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Bertram Weisshaar

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Beschreibung

Bertram Weisshaar verführt uns mit seinem Buch zum Wandern. "Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier."

Der Promenadologe Weisshaar beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gehen. Er spürt nach, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wie wir den Raum sozusagen begreifen können und warum Spaziergänge so wichtig für uns sind.

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Seitenzahl: 318

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumTEIL 1: Die Welt mit den Füßen lesenGehen ist Gehen ist GehenAufbrechenSesshaftSich-fremd-GehenFreies Zelten und LandschaftserfahrungEine Region auf AutopilotZielloses InteresseErneut: Träumereien eines einsamen SpaziergängersÜber Orte der ErkenntnisDie große Wandersehnsucht: Das Land zu Fuß durchmessenSehnsüchte im Widerstreit: Wandern oder Gärtnern?Der Denkweg – Ein (um)weltlicher Pilgerweg quer durch das Land von Aachen bis ZittauSchwarzwald-Bilder: Der Querweg Freiburg–BodenseeVom »unwirthlichen Land« zur »Traumlandschaft«: Wandern auf HiddenseeVom Baum der Erkenntnis: Im SchwarzatalLandschaft der vergessenen Zukunft – Mit Ulrich Grober entlang der Allee des WandelsZwischen den Bau-Zeilen lesen: Spazieren durch die Bauhaus-Siedlung in Dessau-TörtenBildstrecke 1TEIL 2: Gehen ist KraftManifest des SpazierensPublikumsbeschimpfung: Fußgänger sind wie SchafeDas Gehen braucht FürsprecherStreunenSpaziergangswissenschaft: Gehendes ForschenGehen als KunstDenkengehenGehende Talk-Shows: Dialogische SpaziergängeHör-Gänge: Audio-Spaziergänge in Stadt und LandschaftBildstrecke 2TEIL 3: Pfade in die kritische LandschaftLandschaft ist transitorischSorgelandschaftenLandschaftsvisiteDie europäische LandschaftskonventionWandern durch die kritische LandschaftDankAnmerkungen

Über dieses Buch

Bertram Weisshaar verführt uns mit seinem Buch zum Wandern. »Eine Wanderung an der eigenen Haustüre zu beginnen, scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier.« Der Promenadologe Weisshaar beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Gehen. Er spürt nach, wie sich unsere Wahrnehmung verändert, wie wir den Raum sozusagen begreifen können und warum Spaziergänge so wichtig für uns sind.

Über den Autor

Bertram Weisshaar arbeitet seit den Neunzigerjahren freiberuflich als Spaziergangsforscher. Ausgebildet als Fotograf und Landschaftsplaner nahm er schon viele Menschen mit auf von ihm hierzu gestaltete Spaziergänge oder auch mehrtägige Wanderungen. Stets suchen dabei seine »Gedankengänge« den ungewöhnlichen Blick und überraschende Perspektiven.

BERTRAM WEISSHAAR

EINFACH LOSGEHEN

VOM SPAZIEREN, STREUNEN, WANDERN UND VOM DENKENGEHEN

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Carsten Schmidt, Berlin

Umschlaggestaltung: fuxbux, Berlin unter Verwendung von Motiven von © istock: Polar_lights | philhol | ilyaliren | molotovcoketail

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6049-3

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

TEIL 1

Die Welt mit den Füßen lesen

Gehen ist Gehen ist Gehen

Geht es? Wie geht es? Was geht? Geht was? Auf geht’s! Geht ab! Geht prima. Geht abwärts. Geht nicht mehr. Geht kaputt. Nix geht. Geht verloren. Geht sich aus. Ist ausgegangen. Geht auf den Senkel. Geht durch und durch. Geht gar nicht. Geht’s noch! Geht so weiter. Wie lang geht das noch? Wie soll es denn gehen? Kann es gehen? Geh’ – so viele Geh-Worte. Und mit diesen Worten ist noch nicht einmal ein einziger Schritt gegangen. Wie kann das gehen?

Gehen und gleichzeitig lesen – das aber geht nicht. Es ist zumindest dringend davon abzuraten. Ein Buch lesen über das Gehen – das wiederum geht sehr wohl. Aber eben bitte nacheinander. Oder besser noch: Immer mal zwischendurch wohin gehen – also jetzt wirklich gehen, die Fortbewegung mittels der eigenen Beine und Füße. Darum geht es in diesem Buch. Und da geht einiges.

Ungezählte, abertausende Wanderungen werden pro Jahr gegangen, häufig auf ausgewiesenen Wanderwegen. Es ist erstaunlich, was für ein großes Wanderwegenetz von den Wandervereinen und Verbänden gestaltet wurde und unterhalten wird. Übrigens nicht, um damit zum Bruttosozialprodukt beizutragen, sondern um damit ein Angebot zu schaffen, mittels dessen man sich von der Arbeitswelt und dem Immer-funktionieren-Müssen gerade einmal abwenden kann. Und diese besondere Qualität des Gehens, dass währenddessen eben keine Funktion erfüllt werden muss, dies ist keinesfalls nur auf den Wanderwegen erfahrbar. Nimmt man zu diesen auch noch das riesige Netz aus Waldwegen und Feldwegen mit in den Blick, fügt in den zerstreut besiedelten Regionen die kleinen Erschließungsstraßen mit hinzu, so eröffnet sich ein riesiges Netz aus Wegen, die dazu einladen, begangen zu werden.

Im Prinzip ist es sogar eher so, dass es lediglich bestimmte Ausnahmen gibt, ansonsten ist das Gehen überall möglich. Mit einer halben Stunde am Tag kann es losgehen. Schnell weiten sich die Gänge dann zu einem halben Tag, und es entsteht vielleicht die Sehnsucht, einmal gar ein halbes Jahr lang nur zu gehen. Einige gehen gar ihr halbes Leben lang. Wie auch immer – eine besondere Kunst ist es, einfach loszugehen, eigene Wege zu finden, von Zeit zu Zeit auch jenseits der ausgewiesenen Wanderrouten zu gehen. Das ganze Drama des Daseins kann dabei in Erscheinung treten. Ja mehr noch: Diese Form des Wanderns scheint für das 21. Jahrhundert besonders zeitgemäß und eine notwendige Ergänzung zu all den zertifizierten Wegen und Wanderparadiesen. Letztere haben durchaus ihre Berechtigung und Reize, aber wie unsere Welt mit all ihren Brüchen und Widersprüchen inzwischen geworden ist, vermitteln diese Wanderparadiese und Reservate eben nicht.

Wenn das Wandern auch einen offenen, vielleicht auch repräsentativen Überblick zur gewordenen Welt erschließen soll, dann muss man jene Wege von Zeit zu Zeit verlassen. Gibt es doch so unendlich viel mehr zu entdecken – und notwendig zu erkennen! Darüber geht es in diesem ersten Teil des Buches. Und genau dazu möchte dieses Buch auch anregen und verführen. Nichts führt dichter in die Welt hinein als das Gehen. Los geht’s.

Aufbrechen

Im Grunde nahm dieses Buch seinen Anfang vor ungefähr 25 Jahren. Genauer gesagt waren es zwei Begegnungen. Und diese brachten mich auf ebenjene Fährte, von welcher hier zunächst die Rede sein soll. Mit ziemlicher Sicherheit hätte ich nicht über viele Jahre hinweg problematische oder latente Landschaften und die vielen unscharfen Stadtrandzonen durchstreift, wären nicht diese beiden Begegnungen derart zusammengekommen: Zunächst war da Lucius Burckhardt, Soziologe und Begründer der Spaziergangswissenschaft, der inmitten des herrlichen Parks Wilhelmshöhe am Rande von Kassel mir und den anderen Studienanfängern erklärte: »Landschaft gibt es gar nicht. Die Landschaft existiert nur in unserem Kopf.«

Was erzählt der da für komisches Zeug – ein maximal irritierender und unvergesslicher Einstieg in den Studiengang Landschaftsplanung war damit gelungen. Die andere Begegnung erfolgte etwa zwei Jahre später, im Rahmen einer Exkursion in die Region Bitterfeld-Dessau-Wittenberg: Ich begegnete einem Loch: »Ein großes Loch, das durch die Landschaft wandert« – so versuchte ein Bergmann diese mit dem Auge kaum zu ermessende Erscheinung »Braunkohletagebau« zu charakterisieren. Auch sprach er davon, dies sei lediglich das »Rest-Loch«. Und dass dieser Rest von einem Loch, das ursprünglich noch viel größer war, über die Stromleitungen irgendwie doch auch mit der Steckdose in meiner Wohnung in einer Verbindung stand, war schnell erfasst. Spätestens da wollte ich es nun genauer wissen. Ich brach auf zu einer fünftägigen Wanderung in den Süden von Leipzig, von einem Loch zu einem nächsten Loch.

Es war keine eigentliche Forschungsreise, die ich unternahm. Instrumente hatte ich keine dabei. Und doch hatte es etwas von einer Forschung; es war ein fragendes Wandern. Ich suchte keine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, stattdessen wollte ich herausfinden, ob sich auch in diesen großmaßstäblich vernarbten Landstrichen noch Poesie spüren ließe. Vielleicht war es aber auch eher so, dass ich die Poesie in diese Gegend selbst für mich mit hineinbrachte, mit meinen Schritten dem Boden anheftete, unter meine Füße.

Wie auch immer das damals wirklich gewesen sein mag, diese Wanderung gilt mir selbst als meine erste: Ich brach auf und ging einfach los, weil ich genau mittels dieses Gehens etwas für mich in Erfahrung und zur unmittelbaren Anschauung bringen wollte. Alles Vorhergegangene erschien mir nun nur noch als bloßes, beliebiges Herumlaufen. Hingegen ein solches fragendes Gehen führt ins Offene und Unbekannte – selbst wenn eine solche Reise vor der eigenen Haustür ihren Anfang nimmt.

Meine damalige »Reise durch das Land in der Tiefe« verlief durchaus ambivalent, wurde zu einer Wanderung zwischen Schönheit und Schrecken. Sehr oft zeigten sich überraschende, ungewöhnliche und ausgesprochen ästhetische Landschaftsszenen. Gleichzeitig aber waren meine Wut und mein Erschrecken über die zugleich beobachteten Umweltverschmutzungen permanent präsent. Solche denkbar gegensätzlichen Eindrücke und Erlebnisse zusammenzubringen ist nicht einfach. Mit anderen Worten: Es ließ mich nicht wieder los! Auch nach über 20 Jahren ist eben dieses Wandeln zwischen den Gegenpolen nicht weniger fesselnd und gedankenanregend.

Sesshaft

Der Rucksack liegt seit einigen Tagen bereit, gepackt mit Zelt und Schlafsack, für eine mehrtägige Wanderung. Dieses Versprechen auf Freiheit ist also in greifbarer Nähe. Direkt zum Anfassen. Längst schon will ich unterwegs, auf meinen Füßen sein. Doch einfach losgehen? So einfach ist das gar nicht: Erst noch jene Arbeit abschließen, dann noch eine Rechnung bezahlen, hier noch unbedingt einen Text überarbeiten und endlich zurückschicken. Och, und das ja auch noch. Dann ein Anruf: die Information zu einer Ausschreibung, bei welcher die Frist aber schon kommende Woche endet – also die Wanderung noch einmal um zwei Tage verschieben. Kurz: Ich sitze in Sesshaft. Die Tür gleichwohl ist nicht verriegelt, ich aber komme nicht raus, bleibe ein Insasse. Immer wieder springe ich auf, unkontrolliert, gehe in der Wohnung hin und her, ohne Grund. Ich ertappe mich dabei. Und ich beobachte mich. Es erinnert mich an das Bild von einem Tiger, der in einem zu kleinen Käfig notorisch hin- und herläuft. Das macht mich zusehends ganz besessen; was doch alles von einem Besitz ergreift.

Dann endlich: Rucksack auf die Schultern. Tür abschließen, Treppe runter, und: Draußen! Jetzt nur noch eine letzte Straße überqueren, bis ich den großen Park und damit bereits den Übergang in die Landschaft erreiche. Die Fußgängerampel schaltet auf Grün, und sogleich reihen sich die »Mobile« auf der Fahrbahn dicht hintereinander, darin eingesperrt »Insassen«, jeder für sich, ihre Blicke gefangen von der Lichtsignalanlage. Ich muss herzlich lachen. Die Menschen heute sind auch noch in Sesshaft, wenn sie unterwegs sind. Ich aber bin selbst-mobil. Es geht. Los jetzt! Die Beine pendeln fast wie von selbst unter dem Rumpf vor und zurück. Außen: angenehme Temperatur und blauer Himmel. Innen: große Spannung.

Sich-fremd-Gehen

Eine Wanderung an der eigenen Haustür zu beginnen scheint mir sehr naheliegend, wortwörtlich das Nächstliegende. Das Überraschende dabei ist: Schon nach wenigen Minuten verändert sich etwas. Jeder Schritt hier, alles ist mir doch so vertraut, unmittelbares Wohnumfeld, und doch ist es ein bisschen so, als wäre es mir nun ein wenig fremd, als wäre ich schon nicht mehr von hier. Es ist eine Art von Sich-fremd-Gehen.

Die Liegewiese im Park liegt noch allein in der frühen Sonne. Alles ist tropfnass von dem Regen in der vergangenen Nacht. Zahlreiche Fahrräder huschen an mir vorbei. Ich bin erst wenige Minuten gegangen, da treffe ich auf eine Bekannte. Etwas in sich gekehrt sitzt sie auf einer Parkbank, als wollte sie noch ein wenig Aufschub vor dem Bürotag gewinnen. Sie bemerkt mich erst, als ich direkt vor ihr stehe. Rasch mündet das Gespräch in die Frage: »Na, wo läufst du hin?« Ich antworte: »Ich hab’ keinen Plan, einfach fünf Tage wandern. Weißt du, 1994 bin ich von Leipzig aus fünf Tage gewandert, durch die Braunkohlelandschaften, südlich der Stadt. Da will ich noch mal hin und schauen, wie es ein Vierteljahrhundert später ausschaut. Die Orte von damals – die gibt’s fast alle nicht mehr, abgebaggert oder überflutet. Also, nur eine Idee hab’ ich. Der Rest zeigt sich unterwegs. Ich will einfach da lang, wohin es mich dann treibt.«

»Einen schönen Beruf hast du!«, ist ihre Antwort, und ich schmunzle, winke und gehe weiter.

Zwei Stunden später erreiche ich den Nordstrand des Cospudener Sees. Vereinzelt liegen einige Sonnenhungrige auf der Strandwiese. Auch ich nehme eine kurze Erfrischung im See und gönne mir eine erste Pause. Damals hatte ich »im See« selbst gezeltet, also auf dem Grund des Tagebaus Cospuden. Der Ort liegt heute in 30 bis 40 Meter Wassertiefe. Mit der Flutung des Tagebaus war seinerzeit gerade begonnen worden. »Das aufsteigende Wasser lässt die erst jungen landschaftlichen Schönheiten schon wieder untergehen«, schrieb ich damals in mein Notizheft. »Ein Labyrinth aus Erdkegeln, durchsetzt von bizarr strukturierten Sandverwehungen und schilfgesäumten Tümpeln, zeichnet ein außergewöhnliches Bild. Wäre dies nicht eine Kippe auf dem Grund eines Tagebaus, dann wäre die landschaftliche Schönheit für alle offensichtlich. So bin ich für mich allein und ungestört.« Heute ist es anders, sehr viel anders. An sonnigen Sommertagen ist der Strand dicht von Menschen belegt.

An die Landschaft aus der Zwischenzeit, also die Spanne zwischen Ende der Kohleförderung und Flutung des »Lochs«, erinnert indessen heute nichts mehr. »Es ist ein Ort ganz im Hier und Jetzt«, notiere ich mir jetzt in mein Notizheft. Das kristallhelle Säuseln der sanften, über den feinen Kies auslaufenden Wellen versetzt mich in einen sehr entspannten Modus. Auch solche Landschaften haben ihre Qualität: keine Gedanken an die Vergangenheit, keinen Gedanken an die Zukunft. Einfach nur Jetzt.

Doch ich will, ich muss ja weiter. Im Losgehen wird mir bewusst, dass mir auch dieser Ort zu einem gewissen Grad vertraut ist, im Unterschied zu den folgenden Etappen, die mir weitestgehend unbekannt sind. Das Sich-fremd-Gehen erfolgt also in Etappen, wie das Nach-und-nach-Ablegen von Kleidungshüllen. Bis man zuletzt dasteht, ganz ohne Erinnerungen oder Erfahrungsschatz zu den Orten, denen man begegnet – was einem sonst eine gewisse Geborgenheit suggeriert. Von hier aus gehe ich nun also mit einer Hülle weniger, die Poren der Wahrnehmung ein Stück weiter geöffnet für die Begegnung mit der Welt.

Freies Zelten und Landschaftserfahrung

In meinem Rucksack habe ich ein kleines Zelt und meinen Schlafsack. Damit bin ich unabhängig von Pensionen und Hotels, muss keine Übernachtungen im Voraus buchen, keine Tagesetappen festlegen und planen. Dies gibt ein starkes Gefühl von Freiheit. Wer beim Wandern insbesondere diesen Moment erleben möchte, sollte diese Variante des Wanderns mit Zelt wählen. Der Rucksack wiegt dafür allerdings auch zwei bis drei Kilogramm mehr, Dusche und WC auf dem Zimmer gibt es dabei auch nicht. Der Verzicht auf diesen Komfort jedoch wird gut entlohnt: Das Draußen-Sein wird zur Normalität. Der Aufenthalt in geschlossenen Räumen wird zur kurzzeitigen Ausnahme, beispielsweise zum Einkaufen oder Restaurantbesuch, um alsbald wieder »zurückzukehren« ins Freie, das fast schon zum Zuhause wird.

Das freie Zelten in Verbindung mit einer mehrtägigen Wanderung erschließt ein sehr intensives Landschaftserleben. Dies ist insbesondere für Personen, die ihre gesamte Arbeitswoche in geschlossenen Räumen zubringen müssen, ein sehr eindrückliches Differenzerlebnis zum Alltag. So manche Fernreise führt bei weitem nicht so weit weg.

Spannend wird allabendlich die Suche nach einem geeigneten Nachtplatz. Dabei muss ich die Gegend zwangsläufig sehr genau betrachten. Ideal ist eine möglichst ebene Fläche, ohne Steine, mit wenig Gefälle, die zudem etwas erhöht, niemals aber am niedrigsten Punkt einer Senke liegen sollte (dort finden sich oft die vermeintlich besten Möglichkeiten). Immer gilt es darauf zu achten, wie bei einem eventuellen Regen das Wasser ablaufen wird – damit es dann eben nicht in das Zelt läuft. Schutzgebiete und sensible Naturräume sind grundsätzlich tabu, ebenso eingezäunte oder eindeutig abgegrenzte Flächen. In Betracht kommen ohnehin eher nur Randzonen, etwa der Waldrand oder der Rand zwischen Feldweg und Wiese oder Acker.

Seit jeher sind diese Ränder jene schmalen Zonen, auf denen erlaubt ist oder eben geduldet wird, was auf den Flächen selbst nicht möglich wäre. Dies trifft auch für das freie Zelten zu. Zunächst einmal ist das Zelten ohne Erlaubnis nicht gestattet. Wer jedoch in einer solchen Randzone kurz vor Einbruch der Dunkelheit sein kleines Zelt aufschlägt und auch früh am Morgen wieder abbaut, wird vermutlich gar nicht erst bemerkt und ansonsten doch geduldet. Wichtig ist, darauf zu achten, dass nicht etwa morsche Äste oder altersschwache Bäume bei einem plötzlich aufkommenden Gewitter oder Sturm auf das Zelt fallen könnten. Und noch etwas: Jäger, Förster, Waldarbeiter und Landwirte sind häufig sehr früh, vor den Wanderern unterwegs – und zwar mit einem Fahrzeug. Es wäre also eine ziemlich riskante Idee, sein Zelt ohne sicheren Abstand zu Fahrwegen aufzuschlagen.

Auch bei meiner damaligen Wanderung hatte ich ein Zelt dabei. Die Suche nach einem sowohl geeigneten als auch landschaftlich besonders reizvollen Platz wurde mir zu einem regelrechten Ritual und zu einem wesentlichen Inhalt der Wanderung. »Mit dem Aufschlagen des Zeltes nehme ich ein Stück dieser Landschaft über einen begrenzten Zeitraum für mich in Besitz. Die landschaftliche Situation wird darüber verdeutlicht und gesteigert«, ist in meinem alten Notizheftchen zu lesen. »Ein Zelt ist die einfachste Art einer Behausung. Wind und Wetter sind spürbar. Die Erde selbst ist der Schlafplatz. Die vorgefundenen Bedingungen werden zu mich direkt betreffenden Umständen, auf welche ich reagieren und in welche ich mich einfügen muss. Ein Zelt verändert die Landschaft nur vorübergehend, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen.« Das ist nach wie vor zutreffend, zeitlos. Und auch jetzt suche ich am Abend nach einem landschaftlich besonderen Platz für die Nacht.

Inzwischen bin ich am Zwenkauer See angekommen, dem vormaligen Tagebau Zwenkau, der bis 1999 in Betrieb war. Charakteristisch für diesen Tagebau etwa elf Kilometer südlich von Leipzig war die über 500 Meter lange, fahrende Abraum-Förderbrücke und die daraus resultierende »Rippen-Kippe«. Letztere erinnerte an eine Wüste, gekennzeichnet durch langgezogene, parallele »Täler« zwischen ebenso langen und bis zu zehn Meter hohen Erdwällen. Stellenweise hatten sich in den Tälern lange Tümpel gebildet. Einige davon waren von tiefer, dunkelroter Farbe und tot. Andere wiederum hatten klares Wasser, und ihre Ränder waren mit Gräsern und jungen Birken und Pappeln gesäumt – eine Landschaft, wie man sie ansonsten in Mitteleuropa nirgendwo finden kann. Alles dies ist nun von einer Wasserfläche überdeckt, auf der sich der Himmel spiegelt.

Entlang des Uferweges stoße ich auf eine letzte verbliebene, etwa 30 Meter lange Böschungskante, die noch ein wenig an die damalige Topografie erinnert. Hier schlage ich also mein Zelt auf. Nachts fällt mir auf, um wie viel deutlicher hier der Sternenhimmel zu sehen ist als von meinem Balkon in der Stadtmitte. In der Nacht höre ich aber auch viel bewusster, wie deutlich und häufig hier Flugzeuge zu hören sind und wie laut doch auch der Verkehr von der etwa zwei Kilometer entfernten Bundesstraße permanent zu vernehmen ist. Tagsüber, während des Wanderns und bei der Ankunft an diesem Ort, war mir das nicht aufgefallen. Erst jetzt, wo ich im Dunkeln und im Zelt auf der Erde liege, dominiert das Hören meine Wahrnehmung der Welt.

Die zweite Nacht verbringe ich auf einem Campingplatz am Hainer See. Hier bin ich augenscheinlich der einzige Wanderer. Mit meinem Rucksack falle ich sofort auf und werde von anderen Campern freundlich und mit Anerkennung gegrüßt. Im Vergleich zu meinem kleinen Zelt erscheinen mir ihre Wohnwagen wie fahrende Schlösser. Neben einem Wohnwagen steht sogar noch zusätzlich ein separates Zelt, gut dreimal so groß wie meines, nur als Garage für Fahrräder. »Ganz schön viel Zeug für ein paar Tage Ferien«, kommt mir dabei in den Sinn, und schon trägt sich mein Rucksack wieder etwas leichter. Der Campingplatz sei den dritten Sommer in Betrieb, erfahre ich, und ist in der Ferienzeit bereits vollständig ausgebucht. Mir wird die allerletzte noch freie Parzelle zugewiesen – »aber nur für eine Nacht!«. Stand-up-Paddeling, Kitesurfen, Bananaboat, Eventlocation und Snack-Trailer sind auch schon angekommen. Am Abend gibt es prompt noch ein Kulturprogramm: Zu Backgroundmusik singt eine Solomusikerin im good old Country-Stil eingängige Songs wie »L.A. International Airport«, wozu eine sächsische »Modern Square Dance Group« ihre Tänze vorführt, auf dem Asphalt zwischen Snack-Trailer, Zufahrtsschranke und Straßenbegleitgrün. Das pralle Leben also. Auch dies ist eine Facette der neuen Landschaft, wobei an diesem Abend über ein Landschafts-Empfinden nicht mehr viele Worte zu verlieren sind. Der Aufbruch am nächsten Morgen fällt mir nicht schwer.

Für die dritte Nacht kehre ich noch einmal an den Hainer See zurück, wähle nun aber eine Stelle nahe am Ufer, weit abseits des Campingplatzes. Wiederum kurz vor Einbruch der Dämmerung schlage ich mein Zelt auf. Die Mücken lassen mir bald darauf keine andere Wahl, als mich in das Zelt zurückzuziehen. Zum ersten Mal entsteht der Eindruck von einer Nacht mit Stille. Der Sternenhimmel ist beeindruckend.

Für meine vierte Nacht will es mir nicht recht gelingen, einen besonderen Ort zu finden. Boten sich seinerzeit zahlreiche und sehr außergewöhnliche, fast spektakuläre Szenen in den Bergbaubrachen, so sind heute solche so gut wie nicht mehr zu finden. Noch einigermaßen häufig finden sich die charakteristischen steinigen, nur spärlich bewachsenen Flächen. Nur dort, wo diese mit Abraum und karger Erde wieder aufgefüllten, ehemaligen Bergbauareale sich weitgehend selbst überlassen blieben, konnte sich ein lockerer Aufwuchs aus jungen Birken und Pappeln entwickeln, der einen poetischen Wechsel aus lichten Schatten und sonnigen Partien zeigt. Die ursprünglich markanten Böschungen und Geländekanten jedoch wurden planiert, die Uferlinien oft mit groben Steinschüttungen befestigt. Die einst so faszinierende Dynamik der Bergbaubrachen, die damals überall ablesbaren Erosions- und Sukzessionsprozesse – dies alles ist heute kaum noch zu finden. Die sanierte Bergbaulandschaft soll insbesondere eins sein: sicher.

Und um ganz sicherzugehen, werden die Menschen vorsichtshalber überall ausgeschlossen, zu Unbefugten definiert. Was ich damals notierte, gilt heute mindestens ebenso: »Die Betreten-verboten-Schilder werden zu treuen Begleitern meiner Wanderung. Die Menschen haben sich selbst ihre Landschaft schon beinahe ganz verschlossen.« Auch dies vermittelt eine Art des In-der-Welt-fremd-Seins. Und so wähle ich für die letzte Nacht dieser fünftägigen Wanderung ein Plätzchen neben einer alten Schranke mit einem schon weitgehend ausgebleichten Verbotsschild. Die Zeit arbeitet eindeutig gegen das »Betreten verboten«.

Früh um sechs werde ich von einem kräftigen Gewitter geweckt. Es klingt gerade erst ab, da zieht auch schon das nächste auf. Es rüttelt noch viel heftiger am Zelt. Mir scheint, die Verankerungen würden allmählich etwas nachgeben, vorsichtshalber halte ich die Ecken des Zeltes von innen fest. Dabei spüre ich deutlich, wie heftig die Windböen an dem dünnen Stoff zerren. Nach etwa 20 Minuten klingt auch dieses Gewitter ab. So könnte ich nun losgehen, doch alles ist jetzt tropfnass, und der Himmel ist immer noch tief verhangen mit dunklen Wolken. Vorsorglich klopfe ich die Heringe nach, in die nun aufgeweichte Erde. Und schon fängt es wieder an zu regnen. Auch der Wind frischt wieder auf. Das nächste Gewitter!

Dieser Morgen wird nun zu einer echten Geduldsübung. Im Zelt liegend kann ich nicht beobachten, was draußen vor sich geht, nur abwarten. Immerhin stürmt es nun nicht mehr so stark, und ich kuschele mich bequem in meinen Schlafsack. Man kann sich ja an vieles gewöhnen. Nach eineinhalb Stunden dann die erste Anmutung von einem Sonnenstrahl; ich packe rasch zusammen und breche auf.

Nach nur wenigen Metern komme ich an einem Gasthof vorbei. Und schon ist der Gedanke in meinem Kopf: Hier hätte ich also auch übernachten können, ohne Schrecksekunden während der frühmorgendlichen Gewitter. Wäre es nicht viel schlauer gewesen, ich hätte für die letzte Nacht hier ein Zimmer genommen? Ach was – es war genau richtig zu zelten! Es ist nur so, dass ich schon nichts mehr gewohnt bin, jenseits von einem weichen und sicheren Bett. Und es sind doch insbesondere derartige Erfahrungen, die das Gefühl der Flucht von der Zivilisation befördern. Ist es so? Oder folgt selbst dieser Gedanke wieder nur einem kulturell vermittelten Bild, dem ich jetzt »aufsitze«, etwa der Romantik oder der Zivilisationskritik von Jean-Jacques Rousseau?

Es ist fast so, als ob die Gewitter aus den Wolken in mein morgendliches Denken gefahren wären. Verlässlich erscheint mir im Moment nur die Annahme, dass noch zahlreiche Wanderungen und derlei Nächte nötig sind, ehe mir eine klare Meinung darüber möglich wird. Bereits deutlich zu erkennen ist hingegen eine gewisse Verwilderung meiner eigenen Erscheinung, die mit dem Umherwandern und freien Kampieren einhergeht. Ich kann es mehr und mehr ablesen an den Blicken der Menschen, denen ich begegne. So erhalte ich selbst in den Augen der anderen wohl zunehmend etwas Fremdes.

Eine Region auf Autopilot

Während meines Streifzugs durch die »neue Seenlandschaft« drängt sich ein Gedanke – eher ein Staunen – immer wieder nach vorne: »Was doch so ein Wasserspiegel zu bewirken vermag.« Entlang der jungen Seeufer ist alles neu, oder noch Baustelle, unvollendet. Überall komme ich vorbei an Werdendem. Damals war es hier das direkte Gegenteil, überall begegneten mir Rückbau, Verfall, Aufgegebenes, Nutzloses und Abfall. Entlang der Tagebauränder fanden sich hie und da auch hineingeworfene Waschmaschinen, Altreifen oder ganze Autowracks. Viel war die Rede von Altlastenverdachtsflächen oder über die Gefahr von Hangrutschungen. Im Tagebau Zwenkau war damals eine Böschung weggebrochen und hatte dabei drei Gleise der Werksbahn mit in die Tiefe gerissen. Oder der »Silbersee« von Bitterfeld-Wolfen – er wurde bundesweit bekannt und stand stellvertretend als Bild für die »Mitgift« der Wiedervereinigung. Die Landschaft war reich plakatiert mit großen Tafeln »Aufbau Ost«. Zumeist war dies eine Umschreibung jener zahlreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die die Aufgabe hatten, ehemalige Arbeitsstätten abzureißen und vergessen zu machen.

Heute findet man an ganz ähnlichen Orten in derselben Region Werbeschilder der Baufirmen und Immobilienhändler, die exklusive Seegrundstücke zwischen 100 und 1.000 Quadratmetern anbieten, inklusive Architektur. So müsste man die Menschen und die Region beglückwünschen zu dieser enormen Kehrtwende. Es ist dabei allein der Seespiegel, der die Menschen verzaubert.

Ob dieser Zauber allerdings auch ein guter ist, wird sich indessen – genau wie bei der Braunkohle – erst im Rückblick erweisen. Auch die Braunkohle kam mit enormem wirtschaftlichen Aufschwung und großen Versprechungen – und hinterließ die Region mit großen Problemen. In wiederum einem Vierteljahrhundert wird man abgeklärter schauen. Gegenwärtig ist auffallend, wie vollständig und ungebrochen diese neuen See-Orte in der Kultur der Zerstreuung und des Gesättigt-Seins aufgehen. Als hätte jemand den Modus Autopilot aktiviert, gibt sich diese Region völlig bereitwillig dem Lebensstil der Erfolgreichen hin.

Vor einem Vierteljahrhundert erlebte ich diese Region ganz anders. Der damals unumgängliche Blick auf den Scherbenhaufen, den die Deindustrialisierung offen an die Oberfläche gespült hatte, befeuerte die Frage, wie denn ein umweltverträglicher und ressourcensparender Lebensstil aussehen müsste. Beispielsweise der deutsche Beitrag zur Architektur Biennale Venedig 1996 betonte unter dem Titel »Wandel ohne Wachstum?«, dass die künftige Entwicklung von Stadtregionen wesentlich von der Knappheit der Ressourcen inspiriert sein müsse.

Eine Vermutung liegt da nahe: In einer Region, in welcher Menschen derart heftig und über Jahrzehnte hinweg unter den Umweltschäden der Industrie und des Bergbaus gelitten haben, hat sich bei den Bewohnern eine kritische Sensibilität für die Belange der Landschaft und der Umwelt tief verankert – möchte man annehmen. Davon ist indes nichts zu sehen. Als würden die vielen Seeflächen geradezu blind machen. Auffällig sind beispielsweise die wasserwirtschaftlichen Bauwerke: Diese sind an Grobschlächtigkeit kaum zu überbieten.

In derselben »Epoche«, in welcher in der Emscherregion die Gewässerrenaturierung den zentralen Magnetpunkt der Landschaftsentwicklung markierte, wurden hier »Vorflutanbindungen«, »Überleiter« und »Anbinder« und ähnlich Unpoetisches errichtet, was heute so aussieht, wie diese Begriffe klingen. Auch bei dem grundlegenden Thema der Mobilität und Verkehrserschließung agiert diese Region mit Rezepten aus der Vergangenheit: Wer hier seinen Wohnwagen auf einem Campingplatz abstellt oder ein Wochenendhäuschen mit Bootsliegeplatz erwirbt, der absolviert seine Fahrten allein mit seinem eigenen Auto.

Und schon jagen laute Motorboote über den See. »Banana-Boat«, Wasserskischule, Hafenparkplatz mit Quad-Verleih – dies sind Verlängerungen der automobilen »Erholung«. Dass der Tourismus zerstört, was er erschließt – die Anfänge dieser Entwicklung sind bereits zu beobachten: Mit enormem Aufwand wird die Verbindung der Seen mittels Kanälen und Schleusen betrieben. Mehrere Millionen an Steuergeldern werden hierfür investiert. Diese entstehenden Gewässerverbindungen aber machen nur Sinn für Motorboote – für Paddelboote und ähnliche »muskelbetriebene Fahrzeuge« sind die bestehenden Distanzen jetzt schon reichlich kräftezehrend. Die Verbindung der neuen Seen durch Wasserstraßen erschließt die Landschaft für deren weitere Motorisierung und folgt im Prinzip dem gleichen Denken, mit dem im Deutschland der 1930er Jahre die Landschaft durch den Bau von Autobahnen für das »Auto-Wandern« erschlossen werden sollte.

Es ist zu befürchten, dass mit dem angestrebten Gewässerverbund eine ebenso grundverkehrte Idee verfolgt wird. Diese Region riskiert, leichtfertig eine der wertvollsten Qualitäten zu verspielen, die eine Landschaft im 21. Jahrhundert haben kann: die Abwesenheit von Motorengeräuschen. Genau dies ist es, was herausragende Landschaften heute auszeichnet. Die Menschen sehnen sich nach Pausen von der permanenten Verkehrsgeräuschkulisse, die in den Siedlungen, Städten und Metropolregionen heute allgegenwärtig ist, der kaum noch irgendwo zu entfliehen ist. Vermutlich haben Wanderer und Menschen, die ihre Alltagswege oft zu Fuß zurücklegen, eine deutlichere Sensibilität und ein ausgeprägteres Bewusstsein für die klanglichen Qualitäten einer Landschaft. Wesentlich umweltverträglicher und auch deutlich einfacher zu haben als Wasserstraßen und Motorbootverkehr wäre ein dichtes Netz an Wanderwegen zur Verbindung der Seen. So ist beispielsweise der Zwenkauer See lediglich zehn Kilometer entfernt vom Hainer See. Eine sehr schöne Wanderung, von See zu See – könnte man denken. Weit gefehlt.

Tatsächlich führt die Route durch ein kaum zu überwindendes »Nadelöhr«: Nur mittels der langgezogenen Brücke der Bundesstraße ist es möglich, die Barriere aus unmittelbar nebeneinanderliegender Bahnstrecke, Fluss und Schnellstraße zu überqueren. Jedoch verbleiben zwischen Brückengeländer und Leitplanke nur etwa 30 Zentimeter Abstand. Um da entlangzugehen – ich habe es versucht –, braucht man deutliche Züge von Masochismus. Und fast schon folgerichtig gibt es Kilometer vor und hinter dieser Brücke keine Gehwege entlang der Straße. Viele der schnell vorbeifahrenden Autofahrer hupen, einige sehr lange. Wahrscheinlich wollen sie mir sagen, ich solle verschwinden. Meine bloße Anwesenheit scheint sie zu stören – was will denn bloß dieser Mensch ohne Auto auf der Straße? Da überkommt mich der Verdacht: Das Gehen wird allzu oft schon gar nicht mehr mitgedacht, als wäre das Denken der Regionalplaner gänzlich okkupiert von Marina, Lagune, Wasserfront, Hafenfront, Hafenblick, Jachthafen, Seebad, Seepromenade und dergleichen Buchstabenhülsen.

Unerwartet wird mir eine weitere Abhäutung des Sich-fremd-Gehens bewusst: Zu all diesen beobachteten Auffälligkeiten kann ich schwer etwas Absolutes sagen oder gar allgemeingültig urteilen. Nur, mir bleibt es eben so sehr fremd, als wäre ich in einem anderen Kulturkreis unterwegs. Das empfinde ich deutlich. Dabei hat diese Perspektive wiederum viel damit zu tun, wie ich mich diesem Landstrich genähert habe – zu Fuß.

Bin ich nun angekommen, wo ich hinwollte? In der Fremde. Nur zwei Tageswanderungen von der eigenen Haustür entfernt.

Zielloses Interesse

Ich durchquere das Land bei dieser Tour bis zu einem gewissen Grad mit einer Absicht, aber auch ein Stück weit einfach aufs Geratewohl. Dabei sammeln sich allerlei Erfahrungen an. Wobei Erfahrung an dieser Stelle und heutzutage recht eigenartig klingt, sind es doch eher Ergehungen. Doch dieses Wort gibt es (noch) nicht im deutschen Wortschatz. Hingegen ist das Wort Erfahrung ein sehr altes. Es geht zurück auf das mittelhochdeutsche ervarunge, das auch die Bedeutung hatte von Durchwanderung oder Erforschung. »Ein kluger Mensch wird heute noch als bewandert bezeichnet, ein Ausdruck, der sich ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen läßt und ›aus eigener Erfahrung kennend‹, eigentlich ›vielgereist‹ meint.«1

Bei meiner »Durchwanderung« begegne ich zahlreichen kleinen Fremdheiten, die dann oft etwas Amüsantes an sich haben. So bemerke ich einen kaum fünf Meter hoch aufgeschütteten Erdhügel, der mit einer überdachten Raststation markiert ist als die »Kiritzscher Höhe«. Mitten im Nirgendwo stoße ich auf Mitarbeiter eines Ausgrabungsprojekts, die nach Spuren einer Siedlung aus vergangenen Jahrhunderten suchen, doch mir keinerlei Fragen beantworten wollen, weil im Heute an diesem Ort niemand sein dürfte. Auf einer völlig vegetationsfreien, weiten Ackerfläche zieht ein Bagger ewig lange, breite Furchen, und Männer mit Detektoren folgen ihm auf der Suche nach alter Munition. Dabei ist es heiß und staubig – ein Hauch von Texas weht über die ausgeräumte Fläche. Der Bagger kommt in einer riesigen Staubwolke auf mich zugefahren, der Baggerfahrer ermahnt mich, ich dürfte keine Holzpflöcke stehlen. Später hupt er mir hinterher und korrigiert gestikulierend meine Laufrichtung nach dem Ort Pödelwitz. Dann, ich weiß beim besten Willen nicht, wie sich das zugetragen hat, passiere ich das zentrale Einfahrtstor des Bergbaubetriebs – allerdings von der Innenseite. Die Dame an der Pforte hat einige Minuten lang damit ein deutliches Problem und mit mir eine angeregte Diskussion, bis ich dann letztlich doch das Betriebsgelände verlassen darf und meines Weges ziehen kann. Ihre letzten Worte waren, was ich denn in Pödelwitz wolle, da sei doch sowieso nix mehr.

Dort allerdings treffe ich zum ersten Mal am heutigen Tag auf einen Menschen, mit dem ich wirklich verständlich sprechen kann. Er und noch 33 weitere Einwohner sind in diesem Dorf geblieben, von einstmals 130 Einwohnern. Die Bergbaugesellschaft betreibt die Planung zur »Überbaggerung« des Ortes. Etwa vier Fünftel der Grundstücke hat der Betrieb bereits aufgekauft. Doch die verbliebenen Einwohner sehen mit erstaunlich gelassener Zuversicht den Gerichtsprozessen entgegen und erhalten einstweilen ihre Häuser und Grundstücke in tadellosem Zustand. Es ist schon recht merkwürdig, ausgerechnet in diesem Ort fühle ich mich heute am wenigsten fremd.

Wenn ich ansonsten mit Menschen zufällig ins Gespräch komme und erzähle, dass ich für mehrere Tage zu Fuß unterwegs bin, erstaunt das die meisten: »Zu Fuß? Das ist stark!« Auch scheinen sie sich zu freuen, dass es das überhaupt noch gibt. Außerhalb von ausgesprochenen Wandergebieten scheint diese Spezies fast ausgestorben. Man erkennt es auch an dem beinahe entsetzten Staunen in den Blicken einiger Autofahrer, wenn auf einer kleinen Straße ein Wanderer auftaucht. Oder frage ich einmal einen Autofahrer nach dem Weg, erhalte ich als Antwort: »Was, das alles wollen Sie gehen?«

Die Vorstellung, einfach loszugehen, ohne ein festes Ziel zu haben, ohne geplante Route, übte schon lange eine Sehnsucht auf mich aus: sich ganz auf die unterwegs auftauchenden Begegnungen und Beobachtungen einlassen, um dann dahin zu gehen, wo der aus den Zufällen entstehende Impuls gerade hinlenkt. (Und so hat sich auch mein Weg zu dem Dorf Pödelwitz erst durch ein Gespräch unterwegs ergeben.) Dieses Wandern ist wohl nur allein, als Einzelgänger möglich. Frei nach Seneca könnte man sagen: »Insofern ist der Wanderer sich selbst genug; nicht, daß er ohne Freund sein will, sondern daß er es kann.«

Es gibt natürlich auch viele gute Gründe, sich ein klares Wanderziel vorzunehmen oder einer berühmten Route zu folgen. Das vorgegebene Ziel kann einem Durchhaltevermögen und Motivation verleihen, um vielleicht noch ein Stück weiterzugehen, um die vorgenommene Tagesetappe wirklich durchzuhalten. Jede Form des Wanderns hat für mich jedenfalls ihre Vorzüge. Wie sehr einem ein gestecktes Ziel helfen kann, wird ganz besonders deutlich beim ziellosen Durch-das-Land-Streichen. Die Sinnfrage kann dabei schon mal bohrend werden. »Warum jetzt noch weitergehen?« Ich habe mich dies schon oft fragen lassen müssen – von mir selbst.

Für das ziellose Wandern ist es beinahe unabdingbar, gänzlich ohne Erwartungen zu gehen. Dieses Wandern ist eine Haltung, eine bestimmte Einstellung, ein offenes, zielloses Interesse. In diesem Modus des Gehens spielt es keine Rolle, ob Aussichtspunkte oder andere Besonderheiten am Wege liegen. Denn in jeder Minute des Voranschreitens wird die Welt erlebt – eben so, wie sie ist. Das ist viel.

Diese Art des Gehens ist insofern eine gute Übung, da unsere Kultur durchtränkt ist von der Jagd nach dem Besonderen und dem Spektakel. Die in unserem Kulturkreis allgegenwärtige Praxis des Fotografierens hat daran einen Anteil: Sie ist die beständige Übung darin, aus der Fülle der Welt eben das Besondere »auszuschneiden«, diese Fülle auf einen fotografischen Bildausschnitt einzugrenzen. Was danebenliegt, was nicht viel sagt, wird weggeschnitten, nicht erinnert, nicht berichtet. Das Dazwischen, was zwischen den Bildausschnitten lag, gibt es dann zuletzt gar nicht mehr in der bewusst wahrgenommenen, erinnerten Welt. Überspitzt ausgedrückt: Erlebt wurde nur, was es wert war, in einem Foto festgehalten zu werden – obwohl das Dazwischen im Leben prozentual einen weit größeren Anteil ausfüllt. Die Redaktionen der Presse- und Fernsehnachrichten wirken in die gleiche Richtung: Die eben aufgetauchte, noch mehr Aufsehen erregende Meldung verdrängt die zuvor gesehene Nachricht, als hätte das, was darin zur Sprache kam, nie stattgefunden.

Das ziellose Gehen ist eine Haltung jenseits der redigierten Welterfahrung. Das Leise, das Langweilige, das vermeintlich Nichts-Sagende, auch das Unverständliche – all dies taucht ungleich seltener auf in Fotos und Medienberichten, es begegnet uns aber ständig, während wir gehen. Und in seiner Fülle und durch dessen schlichte Existenz sagt es uns sehr wohl etwas, auch wenn darüber im Einzelnen jeweils nicht viel zu sagen ist. Hierbei sind wir dann selbst Redakteur, entscheiden wieder selbst, wovon wir unsere Aufmerksamkeit einfangen lassen, ohne Ranking, ohne Hasten nach Sensationen. Wir können diese Übung sehr gut gebrauchen, um den medial vermittelten, stets schon bewerteten Nachrichten und Informationen noch unsere eigene, ganz unmittelbare Welterfahrung anbeizustellen.

Es gibt bei diesem ziellosen Wandern allerdings auch Umstände, die den Wandergenuss eventuell schmälern. So kann es leicht sein, dass die sich anbietenden Wege häufig asphaltiert sind, auf welchen es auf Dauer anstrengender und ermüdender zu gehen ist als auf naturbelassenen oder wassergebundenen Wegen. Andererseits unternehmen Wanderer aber auch gerne Städtereisen, und dabei würde niemand die Anforderung stellen, dass die Fußwege in der Stadt naturbelassene Pfade sein müssten. Es zu nehmen, wie es kommt, ist die Regel beim umherschweifenden Wandern.

Indessen gibt es noch eine weitere Sache, durch welche die Freude am Wandern beeinflusst wird. Ist es doch so, als ob durch das Gehen über längere Zeit die Haut dünner würde, als ob man viel empfänglicher würde für die Eindrücke, die Gerüche, das Licht, die Töne, die Atmosphären. Als hätte man ein Fenster weit geöffnet und der leiseste Luftzug könnte nunmehr ungehindert eintreten. So kommt es vor, dass ich unvermittelt kurz stehen bleiben muss, um etwa einen alten Baum zu betrachten, und dabei seine weit ausladenden Äste mit den Augen entlangwandere. Oder die Finger streichen im Vorbeigehen über einige Blätter am Wegesrand. Oder ein Geräusch lässt mich aufhorchen, und einem daraus entstehenden Impuls folgend, bleibe ich urplötzlich stehen. Diesen Grad der Aufmerksamkeit behält man gleichwohl nicht über den ganzen Tag hinweg.

Es gibt wache und weniger wache Phasen. Aber je weiter man wandert, desto länger werden die Phasen der hellen Aufmerksamkeit, als würde man diese trainieren und mehr und mehr zurückgewinnen. Dabei ist es dann aber so, dass alle Eindrücke ungehindert durch das offene Fenster einfallen – auch die Kehrseiten der zivilisatorischen Errungenschaften werden umso deutlicher erlebt. Der Lärm einer verkehrsreichen Straße, die triste Atmosphäre eines anspruchslosen Discountmarktes, ein besonders geschmacklos gestalteter Vorgarten und dergleichen sehr vieles mehr – all jenes, woran man sich schon lange gewöhnt hatte, was man als normal hinzunehmen eingeübt hatte, all diese Dinge brechen nun ebenso wieder ein in das deutliche Erleben. Die Welt dringt in einen ein, gerade so, als wäre ein Filter unwirksam geworden, der ansonsten unsere Wahrnehmung beeinflusst.

Diesen Filter hat bereits Francesco Petrarca beschrieben – im Jahr 1356: »Wenn mich die Notwendigkeit zwingt, in der Stadt zu sein, habe ich gelernt, mir inmitten des Volkes Einsamkeit zu schaffen mit einem Kunstmittel, das nicht allen bekannt ist: Ich beherrsche meine Sinne so, dass sie nicht wahrnehmen, was sie wahrnehmen.«2