Einfach Yeshi - Gabriela Kasperski - E-Book

Einfach Yeshi E-Book

Gabriela Kasperski

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Beschreibung

Yeshi hat ein großes Flatterherz. Einen Tanzfuß. Und tausend Ideen im Kopf. Der manchmal steinfelsbetonhart sein kann. Vor allem, wenn die fiese Doro sie Kackbohne nennt. Ob das der Grund ist, dass Yeshi keine Freunde hat? Liegt es daran, dass Yeshis Eltern sich trennen? Oder vielleicht an ihrer Hautfarbe? Als sich Yeshi eines schönen Sommertags von einer Flüchtlingsfamilie mitreißen lässt, beginnt eine abenteuerliche Reise. Bald schon gesellt sich ein kleiner Mops-Hund dazu, die nicht mehr so fiese Doro und Lian aus Yeshis Klasse folgen. Dann ist da noch ein Tätowierer. Und ganz wichtig: die pfefferminzgrünen Turnschuhe! Ein Buch für Kinder von 8 bis 12 Jahren - und eines, das auch Erwachsene gerne lesen.

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Seitenzahl: 145

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Yeshi hat ein großes Flatterherz. Einen Tanzfuß. Und tausend Ideen im Kopf. Der manchmal steinfelsbetonhart sein kann. Vor allem, wenn die fiese Doro sie Kackbohne nennt. Ob das der Grund ist, dass Yeshi keine Freunde hat? Liegt es daran, dass Yeshis Eltern sich trennen? Oder vielleicht an ihrer Hautfarbe?

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Mit freundlicher Unterstützung von

Alle Rechte vorbehalten

© 2019, Arisverlag

(Ein Unternehmen der Redaktionsbüro.ch GmbH)

Schützenhausstrasse 80

CH-8424 Embrach

www.arisverlag.ch | www.redaktionsbüro.ch

Umschlag und Satz: Lynn Grevenitz | www.kulturkonsulat.com

Coverillustration: Henning Tietz | www.kulturkonsulat.com

Lektorat: Vanessa Sonder

E-Book: CPI books GmbH, Leck

ISBN: 978-3-907238-04-2

Inhalt

Umzug in die Stadt

Kackbohnen und Glibberschlabberquallen

Die Krokodilmädels

Turnschuhe im Klo

Sitina und Tulu

Einmal quer durch die ganze Stadt

Das farbige Puppenhaus

Fußball Yeshi-Style

Der Käppi-Chauffeur und die Froschaugen-Kontrolleurin

Jagd auf Lola-Mops

Im Dunkeln am See

Der Turnhallengeist

Die fiese Doro

Geigen-Lian

Ein buntes Trio

Doros Geschichte

Die pfefferminzgrünen Turnschuhe

Stefanos Tattoo-Shop

Nach Hause

Yeshi rennt

Mein Herzpapa

Rettung in letzter Minute

Fröhliche Weihnachten

Umzug in die Stadt

Ich heiße Yeshi und bin neun Jahre alt. Manchmal bin ich auch elf. Oder hundert. Ich habe ein großes Flatterherz und tausend Ideen im Kopf. Der kann steinfelsbetonhart sein. Vor allem, wenn ich keine Matheaufgaben lösen will. Oder wenn ich umziehen muss, so wie jetzt gerade. Oder wenn Doro in meiner neuen Klasse mich braune Kackbohne nennt. Fies, nicht? Viel schlimmer ist allerdings, dass ich keine beste Freundin habe.

Oh nein, werdet ihr jetzt denken, nicht schon wieder eine Geschichte von einem Mädchen, das eine beste Freundin sucht. Wartet nur, bis ihr meine gehört habt!

Vor den großen Sommerferien war noch alles in Ordnung. Wir haben auf dem Land gelebt. Dort sind die Häuser vanilleweiß, die Fensterläden sommerblau, die Dächer feuerrot. Unsere Wohnung war ziemlich groß und im Garten gab es ein Baumhaus ganz für mich allein. Nach der Schule bin ich immer gleich hochgeklettert, habe die Schuhe ausgezogen und meinen Tanzfuß hüpfen lassen, so wild, dass ich mich an der Decke gestoßen habe.

Aber wie gesagt, mein Kopf hält einiges aus. Nach dem Tanzen hab ich es mir auf meiner alten Kindermatratze gemütlich gemacht und gespielt. Mit Svenja, Inchie und dem dicken Louis. Das sind keine Kinder, das sind Ponys. Als ich ein eigenes Pony auf meine Wunschliste schrieb, hat Mama gesagt: «Vergiss es, Yeshi. Es ist viel zu teuer und wir haben keinen Platz.»

Meine Mama hat keine Ahnung, muss ich sagen. Hätten wir nicht einfach Papas Grill verkaufen können und Mamas Gemüsebeet? Dann wäre da genug Platz für ein Pferd gewesen. Oder wenigstens für ein kleines Pony. Nicht mal Reitstunden nehmen durfte ich. Mama hat nämlich Angst, ich würde runterfallen. Das sagt sie nicht laut, aber ich weiß es auch so. Zur Abwechslung blieb Mama steinfelsbetonhart. Und Papa auch. Nicht mal zugezwinkert hat er mir. Das hieß dann Nein, kein Pony und auch keine Reitstunden. Auf immer und ewig. Also hab ich mir meine eigene Herde gebastelt. Aus Papas alten Stinkesocken und einigen Haselstecken, die ich von unserem Brummelbär-Nachbarn bekommen habe, nachdem seine Ziegen das ganze Laub abgefressen hatten. Die Sockenponys sind meine Freunde. Manchmal haben wir so viel Spaß zusammen, dass ich die Zeit vergesse.

Dann ruft Mama: «Yeshi, wo bist du, himmelsblitzunddonnernochmal! Du musst Hausaufgaben machen, es gibt gleich Abendessen.»

Am Samstag vor den großen Ferien, dem schönsten Tag des Jahres, lag ich auf meiner Matratze und ließ Inchie wütend durchs Baumhaus galoppieren. Weil sie eifersüchtig war, dass Svenja mit dem dicken Louis spielte. Inchie verträgt es gar nicht, wenn sie nicht im Mittelpunkt ist. Gerade als Svenja Inchie eine Strafpredigt hielt, kletterte Mama zu mir hoch.

«Das geht nicht, Mama», schrie ich. «Streng verboten.» Aber Mama ließ sich nicht abhalten. Und Papa auch nicht.

«Bekomme ich eine kleine Schwester?», fragte ich und hüpfte auf der Matratze herum.

Als ich Mamas Gesicht sah, wusste ich, dass es etwas anderes sein musste. Mist. Hatte ich wieder etwas verloren? Meine Kapuzenjacke, ein Bibliotheksbuch, die nagelneuen pfefferminzgrünen Turnschuhe mit den hellbraunen Schmetterlingen und den violetten Schnürsenkeln?

«Nein, Yeshi.»

Ups. Doppelmist. Es ging bestimmt um mein Zeugnis. Ich bin nicht so gut in Mathe, wenn ihr wisst, was ich meine. Sobald ich Zahlen sehe, ist meine ganze Konzertation weg. Sagt Mama. Und dabei ist Konzertation das Wichtigste überhaupt. Ich weiß nicht genau, was es bedeutet. Es muss etwas mit Musik zu tun haben. Musik mag ich, im Gegensatz zu Zahlen. Am zweitwenigsten mag ich das Minuszeichen. Und am wenigsten die Null. Eine Welt ohne Nullen. Das wäre toll.

«Es tut mir leid, Mama und Papa. Ich geb mir beim nächsten Mal ganz viel Mühe», sagte ich, als die beiden oben waren und Mama sich im Schneidersitz neben mich auf die Matratze quetschte, während Papa auf der Leiter stehenblieb, sodass ich nur den Kopf und den halben Bauch aus dem Loch ragen sah.

«Das wissen wir doch, du gibst dir immer Mühe», säuselte Mama.

Autsch. Wenn Mama säuselt, ist es nicht gut.

«Trennt ihr euch?»

Ich weiß nicht, wieso ich wusste, dass es so war. Komisch, nicht? Vielleicht wegen Mamas Augen. Oder weil Papa seufzte. So schwer, dass ich die Tränen wieder hinunterschluckte. Es konnten ja nicht alle weinen.

«Ist nicht so schlimm. Bei uns in der Klasse sind fast alle getrennt», beruhigte ich meine Eltern, obwohl mein Herz flatterte und mein Bauch grummelte. «Dann machen wir einfach das Nestmodell. Die Hälfte der Zeit wohnst du bei mir», ich zeigte auf Mama, «und die andere Hälfte du.» Damit meinte ich Papa.

«Das würden wir gern», sagte Mama. «Nur, weißt du, mein Mädelchen …»

Autschautsch. Wenn Mama mein Mädelchen sagt, dann ist es besonders schlimm. Das letzte Mal hat sie es gemacht, als meine Oma gestorben ist. Ich hoffe nur, dass Oma auf ihrer zuckerweißen Wolke drei (die einzige Zahl, die ich mag) nicht mitkriegt, was hier unten so abgeht. Sie hätte gar keine Freude gehabt an dem, was Mama und Papa mir da mitteilten. Es war viel schlimmer als eine Trennung. Es war ein Albtraum.

Kackbohnen und Glibberschlabberquallen

An dem Tag kletterte ich nämlich zum letzten Mal von meinem Baumhaus hinunter. Schon am Wochenende drauf stand der Umzugswagen da und Mama und ich zogen in die Stadt. In eine winzig kleine Wohnung. Jede von uns bekam ein Zimmer. Ich musste nicht mal quengeln, Mama hat mir das größere einfach so überlassen. Und dann gibt’s noch eine Wohnküche mit einem Tisch, an dem wir beide Hausaufgaben machen. Ich für die Schule, Mama für den Verlag, wo sie als Lektorin arbeitet. Das ist wie Aufsätze korrigieren. Nur dauert es viel länger.

Papa wohnt nicht mehr bei uns, er ist nach England gezogen, nach London. Da macht er irgendwas an der Uni. Für ein ganzes Jahr. Es ist eine große Chance, sagt er. Ich soll ihn in den Herbstferien besuchen, dann wollen wir zusammen in die Harry-Potter-Ausstellung. Obwohl ich Harry Potter liebe, weiß ich nicht, ob ich wirklich fahren soll. Kennt ihr das? Wenn sich ein Teil freut? Bei mir wäre das mein Tanzfuß. Und der andere Teil will lieber hierbleiben? Das wären dann mein Grummelbauch und mein Flatterherz. Steinfelsbetonhart so eine Entscheidung, ich sag’s euch.

Aber nicht so hart wie meine neue Schule. Frau Morgenstern, die Lehrerin, ist zwar nett: Als Erstes hat sie mir einen Stein geschenkt, einen Bernstein, der mir helfen soll, wenn ich Heimweh habe. Leider waren die anderen Kinder dabei, und das war voll peinlich.

In der ersten großen Pause packte Frau Morgenstern Tobias, den Anführer der Jungs, am Wickel.

«Heute gibt’s kein Fußball. Ihr sollt Yeshi willkommen heißen, himmelsblitzunddonnernochmal!»

Das Wort kannte ich. Genau wie meine Mama – einen Moment lang fühlte ich mich wie zu Hause. Bis Doro, ein spargeldünnes Mädchen mit einer Wollmütze, das nie lachte und immer meckerte, ganz laut schrie: «Spielen wir: Wer hat Angst vor dem schwarzen Mann?»

Da verstummten alle. Es war mucksmäuschenstill. Wieso das so schlimm war, wollt ihr wissen? Ich habe dunklere Haut als die anderen, weil ich abotiert bin. (Außerdem hab ich es nicht so mit schwierigen Wörtern, wie ihr vielleicht gemerkt habt.)

Frau Morgenstern wurde auf jeden Fall schneeweiß im Gesicht. Den Mund riss sie weit auf. So weit, dass ich ihr Halszäpfchen glitzern sah. Und dann hielt sie eine Strafpredigt. Es hat mir mehr geschadet als genützt, ehrlich gesagt. Denn wer will schon von der Lehrerin in Schutz genommen werden? Zumal ich Schimpfwörter gewohnt bin, auch in meiner alten Schule auf dem Land haben die Kinder solche Sachen zu mir gesagt. Wenns meinem Grummelbauch zu viel wurde, bin ich explodiert, und dann hat’s gekracht, da konnten die andern sich ganz schön warm anziehen. Meist aber bin ich einfach davongerannt. Außerdem bin ich gar nicht schwarz, sondern milchkaffeefarben, wie meine Mama sagt. Mein Papa sagt, ich bin wunderschön.

Frau Morgenrot hat gesagt, schwarz ist rassistisch und ich bin Afroamerikanerin.

«Stimmt nicht», sagte ich darauf. «Ich bin Yeshi.»

Da wusste Frau Morgenstern nicht mehr weiter, zum Glück klingelte die Glocke, und wir mussten alle wieder ins Klassenzimmer.

In der großen Pause am nächsten Tag sagte Doro das mit der braunen Kackbohne.

Tobias, der Fußballer, machte eine Handbewegung dazu, und Julia, die Kichererbse, einen unanständigen Pfrrrrzzzz-Laut. Alle lachten. Bis auf Lian. Er stammt aus Schweden, spielt Geige, hat Haare wie Silberfäden, einen Ausschlag am Arm und wollte mir wohl irgendwie helfen.

«Und Doro ist eine weiße …», sagte er in seinem lustigen Deutsch und kratzte sich.

«… Glibberschlabberqualle», ergänzte ich laut. Das sagt Mama immer, wenn wir unsere Hautfarbe vergleichen. (Mama findet, meine Haut ist viel weicher als ihre.)

Aber was für Mama passt, kam bei den Kindern nicht so gut an.

«Frau Morgenstern, die Neue sagt, wir sind Glibberschlabberquallen», rief Julia.

Nun schimpfte Frau Morgenstern mit mir. Es war nicht lustig, kann ich euch sagen.

«Wieso hast du das von Doro nicht erzählt?», fragte Lian später. «Du weißt schon was.»

Er meinte die Kackbohne.

«Petzen ist fies», sagte ich. «Lass uns lieber mitspielen.» Ich schaute auf die Kinder, die sich um einen Ball stritten.

Lian winkte ab.

«Ich bin nicht gut im Werfen. Und auch nicht im Dribbeln. Außerdem soll ich meine Hände schonen. Ich spiele Geige, weißt du.»

Oh. Neugierig sah ich Lian an.

«Das klingt spannend. Ich liebe Musik. Darf ich mal zuhören? Ich könnte nach der Schule zu dir kommen.»

Er schüttelte schnell den Kopf.

«Heute geht es nicht.»

«Wie wär’s mit morgen?»

«Da geh ich ins Ballett. Und danach in den Kunstkurs.»

«Oh, ich male auch total gern, darf ich mitgehen?»

«Wir malen nicht, Yeshi, wir betrachten Bilder.»

In dem Moment klatschte ein Ball an Lians Kopf. Ziemlich hart.

«Hey», schrie ich. «Wer war das?»

Von hinter der Hecke erklang ein Geschrei.

«Lian und die Kackbohne sind verknallt», schallte es über den ganzen Schulhof.

«Hört auf, ihr Weicheier», schrie ich zurück. «Wir haben ein tolles Spiel erfunden. Wenn ihr wollt, dürft ihr mittun.»

Als ich mich umdrehte, war Lian weg. Schade, ich hätte ihm gerne mein Tanzspiel gezeigt. Aber er musste wohl in die Geigenstunde. Dann halt beim nächsten Mal.

Ja, so ist das. Seit ungefähr viertausendnullmillionen Minuszeichen-Stunden lebe ich nun in der Stadt. Und genauso lange vermisse ich das Baumhaus, die Bimmelglocken der Ziegen und sogar den brummigen Nachbarn. Am schlimmsten ist, dass ich meine Ponys nicht mehr habe.

«Die alten Stinkesocken und die dürren Haselstecken nehmen wir sicher nicht mit, himmelsblitzunddonnernochmal!»

Darum sitzen die Sockenponys Svenja, Inchie und der dicke Louis nun ganz allein im Baumhaus und vermissen mich bestimmt ganz doll. Manchmal weine ich abends ein wenig. Aber nur, wenn Mama nicht dabei ist. Sie soll nicht merken, dass ich traurig bin. Sie soll nur merken, dass ich wütend bin. Mein Grummelbauch, mein Flatterherz und mein Tanzfuß sind wütend. Steinfelsbetonwütend.

Leider lässt Mama sich davon nicht beeindrucken. Sie hat gar keine Zeit dafür. So ein Umzug ist sehr anstrengend, sagt sie. Wird nur noch geschlagen von einer Trennung.

Und dann lacht sie trotz allem ihr wunderbares Mama-Lachen, nimmt mich in den Arm und sagt: «Du wirst sehen, Yeshi, bald gefällt es dir hier.»

Die Krokodilmädels

«Komm, Yeshi, wir müssen deine Haare machen», sagte Mama.

Wie ich das hasse! Meine Haare sind schwarz, kraus und verknoten sich ständig. Darum reibt mir Mama nach dem Waschen ölige Pasten hinein und bastelt mir Zopffrisuren. Das hat sie im Internet gelernt. Aber irgendwie kann sie es nicht richtig. Es ziept immer so schlimm, dass ich meine Haare am liebsten ganz kurz schneiden würde. Das will Mama nicht. Sie findet, die Zöpfchen stehen mir gut. Ganz ehrlich gesagt, glaube ich, dass Mama eine tolle Bücherfrau ist, aber keine Zöpfchenfrau. (Nur, kann man seiner Mama so was sagen?)

Ich biss also die Zähne zusammen und schrie kein einziges Mal. Zur Belohnung bot Mama mir an, dass wir nachher zum Schwimmen an den See gehen würden.

Schwimmen liebe ich fast so sehr wie Ponys. Trotzdem maulte ich. Aber Mama lächelte nur ganz lieb. Sie fragte nicht mal nach meinen Hausaufgaben, sondern half mir, meine Schwimmsachen zu suchen und die lila Schnürsenkel der neuen Turnschuhe zu binden. Obwohl sie sonst immer sagt, ich sei eine bequeme Prinzessin und müsse lernen, allein für mich zu sorgen.

Dann stellte Mama die Badetasche in ihren Fahrradkorb und wir flitzten den Berg hinunter.

«Einmal tief durchatmen und schon ist man am See», sagte Mama. «Ist das nicht cool?»

Ich gab keine Antwort. Aber heimlich fand ich es schon ziemlich cool. Das Wasser glitzerte so hell, dass ich am liebsten gleich hineingesprungen wäre, und auf der Wiese waren eine Menge Kinder, die lachten und spielten und Spaß hatten. Nur ein milchkaffeebraunes Baby im Kinderwagen war nicht zufrieden. Hab ich es schon erwähnt? Ich liebe Babys, am liebsten hätte ich eine kleine Schwester, ich würde auch einen Bruder nehmen, Hauptsache klein. Ich kniete mich also vor den Wagen und schnitt eine Grimasse, wackelte mit dem Kopf, dass meine Zöpfchen nur so flogen, und wippte dazu mit dem Tanzfuß, bis das Baby das Weinen vergaß und mir ganz fest zuwinkte, als seine Mama weiterging.

«Tschüss, du kleiner Purzel», sagte ich und rannte zur orangen Rutschbahn, die dauernd Kinder ausspuckte. Gerade schossen vier Mädchen auf einem Riesenkrokodil ins Wasser. War die Vorderste nicht die Kicher-Julia aus meiner neuen Klasse?

«Hallo Julia, darf ich mitrutschen?»

Julia hielt das Krokodil am Schwanz fest und sah zu ihren Freundinnen. Erst jetzt bemerkte ich, dass die fiese Doro darunter war. Selbst im Wasser trug sie eine Mütze. Die konnte allerdings auch nicht verbergen, dass sie kaum Haare hatte.

«Auf das Krokodil passen nur vier», sagte Doro von oben herab und ihr Mund verzog sich zu einem Halbkreis. Nur dass er nicht nach oben, sondern nach unten zeigte.

Ich gab nicht auf. «Ich kann mich ganz dünn machen.»

«Nein, es ist nur bis 100Kilo.» Sie sah mich scharf an. «Zähl mal zusammen.»

Mistmist. Die hat gemerkt, dass ich und die Zahlen keine Freunde sind.

«Was sagst du, Lian, ist ja dein Krokodil?» Sie blickte auf Geigen-Lian, der auf der Treppe saß. Offenbar hatte er sein Krokodil ausgeliehen, das war ziemlich nett von ihm.

«Du findest bestimmt auch, dass da kein Platz mehr für die Kackbohne ist?»

In dem Moment tauchte eine grashalmdünne Frau auf, und Doro, Julia und die beiden anderen Mädchen stoben davon. Sie redete in einer fremden Sprache auf Lian ein, das musste Schwedisch sein. Dann wechselte sie auf Deutsch.

«Lian, wir müssen los, deine Geigenstunde.»

«Aber …»

«Vorher musst du noch Hausaufgaben machen.»

«Mama …»

«Am Abend hast du Ballett. Und Kunstgruppe.»

Ups. Alles an einem Tag? Da kriegte man ja gar keine Luft mehr. Plötzlich hatte ich eine Idee. Wenn er doch heimging, konnte ich vielleicht …

«Sie, Lians Mama!»

Sie drehte sich um. «Darf ich das Krokodil ausleihen?»

Lians Mama musterte mich von oben bis unten und wieder zurück. «Kennst du dieses Mädchen?», sagte sie zu Lian.

Er nickte. «Die Neue aus meiner Klasse. Für mich ist es in Ordnung. Sie kann mir das Krokodil ja morgen in die Schule bringen.»

«Wie oft soll ich es dir noch sagen? Wir leihen niemandem etwas aus», sagte Lians Mama, riss das Plastiktier an sich und stolperte dabei über den Krokodilschwanz. Es sah ziemlich lustig aus. Nur machte es sie noch wütender. Lian winkte mir zu.

«Tschüss, Yeshi, bis morgen in der Schule.»

«Tschüss. Wir können uns ja mal verabreden. Frag doch, ob ich mit darf in den Kunstkurs. Ich würde mir gerne Bilder anschauen.»

Aber Lian hörte mich wohl nicht mehr, seine schimpfende Mama übertönte alles.

Wo war denn eigentlich meine Mama? Einfach verschwunden. Ups. Mindestens eine Stunde lang lief ich auf der Suche nach ihr und unserem Korb über Handtücher und Badetaschen, bis ich sie endlich fand. Sie wollte gerade den Bademeister informieren, dass ich vermisst werde.

«Yeshi, himmelsblitzunddonnernochmal, wo bist du gewesen?»

Die Strafpredigt war richtig schlimm. Niemals dürfe ich mich in der Badeanstalt von ihr entfernen. Absolutgarniemalsnie. Das sei gefährlich, wegen des Wassers.