Einführung in die Methoden der systemischen Organisationsberatung - Joana Krizanits - E-Book

Einführung in die Methoden der systemischen Organisationsberatung E-Book

Joana Krizanits

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Beschreibung

Eine handwerklich gute Organisationsberatung steht auf solidem wissenschaftlichem Fundament und bedient sich klar formulierter Methoden. Joana Krizanits führt in diesem Buch die grundlegenden Gedanken aus dem Action-Research-Ansatz nach Kurt Lewin und die inspirierenden Werkzeuge der systemischen Beratung zusammen. Das Ergebnis ist eine kompakte Anleitung für die systemische Organisationsberatung, die Praktiker wie Einsteiger durch den Beratungsprozess führt: von der Auftragsklärung über die Datenerhebung und -auswertung, die Diagnoseschrift bis zum Rückspiegelungsworkshop. Die Autorin behält dabei das große Ganze im Blick – wie die Entwicklung von Beratungsarchitekturen und -prozessen oder das Design für Workshops und Gruppenprozesse – und vermittelt zugleich die Umsetzung im Detail: gezielte Gesprächsführung, Lenkung der eigenen Aufmerksamkeit, zirkuläres Fragen, Anfertigen von Beobachtungen 2. Ordnung, Hypothesenbildung. Der Blick auf die Methoden macht auch die Verbindung zur qualitativen Sozialforschung deutlich. Systemische Organisationsberatung entpuppt sich dabei als entdeckende und gestaltende Forschung, die wissenschaftlichen Gütekriterien entspricht.

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»For better or for worse, we lack the formal apprenticeship in the trade and perhaps the proper respect for our ancestors and the comfort their representational devices might provide.«

(»In unserem Geschäft fehlt uns eine anerkannte Berufsausbildung – mit allen Vor- und Nachteilen. Uns fehlen vielleicht auch die angemessene Achtung unserer Gründungsväter und die Annehmlichkeiten, die ihre begrifflichen Instrumente uns geben könnten.«)

John Van Maanen, MIT, Sloan School of Management, im Vorwort seines Buches Tales of the Field

Joana Krizanits

Einführung in die Methoden der systemischen Organisationsberatung

Vierte Auflage, 2022

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin ✝ (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: Uwe Göbel

Satz: Verlagsservice Hegele, Heiligkreuzsteinach

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Vierte Auflage, 2022

ISBN 978-3-89670-899-1 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8001-2 (ePUB)

© 2013, 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 • Fax +49 6221 6438-22

[email protected]

Inhalt

1 Wozu dieses Buch?

2 Organisationsberatung im Paradigma des Action Research-Ansatzes

Back to the Roots

Die Entwicklungen in der Organisationsberatung

Charakteristika komplexer sozialer Systeme

Wann Organisationsberatung nachgefragt wird

3 Kernmethoden systemischer Organisationsberatung

Die Kunst des Schleifengangs

Beschreibungen 1. und 2. Ordnung

Wege und Weisen der Wahrnehmung

Haltung, Sehe-Punkte und Prämissen systemischer Organisationsberatung

Mit dem Spiegelrohr beobachtet – Die systemischen Fragen

Gute Hypothesen bilden

4 Von der Anfrage zur Diagnose – Die Action-Survey-Schleife

Beratung als helfende Beziehung

Das Beratungssystem abstecken

Die Datenerhebung

Das qualitative Interview

Die Diagnoseschrift

Der Rückspiegelungsworkshop

5 Kommunikation und Interaktion in Gruppen gestalten

Die vier Grundprozesse

Von Gruppen und Modi der Kommunikation

Das Design von Interaktion in Gruppen

6 Die Architektur von Beratungsprozessen

Unterschiede zwischen Beratungsarchitektur und klassischem Projektmanagement

Funktionen von Architektur

Elemente der Architektur von Beratungsprozessen

7 Von der qualitativen Sozialforschung zur theoriegeleiteten Praxis

Die Methoden der qualitativen Sozialforschung und die systemische Organisationsberatung

Gütekriterien qualitativer Sozialforschung

Organisationsberatung mit dem Action-Research-Ansatz als Paradigma qualitativer Sozialforschung

Literatur

Über die Autorin

1 Wozu dieses Buch?

Dieses Buch gibt Ihnen eine kompakte Einführung in die Methoden der systemischen Organisationsberatung. Es versucht, die gelebte gute Praxis methodisch zu explizieren und wichtige Fragen zu beantworten: Wie erstelle ich eine Systemdiagnose – vom ersten Auftragsklärungsgespräch über die Datenerhebung und -auswertung bis zur Rückspiegelung? Wie bilde ich gute Hypothesen? Wie mache ich ein »dichtes« Design und eine gute Beratungsarchitektur?

Organisationsberatung ist eine vielfältige, voraussetzungsvolle Tätigkeit, angesiedelt zwischen Handwerk und Kunst. Lernen findet in hohem Maß über Sozialisation und Vorbildwirkung statt. Wie weit lässt sich ein variantenreiches implizites Wissensgebiet überhaupt als Good Practice explizieren?

Alle Spielarten der Organisationsberatung stehen in der Tradition von Kurt Lewins Action-Research-Ansatz (Lewin 1946). Es geht um die Untersuchung der unterschiedlichen Bedingungen und Auswirkungen von Handlungsmustern in sozialen Systemen und um die gezielte Suche nach neuen Handlungsoptionen für diese Systeme. Der Königsweg dorthin führt über wiederholte, sich zu einer Spirale verbindenden Schleifen, in denen »Sozialforscher« gezielt Daten erheben und auswerten, um dann mit den Betroffenen Maßnahmen abzuleiten, deren Auswirkungen eine neue Schleife einleiten.

Seit Lewins Motto »Es gibt nichts, was so praktisch wäre wie eine gute Theorie« (Marrow 1977, S. 5) ist eine Fülle von Methoden für praxisbasierte Theoriebildung und theoriebasierte Praxis in die gelebte Organisationsberatung eingegangen. Sie wurden aus so unterschiedlichen Fachgebieten wie Gruppendynamik, Kommunikationswissenschaft, Familientherapie, Konstruktivismus, Erkenntnisbiologie, Physik, Systemtheorie, Soziologie u. a. m. zusammengetragen.

Dieses Buch will nicht nur das Wie und Warum dieser praktizierten Methoden vermitteln; es soll auch Brücken schlagen zwischen Beratung und Sozialwissenschaft. Deshalb werden die geschilderten Vorgehensweisen immer wieder in den Rahmen wissenschaftlich etablierter Methoden der qualitativen Sozialforschung gestellt. Denn gute systemische Organisationsberatung erfüllt die Gütekriterien gestaltender Sozialforschung und kann angesichts gegenstandsangemessener, heuristisch starker Methoden durchaus als eigenes Paradigma sozialer Feldforschung gelten – so der Claim.

Das erste Kapitel zeichnet die Entwicklungen der Organisationsberatung nach – von der Entstehung des Action-Research-Ansatzes über ihre jeweils zeitgeistig bedingten Spielarten (Organisationsentwicklung, Prozessberatung, Change-Management und systemische Organisationsberatung) bis zum gegenwärtig praktizierten Ansatz – und beschreibt die typischen Merkmale des Beratungsfeldes der Organisationsberatung. Das zweite Kapitel stellt die wesentlichen Methoden zum Anfertigen von Beobachtungen zweiter Ordnung vor: Aufmerksamkeitslenkung, Fragetechniken, Hypothesenbildung. Das dritte Kapitel schildert die methodischen Schritte von der Anfrage zur Diagnose und das vierte die Grundlagen der Gestaltung von Kommunikation und Interaktion in Gruppen; es folgt ein Abriss über die Gestaltung von Beratungsarchitekturen. Das letzte Kapitel spannt den Bogen von der qualitativen Sozialforschung zur theoriegeleiteten Praxis und wendet die Gütekriterien qualitativer Sozialforschung auf systemische Organisationsberatung an.

Mein Dank gilt meinen Kunden und den guten Beratern und Beraterinnen, bei denen ich gelernt habe. Ich hoffe, dass Ihnen als externe oder interne Organisationsberaterin oder -berater die methodischen Leitfäden in diesem Büchlein nützlich sind – nützlich dafür, Ihr Vorgehen zu reflektieren, zu schärfen und Virtuosität zu erlangen.

Joana Krizanits

Wien, im November 2012

2 Organisationsberatung im Paradigma des Action Research-Ansatzes

Darum geht es in der Organisationsberatung:

»Ziel systemischer Beratung ist es, langfristige, nachhaltige Lern- und Erneuerungsprozesse zu initiieren und zu begleiten, um Systeme (Organisationen) überlebensfähiger, erfolgreicher und effizienter zu machen. Das ist der Punkt, um den sich alles dreht« (Königswieser u. Hillebrand 2004, S. 20).

Das erste Kapitel dieses Buches skizziert die geschichtlichen Grundlagen der Organisationsberatung und definiert das Unterfangen, komplexe soziale Systeme zu beraten: Was ist der Kern des Action-Research-Ansatzes, und welche Grundzugänge von Organisationsberatung haben sich daraus entwickelt? Was sind die Rahmenbedingungen des Beratungsfeldes »Organisation«? Insbesondere: Was sind komplexe Systeme? Was sind die Besonderheiten sozialer Systeme?

Back to the Roots

Kurt Lewin, am 9.9.1890 als Sohn jüdischer Eltern in Posen geboren, hatte sich schon als Gestaltpsychologe in seiner Zeit an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität auf Handlungspsychologie spezialisiert. Er sah das Handeln individueller Akteure als eine Funktion von Einfluss nehmenden »Feldern«, was er über die Methode der in der theoretischen Physik praktizierten Feldtheorie abbilden wollte. Lewin war in seinem Herzen immer so viel Soziologe wie Psychologe; er gilt als Begründer der Sozialpsychologie. Als er nach seiner Emigration 1937 für die universitäre Iowa Child Welfare Research Station arbeitete, machte er in der »Nature-versus-Nurture«-Diskussion mit der »lewinschen Formel«1 von sich reden, die besagt, dass Nature und Nurture in der Prägung der Person und ihres Verhaltens zusammenwirken.

Dabei berief er sich auf Blumers (1981) Ansatz des Symbolischen Interaktionismus der Chicagoer Schule der Soziologie, der besagt: Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage der Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen; die Bedeutungen der Dinge werden in Interpretationsprozessen im Zuge sozialer Interaktionen vereinbart.

Die Gründungsidee von Gruppendynamik und Action Research

Die Frage, wie Antisemitismus, Faschismus und Genozid entstehen konnten, war Lewins Kernthema.2 Bereits zu Beginn der 1940er-Jahre führten er, Ralph White und Ronald Lippitt die bahnbrechenden Experimente über die Parameter und Auswirkungen unterschiedlicher Führungsstile – autoritär, demokratisch und laisser-faire – durch (Lippitt a. White 1960). Das waren erste Schritte zum Action-Research-Ansatz als »die experimentelle Anwendung der Sozialwissenschaften zur Förderung demokratischer Prozesse«, wie sein Schüler Marrow schreibt (1977, S. 144). Er sagt über Lewin (ebd., S. 106):

»Er hatte eine genaue Vorstellung davon, welche Form menschlichen Zusammenlebens die demokratische Gesellschaft realisieren müsse, weil er die Feinde einer solchen Gesellschaft aus größter Nähe kannte.«

Vor diesem Hintergrund gründete Lewin 1944 das Center for Group Dynamics am MIT, wo u. a. die Kleingruppenforschung ihren Anfang nahm sowie die Commission for Community Interrelations (CCI), die Forschungen zu Rassenkonflikten und Antisemitismus durchführte.

1946 erhielt Lewin den Auftrag der Connecticut State Inter Racial Commission, wirksame Methoden für die Bekämpfung religiöser und rassistischer Vorurteile zu finden. Er entwickelte ein »Change-Experiment«, das zur Grundlage für die späteren Gruppendynamik- und »Sensitivity Trainings« wurde. 1947 wurden die National Training Laboratories (NTL) für gruppendynamische Trainings gegründet. Erzieher und Lehrer sollten dort in einer Laborsituation gruppendynamische Prozesse verstehen lernen, damit sie Gruppen helfen könnten, sich zu demokratischen Gruppen zu entwickeln. Feedback und Reflexion wurden in ihrer Bedeutung für Lernen erkannt und gezielt eingesetzt. Human Relations, die gemeinsame Fachzeitschrift der NTL und dem inzwischen von Eric Trist – den Lewin zur Zeit seiner Emigration in London kennengelernt hatte – gegründeten Tavistock Institute, wurde herausgegeben.

Lewin definierte den Begriff »Action Research« Mitte der 1940er-Jahre als »a comparative research on the conditions and effects of various forms of social action and research leading to social action«. Auch in der deutschen (wörtlichen) Übersetzung – »Aktionsforschung ist eine vergleichende Forschung der Bedingungen und Auswirkungen verschiedener Arten von sozialen Handlungen und Forschung, die zu sozialer Handlung führt« – hilft diese Definition nicht wirklich zu verstehen, was gemeint ist. Dass die in die Literatur eingegangene Definition von Action Research (AR) so schwer verständlich ist, mag auch daran liegen, dass sie letztlich der gemeinsame Nenner für vier unterschiedliche praktizierte Action-Research-Verfahren war, die Chein, Cook und Harding unter Lewins Leitung für die CCI definierten (publiziert 1948); es sind:

Die

diagnostische AR

, die – aus einer Expertenhaltung – z. B. bei Rassenkonflikten in einer Gemeinde eine Diagnose erstellt und einen Handlungsplan vorschlägt.

Die

teilnehmende AR

, die die Betroffenen in den Forschungsprozess einbezieht, damit diese selbst Maßnahmen entwickeln und deren Umsetzung unterstützen. Seit 1939 hatten in der Harwood Manufacturing Corporation solche Action-Research-Programme stattgefunden und nicht nur zur Verbesserung von Arbeitsproblemen beigetragen, sondern auch wissenschaftliche Erkenntnisse über Gruppenentscheidungen, Stereotypenbildung, Führungskräfteentwicklung und Change-Dynamiken geliefert. Sie wurden anfangs von Bavelas, später von French durchgeführt, der sich auf diese Form der teilnehmenden AR bezieht, wenn er später mit Bell den Beratungsansatz der Organisationsentwicklung definiert.

Die

empirische AR

, die vergleichbare soziale Phänomene zusammenträgt; sie bildet heute die Grundlage für das Vorgehen in der qualitativen Sozialforschung.

Und die

experimentelle AR

, die verschiedene Techniken von Handlungsplanung und deren Wirksamkeit untersucht. Beispielhaft dafür sind die Studien über die Veränderung von Essgewohnheiten, die Lewin mit Margaret Mead (Marrow 1977, S. 145 ff.) Ende des Zweiten Weltkriegs durchführte.

Um den Action-Research-Ansatz, der der Organisationsberatung zugrunde liegt, verständlich zu machen, wird AR hier sinngemäß so übersetzt:

Action Research (in der teilnehmenden Variante) ist die vergleichende Untersuchung der Bedingungen und Auswirkungen sozialer Handlungsmuster und die gezielte Suche nach (neuen/erweiterten) Handlungsoptionen in sozialen Systemen (s. Abb. 1).

Abb. 1: Praxisbasierte Theorie und theoriebasierte Praxis im teilnehmenden Action-Research-Ansatz (Übersetzung: J. K.)

Diese Definition bringt Lewins Aussage, »Es gibt nichts, was so praktisch wäre wie eine gute Theorie« für die Organisationsberatung auf den Punkt. Denn er meinte: Statt im Elfenbeinturm generelle Theorien zu entwickeln, soll sich Forschung der Praxis handelnder Menschen widmen. Umgekehrt ist die Entwicklung von Handlungen – d. h. die gezielte Suche nach Handlungsoptionen für soziale Systeme – theoriebasiert durchzuführen. Kurz: keine Theorie ohne Aktion, keine Aktion ohne Theorie. Für Lewin war Action Research Kern der Identität »für Wissenschaftler, deren Hauptanliegen das Handeln sei, die Veränderung der Welt, während sie gleichzeitig dazu beitragen konnten, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu vermehren« (Marrow 1977, S. 186).

Konstitutiv für Action Research ist ein methodisches Vorgehen in Form einer Spirale, die sich aus wiederholten Schleifen zusammensetzt, die jeweils einen Zyklus von Planung, Durchführung von Interventionen und anschließender empirischer Untersuchung der Auswirkungen umfassen3 (Lewin 1946).

Wenn nach der Soziologie des Symbolischen Interaktionismus gilt, dass Menschen mit ihren Handlungen auf die Bedeutungen reagieren, die sie Dingen zuschreiben, und wenn diese Bedeutungen durch einen interpretativen Prozess in sozialen Interaktionen entstehen, dann bedeutet das umgekehrt:

Will man soziale Handlungsmuster geplant und gezielt verändern, muss man dazu einen entsprechenden interaktiven Sinngebungsprozess zwischen den Betroffenen organisieren.

Diese Einsicht Lewins ist seither die Grundlage für die Gestaltung von Change, den er als dreistufigen Prozess beschrieb (Lewin 1947): In der »Unfreezing-Phase« geht es darum, Trägheit und Widerstand zu überwinden und das bestehende »Mindset« zu explizieren. Die »Move-Phase« ist eine Transition: Bestehende Handlungsmuster lösen sich auf, ohne dass noch klar ist, welche neuen Muster an ihre Stelle treten werden. Letztere kristallisieren sich erst in der »Freeze-Phase« heraus, in der sich ein neues Mindset festigt. Lewin hat mit seiner »Hockeyschläger-Kurve« (siehe Abb. 16) den für Change typischen Abfall in der Systemleistung beschrieben, dem erst später ein Anstieg der Systemleistung über das Ausgangsniveau folgt. Diese Kurve ist die – meist unzitierte – Grundlage der meisten Change-Konzepte.

Die Netzwerke der frühen Organisationsberatung

Als exilierter jüdischer Wissenschafter war Lewin mit vielen Schicksalsgenossen vernetzt, die Schrittmacher in ihrem jeweiligen Fachgebiet waren. So war es kein Zufall, dass er Mitglied der ersten Macy-Konferenzen war, in denen Vertreter verschiedener Disziplinen die Grundlagen für eine allgemeine Wissenschaft der Funktionsweisen des menschlichen Geistes erarbeiten wollten. In diesem Kreis wurden (nach Lewins frühem Tod im Februar 1947) die Grundlagen der Kybernetik bzw. der Systemtheorie erarbeitet. Einige Mitglieder haben wesentlich dazu beigetragen, die Grundsteine der systemischen Organisationsberatung zu legen, insbesondere Gregory Bateson und Heinz von Foerster – aber auch Paul Lazarsfeld und Talcott Parsons sollen in diesem Methodenbuch erwähnt werden.

Der Anthropologe, Biologe und Sozialwissenschaftler Bateson war mit der Ethnologin Margaret Mead verheiratet, die mit Lewin arbeitete und befreundet war. Bateson war später Mitglied der 1959 gegründeten Palo-Alto-Gruppe; seine Studien zu Paradoxien der Kommunikation und das Konzept des Doublebind beeinflussten die Familien- und Systemtheorie. Andere Mitglieder der Palo-Alto-Gruppe waren Don Jackson, Jay Haley, Virginia Satir, Paul Watzlawick und John Weakland. Die Palo-Alto-Gruppe beeinflusste ihrerseits die Mailänder Gruppe der Familientherapeuten, beide Gruppen beeinflussten die Heidelberger Familientherapeuten.

Heinz von Foerster, eine Generation später als Bateson in Wien geboren, war der lebende Brückenschlag zwischen unterschiedlichen Welten. Selbst Physiker, war er mit Norbert Wiener Mitbegründer der Kybernetik; als radikaler Konstruktivist prägte er das Konzept der »Kybernetik II« bzw. des »Beobachters 2. Ordnung« und die Metapher der »nichttrivialen Maschine« zur Beschreibung komplexer Systeme.

Paul Lazarsfeld, ebenfalls in Wien als Sohn jüdischer Eltern geboren, hatte er mit seiner späteren Frau, Marie Jahoda, die Studie Die Arbeitslosen von Marienthal verfasst. Jahoda arbeitete in Lewins Aktionsforschungsprojekten in der CCI mit, Lazarsfeld wurde einer der führenden Köpfe der US-amerikanischen Soziologie. Er fokussierte eher auf die empirische Entdeckung als auf große Theorien; darin war er Wegbereiter für Robert K. Merton, der das Konzept der »Theorien mittlerer Reichweite« entwickelte. Ein Schüler Lazarsfelds war Barney Glaser, der in den 1960er-Jahren gemeinsam mit Anselm Strauss die Grounded Theory als Methode der qualitativen Sozialforschung entwickelte. Diese Methode wurde im deutschsprachigen Raum von Fritz Schütze verbreitet, der als Begründer des narrativen Interviews gilt.

Ein optiertes Mitglied der Macy-Konferenzen war der Soziologe Talcott Parsons, von dessen strukturfunktionaler Systemtheorie Niklas Luhmann nach einem Forschungsstipendium 1960–61 Kernthemen übernahm wie z. B. die These, dass soziale Systeme sich selbst erhalten, und die Idee, dass sich gesellschaftliche Strukturen in ihren Funktionen spezialisieren.4

Die Entwicklungen in der Organisationsberatung

Eine weitere Keimzelle für die Entstehung der Organisationsberatung war der Kreis der Gruppendynamiker – Douglas McGregor, Lee Bradford, Ken Benné, Ron und Gordon Lippitt, Warren Bennis, Chris Argyris, Dick Beckhard u. a. –, die die NTL nach Lewins Tod mit ihren gruppendynamischen Trainings und »organization labs«5 in Michigan weiterführten. Einige von ihnen beeinflussten später maßgeblich die Managementlehre: Douglas McGregor z. B. komprimierte den Human Relations Ansatz in das Führungskonzept der »Theorie X und Theorie Y«; Warren Bennis schrieb 27 Bücher über Führung, am bekanntesten sind seine Unterscheidungen zwischen »Managern und Führern« und zwischen »transaktionaler und transformationaler Führung«.

Trotz seines frühen Todes kommt Lewin das Verdienst zu, die Grundlagen der Organisationsberatung gelegt zu haben. French stellt die Verbindung zum Ansatz der teilnehmenden Action Research her, wenn er organization development als »organization improvement through action research« definiert (French a. Bell 1969). Douglas McGregor und Richard Beckhard definierten in den 1950er-Jahren den Ansatz der Organisationsentwicklung als organisationsweiten partizipativen Prozess, in dem die Betroffenen ihre Arbeitswelt humaner gestalten und gleichzeitig die Effektivität und Lebensfähigkeit der Organisation stärken.

Auch Edgar Schein führte mehrere Jahrzehnte lang Sensitivity Trainings und Learning Laboratories an den NTL durch. Als Mitbegründer der Organisationsentwicklung prägte er den Ansatz der »Prozessberatung« (Schein 1969), entwickelte in den 1980er-Jahren eine Theorie der Organisationskultur (Schein 1999) und gilt als Mentor der US-amerikanischen Organisationsberaterszene um Peter Senge.

Aus dem Kreis der Gruppendynamiker ging auch Chris Argyris hervor, der ebenfalls eng und prägend mit der US-amerikanischen Beraterszene der Ostküste verbunden ist. Seine »Action Science« ist der Versuch, das Vorgehen des Action-Research-Ansatzes wissenschaftlich zu untermauern und auszudifferenzieren. So entstanden seine Arbeiten zur »Lernenden Organisation« (Argyris 1992), die die Konzepte der »Abstraktionsleiter«, des »Single- und Double-Loop-Lernens«, der »Defensivroutinen«, der »theories espoused und theories in use«, unterschiedliche Formen des Dialogs u. a. m. umfassen.

Mit Beginn der 1970er-Jahre gelangten diese Impulse ins deutschsprachige Europa. Gerhard Fatzer führte im Schweizer Trias-Institut die in den USA bewährten OE-Programme durch. Traugott Lindner brachte die Gruppendynamik von den NTL an das Wiener Hernstein-Institut; die ÖGGO6 wurde gegründet – praktisch alle namhaften systemischen Organisationsberater in Österreich wurden dort »sozialisiert«. Mit dem Beginn der 1980er-Jahre setzte man sich dort mit den Entwicklungen der Systemtheorie, insbesondere in Familientherapie, Kommunikationswissenschaft, Philosophie und Soziologie, auseinander.

Zur selben Zeit hatte die Gruppe der Heidelberger Familientherapeuten um Helm Stierlin die Mitglieder der Palo-Alto-Gruppe, die Mailänder Familientherapeuten sowie zahlreiche Vertreter der wachsenden Szene der Systemtheorie – Physiker, Mathematiker, Erkenntnisbiologen, Soziologen, Philosophen – wiederholt zum Austausch nach Heidelberg eingeladen. Aus diesem umfassenden interdisziplinären Dialog entwickelten die Heidelberger Familientherapeuten und die Wiener Gruppendynamiker den systemischen Beratungsansatz für soziale Systeme, der anfangs gleichermaßen auf Familien wie auf Organisationen angewandt wurde (siehe Krizanits 2009).

In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre entstand der Begriff Organisationsberatung