Einhart der Lächler - Carl Hauptmann - E-Book

Einhart der Lächler E-Book

Carl Hauptmann

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Beschreibung

Der 1907 erschienene Roman Einhart, der Lächler von Carl Hauptmann zeichnet das Leben des Künstlers Einhart Selle, der sich von gesellschaftlichen Erwartungen löst und in Naturbetrachtung zu sich selbst findet. Die Eltern, der Vater ein Postbeamter, die Mutter eine Zigeunerin, zeigen den seit Goethes Vorbild in der Literatur beliebten Gegensatz von ernster Pflichttreue und gefühlsbetonter Lebenszugewandtheit, der Einhart in seine Künstlerkarriere führt. Vorbild für die Hauptfigur des Romans war der Maler Otto Mueller. Sein Freund, der Wissenschaftler Dr. Poncet, hat Ähnlichkeiten mit dem Autor Carl Hauptmann.

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Einhart der Lächler

Carl Hauptmann

Inhalt:

Carl Hauptmann – Biografie und Bibliografie

Einhart der Lächler

Erster Band

Erstes Buch

Zweites Buch

Drittes Buch

Zweiter Band

Viertes Buch

Fünftes Buch

Ausklang

Carl Hauptmann – Biografie und Bibliografie

Deutscher Schriftsteller, geboren am 11. Mai 1858 in Obersalzbrunn, Niederschlesien, verstorben am 4. Februar 1921 in Schreiberhau, Niederschlesien. Bruder von Gerhard Hauptmann. Nach dem Abschluss der Realschule 1880 studierte H. Naturwissenschaft und Philosophie an der Universität Jena und promoviert 1883 zum Dr. phil. Heirat mit Martha Thienemann ein Jahr später und Fortsetzung seines Studiums in Zürich. Erst 1889 kehrt H. nach Deutschland (Berlin) zurück und bezieht zwei Jahre später mit Bruder Gerhard ein Haus in Schreiberhau im Riesengebirge. 1908 Scheidung von Martha und erneute Hochzeit mit Maria Rohne.

Wichtige Werke:

1893 Metaphysik in der modernen Physiologie

1894 Marianne (Drama)

1896 Waldleute (Drama)

1897 Sonnenwanderer (Sammlung von Erzählungen)

1899 Ephraims Breite (Drama, erneut 1920 unter dem Titel Ephraims Tochter)

1902 Die Bergschmiede

1902 Mathilde. Zeichnungen aus dem Leben einer armen Frau (Roman)

1903 Des Königs Harfe (Bühnenspiel)

1905 Austreibung (Drama)

1907 Einhart, der Lächler (Roman, 2 Bände)

1909 Panspiele (vier Dramen)

1911 Napoleon Bonaparte (Drama)

1912 Nächte (Novellen)

1912 Ismael Friedmann (Roman)

1913 Schicksale (Erzählungen)

1913 Die lange Jule (Drama)

1913 Die armseligen Besenbinder (Drama)

1914 Krieg. Ein Tedeum (Drama)

1916 Tobias Buntschuh (Lustspiel)

1916-18 Die goldnen Straßen (Dramen-Trilogie)

1919 Rübezahlbuch

1919 Der abtrünnige Zar (Drama)

1920 Drei Frauen (Erzählungen)

1927 Tantaliden (Roman)

Einhart der Lächler, C. Hauptmann

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

86450 Altenmünster, Loschberg 9

Deutschland

ISBN: 9783849627225

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Einhart der Lächler

Erster Band

Erstes Buch

1

Wenn jetzt einmal die Seelen von Einharts Vater und Mutter rein für sich gegeneinander klangen, was fast nie mehr geschah, war es nur eine monotone Dissonanz. Laut oder heimlich. Einharts Vater war ein gewichtiger Ordnungsmann, schon als er die junge, wohlhabende Zigeunerdirne heiratete. Er war ein peinlich pflichtgetreuer Beamter, der damals schon eine höhere Postverwaltungsstelle in einer kleinen Stadt versehen, ein Mann von strengen, soldatisch gebundenen Formen im Umgang, mit scharfen, schwarzen Augen, die wenig und kurz lachten, so nebenhin nur, die selten aus der Würde kamen – mit einem dunklen, strengen Schnurrbart, der so voll stand, daß die Hand sich nie um ihn kümmerte, die schon damals steif herabhing ohne Geste, wenn sie nicht eifrig und flüchtig mit dem großen Rohrhalter ihre Arbeit tat – oder auch leicht gebieterisch sich streckte, wenn Herr Selle Anordnungen gab, oder etwas verwies.

Wenn jetzt, in den wirklichen Widerwärtigkeiten mit Einhart, Herr Selle erregt im Zimmer hin- und herging, mußte er die Hände auf dem Rücken fest zusammen nehmen, so gleichsam sich selbst noch mehr bindend, daß er nicht doch einmal seine Würde ganz vergäße und dreinschlüge unter die phantastische, traumäugige Zigeunerbrut. So wenigstens deuchte es jetzt dem alten Herren, wo Einhart ein Jüngling geworden ganz mit den sanften, rabenschwarzen, unerwecklichen Glutaugen der Mutter und mit einer Seele voll regloser Verachtung gegen alle Wünsche und Forderungen, so weit sie von Vaters Seite kamen und ein geordnetes, bürgerliches Fortkommen betrafen, und die einfach wie Meerwasser von einer Öljacke abtroffen, selbst wenn wahre Gewaltwogen der Sittlichkeit den nur halb in dieser Welt des Scheins sich aufhaltenden Sinnierer und Lächler zu erschüttern und auf rechte Wege zu bringen versuchten.

Es war ein Irrtum von Herrn Selle, daß ihm schien, als wenn er schon früher, so gleichsam von Anfang an, Frau Selle mit den strengen Blicken des Vorwurfs angesehn. Wenn es auch Geistesgemeinschaft nie zwischen ihnen gegeben. Dessen hatte Luisa nie bedurft. Flammen waren zusammengeschlagen. So gebunden er auch gewesen, stolz und würdig, die heißen Flammen schmelzen noch immer die Erstarrungen. Flammen waren aus der jungen Dunklen gekommen. Sie hatte noch jetzt Augen von verzehrender Sehnsucht. Wie sie ihn angesehen, der jung und kalt geschienen, hatte sie den Fels schmelzen wollen. Sie war wirklich eine Zigeunerin von Blut. Sie hatte wohl als einzige Tochter im Hause gegolten. In Wahrheit hatte man das Kind an der braunen Brust einer Zigeunermutter, die betteln kam und sich krank hingeschleppt, gesehen, es richtig gekauft und angenommen an Kindesstatt. Natürlich war Luisa dann im Bürgerhause in sanfter Erziehung aufgewachsen. Nur noch im Blicke lag manchmal etwas Demütiges oder auch Wildes, was leicht einsank und sich vergaß, daß das Mädchen dann lange wie erstarrt geschienen. Schön war Luisa nie gewesen, braungelben Gesichtes, ein wenig schmal und leicht welk. Etwas Kochendes, etwas Verzehrendes im Blicke nur. Aber das kam nur von ferne. Als wenn ein weiter Garten stiller Traumblumen läge in Demut und Trauer, und über hohe Gitterstäbe sähe der Haß herein mit spitzen, gelben Blicken. Aber ihre dunklen Augen lachten dann auch gleich, wenn der Haß kam. Daß Herr Selle wenn nicht eine sanfte, doch eine achtlos versöhnte, hinlachende Demütige in beginnenden Uneinigkeiten vor sich gehabt, als die Gluten Luisas kälter geworden, die ersten Kinder an ihrer Brust gesogen, ihr Auge wie einer Raubtiermutter Auge, ihr schlanker, jäher Leib wie einer Tigermutter Leib zum Haßsprunge bereit über der Brut gewacht. Damals hatte Herr Selle nur eins ums andere der dunklen, lieblichen Mädchenkinder in Luisas Fürsorge und zehrender Mutterpflege angesehen, und hatte Frau Selle nur wieder heiß begehrt, eine Jugend die andere, schmachtend und unbesonnen, und durch keine Harmonien anders gebunden, als die Glut des Blutes und der Sinne, und es war in ihm wirklich immer wieder Würde und Pflicht und sonstiges sittliches Meinen in des Begehrens heißer Quelle ertrunken.

Das war lange her.

Einhart war jetzt über die Sechzehn, noch sehr schmächtig und fast wie ein Knabe. Es waren außerdem vier Schwestern im Hause. So kamen sie nach der Reihe: Johanna, Katharina, Einhart, Rosa und Emma. Mutter und Vater kannten sich kaum noch. Leib und Leben stand nun da und hier. Herr Selle sprach jetzt überhaupt nicht. Oder wenn er sprach, sprach er zu niemand recht, nur so mit ernstem Blick in die Luft. Er hatte eine hohe Stellung erklommen. Auch Frau Selle fühlte das. Er war geheimer Rat. Die schwarzäugigen Töchter sahen an ihm auf und streichelten ihn. Sie versuchten ihm auch in die Augen zu sehen. Wenn es jetzt ein Zerwürfnis gab um Einhart, der wie ein schriller Ton allmählich in dumpfes Brüten klang, dann vermochten die phlegmatischen Zigeunerfräulein, die sie fast alle schon geworden, doch noch wieder schlau die Dissonanzen leise zu verstreichen. Sie stillten der Mutter dann oft plötzlich aufquellende Ratlosigkeit mit leicht gesponnenen Schmeichelgeweben und umstellten den erregten Herrn Geheimrat, der im Schlafrock eifrig auf dem weichen Teppich hinschritt, noch immer mit auf dem Rücken fest verschränkten Händen, und ließen ihn nicht aus ihren Liebesblicken. Dann gab es noch immer eine Heiterkeit schließlich.

In Frau Selle, die jetzt verwelkt aussah, nicht sehr fett, nur gelb und verzehrt, kam dann aus dem Sich-ratlos-wissen, das wie ein Aufkochen im Blick gefunkelt, das leichte, lässige Verachtungslachen, das fast in Demut vor den jungen Augen sich weghob.

Mit den vier Töchtern war Frau Selle heimlich eins. Und der strenge Herr Selle ergab sich Schmeichelwort und Schmeichelblicken der vier dunklen Schönen, die in dem Bruder Einhart ein geliebtes Rätsel sahen, und Rosa, die dritte, das eigentliche Ereignis anstaunte.

Nämlich das war es zumeist: Es war ein strenges Pflichtleben, das Herr Selle führte. Er hatte nur Reglementbücher und Reskripte vor seiner Seele, mußte immerfort nur an solche Dinge denken, die im Grunde für seine Seele nichts bedeuteten, nur für seine Pflicht. Die Inventarien der großen Posten, lange Berechnungen für all die Sendungen, deren Seelen in Kuverts verborgen steckten und ihn nichts angingen. Das erfüllte ihn. Er hatte sogar im Traume oft nur Zahlen in seiner Seele. Seine Seele war wie eine graue Kammer, in der nicht einmal die Dinge selber, nur Merkzeichen und Nummern von den Dingen noch hingen. So lebte er in der großen Mietwohnung mitten in der engen Straße der Residenzstadt ohne Störung und durchaus zufrieden. Da sah er unten die bekannten Menschen gehen, die ihn ehrten und grüßten, die ihn in seiner Würde kannten. Und es fehlte nicht das heimliche Gefühl, daß die Würde mit den Jahren noch zu höheren Titeln und Auszeichnungen anwuchs.

Aber Frau Selle träumte und die Töchter träumten. Wenn die auf der Straße oder gar in den Frühlingsanlagen allein hingingen, sahen sie wie eine Schar huschender Vögel aus, im Begriffe und bereit, die welke, gelbe, in vornehm bürgerliche Hüllen maskierte, fremdartig-jähe Mama mit sich irgend wohin empor und fort zu reißen. Alles war dann stürmisch und laut, verträumt und rücksichtslos. Sie kümmerten sich um niemand. Ihre hastigen Stimmen klangen alle ein wenig heiser. Miteinander allein vor der Mutter war eine jede wie losgebunden. Eine jede hatte für sich etwas Versucherisches im Blick. Wenn Männer kamen, sahen sie nicht scheu. Aber diese Art war mehr nur Mut aus der Höhe, mehr wie ein herausfordernder Widerstreit, der manchen hart traf wie ein Schlag, daß er sie dann verfolgte und fast wie einen Trotz der Liebe empfand. Lose, ungehaltene, schöne, dunkelfarbige Zigeunerdirnen in fließenden Frühlingsroben wie helle Küchlein um die alte Glucke. Die aber freilich dann gesetzt sich reckten und wie vornehme, stolze Fräulein gingen, wenn der Herr Rat Selle es einmal in Würde selbst unternahm, Sonntags mit hinauszuwandern und neben Frau Selle stumm und steif emporgereckt in den Frühling zu ziehen.

Die blühenden Kirschen entzückten auch ihn. Wenigstens bekamen seine Augen einen richtigen Krähenfuß, der die ganze Zeit starr an der Schläfe stand. Und er nahm auch eine Blüte, die die älteste Tochter Johanna ihm sanft und mit Grazie lachend ins Knopfloch gesteckt. Indes Katharina und Rosa und Emma um ihn draußen, wo sie Kuchen und Kaffeeflaschen am Waldsaume ausgepackt, sich wohlig träge dehnten. Während Herr Selle mitten auf einem Plaid aufrecht saß, umbaut von einem Gehege von Blütenästen, die die vier Dirnen im Übermut von Obst- und Weidenbäumen am Damme herabgerissen.

Frau Selle war dann kindlich und weich, trieb sich achtlos allein auf der Wiese nach Blumen herum, kam mit Sträußen und streichelte jetzt auch einmal Herrn Selles straffe Wange, die sich mit halbem Blick Mühe gab, wie lachend auszusehen.

Wer die Menschen dann von ferne sah, mochte an glückliche Menschen denken.

Frau Selle, so in Freiheit und unter Blüten, träumte dann hin. Und die schwarzbraunen Töchter träumten und dehnten ihre jungen, schmiegsamen Leiber der Frühlingserde nahe, mit einer Seele voll unbestimmter, heimlicher Glut. Und Herr Selle saß strengaufgerichtet, ließ es sich schmecken und trank den Kaffee, in den sich fast wunderlich ein Beigeschmack mischte, den er monieren gewollt, ehe er heiter merkte, daß es der Blütenduft des Frühlings selber war.

Freilich gab es gewöhnlich zum Schluß dann ein Ärgernis, weil Einhart zuerst zurückgeblieben in der Absicht, etwas von dem Gesehenen in sein Skizzenbuch abzuzeichnen, und weil es sich dann gewöhnlich herausstellte, daß er nicht mehr sich zur Familie herzugefunden. Herr Selle fand das unbegreiflich, machte Frau Selle für derartige Verträumtheiten durchaus verantwortlich, und man zog oft nicht ohne neuerwachten Groll in die zweite Etage des grauen Miethauses ein. Der Vater hatte nun wieder sein altes Mißtrauen. Er meinte in gedämpfter Empörung gar, Frau Selle unterstütze den Trieb. Er gab zu verstehen, daß der Junge mit Absicht den Weg verfehlt, wenn Einhart daheim sich damit zu entschuldigen suchte. Es gab eine richtige Dissonanz aus diesem Frühlingsgange, in die nur mühsam stimmend dann Johanna, Katharina und Emma ihre Blicke und Worte einmischten, Einhart stumm und dumm, die Mutter stumm und ihre Augen demütig und gleichgültig machten, bis Rosa mit leiser Zärtlichkeit zugleich des Herrn Selle Augen fing und seine Wange sanft strich.

2

In der Familie Selle ging offen alles nach dem Geheimrat. Der strenge Geist waltete immer, solange der alte, sehr gerade aufrechtgehende Herr im Hause war. Und nichts war zu spüren, daß von Blutswegen in des Geheimrats Hause im Grunde noch immer etwas von einem ganz fremden Geiste und Leben umging. Außenhin waren die Selles, wenn man sie auch da und dort neckend die Zigeuner nannte, eine ganz vornehme Familie. Bis auf den gelbbraunen Hautton von Frau Selle und die lässig trägen Bewegungen jeder einzigen dieser vier dunkelfarbigen Töchter, die sich in den teppichweichbelegten Zimmern am Klavier oder vor einem Malwerk halbtätig amüsiert herumdehnten, hätte man beim ersten Eintreten ins Haus an nichts anderes denken können.

Herr Selle hatte alles Phantastische durchaus fern gehalten.

Der Flur war fast zu voll gestellt. Der Eintretende, wenn er sich beim Ablegen des Mantels oder so auch nur eine Linie weiter ausrecken mußte, lief Gefahr, Leuchter oder Schirmlampen oder eine Hutschachtel oder Vase gar mit Blumen, die dort im Verborgenen kümmerlich blühten, herabzureißen. Das sah durchaus nicht phantastisch aus. Eher, wie das Entree bei einem Händler, der gleich im ersten Eindruck verrät, daß nun erst drinnen in allen Räumen Schränke und Schübe mit gutem Hausrat überfüllt sind.

So schlimm war es nun innen nicht. Da brachte doch der vergilbte, blaue Plüsch im Mittelraume, der auf einem großen Sofapolster und zwei Sesseln sich ausgebreitet, ein wenig Buntheit. Und gar im Salon der Frau Selle daneben zeigte der weiche, große Teppich, der noch ziemlich neu war, eine riesige, blaue Blumenstaude mitten in den gelben Spiegel eingewoben, was man kaum hätte denken sollen, weil Herr Selle selbst diesen Teppich zum Geburtstag für Frau Selle ausgesucht und gekauft hatte.

In diesem Salon stand auch ein Schreibtisch für Frau Selle, obwohl Frau Selle selbst eigentlich nie schrieb, und so nur die Töchter, die sich sogar im Hause Briefe schrieben, um ihren Lebensdrang heimlich auszutoben, sich um den Platz davor zanken oder barsch anfahren konnten.

Alle Phantasmen waren aus diesen Räumen und von diesen Menschen sichtbarlich völlig fortgetrieben, solange der strenge Blick des Herrn Selle alles zusammenhielt und beherrschte. Es kam dazu, daß in dem Arbeitszimmer des Herrn Geheimrat selbst lange Reihen Bücher in gleicher Uniform, unermeßliche Registerreihen von A bis O oder Z standen, kalt papieren gebunden in Grau, so daß nur die Rückenschilde grün oder rot zu glänzen wagten. Und an den wenigen schmalen Wandflächen, die frei geblieben, hingen kleine Medaillonbildchen, gelehrte, steife Gesichter mit Brillen auf der Nase, die aussahen, als hätten sie auch schon ewig in Registern und Buchstaben herumgesucht. Denn Herrn Selles Vater war ein berühmter Altertumsforscher gewesen, ein versunkengrabender Kenner aller ehrwürdigen Dokumente deutscher Vergangenheit. Herr Selle liebte diese Tatsache mit strengem Stolz in der Familie zu betonen. Er selbst bedauerte dabei hundertmal im Leben, sich in diesen Quellen nicht haben gründlich erquicken zu können.

»Aber bei mir zu Hause hieß es, verdiene bald! Wir waren zwölf Kinder. Bei meinem ehrwürdigen Herrn Vater gab es dann gar keine Unklarheit, keine Fata morgana. Er sah und bestimmte. Da gab es kein Widerreden. Und schließlich kann ein tüchtiger Mensch sich an jedem Platze bewähren,« sagte er dann mit einer entfernten Genugtuung. So waren aus solcher Erinnerung auch die Namen der Kinder bis auf den ersten, der von Frau Selles Pflegemutter stammte, deutsch geworden. So hießen die Kinder also: Johanna, Katharina, Einhart, Rosa und Emma. Denn mit Knaben war es bei Einhart geblieben.

Und es lag unter Namen, die »aus dem deutschen Altertume« stammten, und unter dem strengen, farblos-gleichmäßigen Pflichtenleben, und in dem phantasielosen Gehäuse, darein Herr Geheimrat Selle und die ganze, dunkle Geheimratsfamilie eingefangen war, der alte, unversiegliche Quell Sehnsucht und Traum der Seele ganz verschüttet.

Sicherlich ganz verschüttet.

Denn schon Frau Selle war als Mädchen von kleinlichmahnender, innigversorgter Bürgerliebe umgeben gewesen, hatte es nur zu gut gehabt, hatte sich schmücken und einzig tun können, und hatte in solchem leichtsinnig-schwärmerischen Flitterleben die heimlichen Flammen ihres hüpfenden Blutes verflackern lassen. Schon ihre Augen und Seele hätten nicht gewußt, wo für ihre Sehnsuchten groß anderes finden? Nun gar die der vier Mädchen, die eines Geheimrats Töchter waren.

Der Feuerbrand der alten, treibenden Natursehnsucht, die Atemnot in engen Räumen, die Lust ins Unbestimmte hinaus, wie Vögel ziehen nach südlichen Paradiesen, oder wie Winde ziehen, in Wipfeln zausen und mit vom Knospendufte vollgesogenen Kuß lustig weiter wirbeln über Heide und Weide und Waldtäler, in Traumfetzen regten sie sich in den Geheimratsdirnen, in den trägen Bewegungen der jungen, jachen Leiber, in einem flüchtigen Blick wie im Hasse und Streite kam daran eine Erinnerung. Aber alles wäre auch hier wie in der Mutter ohne Deutung und Sinn gewesen, ohne Drang, ohne Hoffnung, ohne Nachhall und Darstellung, solange das Jungvolk eitel der Wohlhabenheit starre Ehren genoß –: wäre nicht eben unter dem Namen Einhart ein rechter Nimmersatt von Traum und Verachtung, ein unheilbar Unbürgerlicher, einer, dem es aus langem Wandertum der Urväter mit heißen Purpurbildern im Blute umging, verborgen gewesen.

Herrn Geheimrat Selle schien dieser Bengel bald hoffnungslos. Man kann sagen, die ganze Geheimratsfamilie wäre wie ein erstarrtes Idyll in Dunkelfarben erschienen: Der Herr ein grauer Kraterrand und drumherum viele stille, lockende Blumen auf der erstarrten Lava erwachsen. Wenn nicht Einhart im Grunde ein brennendes Feuer, eine ohne Absicht ungebändigte, ziellos aufquellende Lebenssucht heimlich mit sich getragen hätte, aus Ehre und Schranken der grauen, eingeschnürten, kleinen, sonnenlosen, getünchten Pflichtenwelt auf irgend eine, ihm selbst in dieser Jugend noch völlig unklare Weise zu entfliehen.

Wie dieser Junge mit seinen sechszehn Jahren schon allein aussah! Schlank, fast wie wenn er Vogelglieder hätte. Ganz gerade gewachsen. Aber auch einen schmächtigen Vogelhals. Und fettes, rabenschwarzes Schlichthaar, davon Strähne immer in die Stirn fielen. Das Gesicht sehr mager und gelb. Die Augen in Dunkelweiß so tief funkelnd, wenn er haßte oder in Abwehr aufblitzte, obwohl er meist eine fast lächerliche Gutmütigkeit und scheue Einfalt zeigte, und fast nie wußte, ob er gelebt oder nur geträumt, was er redete.

Heimlich rauchte er, wo er konnte, gleichgültig was.

Die Schwestern steckten ihm allerhand zu, und die Mutter desgleichen.

Eine feine, schmale Stirn, daran eine leichte Aderschwellung in Zeiten der Freude, hatte er, eine feine, schmale Nase und gerade, schmale, frohe Lippen, aus denen die vom Rauchen leicht gelben Zähne sahen.

Wer ihn so betrachtete, war entsetzlich erstaunt, daß dieser junge Mann Einhart hieß, und noch mehr darüber, daß er eines strengen Geheimrats Sohn war.

Man konnte ihm anschaffen, was man wollte. Alles war gleich hin. Man konnte ihn mahnen, sorgfältig und auf seine Reinlichkeit achtsam zu sein. Es gäbe keinen, der in solchen Träumen leben und noch hätte wissen können, wofür man Seife und Wasser brauchte und wie die Traumdinge reiner waschen? Er selbst ging vor sich im Traume hin, und hatte nie ein Gefühl, daß er je und je Schmutz an Haaren und Halse, Nägeln und Händen, und an seinen Kleidern mit sich brachte, wo er ging und stand. Nun, daß da gerade Herr Selle nicht glücklich war über solches zuchtloses Leben, kann man begreifen. Es gab jetzt ewig Szenen um Einhart. Man mußte sich allmählich schämen, wenn er einmal von den Schwestern unbemerkt unter Besuche hereingekommen. Draußen putzten und säuberten ihn dann erst die Schwestern. Und er lachte kindlich dazu.

Die Mutter hatte heimlich einen Hang zu ihm. Wenn sie ihn auch nur sah, strich sie ihm immer flüchtig die gelbgraue Wangenhaut. Der Mutter gegenüber war auch er immer geradezu wie ein demütiger Hund. Es lag in ihr für Einhart etwas, was er sinnlos und wie nichts in der Welt liebte. Und für sie schien sich in Einhart wieder herzustellen, so ins Unbestimmte, was sie immer verloren gefühlt. So sah Frau Selle mit träger Verachtung fast, wenn sie alle erst um den Tisch saßen, zu Vater, aber zu Einhart mit jäher, heimlicher Glut in den Mienen, die so graugelb waren, wie seine, nur welk und alt.

Und Frau Selle hatte es oft für sich amüsiert, wenn er das Essen verpaßt, draußen in der Sandkuhle gelegen, Igeln nachgetrachtet im Weizenfelde, mit Kindesblicken ewig einer Lerche Jubel zugestarrt bis zum Blenden, und statt des Kalbsbratens mit trüber, dünner Sauce daheim einfach Ähre um Ähre vom Weizenfelde ausgekörnert und mit seinen Zähnen, unter Träumen oben im Hirn, zermahlen hatte.

Dann hatte er ihr alles umständlich erzählen müssen, daß Frau Selles Augen unaufhörlich dabei lachten. Auch wenn es schon Auftritte gegeben mit Vater. Wobei Mutter natürlich gar nicht erst hatte wagen können, gegen dessen Wünsche und Bestimmungen aufzukommen.

Aber heimlich, da hatte man beisammen gesessen, wenn der Herr Geheimrat geraden Ganges mit dem Schirm unter den Armen die Straße entlang gegangen, und man ihn um die Ecke hin endlich hatte verschwinden sehen. Da kam jede einzelne der Schwestern, um Einhart um den Hals zu nehmen. Rosa zuerst, die ihn ein Stück drollig hinzog, wobei er noch immer absichtlich ein dummes Gesicht behielt. Auch wenn der Tusch noch jetzt manchmal mit Handgreiflichkeiten geendet. Alle kamen, Johanna, Katharina, und die Jüngste, Emma, und faßten ihn um den Hals von hinten oder von vorn. Und Rosa küßte ihn phantastisch auf die Augen, die dann pfiffig lachten, als wie dem Sturmwind des Vaters und seiner Würde mit Drolligkeit nach. Und Mutter, versorgt und geängstigt noch, begann, selber immer lustiger werdend, ihn auszufragen, wenn sie die schon belustigten Schalksblicke sah, mit denen Einhart seine versonnenen, Vergessen bringenden Fahrten draußen in Heide und Wildnis spürsinnig zu erzählen und Buntes und wie aus märchenschönen Dingen Erlesenes hineinzuweben wußte. Dann standen die vier Schwestern mit Staunen und sahen in Einhart etwas, wie ein unglaublich neckisches, wagsames Rätselwesen, das sie liebten, das ihnen unter die armgrauen Ereignisse des herkömmlich-bürgerlichen Geheimratlebens ein ganz neues Fühlen und neue Feste brachte. Sie lachten über den ungekämmten, ungewaschenen Jungen, dessen Augen Diebe schienen, und über die zerrissenen und verwitterten Kleider und die verwetzten, verwahrlosten Stiefeln. Und jede wußte jetzt auch, daß man ohne solche Opfer nichts dergleichen erleben könnte. Eine jede der vier dunkelfarbigen Dirnen hätte es dann am liebsten gleich auch versucht. Alle, auch Mutter, trug trotz der verborgenen Pein des Zerwürfnisses immer ein Glück fort aus diesem das Leben so wegwerfenden Jüngling.

Einhart war bald ein Jüngling, so dürftig und schmächtig er auch mit seinen Jahren noch aussah. An solchem Tage sahen alle heimlich auf den Herrn Geheimrat, wie auf eine langweilige Gesetzestafel, die streng verfügte, was man längst tausendmal kannte. Und wenn er erst wieder heimgekommen, fühlte man es in allem, daß es eine jede der Damen, alt und jung, heimlich entrüstete, wie die harte Würde dem grünen Wucherreis mit dem glutäugigen Sanftblick blind und mißlaunig alles frohe Treiben knicken wollte. Da hatte Herr Selle keine seiner Töchter in seiner Arbeitsstube hocken, wie sonst gewöhnlich. Niemand empfing ihn. Er mußte am Tische stumme Münder unter den sammetnen, gesenkten Blicken sehen. Alles war da nicht, als wenn sie draußen auf der Wiese und im Walde und glückliche Menschen wären, wie es einem Fernen so erschienen. Hier saß der Herr Selle, steif und gehalten, mit strengen Blicken, nun auch sichtlich geärgert. Aber mit bestimmter Verachtung dessen und nur gewappnet, zu gebieten. Und dort saß die ganze, junge Brut, enttäuscht und voll Entsagung. Daß nur Frau Selle dann und wann, als wenn sie sich aus Träumen plötzlich besönne, dem würdigen Herrn etwas an Fleisch oder den Brotkorb, wenn sie seine Augen am Tische suchen sah, hinreichte. Und Einhart saß dann unter ihnen immer mit einem verlorenen, einfältigen Lächeln.

3

Rosa war die dritte der vier Geheimratstöchter. Sie kam hinter Einhart, und war nur etwa ein knappes Jahr jünger als er. Ein seltsam frommes Mädchen schien sie, jemehr sie den Kinderjahren entwuchs und in den Kämpfen um Einhart in der Familie sich zu einer Art heimlichen Schutzpatrons von Einhart entwickelte.

Rosa war dunkel, wie alle. Auch einen Anflug brauner Hautfarbe, wenn auch am unscheinbarsten, hatte sie. Ihr Haar, das jetzt, wo sie eine Jungfrau wurde, in breiten Scheiteln über den Ohren hing, war glänzend schwarz, wie Jet, und ihre Brauen feinbogig, wie schmale Rabenfedern. Aber im Dunkelglanz der großen Sammetaugen lag kein zehrendes Feuer, nur eine ferne Mildigkeit, und die schmale, leicht spitze Nase zeigte auf einen immer ein wenig geöffneten Mund, der sanft wie ein Schnitt in frisches, dunkelglühes Fruchtfleisch, weich und zärtlich schien, und nur zärtlichen, versöhnlichen, verhaltnen Worten sich schmiegte.

Herr Selle konnte Rosa in dieser Zeit nicht ansehen, ohne nicht heimlich beglückt zu sein. Die drei andern Mädchen, von denen Johanna und Katharina um die Zwanzig waren und also erwachsen und sehr resolut, und die kleine Emma noch ein rechter Backfisch kaum, nur gerade in den Flegeljahren, amüsierten sich spöttisch über den frommen Hauch, der über Rosas Wesen sich ausgebreitet, und Rosa stand also in dieser Zeit in gewissem Sinne allein.

Nicht etwa, daß sie mit Frau Selle und den Schwestern in der Vergötterung Einharts uneins gewesen. Ganz im Gegenteil. Was ihre Einsamkeit schuf, war der Umstand, daß Herr Geheimrat, ebenso wie Einhart, Rosa durchaus bevorzugten. Herr Selle sah in diesem Mädchen allmählich eine besondere Lebensfreude, daß er sie rühmte vor allen in ihrer Zucht und Scheuheit. Daß er die keusche Erscheinung auch offen mit einer, seinem sonstigen strengen Blicke ungewohnten Wärme ansah, und nur ihr es schließlich allein noch gelang, eine Last rechtzeitig zu lösen, wenn es Gewitter gegeben, oder wenn der Vater in sich erregt in die Familie getreten war.

Und was Einhart betraf: die großen Mädchen waren ihm zu rücksichtslos geworden. Sie konnten auch rein nichts von seinen Heimlichkeiten für sich behalten. Sie rühmten sich womöglich vor der Köchin. Sie glossierten alles behaglich laut und offen, wie es große Damen tun, und nahmen sich nicht in Acht, selbst wenn Vater in der Nähe war.

Auch Freundinnen wurde es zugetragen. Es däuchte Einhart auch so etwas, wie wenn sie vor den andern Fräulein halb gezwungen mit einstimmten in eine Art sittlichen Bedenkens, wenn es die Situation zu fordern schien. Einhart lachte auch darüber. Aber er hatte einen Halt allmählich nur an Rosa, die eine Geheimnisträgerin war und für sich genug hatte, ohne eitel nach außen zu blicken. Sie besaß eine stolze, sanfte Verschlossenheit gegen jedermann. Auch gegen Mutter. Auch Frau Selle war das Mädchen, wie sie es manchmal mild und verträumt aussprach, ein bissel entwachsen. »Das ist allzu früh begonnen,« meinte sie dann in sanfter Verzichtleistung.

Rosa hatte begonnen, Träume selbständiger Art zu gewinnen. Man sah es ihr an. Sie sah nicht nur Albernheiten in Einharts Drängen und Taten. Ernst galten sie ihr. Sie empfand, ein wenig heimlich verletzt, Abwehr gegen das zu laute Vergnügen, was selbst die geliebte Mutter machmal bei Einharts seltsamen Unternehmungen zeigte. Sie hatte etwas von einer milden, überlegenen Weisheit, so dünkte es Einhart damals. Sie verstand seinen Lebenssinn vollkommen. Sie redete dagegen nie ein Wort. Nur gegen das, was im Äußeren man vermeiden konnte, mahnte sie:

»Du kannst nicht gehen, wie ein Stromer, geliebter frère!« sagte sie von oben lustig ohne zu lachen. »Das kann Vater natürlich nicht dulden. Aber das verstehe ich ja, daß man nicht lebt hinter den Schulbüchern und auf guten Polsterstühlen.« Rosa hatte auch einmal zufällig etwas von Charlotte Corday gelesen, und hatte ins Unbestimmte ein Ideal von einer alles fürs Vaterland opfernden Frau gewonnen. Schöne, weite, drängende Gefühle ging es in ihr hin, wie Melodien ohne Gegenstand. Das gab nun Einhart eine Grundlage. Er sah sich gewissermaßen erkannt. Das Mädchen gab seinen Schalkspielen einen Sinn erst, daß er vor ihr eine drolligfrohe, verlockende Gehobenheit empfand. Das alles verband ihn der zarten Rosa und machte, daß er jetzt mehr Gewichtigkeit selber in seinem Tun zu ersehnen angefangen.

4

Es waren Zigeuner auf dem Plan vor der Stadt. Draußen lag ein See, und am Ufer standen Erlen aufrecht, und Weidengebüsche hingen ins Wasser. Weil es Sommer war, konnte man lagern. Einhart hatte noch am Nachmittag gleich die Gelegenheit sich angesehen. Ein junger apollinisch-jüdischer Mann, mit einem flaumigen Barte, der Pavo hieß, spielte, als der Abend versank, im Dämmer der Sterne die schmelzende Geige, und das schöne, sonngebräunte Volk in bunten Fetzen tanzte und flog in der Wiesenfläche.

Einhart hatte gleich etwas empfunden, wie um sich selber gebracht. Er hatte das ganze Abendneigen schon erst in der Nähe gestanden, die grünen Planwagen, die im Rubinlicht ragten, umschlichen und die falben, struppigen Pferde angestaunt, die an den Wagenkästen knabberten oder das Gras am Boden nagten. Einhart hatte dann an der Böschung sich unter die Kinder der Armen und einige Arbeitsleute gemischt, die auch herumstanden und auf die seltsame Horde staunten.

Eine junge Mutter, wie ein gelbes, ägyptisches Weib, stand mit dem Kind an der Brust im Freien. Während eine alte, großäugige Zigeunermutter im Wageninnern kochte, daß der Rauch unaufhörlich dick aus der kleinen Esse schlug.

Weiße Ziegen weideten am Hange.

Einhart stand – und starrte und starrte, als wenn rein nur das wäre, was sich vor seinen Blicken und Ohren begab. Wie nicht wirklich dünkte er sich und ihm diese Welt. Wie selbst verjagt hinziehend und doch in Tänzen und flüchtiger, lustiger Rast. Die Lust daran machte seine Augen wie verzehrt. Da waren auch zwei halbwüchsige Zigeunerdirnen, melancholisch und träge. Die trockenen Schwarzhaare hudelten um die Stirn, wie ihm. Die beiden kamen zu ihm nahe heran und lachten ihn gutmütig an. Sie nahmen seine Hände prüfend in ihre dünnen, harten Finger. Er mußte an sich halten, daß er nicht einen Sprung in die Lüfte tat, wie ein Bajazzo, oder wie ein junger, dummer Frühlingsfaun mit Nymphen, sich im tollen Wirbel drehend, als Pavos Geige eingesetzt.

Ein Rausch ging in ihm, eine Selbstvergessenheit ohnegleichen, eine richtige Ohnmacht. Nicht, als wenn er die Sinne verlor. Durchaus nicht. Nur allen Willen, etwas anderes noch zu sein, als was ihn jetzt erfüllte.

Die dunklen, lumpigen Dirnen konnten zudem ihr Lachen nicht lassen, ihr weiches, kindliches Locken. Weil er in seiner fiebernden Unruhe doch noch einmal zurückgetreten.

Seine Blicke suchten ununterbrochen den jungen, schönen Zigeunerspieler. Die junge Mutter war unter die Arbeitsleute gekommen. Sie hatte das Kind in den Wagen zurückgetragen und drehte jetzt eine Zigarre in ihrem Munde. Ein Gesicht, wie das einer Koptin, gelbgrau, mit gebogener Nase, streng, knisterndes Zottelhaar um die Stirn, nicht voll, dürftig, und ein dürftiges Zöpfchen hinten, das ihr nachlässig, blau gebunden, im Nacken starrte. Die blaue Kattunjacke stand offen, daß man die knospenfrischen Brüste sah. Sie kam Schritt um Schritt, mit ihren Dunkelblicken lautlos und achtlos um Feuer bittend. Die Arbeiter machten ein paar gemeine Glossen und lachten. Einhart hörte es nicht. Es zog ihn und trieb ihn gleichzeitig. Der Gedanke an Rosa, und daß sie es sehen müßte, war in ihm erwacht. Der Sternenhimmel begann schon zu blinken. Immer wieder kamen die zwei stahlschlanken Dirnen, die seine Augen suchten, als hätten sie an ihm etwas Besonderes ausgefunden, und lachten über ihn kindlich schalkisch untereinander.

Und die Geigentöne gingen jetzt schon im stillen Reigen. Der Mond ging auf und stieg stummgolden in den Raum, ferne über den schwarzen Wäldern. Von ferne hallte ein Kuckucksruf, unaufhörlich weich sich wiederholend. Es war eine Juninacht. Unermeßlich die silberne Blankheit des sanften Wasserspiegels, weil das Mondlicht ihn streichelte.

Einhart hatte es nicht mehr ausgehalten. Er war wie sinnlos fortgeeilt, geirrt, weil noch immer zurückgebunden, und doch wie im Wirbel. Die heißen Geigentöne des braunen Zigeuners gingen mit ihm und die weiße Dunkelnacht, und die Mädchenblicke, und es schwirrte rings, wie von Dämonen in weicher Dämmerluft. So war er in Zwängen in die Wohnung der Geheimrätlichen zurückgerannt.

Der Zufall wollte, daß nur Frau Selle und die Schwestern daheim waren. Der Herr Geheimrat selbst hatte im Amt eine Hinderung gehabt und hatte heimgeschickt, daß er auswärts äße. Er saß unterdessen in einer kleinen Weinstube mit einigen Herren seines Ressorts beim Glase, und man erzählte allerhand Postvorkommnisse, besprach auch einen Fall schwerer Defraudation genauer und ernstlich, ehe man wieder lachte und pokulierte. So war Einhart gut ins Haus gekommen. Aber sein Herz, so voll tollen Spaßes es war, sank jetzt wie demütig zusammen, daß er sein Fieber plötzlich niederpreßte und nur einfältig lächelnd dastand, als Frau Selle ihm die Strähne liebevoll aus der Stirn strich. Frau Selle hatte in einem losen Sommerkleide am Fenster gestanden. Auch sie lächelte nur gütig. Johanna und Katharina verstanden nicht recht, warum Einhart heut nicht redete. Dann waren die beiden mit Mutter auf den Balkon getreten. Auch für sie alle hatte sich jetzt der Silbermond in die Welt gehoben. Auf den Dächern lagen Spiegelscheine, und es umfloß alle Dinge mit Silberfäden. Johanna redete laut, wie glänzend der Mond im Äther schwämme. Sie machte einen Witz von Liebenden im Mondenschein. Einhart mußte hell hinauslachen. Er war im Zimmerdunkel zurückgeblieben. Auch Rosa, die gleich mit der feinen Witterung der Seele zu ahnen begonnen, daß in Einhart neugesponnene Träume sich rührten und laut werden wollten – nur für sie. Sie hatte ihn jetzt unter den Arm gefaßt und legte ihre Wange sanft an die seine. Da begann Einhart auch schon erregt zu flüstern. »Komm!« sagte er ganz leise, »komm!« – – – »Wohin?« sagte Rosa. Und man hatte kaum draußen eine Weinranke am Balkon im Silberlichte wanken sehen. Und dann war Einhart nach einigen bestimmten, stummen Zeichen plötzlich gegangen. Er hatte sein Bett in einer Bodenkammer.

Aber später, als alles schlief im Hause, und weil Herr Selle noch immer nicht nach Haus gekommen, huschten Einhart und Rosa in die Monddämmer hinaus und liefen hin in die brünstigen Tänze im Silberschein, unter die sich auch einige Dienstmädchen und junge Arbeitsleute mit eingelassen, daß nun, schon gegen Mitternacht, ein ewiger Reigen hin und her, von der monotonen, sehnsüchtig näselnden Weise der einsamen Geige hingeführt, im Mondlicht schwebte. Die Schatten tanzten mit unter dem wogenden und ringelnden, bleichlichten Fremdvolk auf der weißen Wiese. Eine stumme Inbrunst spann in der Nachtluft, dann und wann nur von Rufen oder einem jähen Schrei flüchtig unterbrochen. Eine lange Fackelflamme gaukelte in Rauch, die Insekten umschwirrten. Falter verflogen sich in Einharts Gesicht, daß er sie, flüchtig erweckt, dann doch achtlos nur wieder in der Hand hielt. In allen Gesichtern lag ein ewiges Lächeln. Auch in Einharts. Auch in Rosas. Einhart und Rosa hielten sich aneinander, langsam und scheu, und ganz erstaunt noch immer und nichts wagend, beide nur ganz diese klingende, treibende Rätseldämmerwelt, fiebernd von losgebundnen Trieben, ganz den seltsamen Dunkelleuten hingegeben.

Und jetzt mit noch größeren Augen lachend, als der weiße Wiesenplan rein lag, alles erschöpft beiseite getreten, und nur die beiden Zigeunerdirnen herangeflogen, in der Leibesmitte sich greifend, ihre nackten Füße streckend und stampfend wie in wildem, taumelnden Einvernehmen, und sich lösten und auseinanderschwangen, stumm fast, ewig geneigt in schwebendem Gleichgewicht. Gar nicht mehr Lächeln, Feier in den heiß blickenden Mienen, dann und wann einen heiseren Schrei hinausgebend, wie ein Vogel schrillt, rasend so hin, inbrünstig, wie in Gottesdienst, daß die Menge ringsum wie im Mitleiden den Atem anhielt.

Einhart hatte dann, er wußte nicht wie, eine der Dirnen umgriffen und hatte zu springen und zu tollen begonnen, weil sich auch Rosa gar nicht mehr eingehalten, im Taumel dem jungen Zigeuner im Arm gelegen und ohne Rückblicken den Geigenklängen der Nacht sich willenlos hingegeben.

Aber sie war ebenso plötzlich geflohen.

Der Zigeunerjüngling hatte sie unversehens hart um den Leib gegriffen, sie an sich gerissen und sie sinnlos zu liebkosen und ins Gesicht hinein zu küssen gewagt. Da war es wie eine Furie hinter ihr aufgesprungen, daß sie besinnungslos lief und lief, nicht mehr hinter sich sehend, und daß sie atemlos und gescheucht auch schon vor der Haustür stand, den Schlüssel im Schlosse zitternd umdrehend, und als wenn sie im nächsten Augenblicke zusammensinken und sterben gemußt.

Aber da draußen spielte Pavo noch immer seine schmelzende Weise. Die alte Zigeunermutter wiegte ihre breiten Hüften und schlug die Hände. Wie eine Grimasse hielt das Lächeln alle Gesichter. Auch auf dem Gesicht der jungen Zigeunerfrau lag ein weiches Schmerzlachen, und Franziska glühte und kreischte, indem sie den tollen Einhart mit sich herumriß.

Einhart erwachte erst, als er sich endlich nach Rosa einmal umgesehen und entdeckt hatte, daß sie nicht mehr unter den fahlen Nachtgesichtern zu finden war. Der Mond ging eben am Horizonte zur Rüste. Einhart lief nach Hause, die einsamen Straßen hastend entlang und stahl sich über die Mauer des Hofes und durch die verlassene Hintertür in seine Dachkammer. Aber weil Herr Selle selbst auch spät heimgekommen und deshalb nicht am Frühstückstisch der Familie erschien, war das Geheimnis dieser Nacht verborgen geblieben und blieb einstweilen ohne Folgen für Einhart.

5

Die Realschule der Stadt lag an einem im Mittel gebreiteten Geschäftsplatze. Ein dreistöckiges, rotes Gebäude, drohte sie mit mächtiger, langweiliger, fensterreicher Fassade, wenn Einhart, seinen bücherquellenden Tornister schief auf die Hüfte gestemmt, um die Ecke des kleinen Nebenweges von der Promenade her einbog. Drohen oder auch locken kann man sagen. Weil alle Dinge in der Welt, in der Einhart lebte, für ihn solchen Doppelsinn hatten. Diese breite, gespreizte, rote Hauswand machte ihn manchmal gerade so ferne lachen, als wie sein strähnhaariges, gelbgraues Gesicht ein plötzliches Lächeln nicht unterdrücken konnte, wenn der Herr Geheimrat mit ganzer Würde und Positur und mit allerlei ergründenden Abwandlungen ihm streng mahnend dieselbe Schlußzeile durch die Ohren zog wie den Putzer durch den Zylinder: »Werde etwas Tüchtiges! – Der Mensch muß etwas Tüchtiges sein! – Jeder muß ein würdiges Mitglied der Menschengesellschaft werden! – Werde meinethalben Schuster oder Schneider. Das fände ich zwar nicht übermäßig ehrend in der Stellung, die ich erklommen. Aber trotzdem! – Nur werde etwas Tüchtiges! In jedem Amte und Berufe kann man seine Tüchtigkeit zeigen. Und das macht den Mann.«

Einhart mußte dann, wie gesagt, oft unversehens lächeln. Es kam ihm plötzlich manchmal der alte Herr mit dem vollen, grauen Schnurrbart und dem strengbewegten Munde, mit der befehlenden Geste, die sofort in die ganze Steifheit des gehaltenen Ernstes zurücksank, wenn er im ratlosen Gefühle auf dem weichen Teppich auf- und abwogte, derart liebevoll komisch und Mitleid erregend vor, das, was der Vater würdiges Mitglied der Menschengesellschaft und ehrend nannte, so ungreifbar ferne und matt und grau, daß Einhart in seinem plötzlichen Zwang, womöglich rund hinauszulachen mit Zärtlichkeit, eine vollkommene Einfalt in seine Züge bekam, und Herr Selle dann jedesmal dachte, daß er es mit einem unheilbaren Toren zu tun hätte.

Einhart stand dann oft ewig wie angewurzelt. Er drehte ohn' Unterlaß an seinem Jackenzipfel herum. Das gutmütige Schalkslachen drückte die dunklen Brandaugen klein und gab ihnen eine seltsame Verschlagenheit, die sich den Tag über kaum noch löste. Daß auch Frau Selle selbst, wenn sie ihn endlich sanft weckte, sich flüchtig ärgern konnte über den schlauen Ausdruck, der durchaus nicht nach Reue aussah, nur mehr nach toller Laune, die unter der einfältigen Armensündergrimasse aufflammen gewollt und doch nur heimlich umgegangen war. Das machte Kopf und Auge und Ohr und das Blut und die Muskeln und die Nerven, die Einhart hießen. Zucken und Jucken tat manchmal das alles, gleichwie über sich selber hinwegzuspringen. Die Augen zudem, wenn sie sich schlossen, sanken sehend in Purpurfelder. Und in den Ohren klangen lustige Sprüche und Pfiffe. Nun gar jetzt, wo er dem flämischen Breitmaul Schule entgegenging und in die großen hundert Augen, in die Fenster, seine lustigen Blicke flüchtig hinaufwarf.

Eben war man im Begriff, die Fenster allenthalben oben und unten zu schließen, weil Einhart, wie immer, im letzten Augenblick um die Ecke stob. Im ersten Stockwerk hockte ein blonder, großer Bengel im Fenster, der sich weit hinausbog und ihm winkte und zuschrie. Man sah auch, daß sich der Blonde wohllaunig in die Klasse zurückgewendet, und hatte ein Hallo verklingen hören, als sich das Fenster vollends schloß.

Einhart war immer prickelnd erwartet. Ein rechter Faxenmacher unter den durcheinander lümmelnden Knabengesichtern, und wie ein Strohhalm manchmal, der im Winde herumhupft. In der Klasse konnte man ohne ihn mit den Freipausen nicht fertig werden. Wenn er am Türpfosten nach dem Korridor lehnte, hatte er gleich allerlei Zuhörer. Er erzählte die widersinnigsten Späße in wirren Märchenformen, wo er Väter und Alte in Bären oder Steine, und Kinder in weise Könige verwandelte durch Zaubermittel, und sich selber einen Narren nannte, dem alles in der Welt auf den Kopf gestellt deuchte.

Einmal benahm er sich auch, als wenn er sich als ein richtiger Affe fühlte, langgliedrig und behende zugleich, so daß er seinen Schulgenossen dann ein ewiges Schauspiel Eines gab, der zum Klettern geboren wäre, allenthalben in hockender Stellung auf Fensterbrettern, Katheder oder gar Ofen saß und ihnen derart allerlei lockende Dinge von Urwäldern und Wanderungen an Schlingpflanzen und in den höchsten Wipfelräumen nachahmte. Dazu immer erzählend: »Etwas Tüchtiges! Nur etwas Tüchtiges!« sagte er dann. »Und wenn es ein Affe im Urwald ist, nur etwas Tüchtiges, das macht den Mann!« Eine Korona Knaben sah nur schon seine pfiffigen Mienen und lachte. Einige der bedächtigeren Schüler gaben nur seine Worte weiter und erlustigten sich an seinen Einfällen. Und alle wußten, daß er daheim ganz und gar nichts lernte, und lachten schon heimlich in dem Gefühle, wie dieser dunkle Fuchs dann vor dem langen, scharfen und schneidenden Ordinarius würde in lächelnde Einfalt einsinken, als ob er schon nicht mehr wüßte, was ein weißes Schneeglöckchen im Frühling wäre oder die hellerlichte Sonne? Aber es war doch auch des Geheimrates Sohn, eines Mannes, der bedeutende Karriere gemacht und sicherlich noch weiter zu Ehren aufging. Im Grunde saß man in der ganzen Lehrerschaft wie auf Kohlen. Nur gut, daß Einhart in der äußerlichen Körperlichkeit nicht zu sehr aus seiner Klasse herausgewachsen. Alle seine Mitschüler waren um Jahre jünger als er. Er hätte müssen wenigstens in Sekunda sein, und man erwartete jetzt nur vergeblich, ihn der Tertia einzuverleiben. Die Lehrer wünschten es dringend. Der Direktor war Herrn Selles Freund. Er erkundigte sich oft bei den Lehrern nach Einhart. Aber es war durchaus nie etwas anderes zu hören, als daß sie es mit einer unverbesserlichen Art Gaukelei und Trägheit, mit einer Verschlagenheit und Sanftheit gleichermaßen, die man gar nicht zu qualifizieren wußte, hier zu tun hätte.

Der Geheimrat hatte es schon erfahren, daß man auch jetzt noch wieder an eine Versetzung nicht recht glauben konnte. Er hatte sich sogar alles schon zurechtgelegt: »Wenn es jetzt nicht wird, kommt er in die Lehre. Dienen wird er nicht brauchen bei seiner Schwächlichkeit. Nun also! Da mag ihn ein strenger Handwerksmeister erziehen, wenn es in gebildeten Formen nicht gelingt,« hatte Herr Selle schon überlegt. Die Stimmung daheim war in diesen ganzen Wochen, solange Herr Geheimrat im Hause war, nicht übermäßig launig gewesen. Aber daß es so bunt kommen müßte, wie es jetzt kam, wäre niemand, weder dem Herrn Vater, noch den Lehrern je in die begriffsverblichenen, matten Sinne eingefahren.

Schon als Einhart heute in die Schule kam, hatte er etwas an sich, das die Mitschüler nicht kannten. Er sah durchaus nicht einfältig aus. Er sah aus, als wenn er aus einem langen Schlafe unversehens munter geworden. »Laßt mich in Ruh mit Albernheiten!« sagte er nur bestimmt, und seine Augen hatten ein strenges Feuer. In diesem Moment hätte man geradezu an den Blick des Geheimrats denken können. Obwohl aus dessen Blicken nie Zigeunertänze und schwüler Taumel auf Mondwiesen im heimlichen Schauen aufgeblitzt. Einhart war außerdem, als er kam, außermaßen bleichgelb, richtig verzehrt.

In der Stunde, die der alte Mädchenschulrektor, der hier am Gymnasium Schreibunterricht gab, leitete, sank Einhart tief in Schlaf und sank seinem Nebenmanne, der ihn nur jedesmal lächerlich ein wenig puffte, immer wieder auf die Schulter. Der alte Walk achtete nicht genau und mochte auch keine Prozeduren. Manchmal schlief er selber auf dem Katheder ein, wenn alle fünfzig Federn leise kritzelten. Er sagte dann auch gutmütig und zu eigner und andrer Entschuldigung: »Wie es so geht manchmal im Leben, jeder ist nicht immer zu jedem aufgelegt!« So schlief mancher noch mit.

Auch Einhart schlief also heute. Aber seltsam auch, daß sein Nebenmann lange auf sein bleiches, sanftgewordenes Gesicht sehen und wie ein fernes Entzücken mit diesen schmalen, bleichen Zügen empfinden mußte. Wie ein ferner, froher Traum lag drin. Eine liebliche Miene, ein Lachen, stumm und versunken, unter dunkelrandigen, geschlossenen Lidern.

Aber wie Einhart erwachte, versuchte er geschäftig zu blicken und kümmerte sich nicht um die Augen, die ihn rings komisch suchten. Eine fiebernde Unzufriedenheit regte sich in ihm. Schreiben jetzt war ihm unmöglich. Er malte Schnörkel auf die weiße Fläche, die er vor sich hatte, ohne Sinn. Aber dann drehte er den Bogen, daß der Nachbar gleich neugierig mit auf sein Blatt sah. Es war tiefe Stille in der Klassenstube, daß man nur manchmal ein einzelnes Aufatmen hörte in die Versunkenheit vor den kleinen, aus den Federn fließenden Tintenkringeln. Aber Einhart schrieb nicht. Er begann Gesichter mit Zottelhaaren hinzuzeichnen, einen ganzen, tollen Reigen, wilde, nackte Gestalten, daß der kleine Nebenmann, der ein blonder, sanfter Knabe war, wegsah und ein wenig errötete wider Willen. Einhart zeichnete mit schmutzigen Händen. Er war in die Schule gelaufen, noch ohne sich anders, als nur auf der Mutter Geheiß, eine reinliche Jacke anzuziehen. Durch die Haare war er sich ein paarmal mit den Fingern gefahren. Und er kümmerte sich um nichts, was vorging.

Auch wie der Rektor dann eine lange, moralische Rede über die Schrift begann. »Daß man aus der Schrift die Seele des Menschen ablesen könnte,« meinte er, »wäre eine Fabel. Aber ein gesitteter Mensch könnte sich doch schon in der Reinlichkeit des Papiers bekunden, in der Ordnung der Zeilen, in der Klarheit der Schriftzüge. Die Achtung vor den Gesetzen und dem Herkommen zeigte sich in der Schrift nicht minder. Deshalb lehrte man die Schrift. Nicht, daß man da Sonderbarkeiten recht ausprägte, so unleserlich schriebe wie möglich. Derartiges gefiele nur eitlen Narren. Einer wie der andere müsse es aussehen. Darum nenne man das eine Schreibstunde. Und ich bin euer Schreiblehrer.« Er schrieb selbst wie gestochen, und man konnte wirklich nicht wissen, ob er oder ein Rektor in einer Seestadt oder ein Schulmeister in Kospeda es geschrieben. Einhart hörte nur mit halbem Lächeln hin und dachte an das schmutzige Gesindel auf dem Plane, daß der alte, schwerfällige Walk auf ihn sah und ihn fragte: »Nun, Herr Selle, warum so lächerlich?«

»Ich freue mich über Ihre Lehren,« sagte Einhart ganz wie nebenbei, daß ein tolles Gelächter ausbrach, und der Rektor gleich mit sanfter Gebärde stillen wollte. »Nur ruhig! – nur ruhig!« sagte er selber halblaut und erschrocken, weil es der Direktor leicht hören konnte. »Selle weiß immer eine gute Antwort,« sagte er dann versöhnlich, ein wenig eitel. Dabei hielt er die Hand mit dem Lineal wie einen Palmenzweig des Friedens ausgestreckt vom Katheder, damit höchstens noch ein kleines Aufwallungslachen folgen konnte, das seiner Seele wohltat.

Aber dann, als die Schuluhr schrill die Stunde geschlagen, und Walk umständlich hinaus war, überkam es Einhart, daß er eilig aufs Katheder stieg, ins Klassenbuch sah, um welche Stunden es sich noch handelte, und dann plötzlich ein tiefleidendes Gesicht schnitt. »Laßt mich in Ruh,« sagte er. »Ich habe wahnsinniges Zahnweh. Ich kann es bei Gott nicht lange so aushalten.« Er saß in der Bank und begann sich richtig zu krümmen wie ein Wurm. Viele lachten noch immer. Andere dachten schon an Ernst. Jedenfalls machte Einharts Miene durchaus Eindruck.

Der strenge Ordinarius, der die nächste Stunde gab, hatte sich beim Eintreten gar nicht umgesehen. Er begann mit dem Abhören der unregelmäßigen Verben. Dabei sah er wie zufällig, daß Einhart noch immer halb umgesunken in der Bank saß, und alle Blicke sich immer wieder dahin richteten.

»Was ist denn da los? Das ist wohl Selle? ... Selle! ... nun? was ist denn los?« Einhart antwortete noch immer nicht. Einige riefen: »Er ist krank.« Andere: »Er hat furchtbare Schmerzen.«

»Selle!« sagte der scharfe, schneidende Ton in einiger Weichheit mahnend. »Hast du mich gehört, Selle? was ist dir denn nun? du kannst doch so nicht sitzen,« sagte der gestrenge Herr fast schnarrend. »Entweder du bist fähig, dich aufrecht zu halten, oder du mußt einfach dich scheren.« Einhart versuchte gehorsam, sich eine Weile emporzurichten. Aber dann begannen wie feine Schmerzlaute neu anzuheben aus ihm. Es schien wirklich schlimm.

»Wenn du derartige Gesichtsschmerzen hast, gehe nach Hause! Das ist ja nicht auszuhalten,« sagte der Ordinarius unwillig. Aber wie dann Selle aufrecht stand, die Sachen packte und zur Türe ging, sah der Lehrer auch, wie bleich und verzehrt Einhart war.

»Nun, da wünsche ich dir nur, daß du die Schmerzen bald los wirst! Ich kenne das« ... sagte er in einer mitleidigen Anwandlung. »Das ist ja wirklich nicht sehr angenehm.« Und Einhart war draußen.

6

Einhart war eilig über den Platz vor der Schule gelaufen, wo einige Droschkenkutscher an der Ecke hielten, die ihm nachsahen, weil er noch immer den Kranken spielte. Er hatte den Tornister unter den Arm gekniffen und drückte ein zerknülltes, rotes Tuch an die Backe, so daß die bleichgraue Miene seines Gesichtes noch auffälliger wurde. Es lag Sonne im Wege. Es war nach elf Uhr, und die hohen Häuser warfen nur kurze Schatten. Einhart war innerlich belustigt, wie noch nie im Leben. Wie er so dahineilte, überlegte er nur, wohin sich am besten gleich wenden? Er hastete, daß er ungleiche Schritte nahm, und man einige Augenblicke immer denken konnte, er hinke. Aber das innere Leben war wie außer Rand und Band sozusagen. Als er um das große Modenmagazin herum war, sah er sich noch einmal um, wie um zu prüfen. Er war ein schmächtiger, schlanker Bursche. Die braune Jacke, die er trug, sah anständiger aus, als gewöhnlich, und der Haarsträhn war jetzt doch unter dem flachen, schwarzen Hütchen verborgen, das schief auf dem Schlichthaar saß. Wer ihn jetzt sah, als er der Schule außer Sicht entronnen, hätte über die Augen und über den Mund und die feine Nase lachen müssen. Als wenn er Übles gewittert und hinter sich gelassen, lief er jetzt. Das Taschentuch war längst zu einer roten Fahne in der Hand geworden, die er nun vorwärts schwang. Seine Augen konnten vor Lust gar nicht gerade sehen. Nach allen Seiten auf und um gingen sie und hatten eine Pfiffigkeit im Blicken. Der Mund hatte Eile, sich Hoffnungen vorzumurmeln, und er stieß mitten auf dem Exerzierplatz, über den er mit springenden Schritten hupfte, einen grellen Pfiff aus, ehe er in die Promenade einbog. Er dachte gar nicht zurück. Oder wenn er zurückdachte mit zärtlicher Laune. »O du einziger, guter, dummer, scharfsichtiger Herr Oberlehrer, du dummes, einfältiges Vieh!« sagte er und lachte er. »Der junge Herr Selle sollte mir schon kommen! du ... ach, daß du auch gar nicht merktest, was diesem Herrn jetzt durch den Kopf ging!« Und nun stand er wieder. »Dieser verfluchte Ranzen!« sagte er vor sich hin. Er nahm seinen flachen Rundhut ab und warf den Ranzen samt dem Hute auf die Erde. Dann überlegte er und sah sich die ganze Welt ringsum und oben an. Eine Linde stand neben ihm, an der er nur bis zur Krone sah, und an deren Stamme Ameisen krochen. Das machte einen Augenblick ganz sich vergessen. »Weißt du nur, warum die Leute noch sitzen und in die Bänke sich zwängen? – Du nettes Tierdel! da ... komm ... nur ... einmal ... und bleibe bei mir« , sagte er zu einer Ameise und versuchte sie auf der Hand zu halten, die er drehte. Aber die Ameise merkte den Raubtierhauch der Menschenhand und warf sich kopfüber in einen Abgrund unter ihr, und Einharts Gedanken flogen sofort auch weiter. »Da ... ist ein Versteck für dich,« sprach er den Ranzen an, den er schon aufgenommen, indem er auch sogleich weitersprang.

Am Wassergraben wußte er von der Eisbahn her ein Loch in der Mauer, das immer leer war. Dort hing eine volle Weide über, die sich jetzt wunderklar im Wasser spiegelte. Es lockte ihn, daß er auch hier über das eiserne Gitter lange sich bog, als wenn es ein Spiel für ihn gewesen wäre. Er sah auf den dunkelklaren Schattenspiegel und verfolgte, als wie ein Käfer, der an jedem Ästchen emporkriecht, die ganze, dunkle Verzweigung. Dann warf er erst Blättchen um Blättchen hinein, die immer in Kreisen spannen und das klare, scharfruhende, stumme Baumgeäst wie einen Augenblick in ein trübes, feines, rinnendes Bewegen lösten.

Einhart! mein lieber Tagedieb! was staunst du und kannst nun alles andere vergessen! Ein Blättchen nach dem andern fiel. Und Einharts Gesicht spannte und lächelte. Dann sprang er über die Eisengitter und schob rasch seinen Tornister in das Erdloch, sprang zurück und lief nun leicht in der Richtung nach dem See.

Träumen ist eine Seligkeit und kann auch eine Krankheit sein. Träumen kann mit ewigem Enttäuschen kommen, wenn immer wieder eine graue Megäre Wirklichkeit Ohren findet, die es hören und glauben, daß wir ja nicht träumen dürfen, sondern leben müssen. Aber es kann auch ein Harnisch sein gegen all die leeren, grauen Gedanken von dem Leben, als wäre es in Stücke gerissen, dort ein Deckel, und hier die Dose. Dann ist der Ritter eines mit seinem Harnisch, und kein schales Meinen kann ihm diese seine Welt zertrümmern, die nicht leben hier und träumen dort, die auch nur Eines ist, was immer heimlich oder offen aus der Seele sich hebt und lebt wie ein einiger Brunnen, Kraft und Klarheit so ins Dasein, Sinn und Gestalt schaffend. Aber das wollten die Lehrer nicht anerkennen. Deshalb eilte jetzt Einhart hin.