aber die Fortsetzung hatte man anscheinend vergessen: dass mit unserer Welt nicht viel los wäre, wenn es keine Frauen in ihr gäbe.

Aber er saß hier nicht, um sich über diese traurigen Fragen auszutauschen. In einem Gruppenraum an der Kvarnbo-Schule, die so modern war, dass man nach Richtlinien arbeitete, die älter waren als jene, die galten, als er selbst in die Mittelstufe ging. In den verworrenen Siebzigerjahren.

»Es ist, wie es ist«, fasste er talentiert zusammen. »Hatte Fremling vielleicht sogar regelrechte Feinde?«

»Sie fragen mich, ob ich glaube, dass jemand an unserer Schule ihn erschossen hat?«

»Ja, das tue ich wohl«, gestand Barbarotti. »Sie müssen mir keine Namen nennen, aber könnte es hier an der Schule jemanden geben … oder mehrere … denen er so zuwider war, dass sie ihn gerne umbringen würden? Unter den Schülern oder … nun ja?«

Lena Hjort schüttelte erneut den Kopf.

»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und Kvarnbo ist keine Gegend, in der es Gangs gibt, die Jugendliche rekrutieren. Natürlich haben wir hier auch Unruhestifter, aber sie sind nicht kriminell. Es ist hier nicht wie in Rocksta oder Sjöängen, Viertel, die Sie bestimmt gut kennen?«

»Das tue ich. Und unter den Kollegen? Entschuldigen Sie, aber ich muss diese Frage stellen.«

»Nie und nimmer«, antwortete Lena Hjort.

Eine Stunde später hatte er, in deutlich vorsichtigeren Worten, mit zwei weiteren Kollegen Fremlings gesprochen und im Großen und Ganzen die gleichen Antworten bekommen, wenn auch weniger explizit, mehr durch die Blume gesprochen. Der ermordete Lehrer war ein harter Hund gewesen, aber ein unter den gegebenen Umständen gut funktionierender harter Hund, und mit Rückendeckung, so ähnlich, wie man auch bei der Polizei weniger verdienstvollen Mitarbeitern Rückendeckung gab.

Als er auf dem Parkplatz der Schule Inspektor Lindhagen wiedersah, merkte er, dass dieser niedergeschlagen war, was vielleicht nicht weiter verwunderlich erschien. Oder wie etwas, dem man Beachtung schenken musste; das eigene Wohlbefinden war ohnehin nichts, was man in die Waagschale werfen sollte, nicht in diesen Zeiten und möglicherweise auch nicht in anderen Zeiten. Lindhagen hatte den Nagel vermutlich auf den Kopf getroffen, zumindest, was ihn selbst anging, als er am Morgen, auf dem Weg zur Kvarnbo-Schule, verkündet hatte: Ich fühle mich einfach besser, wenn ich mich ein bisschen schlecht fühle. Ganz zu schweigen davon, wie gut eine wohldosierte Depression und schlechte Laune zu unserem Job als Bullen passen.

»So viel dazu«, erklärte er jetzt und ließ den Wagen an. »Was meinst du? Läuft an dieser Bildungseinrichtung ein Mörder frei herum?«

»Unklar«, antwortete Barbarotti. »Was glaubt der Herr Meisterdetektiv selbst?«

»Weiß der Teufel«, gestand der Meisterdetektiv. »Im Schulmilieu laufen mir immer kalte Schauer über den Rücken, und ich kann nicht klar denken. Jedenfalls scheint es in dieser Gegend nicht viel Gangkriminalität zu geben.«

»Wahrscheinlich gar keine«, sagte Barbarotti. »Aber ein einzelner Täter reicht ja völlig.«

»Ja, der berühmte Wahnsinnige«, erwiderte Lindhagen seufzend. »Einsam, introvertiert und ungeliebt. Das macht die Sache nicht einfacher. Er scheint jedenfalls ein ziemliches Arschloch gewesen zu sein, unser guter Herr Magister.«

»Ich glaube nicht, dass man Lehrer heute noch Magister nennt«, sagte Barbarotti.

»Da magst du recht haben«, erwiderte Lindhagen. »Aber ein Arschloch wird ja wohl trotzdem ein Arschloch genannt?«

»Ich denke schon«, sagte Barbarotti.

6

Bevor der Mittwoch endete, wurden die Aktivitäten des Tages unter der Leitung Inspektor Sorgsens ausgewertet. Die Gruppe bestand mit Ausnahme von Stigman und der Staatsanwältin aus denselben Personen.

Sorgsen fasste als Erstes die Ergebnisse der Gespräche im Ristorante Orientale zusammen. Es war nichts Neues herausgekommen; Fremling hatte am Dienstagabend um Viertel nach neun angerufen und seine Grandiosa (Rinderfiletstreifen mit Sauce béarnaise, Zwiebeln, getrockneten Tomaten und anderem) bestellt, der Koch namens Rafi Bata hatte die gewünschte Pizza zubereitet und in den Karton gelegt, und Jaromir Vlasic war mit ihr und einer Dose Cola losgefahren. Alles wie immer. Es hatte noch zwei weitere Bestellungen gegeben, sodass Fremling seine Pizza erst gegen zweiundzwanzig Uhr bekommen hatte. Vlasic war mithilfe eines Zahlencodes für die Eingangstür ins Haus gekommen, den Fremling ihnen mitgeteilt hatte, 1849, anscheinend war ein schwedischer Schriftsteller in dem Jahr geboren worden. Er hatte an Fremlings Wohnungstür geklingelt und anschließend angeklopft, weil er keine Türklingel gehört hatte, ein paarmal auch ziemlich fest, aber als ihm keiner aufmachte, hatte er den Karton und die Dose vor der Tür auf dem Betonboden abgestellt und war gefahren, ohne zu kassieren, shit happens, auch in der glanzvollen Gastronomie.

Hatte er versucht, die Tür zu öffnen?

Nope. So lief das nicht.

»Wie viel hätte er für den Spaß bezahlen sollen?«, erkundigte sich Lindhagen.

»Einhundertdreißig Kronen«, sagte Sorgsen.

»Und Fremling hatte einen Fünfziger herausgesucht?«

»Anscheinend.«

»Dann fehlt ein Teil.«

»Das ist richtig«, bestätigte Sorgsen. »Es ist ein Detail, das von Bedeutung sein könnte. Wir werden es im Hinterkopf behalten.«

Nach der Pizzaorientierung berichteten Backman und Borgada von ihrem Gespräch mit Rebecca Nilzon sowie von den Ergebnissen der Nachbarschaftsbefragungen an diesem ersten Tag, die Borgada zusammengefasst hatte. Sechs Polizeibeamte hatten die Runde gemacht, mit insgesamt zweiundsechzig Personen gesprochen, von denen etwa die Hälfte zwischen neun und halb elf am Vorabend andere Personen in der Nähe des Tussilagovägen 12 gesehen hatten. Zwei von ihnen hatten den Pizzaboten Jaromir Vlasic gesehen. Keiner hatte einen Mörder oder jemanden gesehen, der in ihren Augen wie ein solcher aussah oder auftrat. Keiner hatte einen anderen als Vlasic vor Fremlings Tür gesehen. Eine ältere Frau hatte ein glänzendes Objekt am Himmel beobachtet, das wahrscheinlich ein Raumschiff von einem anderen Planeten gewesen war.

Danach waren Barbarotti und Lindhagen an der Reihe. Der Besuch in der Kvarnbo-Schule wurde wiedergegeben und diskutiert. Barbarotti beschrieb in wohlgewählten Worten, dass der verstorbene Sport- und Mathematiklehrer nicht unbedingt der beliebteste Pädagoge an der Schule gewesen war, dass er harte Unterrichtsmethoden bevorzugte und eine Reihe von Schülern sich vermutlich vor ihm gefürchtet hatte. Lindhagen ergänzte, seiner Ansicht nach sei Fremling ein klassischer sadistischer Lehrer gewesen, falls sich irgendjemand eingebildet haben sollte, dass diese Sorte Pädagogen der Vergangenheit angehörte. Aber dass es verflixt noch mal nicht viel gebe, was dafür spreche, dass der Täter, nach dem sie suchten, am Arbeitsplatz des Opfers zu finden sei.

»Woher willst du das wissen?«, erkundigte sich Paola Borgada. »Es reicht doch eine einzige Person.«

»Korrekt«, erwiderte Lindhagen. »Ich könnte mich irren. Mit Sicherheit ausschließen lässt sich wohl, dass der Mord etwas mit kriminellen Gangs zu tun hat … was vorerst aber auch das Einzige ist, was wir ausschließen können.«

»Das hört sich an, als sei Fremling sehr unterschiedlich wahrgenommen worden«, stellte Eva Backman fest. »Wenn wir die Aussagen seiner Freundin mit denen seiner Kollegen vergleichen.«

»Vielleicht hat sie ihn ja doch nicht so gut gekannt«, meinte Lindhagen. »Oder war er etwa eine gespaltene Persönlichkeit?«

»Auf den Nachrichtenseiten im Internet steht, dass er kompetent war und respektiert wurde«, bemerkte Barbarotti. »Ich nehme an, dass man unseren guten Rektor zitiert. Was ist mit der Spurensicherung?«

Sorgsen holte ein Blatt heraus und räusperte sich.

»Wir haben einen vorläufigen Bericht von der Tatortgruppe bekommen. Demnach soll der Täter seinen Fuß nicht in die Wohnung gesetzt haben. Er hat drei Schüsse abgegeben, danach hat er die Tür geschlossen und ist gegangen. Die Munition stammt von einer Luger neun Millimeter, bei dem Kaliber kommen alle möglichen Waffen in Betracht, vielleicht können die Experten in Linköping dazu etwas Genaueres sagen, wenn sie sich die Kugeln angesehen haben, aber das ist nicht sicher. Möglicherweise wurde ein Schalldämpfer benutzt. Der Arzt schätzt, dass Fremling innerhalb von fünf Sekunden tot war, was man versteht, wenn … wenn man bedenkt, wie sein Kopf aussah. Er wurde ins linke Auge getroffen, es floss viel Blut.«

»Du meine Güte«, warf Lindhagen ein.

Sorgsen nickte zustimmend.

»Leider wurde jedoch nichts von Bedeutung für die Ermittlungen gefunden, es gab keine verwertbaren Abdrücke auf der Türklinke oder dem Betonboden vor der Tür. Die Häuser sind so gebaut, dass vier Wohnungen sich einen überdachten Außenbereich teilen, zwei im Erdgeschoss, zwei in der ersten Etage … Fremling wohnte in der ersten Etage. Man teilt sich außerdem eine Gittertür mit einem kodierten Schloss am unteren Treppenabsatz. Sie ist nachts, zwischen zweiundzwanzig Uhr und sechs Uhr, abgeschlossen. Ich wohne auf die gleiche Art fünfzig Meter von Fremlings Wohnung entfernt … auch in der oberen Etage. Was für unseren Fall natürlich bedeutungslos ist. Ja, das ist im Moment alles, was ich zu sagen habe.«

Barbarotti fiel auf, dass Sorgsens Stimme zum Ende hin müde geklungen hatte. Als hätte er im Grunde nicht die Kraft, so lange am Stück zu sprechen. Was hatte Stigman veranlasst, sich für Sorgsen als Ermittlungsleiter zu entscheiden? Schließlich war die Nähe zum Tatort dafür kein akzeptabler Grund. Wollte er die Kapazität des Inspektors nach den Spätfolgen seiner COVID-Erkrankung testen? Wundern würde es mich nicht, dachte Barbarotti. Wenn Stigman danach war, konnte er durchaus eine sadistische Ader entwickeln.

»Fünfzig Meter?«, fragte Lindhagen wie auf ein verabredetes Zeichen. »Und du hast nichts bemerkt?«

»Ich habe im Bett gelegen und gelesen«, erklärte Sorgsen. »Nein, ich habe absolut nichts gehört.«

»Ich habe den Eindruck, dass wir für heute fertig sind«, sagte Eva Backman und sammelte ihre Papiere ein. »Es wird Abend. Und morgen ist Wochenende. Man fragt sich, ob von einem erwartet wird …?«

Es bedurfte keiner Fortsetzung. Sorgsen gelang es, ein Gähnen zu unterdrücken.