Einigkeit und Recht - Friedrich Wolff - E-Book

Einigkeit und Recht E-Book

Friedrich Wolff

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Beschreibung

Die juristische Aufarbeitung der DDR - ein Kapitel in der problematischen deutschen Rechtsgeschichte - eine fundierte Darstellung. Wolffs Bilanz greift aber weiter aus. In einem pointierten, kenntnisreichen Überblick ist es ihm gelungen, »Politik und Justiz vom Schießbefehl Friedrich Wilhelm IV. bis zum ›Schießbefehl‹ Honeckers« unter die kritische Lupe zu nehmen. »Deutschland hat im 20. Jahrhundert im Westen dreimal und im Osten viermal einen Wechsel des politischen Systems erlebt, vom Kaiserreich zur Republik, von der Republik zum NS-Staat und von diesem in die Bundesrepublik bzw. die DDR und aus dieser in die Bundesrepublik. Es erscheint nützlich, den letzten Systemwechsel mit früheren, die jetzige Vergangenheitsbewältigung mit vorangegangenen zu vergleichen.« Schreibt der bekannte Strafverteidiger Friedrich Wolff im Vorwort zu seiner grundlegenden Untersuchung, in der er polemische Töne nicht scheut und sich unter anderem mit Fragen wie diesen beschäftigt: War die DDR nun ein Unrechtsstaat? War sie die zweite deutsche Diktatur? Sprachen die Richter, wenn sie ehemalige DDR-Bürger verurteilten, im Namen des Volkes? Sind wir ein Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird? War es Recht, das Wessis, über Renten, Arbeitsverhältnisse, Immobilien und über das Volkseigentum sprachen? Sind wir also ein Volk?

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Das Buch

Deutschland hat im 20. Jahrhundert im Westen dreimal und im Osten viermal einen Wechsel des politischen Systems erlebt hat. Der be­kannte Strafverteidiger nimmt den letzten Systemwechsel unter die Lupe und vergleicht ihn mit früheren, die jetzige »Vergangenheitsbewältigung« mit vorangegangenen. Dabei stößt er auf Fragen wie diese: War die DDR ein Unrechtsstaat? War sie die »zweite deutsche Diktatur«? Sprachen die Richter, wenn sie die ehemaligen DDR-Bürger verurteilten, im Namen des Volkes? Sind wir ein Volk, sind wir das Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird? War es Recht, das Wessis über den Streit von Ossis mit Wessis, über Renten, Arbeitsverhältnisse, Immobilien und über das Volkseigentum sprachen? Sind wir also ein Volk? – Wolffs Bilanz greift aber weiter aus. In einem pointierten und kenntnisreichen Überblick ist es ihm gelungen, »Politik und Justiz vom Schießbefehl Friedrich Wilhelms IV. bis zum ›Schießbefehl‹ Erich Honeckers« kritisch zu untersuchen.

Der Autor

Friedrich Wolff, Jurist, geboren 1922 in Berlin als Sohn eines jüdischen Arztes. Nach dem Krieg Eintritt in die KPD, 1946–49 Jurastudium an der Humboldt-Universität. Amtsrichter, Referent, ab 1953 Rechtsanwalt.

1983 Promotion. Nach dem 17. Juni 1953 erstes Mandat als Pflichtverteidiger eines wegen Teilnahme an der Erhebung Angeklagten. Später Verteidiger in zahlreichen politischen Prozessen, darunter gegen Walter Janka, Karl Wilhelm Fricke, Günter Guillaume, Erich Honecker, Hans Modrow, Werner Großmann. Fernsehprominent war Friedrich Wolff durch seine Sendereihe »Alles was Recht ist«. Er war lange Zeit Vorsitzender des Berliner Anwaltskollegiums, über viele Jahre Vorsitzender des Rates der Kollegien der Rechtsanwälte der DDR, von 1985–1990 Vizepräsident bzw. Präsident der Vereinigung der Juristen.

Veröffentlichungen: Verlorene Prozesse 1953–1998. Meine Verteidigungen in politischen Verfahren, Baden-Baden, 1999

Impressum

eISBN 978-3-360-51038-9

© 2015 (2005) edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin

Umschlagentwurf: edition ost

Die Bücher der edition ost und des Verlags Das Neue Berlin erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe.

www.edition-ost.de

Friedrich Wolff

Einigkeit und Recht

Die DDR und die deutsche Justiz

Politik und Justiz vom Schießbefehl Friedrich Wilhelms IV. bis zum »Schießbefehl« Erich Honeckers

Einigkeit und Vergangenheitsbewältigung

Seit fünfzehn Jahren singen wir wieder von Einigkeit und Recht, Hoffmann von Fallersleben hatte es 1841 gedichtet. Das »Lied der Deutschen« war Ausdruck seiner Sehnsucht, nicht Lob der Wirklichkeit. Er wurde wegen seiner Dichtung als Professor entlassen und des Landes verwiesen. Heute, fünfzehn Jahre nachdem wir sein Lied wieder singen, sagt dieser Staat, er sei ein Rechtsstaat, unser ehemaliger Staat wäre ein Unrechtsstaat, die zweite deutsche Diktatur gewesen. Ebenso lange sprechen die neuen Gerichte im Namen des Volkes Recht über Grenzer, Richter, Staatsanwälte der DDR und natürlich über Stasimit­arbeiter. Die Medien haben es berichtet, täglich, ausführlich. Über die Bilanz dieser Art Vergangenheitsbewältigung durch die Justiz berichteten sie nicht. Nachfragen gab es nicht. Kann man alles glauben, was ein Staat sagt, was unser neuer Staat über unseren alten sagt? War die DDR nun ein Unrechtsstaat? War sie die zweite deutsche Diktatur?

Sprachen die Richter, wenn sie die ehemaligen DDR-Bürger verurteilten, in Namen des Volkes? Sind wir ein Volk, sind wir das Volk, in dessen Namen Recht gesprochen wird? War es Recht, das Wessis über den Streit von Ossis mit Wessis, über Renten, Arbeitsverhältnisse, Immobilien und über das Volkseigentum sprachen?

Sind wir also ein Volk? Als die DDR noch existierte, als die Mauer noch stand, waren die DDR-Bürger für die Bundesbürger Brüder und Schwestern. Als die Mauer und die DDR gefallen war, wurden sie zu Ossis und die Bundesbürger Wessis. Jetzt sagen fast alle, die innere Einheit fehlt.

15 Jahre nach dem Mauerfall, der darauf folgenden deutschen Vereinigung oder Wiedervereinigung, nach dem Beitritt oder dem Anschluß – der eine nennt das so, der andere anders – herrscht schlechte Stimmung in Deutschland. Die Renten sind nicht mehr sicher, das Gesundheitswesen wird immer teurer, die Arbeitslosigkeit ist anhaltend hoch, Obdachlosigkeit eine gewohnte Erscheinung, die Bevölkerung wird immer älter, Kinder sind selten und werden zur ersten Armutsursache, die Schulbildung ist mangelhaft, der Standort Deutschland ist gefährdet, Pleiten greifen um sich. Woran liegt das alles? Die Wessis sagen: an dem maroden Osten! Erst fiel die Mauer, dann kam die Vereinigung und schließlich kamen die Pleiten. Ein kurzer Schluß, ein unzulässiger Schluß. Das Vorhergehende ist nicht immer die Ursache des Nachfolgenden.

Im Osten hat man andere Probleme, sieht man andere Ursachen für die Misere. Warum veröden ganze Landstriche, warum werden kaum noch Kinder geboren, warum ist der Osten deindustrialisiert, warum gibt es keine Arbeit mehr, warum gehen die Arbeitsuchenden in den Westen? Warum sprechen Wessis über Ossis Recht, warum sind sie überall die Vorgesetzten?

– Weil die Ossis über den Tisch gezogen wurden.

Und was sagen die Politiker? Sie sind Demokraten, sie sagen, was die Mehrheit sagt. Die Mehrheit – das sind die Westdeutschen. Die Politiker, alle Politiker müssen auf sie hören, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Und wenn die Wähler meinen, der Osten sei schuld an ihrem Elend, so hören die Politiker gern auf sie. Denn wer sollte sonst schuld sein? Etwa die Regierung oder die Unternehmer, die man früher Kapitalisten nannte?

Die Erklärung ist viel einfacher, sieht man sie so: Vierzig Jahre Mißwirtschaft haben den Osten ruiniert und kosten den Westen das gute Geld, heißt es. Außerdem verstehen Ossis die Demokratie nicht, haben sie nicht gelernt und wählen daher falsch. Sie sind undankbar gegenüber den erwiesenen Wohltaten. Sie sind psychisch vom Sozialismus deformiert. Sie haben die Vergangenheit, ihre Vergangenheit noch nicht bewältigt.

Nein, wir sind nicht ein Volk, jedenfalls nicht politisch, nicht sozial. Die ethnische Einheit tritt hinter die aktuellen Interessenkonflikte, die die Politik produziert hat, zurück. Die Westrichter haben kein Recht, im Namen der Ossis über Ossis und deren Rechte zu urteilen. Sie haben kein Mandat der Ossis, ihnen fehlt die Legitimation. Über allen ihren Urteilen steht zu unrecht in großen Lettern: »Im Namen des Volkes«. Prozesse, in denen Westrichter über DDR-Handlungen, über Konflikte zwischen DDR- und BRD-Bürgern zu Gericht sitzen, werden den Kriterien der Europäischen Menschenrechtskonvention, die ein unparteiisches Gericht und einen fairen Prozeß verlangen, nicht gerecht.

Bewältigung der DDR-Vergangenheit ist dessen ungeachtet weiter das Heilmittel der Politik. Seit 1989 verordnet es der herrschende politische Westen dem kranken, beherrschten Osten. Der Rechtsstaat ward aufgerufen, die Medizin zu liefern. Die politische Justiz trat in Aktion. Was sie lieferte, werden wir sehen. Die Medien waren eilfertig bereit, den Brüdern und Schwestern alles zu verabreichen, was ihnen zur Bewältigung ihrer trostlosen Vergangenheit dienen konnte. Der durchschlagende Erfolg stellte sich trotzdem nicht ein, noch nicht. Die Therapie muß folglich fortgesetzt werden. Langzeittherapie ist angesagt.

Der damalige Bundesjustizminister, der vorherige BND-Chef und nachmalige Bundesaußenminister Kinkel sah das auch so. In seiner Begrüßungsansprache auf dem Deutschen Richtertag am 23. September 1991 in Köln erklärte er: »Ich baue auf die deutsche Justiz. Es muß gelingen, das SED-System zu delegitimieren, das bis zum bitteren Ende seine Rechtfertigung aus antifaschistischer Gesinnung, angeblich höheren Werten und behaupteter absoluter Humanität hergeleitet hat, während es unter dem Deckmantel des Marxismus-Leninismus einen Staat aufbaute, der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland, das man bekämpfte und – zu Recht – nie mehr wieder erstehen lassen wollte.«1

Die Justiz folgte ihrem Minister und der bereits im Kalten Krieg produzierten öffentlichen Meinung ausnahmslos. So sicher wie das Amen in der Kirche stand für sie fest, die DDR war ein Unrechtsstaat, das Unrecht mußte beseitigt werden. Kinkels Auftrag an die Justiz, die DDR zu delegitimieren, war ein politischer Auftrag.

Die DDR war ein völkerrechtlich anerkannter Staat, sie war legitim, die BRD hatte mit ihr Verträge geschlossen, zuletzt den Einigungsvertrag, die DDR war wie die BRD Mitglied der UNO, an ihrer Legitimität konnte kein Zweifel bestehen. Nach ihrem Untergang konnte sie folglich nicht delegitimiert werden, das war logisch und rechtlich unmöglich. Völkerrechtlich gibt es zudem keine illegitimen Staaten. Was der Minister von seiner Justiz verlangte, war somit rechtlich und logisch ein Unding. Es war ein politisches Ziel, eine politische Aufgabe, die der Justizminister verkündete. Es war politische Justiz, die der Justizminister des Rechtsstaats in Szene setzte. Und die Justiz, jedenfalls in Gestalt ihrer höchsten Richter, übernahm die ihr zugewiesene Aufgabe gern.

Zur Delegitimierung paßt der Unrechtsstaat, eines der geläufigsten Attribute, die der DDR verliehen wurden. Amerikanische Politiker, richtiger: Politiker der USA, sprachen vom Reich des Bösen und von Schurkenstaaten. Für Deutschland ist das wohl zu starker Tobak, man liebt es differenzierter, doch gemeint ist dasselbe. Manche wissen: Unrechtsstaat wurde auch der Hitlerstaat genannt. So werden DDR und Nazireich terminologisch unter einen Hut gebracht. So soll es sein. Staaten wie der Iran, in dem man zu Zeiten des Schah als Strafe noch Hände abhackte, oder die Türkei, in der man foltert und die Kurden brutal unterdrückt, das Chile Pinochets und das Apartheidregime Südafrikas wurden und werden nie Unrechtsstaaten genannt.

Unrechtsstaat ist übrigens kein Rechtsbegriff, er tut nur so. In keinem Rechtslexikon taucht er auf, in keinem Lehrbuch oder Kommentar wird er definiert. Unrechtsstaaten gibt es im Recht ebensowenig wie delegitimierte Staaten. Die Politik nutzt auch diesen Terminus nach Bedarf und bedient sich dabei der Psychologie. Sie hat von der Reklame, die sich jetzt Werbung nennt, viel gelernt. Besonders wirksam ist es, wenn man dem abwertenden Begriff noch einen aufwertenden gegenüber stellen kann: DDR gleich Unrechtsstaat, BRD gleich Rechtsstaat. Rechtsstaat ist zwar ein Rechtsbegriff, doch genau definiert ist auch er nicht. Die BRD hat ihn nach eigenem Bedarf definiert und sich selbst verliehen.

In anderen Sprachen gibt es kein Wort für Rechtsstaat. Jutta Limbach warnte schon 1995 vorsichtig: »Unser etwas großzügiger oder leichtfertiger Umgang mit dem Gegensatzpaar Rechtsstaat-Unrechtsstaat darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß diese Begrifflichkeit keine klare Grenzlinie bezeichnet, jenseits derer das Unrecht beginnt.«2 Und der Bürgerrechtler und Theologieprofessor Richard Schröder schrieb dazu: »Der Haken an dieser Auseinandersetzung um das Reizwort ›Unrechtsstaat‹ ist der, daß dies kein definiertes und kein lexikonfähiges Wort ist.«3

Für die Medien und damit für die Meinung der Mehrheit sind diese »Reizworte« jedoch meinungsprägend. Die Medienkonsumenten nehmen die Worte für bare Münze. Richter sind auch Medienkonsumenten.

Warum aber verlangte die Politik von der Justiz die Delegitimierung der DDR? Es ging ihr nicht ums Recht, wie das Wort »Delegitimierung« glauben machen will. Das Wort war und ist nur ein Tarnwort, das die politische Zielstellung verbergen soll: Tatsächlich geht es darum, die DDR in den Augen ihrer ehemaligen Bevölkerung, in den Augen aller Deutschen herabzusetzen, sie unattraktiv zu machen. Es geht darum zu zeigen, Sozialismus ist keine Alternative zur Marktwirtschaft, wie der Kapitalismus jetzt genannt wird. Kapitalismus, Globalisierung, Kürzungen des Sozialsystems sind alternativlos.

Der Name DDR steht bei diesen Politikern – im Gegensatz zu gewissen Linken – für Sozialismus. Sozialismus ist für sie durchaus nicht passé, ist immer noch ein Gespenst, das jederzeit zum Leben erwachen kann, denn sie wissen, was sie vorhaben, und sie fürchten die Reaktion der Leidtragenden auf ihre neoliberale Politik. Heiner Geissler fragt die Arbeiter schon: »Wo bleibt Euer Aufschrei?« Und der Ex-Generalsekretär der CDU fügt hinzu: »Der Tanz um das Goldene Kalb ist schon einmal schief gegangen.«4

Ist der Sozialismus ein Schreckgespenst und der Kapitalismus alternativlos? Wo stehen wir nach dem schrankenlosen Wirken der Marktwirtschaft eigentlich? Im Jahr 2004 gab es über 4 Millionen Erwerbslose, im Jahr 2005 erwarten manche mehr als 5 Millionen. Die Staatsverschuldung hat Rekordhöhe erreicht. Vieles ähnelt der Situation von 1929, d. h. der Situation vor dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise und der Situation vor dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Ende des schrecklichen Krieges wußten alle großen deutschen Parteien, worauf die deutsche Katastrophe zurückzuführen war. Kurt Schumacher, später Vorsitzender der SPD, erklärte 1945 in Kiel: »Auf der Tagesordnung steht heute als der entscheidende Punkt die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung und die Überführung der Produktionsmittel aus der Hand der großen Besitzenden in gesellschaftliches Eigentum, die Lenkung der gesamten Wirtschaft nicht nach privaten Profitinteressen, sondern nach Grundsätzen volkswirtschaftlich notwendiger Planung.«5 Und in das Parteiprogramm der rheinischen CDU, deren Vorsitzender damals Konrad Adenauer war, wurde 1947 die Erkenntnis aufgenommen: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen.

Inhalt und Ziel dieser sozialen und wirtschaftlichen Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben, sondern nur das Wohlergehen unseres Volkes sein. Durch eine gemeinschaftliche Ordnung soll das deutsche Volk eine Wirtschafts- und Sozialverfassung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht, dem geistigen und materiellen Aufbau unseres Volkes dient und den inneren und äußeren Frieden sichert.«

Die Erkenntnisse nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs wurden vergessen, im Kalten Krieg vergessen gemacht. Mit dem Geld der USA wurde der ohnehin reichere Teil Deutschlands zum Schaufenster des Kapitalismus gemacht und dem ärmeren Osten als lockendes Vorbild gegenübergestellt. Dem Arbeiter im Westen ging es besser als dem im Osten, also war Kapitalismus besser als Sozialismus. Nach dem Verschwinden des Sozialismus in Europa ist alles anders. Das Schaufenster wird nicht mehr gebraucht. Der Sozialismus steht dem Kapitalismus nicht mehr als konkurrierendes Gesellschaftssystem gegenüber. Man legt sich keine Beschränkungen mehr auf, Neoliberalismus heißt die Parole, den Markt soll nichts mehr fesseln, auch der Staat nicht, er soll auch schlank sein wie die Betriebe.

Man sollte sich daran erinnern, was man nach 1945 wußte.

Die Staatsanwälte und Richter, jene, die politische Justiz betrieben haben oder noch betreiben, sagen, es sei keine politische Justiz. Sie empfinden die Feststellung als Vorwurf und widersprechen. Es handle sich um echte kriminelle Handlungen wie Totschlag und Rechtsbeugung – von politischer Justiz könne keine Rede sein. So erklärte Jutta Limbach im Jahr 1992 in einem Diskussionsbeitrag auf einem Kolloquium über Regierungskriminalität laut Protokoll: »Klarzustellen sei, daß es hier um keinen politischen Prozeß geht. Der Strafprozeß wird auch nicht für bestimmte politische Zwecke mißbraucht.«6 Als sie zwei Jahre später, im Jahr 1994 über das Thema »Politische Justiz im Kalten Krieg« einen Aufsatz schrieb, hieß es darin: »Ob im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im NS-Regime, in der Bundesrepublik oder in der DDR, unter jeder Staatsform hat es Fälle und Phasen politischer Justiz gegeben.« Aber auch: »Man mag der Justiz vorwerfen, daß sie bei der strafrechtlichen Aufräumarbeit des SED-Unrechts nicht immer eine glückliche Hand gehabt hat. Doch daß sie rechtsstaatliche Garantien mißachtet haben, kann ihr nicht zur Last gelegt werden … Statt die Justiz in den Dienst der Politik zu stellen und die Demokratie mit Parteiverboten zu schützen, sollten wir nach wie vor auf den Stimmzettel und den politischen Diskurs vertrauen.«7

Es scheint, der Ton ist nach Ablauf von zwei Jahren anders geworden, nachdenklicher. In der Wendung von der Justiz, die nicht immer eine »glückliche Hand« hatte, klingt schon Selbstkritik an wie auch in der Mahnung, die Justiz nicht in den Dienst der Politik zu stellen. Es muß wohl für die spätere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts einen Grund für diese Mahnung gegeben haben. Und es ist wohl auch kein Zufall, daß Frau Limbach die Aufräumarbeit in einen Zusammenhang mit dem Kalten Krieg stellt. Das Verdikt »politische Justiz« wird von Frau Limbach jedoch über diese Phase nicht verhängt, es wird aber auch nicht mehr geleugnet. Natürlich war es politische Justiz, die die Vergangenheit der DDR bewältigte. Wie Frau Limbach sagt auch Kirchheimer: »Politische Prozesse sind unausweichlich. – Das hört sich wie eine Binsenwahrheit an. Dennoch möchte so mancher Jurist schlankweg bestreiten, daß es so etwas wie einen politischen Prozeß geben könne.«8 Und er zitiert den Satz eines schottischen Verteidigers aus dem 19. Jahrhundert, den jeder, der politische Prozesse erlebt hat, nur bestätigen kann: »Daran, daß jemand zwischen politischen und anderen Delikten keinen Unterschied sieht, kann man mit Sicherheit erkennen, daß er ein Hitzkopf oder ein Dummkopf ist.«9

Kirchheimer sagt auch: »Ebensogut kann es sein, daß sich eine neue Elitegruppe, der giftsprühende Angriffe auf die Ehre und Sauberkeit ihrer Vorgänger zur Macht verholfen haben, einen Gewinn davon verspricht, daß sie die Vergangenheit der Besiegten durchkämmt und genug Schmutz aufwirbelt, um die Männer des gestürzten Regimes auf die Anklagebank zu bringen. Macht­haber vom totalitären Schlage, die gerade an die Macht gekommen sind, können selten der Versuchung widerstehen, mit der alten Ordnung liierte Gruppen, die kaum je den Gefahren politischer Strafverfolgung ausgesetzt waren, auf besondere Art in Mißkredit zu bringen …«10 So geschieht es seit 1990 hier. Die neuen Machthaber sind zwar nach allgemeiner Terminologie nicht vom totalitären Schlage, doch widerlegt das den Kern der Aussage von Kirchheimer nicht, es ist nur ein Indiz für die Unbegründetheit der Totalitarismustheorie.

Da ich einige Male Otto Kirchheimer zitiert habe, sei er hier vorgestellt: Kirchheimer war jüdischer Jurist und Gewerkschafter. Vor den Nazis mußte er in die USA fliehen. Dort schrieb er 1961 das Buch »Politische Justiz«, das 1963 ergänzt und in deutscher Übersetzung in der BRD veröffentlicht wurde. Es gilt als Standardwerk auf diesem Gebiet. Kirchheimer war natürlich kein Nazifreund, kein Rechter, er war aber auch kein Kommunist. Der DDR war er nicht zugetan. Er dürfte für jedermann, der nicht Nazi ist, glaubwürdig sein.

Politische Justiz ist nirgendwo hoch angesehen. Justiz soll gerecht, soll unparteiisch und unpolitisch sein. Ohne Ansehen der Person, daher die Binde vor den Augen, soll sie ihr Urteil sprechen. Man weiß, daß es politische Justiz gibt, doch soll es sie nur bei den Anderen, den Bösen geben. Im Rechtsstaat, der sich angeblich dadurch auszeichnet, daß sich die Politik nach dem Recht richtet und nicht umgekehrt, erscheint sie begrifflich ausgeschlossen. Doch wer will leugnen, daß das Recht vom Parlament, also von der Politik gemacht wird und Richter und Staatsanwälte daran gebunden sind? Wer will leugnen, daß die höchsten Richter von den Parteien gewählt, man könnte auch sagen: ernannt werden? Diese suchen natürlich die Kandidaten nach ihren, d. h. nach parteipolitischen Gesichtspunkten aus. Der Primat des Rechts, die Unabhängigkeit der Justiz ist bestenfalls eine Illusion, schlimmstenfalls eine Lüge. Illusion oder Lüge werden durch die freie Presse verbreitet und genährt. Schließlich verliert das Recht, verliert die Justiz an politischem Einfluß, wenn zugegeben wird, daß Recht und Justiz Mägde der Politik seien.

Kinkel gab der Justiz nicht nur vor, die DDR zu delegitimieren, er wiederholte zugleich wichtige Argumentationshinweise für Justiz und Medien aus der Zeit des Kalten Krieges. Er sagte denen, die es im Westen noch nicht wußten, daß die DDR ein Staat gewesen sei, »der in weiten Bereichen genauso unmenschlich und schrecklich war wie das faschistische Deutschland«. Da mußte natürlich aufgeräumt werden, da durfte man nicht erneut versagen, wie die Väter bei der Bewältigung des NS-Unrechts versagt hatten. Niemandem fiel auf, daß man so handeln wollte, richtiger: so handeln sollte, wie die Nazis vom Moment ihrer Machtergreifung bis zu ihrem Untergang gehandelt hatten: die Kommunisten als den Hauptfeind verfolgen.

Kinkels Darstellung der DDR entsprach und entspricht durchaus dem in der (alten) BRD herrschenden Bild von dem anderen Teil Deutschlands. Immer dieselbe Gleichstellung der DDR mit dem faschistischen Deutschland, zwar nur partiell, aber eben doch »in weiten Bereichen«. Von dieser Basis aus startete die BRD die Bewältigung der DDR-Vergangenheit, ihre Delegitimierung. Einerseits wird gesagt, vergleichen heiße nicht gleichsetzen, andererseits wird tatsächlich immer wieder gleichgesetzt. Eine artistische Argumentation, keine solide und stichhaltige.

Auf derselben Linie liegt die offizielle, nahezu unbestrittene Wertung der DDR als die zweite deutsche Diktatur. Die erste deutsche Diktatur war danach das Nazireich. Jahrhunderte hat Deutschland bestanden, nie soll es dort Diktaturen gegeben haben, und auf einmal, wie aus heiterem Himmel, gab es in Deutschland hintereinander zwei Diktaturen, beide totalitaristisch, beide sozialistisch. Alles gleich. Unwesentlich, daß die DDR im Gegensatz zum Nazistaat keine Juden umbrachte, keine KZ hatte, keine Kriege führte und die Kapitalisten enteignete, die in Nazideutschland Zyklon B für die Gaskammern geliefert und am Krieg verdient hatten. Die DDR hat Deutschland auch nicht am Hindukusch verteidigt.

Wenn also die DDR die zweite und der Hitler-Staat die erste deutsche Diktatur waren – was war dann davor? Die Formel suggeriert, vor 1933 herrschte in Deutschland eitel Sonnenschein, alles war freiheitlich, demokratisch, rechtsstaatlich, geradezu idyllisch. Huldvolle Könige, liebe Prinzessinnen. Alles gute Demokraten, bis die braunen und die »rotlackierten Nazis« (Schumacher) dem deutschen Volk Unglück brachten. So war aber die deutsche Geschichte nicht.

Manche, vor allem die Betroffenen, nennen die deutsche Art von Vergangenheitsbewältigung Siegerjustiz. Es ist ein Reizwort, das die Sieger nicht gelten lassen wollen. Doch Sieger war die Bundesrepublik schließlich, das kann keinem ernsthaften Zweifel begegnen, und ihre Justiz war es auch, die die Vergangenheit bewältigte. Allerdings weckt das Wort Assoziationen zu Fallbeil, Galgen und Erschießungskommando. So aber ist diese Siegerjustiz nicht. Sie ist subtiler, nicht so hemdsärmelig, mit sauberer rechtsstaatlicher Formvollendung. Aber sie ist Justiz der Sieger, eben Siegerjustiz.

Deutschland hat im 20. Jahrhundert im Westen dreimal und im Osten viermal einen Wechsel des politischen Systems erlebt, vom Kaiserreich zur Republik, von der Republik zum NS-Staat und von diesem in die Bundesrepublik bzw. in die DDR und aus dieser in die Bundesrepublik. Es erscheint nützlich, den letzten Systemwechsel mit früheren, die jetzige Vergangenheitsbewältigung mit vorangegangenen zu vergleichen.

Es gibt Leute, kluge Leute, die sagen, Vergangenheit kann man nicht bewältigen, sie ist abgeschlossen, unveränderlich, der Begriff sei falsch. Das sehe ich auch so, es stört mich jedoch nicht. Vergangenheitsbewältigung ist ein typisches Schlagwort der herrschenden Politik wie Unrechtsstaat. Es suggeriert, die Vergangenheit war schlecht, war böse, sie muß bewältigt, sie muß überwunden werden. Jeder kennt diese Worte, jeder weiß, was gemeint ist. Scheinbar wertfrei enthalten sie doch Unwerturteile, manipulieren sie über das Unterbewußtsein Meinungen. Sei es drum, ich übernehme diese und andere giftige Worte der Meinungsmacher, spare mir die an sich gebotenen Anführungszeichen und hoffe, der folgende Text wird sie entlarven, wird Klarheit über ihre Hinterhältigkeit bringen.

Auch für Sozialisten ist die Auseinandersetzung mit der DDR erforderlich. Sie quält die Vergangenheit. Auch ohne Verordnung ihrer Bewältigung suchen sie Antwort auf schwer zu beantwortende Fragen: War es falsch, sich für den Sozialismus zu entscheiden, war unser Leben umsonst, welche Fehler haben wir in der DDR gemacht, was wird aus uns, aus der Menschheit werden?

Hier wird nicht versucht werden, diese Fragen zu beantworten. In diesem Buch geht es nur um eine Erwiderung auf die gröbsten und häufigsten Angriffe der Schönredner der Marktwirtschaft und der Schlechtredner des Sozialismus. Mich erregen die Provokationen der herrschenden Vergangenheitsbewältiger. Sie beherrschen die Medien, nur sie sind zu hören. Die, deren Vergangenheit bewältigt werden soll, haben kaum eine Stimme. Meinungsfreiheit, Pressefreiheit sind schön für die Eigentümer der Medien. Paul Sethe, ein berühmter Journalist, kein Roter, sagte: »Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten.«11 Was ist das gesprochene Wort in einer Versammlung, was ist ein Buch gegen eine Zeitung, was ist eine Zeitung gegen das Fernsehen?

Dennoch, wenn auch der Kreis der Adressaten klein ist, es muß einmal etwas anderes über die DDR und den Sozialismus geschrieben werden – auch von einem Juristen, der für Fragen der Vergangenheit nicht kompetent ist. Die Historiker mögen nachsichtig sein: wes das Herz voll ist, des geht der Mund über.

Friedrich Wolff

Berlin im Herbst 2004

1 Deutsche Richterzeitung, 1992, S. 4 f.

2 Limbach, Jutta, Die richterliche Unabhängigkeit – ihre Bedeutung für den Rechtsstaat, Neue Justiz 95, S. 283

3 Richard Schröder, Neue Juristische Wochenschrift 1999, S. 3312

4 Heiner Geißler, Die Zeit, 11.11.2004

5 Miller/Potthoff, Kleine Geschichte der SPD, 7. Aufl. 1991, Bonn, S. 379

6 Jutta Limbach, Diskussionsbeitrag in Lampe (Hrg.), Die Verfolgung von Regierungskriminalität nach der Wiedervereinigung, Köln 1993, S. 80

7 Jutta Limbach, Politische Justiz im Kalten Krieg, Neue Justiz 1994, S. 49 ff.

8 Otto Kirchheimer, Politische Justiz, Hamburg 1993, S. 81

9 ebenda S. 83

10 Otto Kirchheimer, Politische Justiz, Hamburg 1993, S. 90

11 zitiert nach einem Leserbrief von Horst Schneider, Dresden, in junge welt v. 7.9.2004

Rückblick und Erinnerung an den Geschichtsunterricht

Das deutsche Biedermeier und die Demagogenverfolgung

Wie also sah es in Deutschland vor der ersten deutschen Diktatur, etwa zu Beginn des 19. Jahrhunderts, aus? Deutschland war in viele Staaten geteilt, die von Königen oder Fürsten regiert wurden. Des Volkes Wille galt nirgendwo etwas. In den Köpfen der Deutschen rumorte allerdings der Geist der Französischen Revolution um 1789. Dichter wie Schiller, Bürger, Lenz, Heine und andere verlangten nach mehr Freiheit und Gerechtigkeit. Sie nannten die herrschenden Könige und Fürsten Tyrannen, Schillers Motto der »Räuber« hieß »in tyrannos«.

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