Einführung in die Phonologie für Romanisten - Eugenio Coseriu - E-Book

Einführung in die Phonologie für Romanisten E-Book

Eugenio Coseriu

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Beschreibung

Hier werden zwei Manuskripte aus der Hinterlassenschaft des 2002 verstorbenen bedeutenden Sprachwissenschaftlers Eugenio Coseriu mit aktualisierter Bibliographie herausgegeben. Der erste Teil beschäftigt sich mit der heute nur noch wenig bekannten Geschichte der Entstehung der klassischen Prager Phonologie, die für die weitere Entwicklung strukturalistischer Richtungen in den Geisteswissenschaften große Bedeutung hatte. Eigenständig ist hierbei Coserius kritische Kommentierung der durch Trubetzkoy und Jakobson geschaffenen Grundlagen. Im zweiten Teil werden die Lautsysteme des Französischen, Italienischen und Spanischen beschrieben, wobei neben der phonologischen Analyse auch die Beschreibung der z. T. regionalen Aussprachenormen eine große Rolle spielt. Sie dient dem sprachdidaktischen Anliegen des Autors.

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Eugenio Coseriu

Einführung in die Phonologie für Romanisten

Bearbeitet und herausgegeben von Wolf Dietrich

DOI: https://doi.org/10.24053/9783381109722

 

© 2024 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

ISBN 978-3-381-10971-5 (Print)

ISBN 978-3-381-10973-9 (ePub)

Inhalt

VorwortI: Allgemeine Phonologie1 Einleitung: Grundlagen1.1 Das Verhältnis Phonem – Alphabetschrift1.2 Die Entwicklung des Phonembegriffs2 Der Prager Linguistenkreis2.1 Die Kritik Trubetzkoys an früheren Vorstellungen2.2 Das Problem der Morphonologie2.3 Kritik Trubetzkoys an anderen Auffassungen des Phonems2.4 Auswirkungen der Unterscheidung System – Norm3 Kritik an Trubetzkoy3.1 Form und Substanz – artikulatorische oder auditive Phonetik3.2 Form und Substanz in der Glossematik4 Die Darstellungsfunktion der Sprache nach Trubetzkoy4.1 Lautstilistik als Kundgabe- und Appellfunktion4.2 Darstellungsphonologie4.2.1 Die bedeutungsunterscheidende und konstitutive Funktion4.2.2 Die gipfelbildende Funktion4.2.3 Die delimitative Funktion4.2.4 Die diakritische Funktion5 Die Klassifikation der Oppositionen5.1 Korrelationen5.2 Neutralisierung5.3 Der Binarismus in der Phonologie und in der strukturellen LinguistikII: Romanische Phonologie1 Zielsetzung und Grundsätze2 Kommentierte Bibliographie2.1 Vergleichende Darstellungen2.2 Zum Lateinischen2.3 Zum Französischen2.4 Zum Italienischen2.5 Zum Spanischen3 Die funktionelle Sprache und abweichende Formen3.1 Französisch3.2 Italienisch3.2.1 Lautliche Charakterisierung des Italienischen3.2.2 Phonologische Schwächen im System des Italienischen3.3 Ein morphonologisches Faktum des Italienischen und Spanischen: die Behandlung der „unbeständigen“ Diphthonge4 Die Probleme der romanischen Phonologie4.1 Interpretationsprobleme im Französischen4.1.1 Die Nasalvokale4.1.2 Die Vokalquantität4.1.3 Das Problem des „e instable“ und der Halbvokale4.1.4 Die Struktur des Vokalsystems4.1.5 Besonderheiten des französischen Konsonantensystems4.1.6 Die Halbvokale4.1.7 Der palatale Nasal /ɲ/4.2 Interpretationsprobleme im Spanischen4.3 Interpretationsprobleme im Italienischen4.4 Die problematischen Punkte in objektiver Hinsicht4.4.1 Interpretatorische Unterschiede im Spanischen und Italienischen4.4.2 Interpretatorische Unterschiede im Französischen5 Phonologische Funktionen im Französischen5.1 Die gipfelbildende Funktion im Französischen5.2 Die abgrenzende Funktion – Grenzsignale im Französischen6 Phonologische Funktionen im Spanischen6.1 Die kulminative Funktion im Spanischen6.2 Die delimitative Funktion im Spanischen6.2.1 Positive Grenzsignale im Spanischen6.2.2 Negative Grenzsignale im Spanischen7 Die kulminative und die delimitative Funktion im Italienischen7.1 Fragen der Phonemdistribution im Italienischen7.2 Grenzsignale im Italienischen8 Romanische Vokalsysteme8.1 Allgemeine Typologie von Vokalsystemen8.2 Die romanischen Vokalsysteme8.2.1 Die Vokalsysteme der Mehrheit der romanischen Sprachen8.2.2 Interpretationsprobleme im französischen Vokalsystem8.2.3 Ergebnisse zum französischen Vokalsystem8.3 Die romanischen Konsonantensysteme im Vergleich8.3.1 Das Italienische8.3.2 Das Spanische8.3.3 Das FranzösischeBibliographieRegister

Vorwort

Die vorliegende Einführung in die Phonologie beruht auf zwei Vorlesungsmanuskripten von Eugenio Coseriu, Einführung in die Phonologie und Romanische Phonologie. Der Anlass dieser Manuskripte war eine Vorlesung, die Coseriu im Sommersemester 1972 mit dem Titel „Prinzipien der Phonologie“ gehalten hat. Vorher und nachher hat er nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse der Universität Tübingen keine weitere Vorlesung zur Phonologie gehalten. Die „Romanische Phonologie“ mag als Vorbereitung für eine Vorlesung konzipiert worden sein, die dann nie gehalten wurde. Somit bleibt das Thema der Phonologie in seiner Tübinger Lehrtätigkeit singulär.

Der Herausgeber hat die beiden Manuskripte nun unter dem Gesamttitel Einführung in die Phonologie für Romanisten zusammengeführt, weil sie letztlich eine Einheit bilden. Der romanistische Schwerpunkt der zweiten Vorlesung ist auch im ersten Teil neben der Behandlung von Beispielen aus vielen anderen Sprachen, nicht zuletzt des Deutschen, durchaus gegeben. Es ist eine Einführung in die heute oft kaum noch bekannte klassische Prager Phonologie vor allem für Romanisten, aber auch für solche, die an anderen linguistischen Disziplinen interessiert sind. Der zweite Teil nimmt die theoretischen Grundlagen des ersten Teils ausdrücklich wieder auf, geht aber auch darüber hinaus.

Es handelt sich im ersten Teil dieser „Einführung in die Phonologie“ im Grunde um eine kommentierte Lektüre und Bearbeitung von Trubetzkoys Grundzügen der Phonologie (1939), also um eine Einführung in die klassische Phonologie der Prager Schule mit Rückgriffen auf deren Vorgeschichte und mit Bezügen zur Phonologie der 1940er bis 1970er Jahre. Vor allem aber entwickelt Coseriu anhand der partiellen Kritik an Trubetzkoy seine eigene Vorstellung von Phonologie und weist ihr ihren Platz in seinem Sprachdenken zu. Insofern ist diese Darstellung ein Stück Geschichte der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert und eines, das Coseriu als Erneuerer der Linguistik und Überwinder klassischer Positionen einschließt.

Der zweite Teil, die „Romanische Phonologie“ ist im Wesentlichen eine detaillierte Beschreibung der lautlichen Norm des Französischen, Italienischen und Spanischen. Die eigentliche phonologische Wertung tritt dabei in den Hintergrund.

Warum ist die Veröffentlichung dieser Vorlesungsmanuskripte heute, 50 Jahre nach ihrer Niederschrift, noch immer gerechtfertigt? Erstens hat sich heute die Phonologie verständlicherweise weiterentwickelt, sich zum Teil auch neue Ziele gesetzt und damit ihre Wurzeln oftmals ganz oder teilweise vergessen.1 Zweitens sind heutige Einführungen in die Phonologie – ebenfalls verständlicherweise – vorzugsweise auf eine Einzelsprache ausgerichtet, also zum Beispiel im Wesentlichen phonologische Beschreibungen des Deutschen, EnglischEnglisch, englischen, Italienischen, Spanischen, PortugiesischPortugiesisch, portugiesischen, RumänischenRumänisch, rumänisch usw. Keine der dem Herausgeber bekannten heutigen Einführungen in die Phonologie lotet wie die Coserius die Entstehung, aber auch die Vorzüge und ebenfalls die Grenzen der Phonologie Trubetzkoys und seiner Mitstreiter in dieser Weise aus. Im Verlauf der beiden hier zusammengeführten Vorlesungen entwickelt Coseriu auch seine eigene Vorstellung, die das Prinzip einer funktionellfunktionellen Lautlehre in sein eigenes Gebäude einer an der Kompetenz des Sprechers orientierten Sprachwissenschaft einfügt und dabei über die Idee einer rein funktionellen Lautlehre weit hinausgeht.

Ein weiteres Argument für die Herausgabe seiner Vorlesungsmanuskripte ist deren romanistischer Anspruch. Es gibt heute keine andere romanistische Phonologie als die hier vorgelegte, die die Ergebnisse der romanistischen Einzelsprachen im Zusammenhang und im Vergleich darstellt. Weder der Manuel des langues romanes (Klump/Kramer/Willems 2014) noch Jens Lüdtkes Romanistische Linguistik (Lüdtke 2019) gehen näher auf die Phonologie der einzelnen romanischen Sprachen ein. Auch eine Beschreibung der Normlautung, die die diatopischdiatopische und die diastratischdiastratische VariationVariation berücksichtigt, ist in dieser Ausführlichkeit eine Rarität, besonders mit Bezug auf das Italienische (vgl. II, Kap. 3).

Zuletzt empfiehlt sich die Publikation dieses Buches auch, weil man es als Fortsetzung von Coserius Geschichte der romanischen Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert (siehe Coseriu/Meisterfeld 2003, Coseriu 2020, Coseriu 2021, Coseriu 2022) betrachten kann. Diese endet zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also noch bevor das einsetzt, was man üblicherweise als den Anfang der Sprachwissenschaft ansieht, nämlich der historisch-​vergleichenden Sprachwissenschaft als institutionalisierte Disziplin. Dieser Teil der Geschichte ist in Coserius Werk ausgespart, wohl auch weil sie viel bekannter ist als die von ihm behandelte „Vorgeschichte“. Die Einführung in die Phonologie setzt somit wenigstens einen wichtigen Pfeiler der Geschichte der Linguistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, ein Thema, das Coseriu in Vorlesungen der 70-er und 80-er Jahre des vorigen Jahrhunderts mehrfach behandelt hat. Dazu sind aber keine nachgelassenen Manuskripte bekannt.

Die Manuskripte sind weitestgehend, aber nicht vollständig ausgearbeitet. Wo sie nur Stichworte enthalten, musste der Herausgeber nach bestem Wissen daraus sinnvolle Aussagen formulieren. Grundlage dieses Buches sind zwei Mappen, wie alle nachgelassenen Schriften Coserius handschriftlich auf Blättern im Format DIN A5. Die Einführung in die Phonologie hat 179 durchnummerierte Seiten, wobei es in Wirklichkeit etliche mehr sind, weil Coseriu in vielen Fällen Ergänzungen auf eigenen Seiten angefügt hat, die mit der Seitennummer versehen sind, zu der die Ergänzung gehört, also z.B. zu Zählungen wie 82, 82b, 82c führt. Andererseits scheinen zehn Seiten (156–165) zu fehlen. Es ist aber wahrscheinlicher, dass sich der Autor – wie auch in sehr seltenen anderen Fällen seiner Manuskripte – in der Seitenzählung geirrt hat. Der Herausgeber hat unter dieser Annahme die unvollendete Passage am Fuß von S. 155 ergänzt. Das Manuskript der Romanischen Philologie besteht aus 174 durchgezählten Blättern mit einigen Ergänzungen auf Zusatzblättern.

Die Manuskripte sind wie auch andere Manuskripte im Allgemeinen gut lesbar, nur in wenigen Zweifelsfällen hilft die Sachkenntnis oder die Plausibilität. Die meisten Zitate haben ausreichende Stellenangaben, wo nicht, mussten sie nach Möglichkeit gesucht und ergänzt werden. Letzteres gilt auch für viele lückenhafte bibliographische Angaben. Coserius Vorlesungsstil wurde für die Veröffentlichung behutsam überarbeitet, manche sprachliche Eigenheiten heutigem Sprachgebrauch angepasst, allerdings nur vorsichtig und ohne seine Argumentationsweise als solche zu ändern. Die Einteilung in Kapitel und Unterkapitel geht auf den Herausgeber zurück. Sie ist vom Autor selbst nur spärlich vorgenommen worden. Zusätze des Herausgebers zum Text von Coseriu sind in eckige Klammern gesetzt. Alle Anmerkungen stammen ebenfalls vom Herausgeber.

Der Aufbau des Buches ist zyklisch, weil die beiden aufeinander bezogenen Vorlesungen es sind und weil Coseriu auch innerhalb von Kap. II so vorgeht. Der erste Teil (hier I, 1–5) enthält die theoretischen Grundlagen der Phonologie mit dem Schwerpunkt auf der Phonologie der Prager Schule, insbesondere Trubetzkoys. Dabei werden aber immer wieder Beispiele der Anwendung der Prinzipien auf die romanischen Sprachen gegeben. Im zweiten Teil (hier II, 1–8) werden die wichtigsten ZügeZug, Züge der romanischen Sprachen (Französisch, Spanisch, Italienisch) erläutert, wobei der zyklische Charakter der Darstellung im Vorgehen vom Allgemeinen, Überblicksartigen zum Besonderen geht, das heißt, dass bestimmte Themen immer wieder vorkommen (z.B. in II, 4.4.2. und II, 8.8.2.). So können auch Beispiele wiederholt vorkommen. Dies entspricht Coserius didaktischem Anliegen in seinen Vorlesungen und wurde hier nicht verändert. Mit Kap. II, 5 geschieht dann wieder ein Rückgriff auf Themen vor allem aus Kap. I, 4, nun mit detaillierterer Beschreibung in den einzelnen romanischen Sprachen. Hier geht es vor allem um Phänomene, die über die grundlegende segmentale Phonologie hinausgehen, DarstellungsfunktionDarstellungsfunktionen und Grenzsignale. Dieses Buch eignet sich dank des Sachregisters auch als Nachschlagewerk, noch mehr aber als fortlaufende Lektüre zur Festigung des StoffStoff, stoffliches, nämlich der Wahrnehmung und Interpretation der lautlichen Seite der Sprache.

Im Zusammenhang mit der Phonologie als Grundpfeiler des Strukturalismus ist besonders die Lektüre von Albrecht (2007) und Albrecht (2024) zu empfehlen.

Laute werden von Coseriu im Allgemeinen ohne Auszeichnung geschrieben, also als j, w, b, a usw., immer unterstrichen. Dies erschien uns heutigem Gebrauch nicht mehr entsprechend. Deshalb haben wir sie entweder als Phoneme, also /j/, /w/, /b/, /a/, oder als in der Norm beobachtete oder in einer Äußerung realisierte Laute dargestellt, also als [j], [w] [b], [a]. Erwähnt sei auch, dass Coseriu terminologisch für seine eigene Darstellung „phonematischphonematisch“ bevorzugt und „phonologisch“ eher beim Bezug auf Andere, z.B. Trubetzkoy, verwendet. Gelegentlich findet sich in seinem Manuskript „phonologisch“ gestrichen und durch „phonematisch“ ersetzt. Wie in anderen Schriften vermeidet er FremdwörterFremdwörter im Deutschen, z.T. auch seine eigenen Termini. So sagt er immer „MundartMundart“ statt „DialektDialekt, dialektal“ und „sozio-​kulturellsozio-kulturell“ statt „diastratischdiastratisch“. Das letztgenannte Beispiel zeigt, dass er offensichtlich verschiedene Schichten von Fremdwörtern unterscheidet, da „sozio-​kulturellsozio-kulturell“ eher akzeptabel erscheint – obwohl auch „Fremdwort“ – als „diastratischdiastratisch“. Zuweilen führt seine Haltung aber auch zu im Deutschen ungewöhnlichen und auch semantischsemantisch unangemessenen Formulierungen, so z.B., wenn er eine Erscheinung, die phonologisch indifferent ist, „gleichgültig“ nennt. Die beiden Adjektive sind eben in diesem Zusammenhang nicht gleichbedeutend. Wir haben hier vorsichtig korrigiert.

Fremdsprachliche Texte (außer englischen) und auch Einzelwörter sind vom Herausgeber meistens ins Deutsche übersetzt worden, gerade auch unbekanntere Beispielwörter. Dafür fehlen andere Dinge, die ein Benutzer dieses Buches vielleicht vermissen könnte: Coseriu setzte in seinen Vorlesungen die Kenntnis mehrerer romanischer Sprachen voraus und im hier gegebenen Fall auch die der phonetischphonetisch-phonologischen TranskriptionTranskription. Sie wird auch hier vorausgesetzt, allerdings wurde Coserius schwankender Gebrauch zwischen API/IPA-​Zeichen und anderen Verfahren, insbesondere den Transliterationsgewohnheiten aus dem slawistischen Sprachbereich vereinheitlicht, indem hier konsequent die Zeichen der API (Association Phonétique Internationale) bzw. IPA (International Phonetic Association) verwendet werden. Coserius Einführung in die Phonologie ist auch in dem Sinne ein Buch für Fortgeschrittene, dass es Basiskenntnisse wie die artikulatorischartikulatorische Phonetik mit der Terminologie von Artikulationsart (OkklusivOkklusiv, okklusiv, FrikativFrikativ, frikativ usw.) und Artikulationsort (labialLabial, labial, dorsaldorsal, palatalpalatal, velarvelar usw.) voraussetzt. Solche Kenntnisse werden auch in anderen entsprechenden Büchern als vorhanden angenommen (siehe z.B. Ternes 1987, 2012). Sie werden geliefert in den einschlägigen Einführungen in die Phonetik (Schubiger 2020, Pompino-​Marschall 32009), für Romanisten in Einführungen in die Phonetik und Phonologie des Französischen (Pustka 2016), des Spanischen (Pustka 2021), des Italienischen (Heinz/Schmid 2021).

Ich danke Gunter Narr, dem Gründer des Narr Verlages in Tübingen, für die Überlassung der Coseriu-​Manuskripte aus seinem Besitz zum Zwecke der Veröffentlichung. Nach dem Abschluss der Arbeiten an diesem Buch werden die Manuskripte dem Coseriu-​Archiv in Tübingen übergeben werden, wo sich der Nachlass Coserius befindet. Meiner Frau Marta danke ich für die abermalige geduldige und kritische Korrektur meiner Textvorlage sowie Frau Kathrin Heyng vom Narr Verlag für die erneut verständnisvolle und sachkundige Betreuung auch dieses Bandes.

 

Wolf Dietrich

Münster im Januar 2024

I: Allgemeine Phonologie

1Einleitung: Grundlagen

Eine Darstellung der Phonologie ist die am besten geeignete Einführung in die strukturelle Sprachwissenschaft. Sie ist dafür am besten geeignet auch hinsichtlich der Unterschiede zwischen der strukturell-​funktionellen und der sog. traditionellen Sprachwissenschaft einerseits sowie zwischen der strukturell-​funktionellen und der generativ-​transformationellen Linguistik andererseits. Letztere bleibt unverständlich, wenn man die „klassische“ Phonologie nicht kennt.

Dies hat verschiedene Gründe:

von der Sache, d.h. von Fakten her,

weil die phonologischen Systeme einfacher als die grammatischen oder lexikalischen sind,

weil weit weniger Einheiten als in der Grammatik und im Wortschatz zu unterscheiden sind, normalerweise zwischen 20–40;

von der Forschung her,

weil sich die Phonologie früher herausgebildet hat als die funktionellfunktionelle Grammatik oder die strukturelle SemantikSemantik

weil die Phonologie viel weiterentwickelt wurde. Die Prager Schule ist fast ausschließlich auf die Phonologie ausgerichtet, und auch in der nordamerikanischnordamerikanischen Schule ist vor allem Phonologie betrieben worden. In den nordamerikanischen Einführungen in die Linguistik geht es vor allem um die Phonologie.

Deshalb

ist die Phonologie ein Modell für die strukturelle Beschreibung überhaupt: Begriffe, die in der Phonologie entstanden und geprägt worden sind, sind dann auf andere Gebiete der Sprachstruktur übertragen worden, z.B. „unterscheidender Zugunterscheidender Zug“, „Opposition“, „Einheit“, „Archi-​Einheit“, „NeutralisierungNeutralisierung“, „MerkmalMerkmal“, „leeres Fach“, „KorrelationKorrelation“, „Variante“ usw. Dies ist auch über die Sprache hinaus geschehen, z.B. bis in die Texte, die Literatur und die Verhaltensforschung hinein.

Auch die Diskussion der strukturellen Begriffe und Methoden betrifft vor allem das Gebiet der Phonologie.

Schließlich liegen die am weitesten akzeptierten Ergebnisse vor. Auch Linguisten, die keine Strukturalisten sind, operieren mit phonologischen Begriffen.

Die terminologische Trennung zwischen Phonologie und Phonetik geht im Wesentlichen auf Trubetzkoy (1939) zurück.

Danach ist Phonologie die funktionellfunktionelle, linguistische Wissenschaft der SprachlautSprachlaute und Phonetik die nicht-​sprachwissenschaftliche, materielle, naturwissenschaftliche Untersuchung der Sprachlaute.

Leider ist dies eine unklare Opposition, denn Phonologie ist einerseits die Untersuchung der Laute auf der Ebene des SprachsystemSprachsystems (langue) einer jeden Einzelsprache und Phonetik demgegenüber die Untersuchung der Laute auf der Ebene der Norm und der Rede (parole),Rede, Redeakt (parole) jedoch nicht nur in der Rede im Allgemeinen, ohne Bezug zu einer Einzelsprache, sondern auch in der Rede, die in einer bestimmten Einzelsprache realisiert wird. Ersteres entspricht der allgemeinen Phonetik, das Zweite der einzelsprachlicheinzelsprachlichen Phonetik:

[Obiges Schema will zeigen, dass eine beliebige Sprache x, die ja von anderen unterschieden ist und außerdem im saussureschen Sinn als „langue“ anzusehen ist, sich realisiert in einem einmaligen Stück RedeRede, Redeakt (parole) („parole“), welches auch von den Redeereignissen Anderer durch verschiedene Faktoren (Zeit, Raum, Person) abgegrenzt ist. Die allgemeine Phonetik untersucht z.B. in artikulatorischartikulatorischer Hinsicht verschiedene in den Sprachen vorkommende Laute (z.B. LabialLabial, labiale oder gerundetgerundete Vokale), die einzelsprachlicheinzelsprachliche Phonetik die in einer bestimmten Sprache in der Norm üblichen Laute (z.B. Labiale oder gerundete Vokale) und außerdem die von jemand in einer bestimmten Situation geäußerten Laute (alle oder nur die Labiale oder gerundetgerundeten Vokale). Die Phonologie untersucht demgegenüber nur die in einer Einzelsprache vorkommende Auswahl an funktionellfunktionell distinktivdistinktiven Lauten. Dies geschieht praktisch nur auf der Ebene der Einzelsprache („langue“ als SprachsystemSprachsystem).]

Der Terminus Phonologie taucht übrigens auch schon früher auf, jedoch mit anderer Bedeutung, so bei Ferdinand de Saussure (1916), bei dem Phonologie der synchronischenSynchronie, synchronisch Betrachtung der Laute entspricht, Phonetik der diachronischDiachronie, diachronischen Betrachtung. So ist auch der Gebrauch von Grammont (1933), der aber Phonetik zugleich auch als allgemeinen Terminus für „Lautlehre“ gebraucht. Der Sprachgebrauch der nordamerikanischnordamerikanischen Linguistik ist Phonology für die Gesamtheit der phonischphonischen Wissenschaften. Zu diesem Oberbegriff kann die Opposition zwischen PhonemikPhonemik (phonemics) und Phonetik (phonetics) gemacht werden. In der GlossematikGlossematik, glossematisch lautet das Gegensatzpaar innerhalb der KenematikKenem, Kenematik, der Lehre von den Kenemen (ausdrucksseitige Einheiten) PhonematikPhonematik und GraphematikGraphematik:

So wird in der italienischen Linguistik z. T. auch fonematica gebraucht. Eine andere, u. a. von Martinet (1960) und Malmberg verwendete Opposition ist die von Phonetik und funktionaler Phonetik. Sie ist jedoch auch nicht kohärent, denn „funktional“ ist nicht mit anderen Bestimmungen von Phonetik wie akustischakustische, auditivauditive, artikulatorischartikulatorische Phonetik koordinierbar. Sie steht all diesen Arten gegenüber und kann akustische, auditive und artikulatorische MerkmalMerkmale verwenden. Dies sind allerdings nur terminologische Fragen. Mit den verschiedenen Termini wird ungefähr dasselbe gemeint:

In Europa wird gemäß der Tradition der Prager Schule vor allem Phonologie gebraucht (so z. B. Martinet (1949), Weinrich (1958), Lausberg 19632), Martinet 1970, Kap. III), Gleason (1969, Kap. 15–22), Lyons (1968, Kap. 3: The Sounds of Language, 3.3: Phonology);

und “funktionell« funktionell »e Phonetik” (so z. B. Malmberg (1954, Kap. 11: Phonologie ou phonetique fonctionnelle), Malmberg (1966, Kap. 1–2), Malmberg (1971a, Kap. II: Phonétique fonctionnelle),

in Nordamerika vor allem PhonemikPhonemik (und Phonologie als Oberbegriff).

 

I)Klassische Werke zur Phonologie sind

N. S. Trubetzkoy (1939); dessen französische Übersetzung von 1949 enthält auch „Prinzipien der historischen Phonologie“ von Roman Jakobson und „Gedanken über Morphophonologie“ von Trubetzkoy selbst sowie andere wichtige phonologische Arbeiten.

Daniel Jones (1950), The Phoneme: Its Nature and Use, Cambridge.

N. van Wijk (1939), Phonologie. Een hoofdstuck uit de strukturele Taalwetenschap, Den Haag.

Roman Jakobson und Morris Halle (1956), Fundamentals of Language, Den Haag: Mouton.

Leonard Bloomfield (1933), Language, New York, Kap. 5–8.

B. Bloch und G. L. Trager (1942), Outline of Linguistic Analysis, Baltimore. Kap. 2: Phonetik, Kap. 3: Phonemik.

Kenneth L. Pike (1942), Phonemics, Ann Arbor (ein ausgezeichnetes praktisches Handbuch).

Ch. F. Hockett (1955), A Manual of Phonology, Baltimore (das beste Handbuch überhaupt).

II)Zur Technik der phonologischen Beschreibung ist außer Pike (zuvor Nr. 7) zu nennen

 

André Martinet (1956), La Description phonologique avec application au parler franco-​provençal d’Hauteville (Savoie), Genf – Paris.

 

III)Zur historischen Phonologie sind zu erwähnen:

Roman Jakobson (1931a), „Prinzipien der historischen Phonologie“, Travaux du Cercle Linguistique de Prague (TCLP) 4.

Roman Jakobson (1929), „Remarques sur l’évolution phonologique du russe comparée à celle des autres langues slaves“, TCLP 2.

André Martinet (1955), Economie des changements phonétiques. Traité de phonologie diachronique. Bern: Francke.

IV)Zur Diskussion und Einschätzung der Phonologie:

TCLP Band 1, 1929, der aber nicht ausschließlich phonologisch ist

TCLP Band 4, 1931. Dieser Band ist ausschließlich phonologisch und mit Ausnahme von Band 7 der wichtigste Band dieser Zeitschrift überhaupt. Er enthält Aufsätze von Dmitryj Čyževśkyj [in späteren Veröffentlichungen auch Tschižewskij], Karl Bühler, Jewgenij D. Polivanov, Trubetzkoy, A. W. de Groot, V. Mathesius.

TCLP Band 8, Gedenkschrift für N. S. Trubetzkoy : Etudes phonologiques dédiées à la mémoire de N. S. Trubetzkoy, 1939. Dieser Band enthält vor allem Beiträge von Hjelmslev und Hendrik Josephus Pos, mit Anwendungen auf das Deutsche, Spanische, Italienische, sowie verschiedene Aufsätze zur historischen Phonologie.

W. F. Twadell (1935), On Defining the Phoneme, Baltimore.

Eugenio Coseriu (1952), Sistema, norma y habla, Montevideo

Eugenio Coseriu (1954), “Forma y sustancia en los sonidos del lenguaje”, Montevideo

Herbert Pilch, Phonemtheorie (1968), Basel – New York.

V)Zur Geschichte der Phonologie

Primärgeschichte: Jan Baudouin de Courtenay (1893) Próba teorii alternacyj fonetycznych, Krakau.

Sekundärgeschichte: Daniel Jones (1957), The History and Meaning of the Term “Phoneme”, London.

Vorgeschichte: David Abercrombie (1949), “What is a Letter?”, Lingua 2, 54–63; wieder abgedruckt in David Abercrombie, Studies on Phonetics and Linguistics, London: Oxford University Press, 1965; ibidem 1966, 1971.

VI)Nur zur Geschichte des Terminus „Phonem“

1868 –

J. Baudouin de Courtenay, „Einige fälle der wirkung der analogie in der polnischen deklination“, Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung (Berlin), 6,1, 19–88. Dort „LautLaut“ als physisch-​physiologische Einheit gegenüber „Laut“ als psychologisch-​psychische Einheit.

1873 –

A[ntoni]. Dufriche-​Desgenettes. Siehe dazu Koerner (1976) und Joseph (1999), außerdem Mugdan (2011), (2014).

1875 –

Louis Havet. Siehe zu ihm Kohrt (1985, Kap 2.2.: Frühe Phonemkonzepte von Dufriche-​Desgenettes bis Baudouin de Courtenay: Louis Havet und die Ausbildung des PhonembegriffPhonembegriffs, SS. 77 ff.). Bei Louis Havet bedeutet Phonem ‘SprachlautSprachlaut’.

1878 –

Ferdinand de Saussure, Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-​européennes, Leipzig (dort in der Bedeutung etwa zwischen ‘SprachlautSprachlaut’ und ‘Phonem’.

1879 –

Mikołaj Habdank Kruszewski, Lautalternationen im Rigveda, Kazan‘. Dort erscheint die Unterscheidung zwischen zvuk ‘LautLaut’ und fonema. Die dort ausgebreiteten Begriffe stammen von Baudouin de Courtenay, der Terminus phonème jedoch von Saussure. Die Phonologie der Kazan’er Schule entspricht aber eher der späteren Morphophonologie als der Phonologie im eigentlichen Sinne.

 

Nicht erwähnte Werke entsprechen meist nicht der eigentlichen Phonologie, so zum Beispiel

Eugen Dieth (1950), Vademekum der Phonetik, Bern.

Eugen Seidel (1943), Das Wesen der Phonologie, Bukarest und Kopenhagen, vorher rumänischRumänisch, rumänisch: Fonologia şi problemele ei actuale, Bukarest 1942.

1.1 Das Verhältnis Phonem – AlphabetschriftAlphabetschrift

Das Phonem als Grundbegriff der Phonologie meint die phonischphonischen Einheiten der Sprachen im Sinne einer jeden historischen Einzelsprache. Dabei stehen sich in Bezug auf die Existenz des Phonems zwei Stellungnahmen gegenüber. Von diesen sagt die eine, das Phonem sei eine Fiktion, die aufgrund der AlphabetschriftAlphabetschrift entstanden sei, die andere behauptet genau das Gegenteil: Das Phonem ist eine sprachliche Realität, die von der Alphabetschrift nur intuitiv erfasst wird.

Die erstgenannte Ansicht beruht auf Helmut Lüdtke (1969), „Die Alphabetschrift und das Problem der Lautsegmentierung“, Phonetica 20, 147–176. Lüdtke behauptet dort, phonologische Einheiten seien nur Fiktionen, die auf die Alphabetschrift zurückgingen. Dabei geht er von Schwierigkeiten aus, wie sie in der SegmentierungSegmentierung von DiphthongDiphthong, diphthongischen und AffrikatenAffrikaten entstehen bzw. entstehen können. Dem Phonem entspreche kein physikalisches Korrelat, „weder ein artikulatorischartikulatorisches noch ein akustischakustisches noch ein auditivauditives“ (wie Trubetzkoy gemeint hatte). Phoneme habe man wegen der Alphabetschrift erfunden. Diese sei aber auch nur eine einmalige Erfindung in der Geschichte der Menschheit, nämlich eine semitisch-​griechischGriechisch, griechische Erfindung. Lüdtkes Argumente kann man folgendermaßen zusammenfassen:

Schwierigkeiten bei der SegmentierungSegmentierung von DiphthongDiphthong, diphthongischen und AffrikatenAffrikaten wie [ʦ], [ʣ], [ʧ], [ʤ];

Unmöglichkeit der SyntheseSynthese der Stimme aufgrund von künstlich erzeugten Phonemsegmenten;

das Alphabet als einmalige phönizischphönizisch-griechische Erfindung.

Diese Argumente sind weder historisch noch theoretisch annehmbar:

Historisch – Argument 3:

Die altindischaltindische Schrift ist auch alphabetisch. Sie hängt zwar mit der semitischen (aramäischen), jedoch nicht mit der griechischGriechisch, griechischen Schrift zusammen. Es stimmt nicht, dass man hier kein Anzeichen für einen intuitiven PhonembegriffPhonembegriff erkennen könnte. Es werden in der altindischen Schrift nicht unterscheidende Zügeunterscheidender Zug, sondern Phoneme geschrieben. Der Unterschied z.B. zwischen k – g, p – b, t – d ist jeweils derselbe, die Zeichenpaare sind jedoch bis auf jeweils einen ZugZug keineswegs identisch, und das, was jeweils das Zeichen für stimmhaftstimmhaft und stimmlosstimmlos differenziert, ist in den drei Fällen auch dasselbe.

In Devanagari, einer aus dem Sanskrit entwickelten Schrift, stehen sich gegenüber

Was für die altindischaltindische Schrift charakteristisch ist, ist nur ein Prinzip der Ökonomie: da kurzes ă so häufig ist, wird es nicht eigens geschrieben, sondern als jedem konsonantischen Zeichen folgend vorausgesetzt. Silbenanlautendes ă wird wie alle anderen Vokale natürlich geschrieben.

Es gibt auch verschiedene andere alphabetische Schriften, die weder mit der griechischGriechisch, griechischen noch mit der semitischen Schrift zusammenhängen, so z.B. die koreanische Schrift, die um 1450 von König Se-​Jong erfunden wurde und sehr genau dem phonologischen System des KoreanischKoreanischen entspricht, z. B. in der KorrelationKorrelation von

Übrigens findet die „Erfindung“, wenn auch nach der griechischGriechisch, griechischen, immer wieder statt, so z.B. im neueren türkischen Alphabet mit lateinLatein, lateinischischen BuchstabeBuchstaben und diakritischen Zeichen, dem das albanische teilweise folgt. Beide sind fast genau phonologisch.

TürkischTürkisch

ç /ʧ/ – c /ʤ/ und ähnlich ş /ʃ/ - s /s/ – z /z/ ~ j /ʒ/

Albanisch

ç /ʧ/ – c /ʦ/ und ähnlich sh /ʃ/ - s /s/ – z /z/ ~ zh /ʒ/

Alphabete werden im Laufe ihrer Entwicklung auch korrigiert, so wurde z.B. lat. C, das zunächst für /k/ und /g/ stand, unter Berücksichtigung des unterscheidenden Zugesunterscheidender Zug der StimmhaftigkeitStimmhaftigkeit um den BuchstabeBuchstaben G erweitert, d.h. aus C wurde zusätzlich G entwickelt. Im LateinLatein, lateinischischen gilt das allerdings nur für diese Einheit. Allerdings muss man wissen, dass im Lateinischen in der Frühzeit neben C für /k/ auch K geschrieben wurde. [Im Deutschen wurde zur besseren Unterscheidung von stimmlosstimmlosem /s/ und stimmhaftstimmhaftem /z/ im InlautInlaut zunächst der Digraph ʆƺ (langes S für /s/ im Anlant und ƺ für stimmhaftes /z/) und daraus im 18. Jahrhundert der neue Buchstabe ß geschaffen, dessen prekäre Existenz (z.B. gänzliche Abschaffung in der Schweiz) auch darin besteht, dass es für diesen Kleinbuchstaben keinen entsprechenden Großbuchstaben gibt.]

Zu Lüdtkes erstem Argument ist zu sagen, dass die „Schwierigkeit“ nicht eigentlich in der „Existenz“ des Phonems, sondern bisweilen in der Schwierigkeit besteht, seine Einheitlichkeit festzustellen. Dies betrifft die Frage, ob DiphthongDiphthong, diphthongische und AffrikatenAffrikaten in einer bestimmten Sprache als Einheiten funktionieren oder nicht. Das heißt aber nicht, ob entsprechende Zeichen (Laute oder BuchstabeBuchstaben) Phoneme repräsentieren, sondern wie viele Phoneme sie repräsentieren.

Lüdtkes Argument der SyntheseSynthese gilt nicht für alle Fälle, sondern nur für einige, wo Phoneme in bestimmten Segmenten nicht realisiert werden. Die Versuche von Trubetzkoy, auf die sich Lüdtke bezieht, betreffen nur bestimmte KonsonantennexusKonsonantennexus wie [pl], [kr]. Lüdtkes Einwand gilt z.B. nicht für jegliche Vokale und konsonantische Kontinua wie [s], {z], [r], [f], [v]. Man kann deren Aussprache lernen, ohne sie in unterscheidende Zügeunterscheidender Zug zu zerlegen. Wenn die Synthese der Stimme hier von den Phonemen nicht zu den Stimmlauten kommen sollte, würde etwas mit der Synthese nicht stimmen.

Zweitens geschieht diese SyntheseSynthese immer wieder und hat absolut nichts Merkwürdiges an sich, etwa beim Lesen des Geschriebenen. Es werden meist Phoneme als Einheiten gelesen, aber immer Laute produziert, auch in neuen Wörtern wie Tom [to:m] gegenüber Ton oder Bom [bɔm] gegenüber Bonn. Noch klarer ist dies, wenn es um Fremdsprachen geht. Würden den Phonemen allgemein keine Korrelata im Lautlichen entsprechen, so könnte man aufgrund der alphabetischen Schrift und einer phonischphonischen Beschreibung Fremdsprachen nicht lesen. Dies ist jedoch stets möglich: Man kann auch eine nie direkt gehörte Sprache auf ziemlich annehmbare Weise rein aufgrund einer phonematischen Schreibung aussprechen.

Richtig ist, dass die lautliche Realisierung ein KontinuumKontinuum ist und dass die Realisierungen der Phoneme ineinandergehen, so dass man sie nicht abgrenzen kann. Eine Schwierigkeit der Abgrenzung der Einheiten bedeutet jedoch keine Unmöglichkeit ihrer Existenz! Siehe die Abgrenzung von Tag und Nacht: Die Schwierigkeit der Grenzziehung zwischen Tag und Nacht im Ablauf des tatsächlichen Geschehens bedeutet keineswegs, dass Tag und Nacht als Begriffe und als allgemeine Phänomene nicht existieren.

Es ist widersprüchlich anzunehmen, dass Phoneme nicht existieren, wohl aber unterscheidende Zügeunterscheidender Zug, denn Phoneme sind nichts Anderes als Bündel von unterscheidenden Zügen.

Die SyntheseSynthese der Stimme kann aber grundsätzlich nicht von den unterscheidenden Zügen allein ausgehen, denn im LautLaut werden nicht nur unterscheidende Züge realisiert. Das Unterscheidende allein kann in gewissen Fällen einfach nicht realisiert werden. Ein gutes Beispiel ist das spanische Phonem /b/: Es ist oraloral gegenüber /m/, bilabialbilabial gegenüber /d/ und /g/, stimmhaftstimmhaft gegenüber /p/ und /f/. Aber das Gefüge ‘oraloral’ – ‘bilabial’ – ‘stimmhaft’ kann nicht ohne Hinzufügung von ‘frikativFrikativ, frikativ’ oder ‘okklusivOkklusiv, okklusiv’ realisiert werden.

Damit kommen wir zur Grundannahme von Lüdtke und der anderer Kritiker bezüglich der PhonemtheoriePhonemtheorie. Ihre Grundannahme ist falsch, weil sie eine Verwechslung von Phonem und LautLaut bedeutet. Dies wird im ersten Satz bei Lüdtke deutlich: „Die klassische Phonemtheorie beruht – ebenso wie die Lehre der Junggrammatiker – auf folgender (ausgesprochener oder unausgesprochener) Voraussetzung: Der kontinuierliche Redestrom (chaîne parlée) gliedere sich in eine Abfolge kleinster Zeitsegmente (die von den Junggrammatikern als „Laute“, von den Strukturalisten als „Phoneme“ bezeichnet werden).“

Dies ist völlig falsch. Kein Strukturalist nimmt an, dass sich der Redestrom in Phoneme gliedert. Phoneme sind funktionellfunktionelle Einheiten der Sprache, nicht lautliche Einheiten der Rede. Lüdtkes Aufsatz heißt „Die Alphabetschrift und das Problem der LautsegmentierungLautsegmentierung“, aber Lautsegmentierung ist nicht Phonemsegmentierung. Es ist ein völlig anderes Problem, wie ein Phonem realisiert wird, aber die meisten Phonologen behaupten auch nicht, dass einem Phonem unbedingt ein LautsegmentLautsegment entsprechen muss, obwohl dies meist der Fall ist. Diese Annahme findet sich bei einem Teil des nordamerikanischnordamerikanischen, nicht aber im europäischen StrukturalismusStrukturalismus. [Eine ähnliche Annahme wie bei Lüdtke findet sich leider heute immer noch bei manchen Uneinsichtigen, vgl. Albano Leoni (2021).]

Zur Abgrenzung von Segmenten und Phonemen:

ein bestimmtes einheitliches Segment kann einem Phonem entsprechen oder

mehrere Segmente können einem Phonem entsprechen, z.B. /ʦ/, /ʧ/, /aw/, /aj/ usw.

es kann ein Segment mehreren Phonemen entsprechen. So wird z.B. in amerikanisch-​engl. party das /r/ in der Modifizierung des /t/ realisiert: [ˈpɑɽdɪ]. Im Schwedischen wird der auslautende NexusNexus /rs/ ähnlich wie [ʆ] artikuliertartikulieren, ohne dass [ʆ] ein Phonem im SchwedischSchwedisch, schwedischen wäre. Es sind zwei Segmente, /r/ und /s/ beteiligt, die aber als ein einziges Segment realisiert werden.

Dasselbe Segment kann verschiedenen Phonemen entsprechen je nach dem Kontext. Wenn z.B. engl derby als [ˈdɑ:bɪ] realisiert, aber daneben im Bewusstsein der Sprecher auch [ˈdə:bɪ] existiert, so sind eigentlich in beiden Fällen /ə/ und /ɑ/ impliziert, obwohl immer nur eines der Phoneme tatsächlich artikuliertartikulieren wird.

Es ist aber auch möglich, dass völlig verschiedene LautsegmentLautsegmente einem einzigen Phonem entsprechen:

so z.B. [s] – [z] im Italienischen: [Im Anlaut ist [z] unmöglich, intervokalischintervokalisch wird regional unterschiedlich entweder [z] (im Norden) oder [s] (im Süden) realisiert. In der toskanischToskanisch, toskanischen Norm wird teils [s], teils [z] gesprochen, aber es gibt keine Opposition;]

[s] – [h] – [ç] – [z] im amerikanischen Spanisch. [Das Phonem /s/ wird je nach Kontext unterschiedlich ausgesprochen. Im Auslaut lautet es regional unterschiedlich [s] oder [h], vor stimmlosstimmlosem OkklusivOkklusiv, okklusiv [ç], vor stimmhaftstimmhaftem Konsonant [z].]

Diese Segmente haben miteinander nicht mehr gemeinsame ZügeZug, Züge als mit anderen Phonemen. Es ist ohne weiteres möglich, dass ein Phonem nur negativ abgegrenzt wird. So ist III im folgenden Schema nicht I und nicht II:

Nur ist es nicht möglich, dass alle Phoneme einer Sprache in diesem Sinne „negativ“ abgegrenzt werden.

Die Kritik an der PhonemtheoriePhonemtheorie beruht also auf einem unzulänglichen Verständnis der Phonemtheorie selbst. Der erwähnte Artikel von Lüdtke führt aber auch zu einem positiven Ergebnis: Man darf Phoneme eben mit LautsegmentLautsegmenten nicht einfach gleichsetzen.

Phoneme sind keine Lautsegmente.

Die PhonemtheoriePhonemtheorie als Ganzes nimmt nicht an, dass Phoneme unbedingt einem 1:1-Verhältnis entsprechen müssen. Auch im nordamerikanischnordamerikanischen StrukturalismusStrukturalismus werden deshalb die Phoneme „Segmentalphoneme“ genannt, da der Begriff „Phonem“ dort umfassender ist als im europäischen Strukturalismus.

Phoneme entsprechen oft LautsegmentLautsegmenten, aber eben nicht immer.

Die Lautsegmente, denen Phoneme entsprechen, brauchen nicht homogenhomogen zu sein.

Die Entsprechung, die angenommen wird, betrifft nicht die physikalisch festgestellte, sondern die menschlich wahrgenommene Lautabfolge. Für diese Wahrnehmung gilt nicht

t

 

t ~ i

sondern /ti/

i

 

d.h. nicht die physikalisch messbare Abfolge 1. Verschluss, 2. die Lösung des Verschlusses unter der Vorwegnahme des geschlossengeschlossenen Vokals [i], sondern nur /t/ + /i/, ebenso bei /pl/ nicht die Abfolge 1. Verschluss unter Vorwegnahme der ArtikulationArtikulation von /l/, sondern /p/ + /l/, d.h. als jeweils getrennte Einheiten. Trubetzkoy (1928) bezieht sich ausdrücklich auf dieses Problem:

Die Phonologie darf nie an die experimentelle Phonetik appellieren oder in ihr ihre Zuflucht suchen. … Daher möchte ich vor der … empfohlenen Übertragung der Ergebnisse der experimentalphonetischphonetischen Untersuchung der Vokale in den Bereich der Phonologie entschieden warnen.

Diese Wahrnehmung hat nichts mit der AlphabetschriftAlphabetschrift zu tun, sondern es gibt vielmehr eine phonetischphonetische IntuitionIntuition der Sprecher. Vgl. insbesondere E. Sapir (1925) und besonders (1933) mit verschiedenen eindeutigen Beispielen genauer phonematischer IntuitionIntuition bei Sprechern von Eingeborenensprachen Nordamerikas.1

Die alphabetische Schrift entspricht der phonematischen IntuitionIntuition, nicht umgekehrt. Deshalb kann man auch bei der phonematischen Analyse von der AlphabetschriftAlphabetschrift einer Sprache ausgehen, und dies ist keine „petitio principii“, denn sie bedeutet, dass man von einer schon intuitiv durchgeführten phonologischen Analyse ausgeht. Trubetzkoy schreibt (1933):

Aus der Analyse eines guten nationalen Schriftsystems, das für die betreffende Sprache geschaffen wurde und sich praktisch bewährt hat, kann die Phonologie unendlich viel mehr lernen als aus genauen experimentalphonetischphonetischen Messungen und Untersuchungen. Denn das, was ein gutes praktisches Alphabet wiedergeben will und muß, sind nicht die Laute, sondern nur die bedeutungsdifferenzierenden Lautbegriffe der betreffenden Sprache, d.h. eben derselbe Gegenstand, den die Phonologie zu untersuchen hat.

Schematisch dargestellt bedeutet das, Basis der BuchstabeBuchstaben sind sehr oft die Phoneme:

 

 

Phoneme

 

 

 

Buchstaben

 

 

nicht

 

 

sondern

 

 

 

 

 

Buchstaben

 

 

 

Phoneme

 

 

Vergleiche auch Abercrombie (1949). Es handelt sich nicht um die traditionelle Verwechslung von „BuchstabeBuchstabe“ und „LautLaut“, sondern um das Verhältnis von Buchstabe und Lautbegriff. Schon in der Antike unterschied man zwischen

 

γράμμα

στοιχεῖον

χαρακτὴρ τοῦ στοιχείου

bzw. lateinischLatein, lateinisch

literalitera, letter, lettre, letra

elementum

figurafigura

[deutsch etwa

Schriftbild

LautwertLautwert

Buchstabe]

Priscian schreibt dazu

Litera igitur est nota elementi et velut imago quaedam vocis literatae, quae cognoscitur ex qualitate et quantitate figurae linearum. Hoc ergo interest inter elementa et literas, quod elementa propria dicuntur ipsae pronuntiationes, notae autem earum literae, abusive tamen et elementa pro literis et literae pro elementis vocantur. (Priscian 1855, 6–7)

‘Der BuchstabeBuchstabe ist also das Zeichen für den LautwertLautwert und gleichsam das Abbild des hingeschriebenen Stimmlichen. Es wird anhand der Qualität und der QuantitätQuantität der Liniengestalt erkannt. Der Unterschied zwischen den Lautwerten und den Buchstaben besteht darin, dass die Aussprache den eigentlichen Lautwerten entspricht, die Zeichen dafür aber sind die Buchstaben. Fälschlich jedoch wird auch LautLaut für Buchstabe und Buchstabe für Laut gesagt.’

Abercrombie (1949) führt eine lange Liste von englischen Orthographikern und Phonetikern an, die sehr genau zwischen BuchstabeBuchstabe (literalitera, letter, lettre, letra, letter) und GraphieGraphie unterscheiden:

Charles Butler (1633)2 spricht von verschiedenen im EnglischEnglisch, englischen häufig gebrauchten „letters“, für welche keine „cháractērs“ existierten.

William Holder (1669) schreibt: „The Elements of Language are letters, viz. Simple discriminations of breath [breθ] or voice“.

bei John Wallis (1653) heißt es: „Litera dicenda est Sonus in voce simplex seu incompositus, in simpliciorem indivisiblis“.

Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wird letterlitera, letter, lettre, letra vor allem für das graphische Zeichen verwendet. In der ganzen europäischen Tradition ist literalitera, letter, lettre, letra eine Art Oberbegriff, d.h. ein Element der Sprache, soweit es geschrieben werden kann. Man unterscheidet in dieser Tradition bei der literalitera, letter, lettre, letra:

nomennomen

figurafigura

potestaspotestas.

 

Leider gibt es keine analoge Untersuchung für Deutschland und die romanischen Länder. Die phonematische IntuitionIntuition, die mit dem Begriff „literalitera, letter, lettre, letra“ verbunden ist, erscheint in den romanischen Ländern, in Spanien, PortugalPortugal, Italien, deutlicher und früher als in England. Hier können wir nur ein paar Hinweise geben:

Der Erste ist Antonio de Nebrija, der in seiner Gramática Castellana (1492) zwar letra auch für das graphische Zeichen verwendet:

De manera que no es otra cosa la letra sino figura por la cual se representa la voz (Nebrija 1492, I, 3 (siehe auch I, 5 und I, 6).

‘So dass der BuchstabeBuchstabe nichts anderes ist als das Zeichen, mit dem man den LautLaut darstellt.’

Er unterscheidet aber genau die verschiedenen phonematischen Werte bei ein und derselben GraphieGraphie, wofür er die Termini oficiooficio oder fuerzafuerza verwendet. So sagt er (Nebrija 1492, I, 5):

„la c tiene tres oficios“ ‘das c hat drei LautwertLautwerte’

„la i tiene dos oficios“ ‘das i hat zwei Lautwerte’ [nämlich (i/ und /j/, weil es auch für heutiges <y> verwendet wurde wie in io für yo ‘ich’ oder iazer für yacer ‘liegen’.

Daher heißt es anschließend]:

i, u, cuando no suenan por sí, mas hiriendo las vocales, i entonces dexan de ser i, u, i son otras cuanto a la fuerça, mas no cuanto a la figura.

‘wenn i und u nicht selbständig erklingen, sondern die Vokale schlagen [d.h. den konsonantischen Anlaut vor Vokalen bilden] und dann nicht i und u sind, sind sie hinsichtlich des LautwertLautwertes etwas anderes, aber nicht hinsichtlich des Schriftbildes.’

„la h no es letra sino señal de espíritu y soplo“ ‘h hat keinen LautwertLautwert, sondern ist Zeichen für Behauchung und Blasen.’

„c, k, q son una letra, porque tienen una fuerça, porque la diversidad de las letras no esta en la diversidad de las figuras, mas en la diversidad de la pronunciación“ (Nebrija 1492, I, 4–I, 5) ‘c, k und q sind ein einziger BuchstabeBuchstabe, weil sie einen LautwertLautwert haben, denn die Verschiedenheit der Buchstaben besteht nicht in der Verschiedenheit der Schriftbilder, figura sondernlitera, letter, lettre, letra in der Verschiedenheit der Aussprache.’

Nebrija stellt genau fest, wie viele Phoneme das Spanische hat: „contadas i reconocidas las bozes que ai en nuestra lengua, hallaremos veinte i seis“ (Nebrija 1492, I, 5) „wenn wir die Lauteinheiten, die es in unserer Sprache gibt, zählen und feststellen, werden wir 26 finden.“ Entsprechend macht er Vorschläge zur Reform der spanischen OrthographieOrthographie, orthographisch; siehe auch Coseriu (2020), 23–24).

Noch weiter geht der portugiesische Grammatiker Fernão de Oliveira (1535), der ein besonders begabter Phonetiker ist. Er unterscheidet beim Begriff „letralitera, letter, lettre, letra“ folgerichtig zwischen figurafigura und força und stellt fest, dass das PortugiesischPortugiesisch, portugiesische zwar so viele figuras wie das LateinLatein, lateinischische habe, aber nicht so viele letras. Er unterscheidet im Portugiesischen 8 Vokale, die er auch mit verschiedenen Zeichen schreibt:

a – ɑ, ɛ – e, ω – o, i, u.

Für die Unterscheidung ‘offenoffen’ – ‘geschlossengeschlossen’ (‘grande’ – ‘pequeno’) verwendet er sogar ein typisch phonologisches Kriterium, indem er bemerkt, dass diese Unterschiede nicht vom phonischphonischen Kontext abhängen, also nicht automatautomatisch, Automatismusisch sind:

Mas vemos que com umas mesmas letras soa uma vogal grande às vezes e às vezes pequena (Oliveira 1536, ohne Seitenzählung, Kap. 7).

‘Aber wir sehen, dass ein Vokal bei gleicher Schreibung manchmal offenoffen und manchmal geschlossen klingt.’

Seine Beispiele sind fɛsta ‘Fest’ – festo ‘(Stoff-)Breite’, fermωsos – fermoso.‘schön’.

In Italien gab es zu Anfang des 16. Jahrhunderts Versuche von Gian Giorgio Trissino zu einer Reform der italienischen RechtschreibungRechtschreibung, indem er auch die unterschiedlichen Zeichen ɛ – e und ω – o für offenes und geschlossengeschlossenes e und o sowie ʒ für /ʣ/ einführte; (siehe auch Coseriu 2020, 60).

Der Waliser John David Rhoese, latinisiert Rhoesus, kennt in seinem Werk De italica pronunciatione et orthographia, Padua 1569, schon die Methode der MinimalpaarMinimalpaare zur Feststellung phonematisches Oppositionen. Er unterscheidet für jede literalitera, letter, lettre, letra zwischen sonus und orthographia und stellt Oppositionen wie die folgenden fest; siehe auch Coseriu (2020, 64–67):

męle (< mel, d.h. it. miele ‘Honig’) – mele (< mala, it. mela ‘Apfel’

cęra (< altfrz. chiere ‘Gesicht, Angesicht’) – cera ‘Wachs’

tǫrre (< tollere, it. togliere) – tọrre (< turris ‘Turm’)

cǫrre (< colligere, Nebenform zu cogliere ‘pflücken’) – cọrre (< currit ‘läuft’)

cǫlto ‘gepflückt’ – cọlto ‘cultus seu veneratio’

rǫcca ‘arx’ – rọcca ‘colus’, ‘Spinnrocken’.

Giorgio Bartoli, Degli elementi del parlar toscano, 1584, unterscheidet caratteri und elementi della voce und stellt fest, dass das ToskanischToskanisch, toskanische 35 elementi hat, eliminiert die BuchstabeBuchstaben h, k, q, x und y als nutzlos, fügt aber 17 Buchstaben hinzu, um all die phonischphonischen Einheiten des ToskanischToskanisch, toskanischen darzustellen; siehe auch Coseriu (2020, 62–64).

1.2 Die Entwicklung des PhonembegriffPhonembegriffs

Wenn es also Phoneme gibt und wenn sie nicht materielle Laute sind, was sind sie dann? Was ist ihre „Realität“? Hier müssen wir uns auf die verschiedenen Auffassungen der Phonologie beziehen.1 Wir haben gesehen, dass die Idee von zwei phonischphonischen Wissenschaften von Jan Baudouin de Courtenay eingeführt wurde. Er unterscheidet zwischen

PsychophonetikPsychophonetik, psychophonisch und PhysiophonetikPhysiophonetik, physiophonisch

und zwischen zwei Arten von TranskriptionTranskriptionen, der

psychphonischen und der physiophonischen.

 

Als Schema der Abhängigkeiten von Baudouin de Courtenay kann man skizzieren:

 

Baudouin de Courtenay

 

M. H. Kruszewski2

T. Benni und andere polnische Linguisten

L. V. Ščerba, Court Exposé de la Prononciation Russe, 1911

Ščerba wiederum hatte einen gewissen Einfluss auf Daniel Jones, „The phonetic structure of the Sechuana Language“3 (1919), wie überhaupt England in der weiteren Entwicklung eine entscheidende Rolle spielte:

Henry Sweet (1877), A Handbook of Phonetics: Including a popular exposition of the principles of spelling reform, Oxford. Dort wird die Unterscheidung zwischen narrow transcription und broad transcription eingeführt.

Daniel Jones (1919), „The phonetic structure of the Sechuana Language“. In diesem Vortrag vor der Philological Society in London taucht zum ersten Mal das Wort „Phonem“ auf und wird als „a normal sound of the language together with all its incidental variants“ definiert.

In Daniel Jones, zusammen mit H. S. Perera, Colloquial Sinhalese Reader, (Jones & Perera 1919, 2), erscheint folgende Definition:

A phoneme is defined as a group of related sounds of a given language which are so used in connected speech that no one of them ever occurs in positions which any other can occupy,

z.B. p – ph, t – th im EnglischEnglisch, englischen, d.h. [p], [t] im Auslaut und nach /s/, [ph], [th] in anderen Stellungen, [b] – [β] im Spanischen, [s] – [z] im Italienischen außerhalb des ToskanischToskanisch, toskanischen.

Ähnlich M. Swadesh (1934), „The Phoneme Principle“, Language 10, der den Ausdruck „complementary distribution“ einführt.

Auch später bleibt Daniel Jones (1957, 15) bei seiner Definition. Er möchte unterscheiden zwischen dem, was Phoneme sind, und dem, was Phoneme machen:

Phonemes are what is stated in the definition. What they do is to distinguish words from one another. Different sounds belonging to the same phoneme cannot do this.

Ähnlich äußern sich Gabelentz (1901, 35–36) und auch F. de Saussure (Wunderli 2013, 120–121):

La chaîne acoustique ne se divise pas en temps égaux, mais en temps homogènes, caractérisés l’unité d’impression, et c’est là le point de départ naturel pour l’étude phonologique.

‘Die auditivauditive Kette gliedert sich nicht in gleich lange, sondern in homogenhomogene Einheiten, die durch die Einheitlichkeit des Eindrucks charakterisiert sind, und genau dies ist der natürliche Ausgangspunkt der phonologischen Analyse.’

Etwa gleichzeitig schreibt Paul Passy (1925) im Milieu der Entwicklung des I.P.A. oder A.P.I.:

ne noter dans les textes que les différences significatives: c’est une règle d’or, dont on ne devrait jamais se départir, ou si l’on aime mieux, ne représenter par des lettres différentes que les phonèmes différents.

‘In den (Transkriptions-)Texten nur die bedeutungsdifferenzierenden [Zeichen] notieren, das ist eine goldene Regel, von der man nie abweichen sollte oder, wenn man es lieber will, durch unterschiedliche Zeichen nur die verschiedenen Phoneme darstellen.’

Für Nordamerika sind im Zusammenhang mit der Geschichte der Phonologie folgende Persönlichkeiten und Werke zu erwähnen:

Edward Sapir (1921), Language. An Introduction into the Study of Speech, New York.

derselbe (1925), „Sound patterns in Language“, Language 1.

derselbe (1933), „La réalité psychologique des phonèmes“, Journal de psychologie 30.

Leonard Bloomfield (1933), Language, New York.

Erst mit Bloomfield stellt man eine weitere Verbreitung phonologischer Begriffe fest. Bei Bloomfield (1933, 79) wird das Phonem definiert als „a minimum unit of distinctive sound-​feature“. Die Einheiten werden durch die partielle Ähnlichkeit und Verschiedenheit sprachlicher Formen abgegrenzt. So besteht z.B. pin aus drei Teilen, die getrennt ersetzt werden können,

der 1. und dann der 2.: pin – tin – tan

der 1. und dann der 3.: pin – tin – tick

der 2. und dann der 3.: pin – pan – pack

die 3 Teile: pin – tin – tan – tack,

so dass pin aus drei nicht weiter zerlegbaren Einheiten gebildet erscheint: p – i – n.

Später übernimmt auch er von Swadesh den Begriff der komplementärkomplementär, kombinatorischen DistributionDistribution.

In Deutschland ist vor allem Georg von der Gabelentz, Die Sprachwissenschaft (1901, 33–34), zu nennen:

Die Sprache … unterscheidet nur eine bestimmte Anzahl von Lauten, die sich zu den lautlichen Einzelerscheinungen verhalten wie Arten zu Individuen, wie Kreise zu Punkten, sie zieht die Grenzen weiter oder enger, immer aber duldet sie einen gewissen Spielraum. Nicht Alle, die die MundartMundart richtig sprechen, sprechen den nämlichen LautLaut genau auf dieselbe Weise aus, ja man darf zweifeln, ob es der Einzelne immer thue … Das Sprachgefühl … macht da keinen Unterschied …

Ich habe darauf hingewiesen, daß das Sprachgefühl der Völker die Laute anders, weiter faßt als die Lautphysiologie.“

Gabelentz unterschied zwischen „LautLaut für die Phonetik“ und „Laut für die Sprachwissenschaft“.

2Der Prager LinguistenkreisPrager Linguistenkreis

Der Cercle Linguistique de Prague wurde 1926 gegründet durch

N. S. Trubetzkoy

Roman Jakobson

Sergej Karcevskij.

1928 wurden auf dem 1. Linguistenkongress in Den Haag die Thesen von Trubetzkoy, Jakobson und Karcevskij vorgelegt. Diese wurden in der Folgezeit in dem äußerst wichtigen Organ des Prager LinguistenkreisPrager Linguistenkreises verteidigt:

1929 erschien der 1. Band der Travaux du Cercle Linguistique de Prague (TCLP)

1931 erschien der 4. Band der TCLP.

In den Thesen aus dem Jahr 1928 erscheint keine Definition des Phonems, es wird nur von der „Rolle der SprachlautSprachlaute im phonischphonischen System einer Sprache“ gesprochen und von den „différences significatives“ zwischen den Sprachlauten, die von den „différences extragrammaticales“ unterschieden werden müssen. Diese werden als „kombinatorischkomplementär, kombinatorische“ oder „stilistischstilistische“ ausgegeben und letztere als „relevant de systèmes fonctionnels différents“. Im Prager LinguistenkreisPrager Linguistenkreis wird weitergearbeitet und diskutiert. Im Jahre 1928 hält dort Trubetzkoy zwei Vorträge, einen zum „Alphabet und dem phonologischen System“ und einen anderen zu den VokalsystemVokalsystemen.

In den „Thèses“, die im ersten Band veröffentlicht werden (TCLP 1, 1929), wird die phonologische Problematik nur kurz dargestellt. Es wird die Notwendigkeit hervorgehoben, „le son comme fait physique objectif, comme représentation et comme élément du système fonctionnel“ zu unterscheiden. Es sind eigentlich schon drei Begriffe, die unterschieden werden:

der LautLaut als physische Erscheinung

der Laut als Vorstellung

der Laut als Element eines funktionellfunktionellen Systems.

Die Laute als physische Erscheinungen könne man nicht mit den „valeurs linguistiques“ gleichsetzen. Die LautvorstellungLautvorstellungen seien ihrerseits Elemente eines SprachsystemSprachsystems nur in dem Maße, in dem sie in diesem System eine bedeutungsunterscheidendbedeutungsunterscheidende Funktion haben:

D’autre part, les images acoustico-​motrices subjectives ne sont des éléments d’un système linguistique que dans la mesure où elles remplissent, dans ce système, une fonction différenciatrice de significations.

Der Unterschied ist also

Das Phonem als funktionellfunktionelle LautvorstellungLautvorstellung wird indirekt definiert („Thèses“, TCLP 1 (1929), 10–11):

Il faut caractériser le système phonologique, c’est-à-dire établir le répertoire des images acoustico-​motrices les plus simples et significatives dans une langue donnée (phonèmes). 

‘Es gilt, das phonologische System näher zu bestimmen, d.h. das Verzeichnis der einfachsten und wichtigsten motorischen Lautbilder (Phoneme) aufzustellen.’

Die Definition geschieht also im Grunde auf der Linie von Baudouin de Courtenay. Jedoch wird ein Unterschied zwischen „Phonem“ und „MorphonemMorphonem“ gemacht, während dies bei Baudouin de Courtenay als Einheit bei der AlternationAlternation gesehen wird, z.B. bei poln. noga ‘Bein, Fuß’ – nóg [nuk] (Gen. Pl., ‘der Beine, Füße’; [ebenso bei deutsch Wald [valt] – Wälder, wo in beiden Fällen – trotz des Lautunterschiedes [t] – [d] – das Phonem /d/ vorliegt.] Hier dagegen („Thèses“, TCLP 1 (1929), 10–11) heißt es:

image complexe de deux ou plusieurs phonèmes susceptibles de se remplacer mutuellement, selon les conditions de la structure morphologique, à l’intérieur d’un même morphème.

‘ein aus zwei oder mehr Phonemen bestehendes komplexes (Laut-)Bild, wobei die Phoneme innerhalb des gleichen Morphems je nach den Bedingungen der morphologischen Struktur gegeneinander ausgetauscht werden können.’

Als Beispiel wird angegeben russ. ruka ‘Hand’ – ručnoj (Adj. zu ‘Hand’) ‘Hand-’. Das Morphonem ist /k/ʧ/, nicht /k/!

In demselben Band der TCLP 1 (1929) findet sich der wichtige Aufsatz von Trubetzkoy „Zur allgemeinen Theorie der phonologischen VokalsystemVokalsysteme“. Auch dort erscheinen die Phoneme als LautvorstellungLautvorstellungen. Phonetik und Phonologie unterscheidet er dort folgendermaßen:

Im Gegensatz zur Phonetik, die eine NaturwissenschaftNaturwissenschaft ist und sich mit den Lauten der menschlichen Rede befaßt, hat die Phonologie die Phoneme oder LautvorstellungLautvorstellungen der menschlichen Sprache zum Gegenstand und ist demnach ein Teil der Sprachwissenschaft.

Die Wortvorstellungen zerfallen in Lautvorstellungen oder Phoneme:

Durch die lautlichen Assoziationen mit verschiedenen anderen Wörtern derselben Sprache wird das gegebene Wort oder, besser gesagt, die gegebene Wortvorstellung in ihre phonologischen Bestandteile, d.h. die einzelnen LautvorstellungLautvorstellungen oder Phoneme zerlegt.

Jedoch erscheint hier schon etwas Neues: Der psychologische Gehalt der Phoneme wird nicht durch den LautLaut als solchen bestimmt, sondern durch das phonologische System der jeweiligen Sprache. Im Deutschen z.B. würde man Keil lautlich mit geil, Pein mit Bein assoziieren. Dadurch hat /k/ etwas mit /g/ gemein, das es von /p/ – /b/ unterscheidet, aber auch etwas Gemeinsames mit /p/, nämlich das, was sowohl Keil von geil als auch Pein von Bein differenziert. Das in der einen Hinsicht Gemeinsame (StimmlosigkeitStimmlosigkeit) ist in anderer Hinsicht differenzierend (dorsal – bilabialbilabial). Einmal haben wir in Bein wie in Pein eine Tenuis, ein anderes Mal in beiden Fällen den gleichen Verschlusslaut (Keil – geil gegenüber Pein – Bein). Das Kjachisch-​TscherkessischeKjachisch-Tscherkessisch, eine auch AdygäischAdygäisch, AdygischKjachisch-Tscherkessisch genannte nordwestkaukasische Sprache, weist demgegenüber z.B. bei /k/ sechs Vorstellungselemente auf:

StimmlosigkeitStimmlosigkeit gegenüber /g/,

Schwäche gegenüber /k:/,

infraglottale Expiration gegenüber glottalem /ḳ/,

Ungerundetheit gegenüber /ko/,

Vordervelarität gegenüber hintervelarem /q/,

Dorsaldorsalität gegenüber dento-​alveolarem /t/.