Einsamkeit ist kein Symptom - Elisabeth Drimalla - E-Book

Einsamkeit ist kein Symptom E-Book

Elisabeth Drimalla

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Beschreibung

»Sie sind der Erste, der uns lebend verlässt.« Elisabeth Drimalla erzählt die Geschichte des 55-jährigen krebskranken Lukas Wagner, der, nachdem er sich schon zum Sterben ins Hospiz zurückgezogen hatte, noch einmal ins Leben aufbricht. Er fährt auf der Number One von Venice Beach bis Bodega Bay und begegnet zwischen Felsschluchten, tosenden Wellen, Edward Hopper Bildern und E-Mail-Nachrichten aus dem Hospiz drei ganz unterschiedlichen Frauen. Er schwankt zwischen Abenteuer, Angst und Liebe. Erst als Lukas durch die Erinnerung an eine längst vergangene Tragödie akzeptiert, dass auch Schuld und Verlust zum Leben und zur Liebe gehören, erkennt er, was er will und ergreift seine zweite Chance.

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Seitenzahl: 258

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Einsamkeit ist kein Symptom

von Elisabeth Drimalla

Buchbeschreibung:

Elisabeth Drimalla erzählt die Geschichte des 55-jährigen krebskranken Lukas Wagner, der, nachdem er sich schon zum Sterben ins Hospiz zurückgezogen hatte, noch einmal ins Leben aufbricht. Er fährt auf der Number One von Venice Beach bis Bodega Bay und begegnet zwischen Felsschluchten, tosenden Wellen, Edward Hopper Bildern und E-Mail-Nachrichten aus dem Hospiz drei ganz unterschiedlichen Frauen. Er schwankt zwischen Abenteuer, Angst und Liebe. Erst als Lukas durch die Erinnerung an eine längst vergangene Tragödie akzeptiert, dass auch Schuld und Verlust zum Leben und zur Liebe gehören, erkennt er, was er will und ergreift seine zweite Chance.

Die Autorin:

Elisabeth Drimalla lebt und arbeitet in Hannover, sie ist Ärztin und Psychotherapeutin in eigener Praxis mit Schwerpunkt Paar- und Sexualtherapie. 2015 erschien ihr Ratgeberbuch 'Amor altert nicht – Paarbeziehung und Sexualität im Alter' bei Vandenhoeck & Ruprecht. 2017 schloss sie ihr Fernstudium Prosaschreiben bei der Textmanufaktur erfolgreich ab. 'Einsamkeit ist kein Symptom' ist ihr erster Roman. Eine eigene Reise im Wohnmobil auf der Number One durch Kalifornien inspirierte die Autorin zu dem Schauplatz der Geschichte. Sie ist Mitglied des Autor:innenzentrums Hannover.

Impressum

© 2025 Baltrum Verlag GbR

BV 2511 – Einsamkeit ist kein Symptom von Elisabeth Drimalla

Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR

Lektorat: Baltrum Verlag GbR

Korrektorat: Baltrum Verlag GbR, Dr. Hans Jörg Springer

Herausgeber: Baltrum Verlag GbR

Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch

Internet: www.baltrum-verlag.de

E-Mail an [email protected]

Druck: epubli

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Einsamkeit ist kein Symptom

Elisabeth Drimalla

Baltrum Verlag

Weststraße 5

67454 Haßloch

1

»Sie sind der Erste, der uns lebend verlässt.«

Beata sah mich an, als sollte ich mich darüber freuen. Sie hatte ihre blonden Haare zu einem Schulmädchenzopf geflochten, dem die kleinen Fältchen um ihre Sommerhimmel-Augen widersprachen. Ein schlichtes goldenes Kreuz um den Hals war ihr einziger Schmuck.

»Wo werden Sie hingehen?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht.« Ich griff nach meiner Armbanduhr auf dem Nachttisch. Sie fühlte sich kühl an und schwerer als ich sie in Erinnerung hatte. Vier Uhr. Sie war stehen geblieben, wie die Zeit hier. Augenblick und Ewigkeit. Pünktlichkeit war mir immer wichtig gewesen.

Beata begann mein Bett abzuziehen, während ich den abgestoßenen Lederkoffer vom Schrank nahm. Die bunten Aufkleber waren verblasst, Vorher-Orte. Aber auch hier gehörte ich nicht mehr dazu. Das Ergebnis der Computertomographie war da, der Tumor war von kindskopf- auf pflaumengroß geschrumpft. Die Laborwerte hatten sich normalisiert. Der Arzt sprach von einem Wunder. »Eine Fehldiagnose, damals im Krankenhaus«, sagte er hinter der Tür zu seinem Kollegen. Dabei war mir Fehldiagnose sogar lieber, Wundern traute ich nicht.

Vor einem halben Jahr war es hoffnungslos gewesen, zu spät für jede Therapie. Damals, vor einem halben Jahr erst, als ich hierherkam, nachdem das Krankenhaus mich schnell hatte loswerden wollen. So hell und ruhig war es hier gewesen, die Wände in apricot gestrichen. Hier im Zwischenreich roch es leicht nach Orangen und frischem Brot. Nicht nach Desinfektionsmitteln. Zwischenreich. Beata hatte den Ausdruck aufgegriffen. Es war unser Wort geworden.

Ich öffnete den Koffer. Zwei Bücher waren noch darin, 'Nachtzug nach Lissabon' und die 'Liebesblödigkeit', letzteres ein Geschenk von Greta. Außerdem ein Foto von ihr mit Rahmen. Greta lachte mich an, im Hintergrund die Wellen der Nordsee. Der Wind zauste an ihrer roten Lockenmähne. Nichts davon hatte zu meinem Leben hier gehört. Unser letzter Urlaub, danach hatte ich mich nicht mehr bei Greta gemeldet. Mitleid brauchte ich nicht und den Zeitpunkt des Abschiedes bestimmte ich.

Beata saß jetzt mit ihrem Klemmbrett auf den Knien in dem Ohrensessel meines Vaters. Der Sessel aus braunem stumpfem Leder war das einzige Möbelstück, das ich ins Hospiz mitgenommen hatte.

»Den Sessel lasse ich hier.«

Beata notierte es und machte einige Haken auf dem Papier. Damals hatte sie mir beim Einräumen geholfen. Jetzt packte ich Unterhosen, Socken, die zwei Hemden und den leichten grauen Anzug, den ich im Sarg hatte tragen wollen, zurück in den Koffer.

»Noch Puls und Blutdruck, ist Vorschrift«, sagte Beata. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem Zopf gelöst und fiel ihr ins Gesicht. Ich hätte sie gern zurückgestrichen, setzte mich aber auf das abgezogene Bett und hielt ihr meinen Arm hin. Sie umfasste mein Handgelenk und blickte auf den Sekundenzeiger ihrer Uhr. Dann sah sie mich an. Es war mehr als Ansehen, es war Beruhigen, Interesse, Mitgefühl. Wehmut?

»Sind Sie aufgeregt?«

»Es ist Angst, verdammte Angst.«

Dass ich so etwas sagen konnte. Aber so war es im Zwischenreich, es blieb nur eine kurze Zeit miteinander und es galt nichts mehr zu beweisen.

Beata griff in ihre Kitteltasche und gab mir eine runde, flache Metalldose, die aussah wie eine zugeklappte Taschenuhr. Sie blickte mich mit mütterlicher Fürsorge an. »Den werden Sie brauchen. Und hier meine E-Mail-Adresse, für alle Fälle.«

Ich öffnete den Deckel. Hinter Glas ein Stern, in der Mitte eine zitternde Nadel. Ich richtete den Kompass aus. Das Hospiz lag im Westen. Beata drehte sich um und ging zur Tür, zögerte, kam wieder auf mich zu, umarmte mich und küsste mich auf beide Wangen, bevor sie endgültig die Tür hinter sich schloss. Ein zarter Vanilleduft blieb von ihr im Zimmer zurück und auf meinen Wangen der Hauch ihrer Lippen, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Mein Unterleib wurde warm und eine leichte Erektion erinnerte mich daran, dass zumindest mein Körper sich noch nach dem Leben sehnte.

2

So schnell wollte ich das Hospiz nicht verlassen, wollte noch einmal durch den Park gehen, noch einmal an dem Fliederstrauch riechen, noch einmal unter dem Dach der Kastanie stehen. Ich stellte meinen Koffer ab und atmete tief durch. Es roch nach frisch gemähtem Gras. Und nach Leben, hätte Schwester Beata ergänzt. Ich hob einige Grashalme auf und steckte sie zu dem Kompass in die Tasche meines Trenchcoats. Dann ging ich zur Straße, ohne mich umzudrehen, und stieg in den Bus zum Bahnhof. Mir gegenüber saß eine junge Frau, mit kurzen schwarzen Haaren und rosigen Wangen, wie es sie im Zwischenreich nicht gegeben hatte. Sie trug einen engen hellgrünen Rock und eine weiße Bluse. Vielleicht fuhr sie von der Arbeit nach Hause. Die Frau blickte auf ihr Smartphone, tippte, pling, runzelte verärgert die Stirn, tippte kräftiger, die empfangene Nachricht schien unerfreulich. Die Frau holte tief Luft, tippte nochmal, schmiss ihr Handy in die olivgrüne Tasche. Pling, sie holte es wieder heraus, las, schüttelte den Kopf. Unsere Blicke kreuzten sich.

»Ist er den Ärger wert?« Ich hatte meine Gedanken laut ausgesprochen und erschrak, versuchte, vorsichtig zu lächeln. Ihre Augen verengten sich und blickten in die Ferne.

An der nächsten Haltestelle füllte sich der Bus. Ein Mann mit Halbglatze stieg ein, um die fünfzig. Oder war er sogar jünger als ich? Sein schmuddeliges rotes T-Shirt ließ einen Streifen des Bauches frei, der über den Gürtel seiner Jeans hing. Er wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn, damit er ihm nicht in die Augen lief. In der ersten Zeit meiner Erkrankung war ich neidisch gewesen auf die Gesunden. Jetzt gehörte ich selbst wieder dazu.

Eine Haltestelle vorm Hauptbahnhof stieg ich aus. Vor dem Auszeit, in dem ich manchmal in der Mittagspause gesessen hatte, saß ein junges Pärchen, das sich gegenseitig mit Kuchen fütterte. Ich setzte mich an den Nebentisch und bestellte einen Cappuccino wie früher. Der Kellner schien sich nicht an mich zu erinnern und ich beließ es dabei. Was hätte ich sagen sollen? ›Ich bin Lukas Wagner, erinnern Sie sich an mich?‹ Ich wusste selbst nicht, wer ich eigentlich war. Die Sonne wärmte mein Gesicht; Frühling, lockend, vielversprechend, so wie die Frauen, die ich geliebt hatte, die so viel versprachen, so viel Sehnsucht nach Leben weckten und so wenig einlösten. Hatte ich schon gefrühstückt? Dieses mulmige Gefühl im Bauch, dieses Kribbeln, das »Hunger-auf-Leben-Gefühl« hatte Beata es immer genannt.

Meine Hand in der Manteltasche, dort lag der Kompass, er war schon warm in meiner Hand geworden. Ich legte ihn auf den Tisch. Wo sollte ich hin? Meine Wohnung hatte ich aufgegeben. Viel Geld hatte ich nicht mehr, den Großteil hatte ich der Krebshilfe gespendet. Von meiner Pension würde ich kaum leben können. Auf meinen inneren Kompass zu hören, erforderte Mut und war nicht meine Stärke.

Ich griff zu einer der ausliegenden Tageszeitungen und begann sie durchzublättern. Zuerst schlug ich immer die Todesanzeigen auf und verglich das Alter der Verstorbenen mit meinem eigenen. Eine alte Angewohnheit. Früher beruhigte es mich, wenn die Verstorbenen älter waren als ich. Manchmal war es auch eine Mischung aus Genugtuung und Schuldgefühl, Jüngere zu überleben. Heute ließ es mich kalt. Ich blätterte weiter und blieb an einem Reisebericht über Kalifornien hängen: 'California Dreamin' – Sehnsüchte, Glück und Illusionen'. Wind im Haar, steile Klippen, Spaziergänge am Meer, wieder den Sand unter den Füßen spüren, aufwachen und ins Meer laufen. Beata und ich sitzen am Strand und blicken auf die untergehende Sonne. Kitschiger geht's nicht mehr. Lächerlich, sie hatte ihre Arbeit im Hospiz, vielleicht sogar einen Freund. Im Hospiz hatte es für mich keine Welt draußen gegeben und auch für Beata hatte ich mir keine vorgestellt.

Ich begann zu lesen: Vier Wochen mit dem Wohnmobil auf dem Highway Number One ...

Warum nicht, warum jetzt nicht einfach nach Kalifornien fliegen? Am besten allein? Auf Reisen fühlte ich mich schon immer sicher. Man konnte dem Schicksal entwischen. Außerdem würde ich Zeit gewinnen, müsste mir keine neue Wohnung suchen, bis zur Abreise könnte ich in einem Hotel wohnen. Kalifornien mit dem Wohnmobil, das hatte ich Greta immer wieder vorgeschlagen, aber sie hatte Flugangst. Ich habe andere Ängste, aber keine Flugangst. Vielleicht wäre die Krebshilfe bereit, mir einen kleinen Betrag von meiner Spende als Darlehen zu geben. Der Kompass wurde mir langsam unheimlich, er machte mich leichtsinnig, brachte mich auf völlig verrückte Ideen. Ich steckte ihn wieder in die Manteltasche, überrascht, dass er inzwischen nicht glühte.

3

Eine Woche später saß ich wieder im Auszeitund wartete auf Frau Dr. Lena Rausch. Um Geld zu sparen, hatte ich in einem Internet-Forum schließlich doch nach ›Partner/Partnerin für Kalifornienreise im Wohnmobil‹ gesucht. Es hatten sich sechs Männer und zwei Frauen gemeldet. Es war angenehmer, mit einer Frau auf so kleinem Raum zusammenzuleben. Ich habe eine sehr feine Nase und Frauen riechen einfach besser. Außerdem würde es dann weniger Absprachen erfordern, wer das Wohnmobil fuhr. Lena Rausch war sieben Jahre älter als ich. Das war gut so, bloß nicht noch mal verlieben. Es hatte sich auch eine jüngere Frau gemeldet, aber ich wollte kein Risiko eingehen. Alle Beziehungen waren nach einiger Zeit schwierig geworden. Die Frauen hatten mich eingeengt und zu bestimmen versucht. Dann die Vorwürfe, immer wollten sie mich anders, offener, spontaner. Die Liste ließe sich fortsetzen. »Genieße doch einfach das Leben«, hatte Greta gesagt.

Die Reise plante ich für vier Wochen, eine überschaubare Zeit. Lena Rausch war außerdem Chirurgin im Ruhestand und eine Ärztin an Bord könnte von Vorteil sein. Immerhin hatte ich gerade erst das Hospiz verlassen.

Die meisten Gäste um diese Zeit kamen zum Mittagstisch, aus den Büros oder Kanzleien in der Nähe, so wie ich früher. Jetzt gehörte ich nicht mehr dazu und war froh, dass ich niemanden traf, den ich kannte. Leichtsinnig von mir, dieses Lokal vorzuschlagen, aber es war in der Nähe des Bahnhofs und das Essen war gut. Die Eingangstür wurde schwungvoll aufgestoßen und eine zierliche Frau mit schulterlangem, glattem kastanienbraunem Haar kam herein und blickte sich suchend um. Lena Rausch? Nein, zu jung, aber als sie mich fragend ansah, nickte ich leicht. In ihrer weißen Bluse und der türkisfarbenen Hose und Strickjacke erinnerte sie mich an einen kühlen frischen Morgen am Meer. Sie kam auf meinen Tisch zu, lachte und streckte mir die Hand hin. »Lena Rausch.« Ehe ich mich vorstellen konnte, fuhr sie fort, »Lukas Wagner?« Ich nickte und ergriff ihre Hand. Einen so kräftigen Händedruck hatte ich nicht erwartet. »Danke, dass Sie nach Hannover gekommen sind.«

»Kein Problem, ich bin auf der Durchreise nach Hamburg zu meinen Brüdern. Natürlich wäre es aufregender gewesen, sich erst auf dem Flughafen zu treffen, aber die Menschen sind verschieden.«

Ich blickte in seegrüne Augen, die mich unbekümmert musterten. Wie würde ihr Urteil ausfallen? Das konnte mir nun egal sein.

Der Kellner kam an unseren Tisch und Frau Rausch bestellte Bratwurst mit Kartoffelpüree und Sauerkraut. Immerhin schien Sie keine dieser Frauen zu sein, die nur Salat aßen. Ich nahm das gleiche.

»Die erste Übereinstimmung zum Abhaken«, sagte Lena Rausch.

»Falls wir Übereinkommen zusammen nach LA zu fliegen«, sagte ich, »schlage ich vor, dass wir in Venice Beach einige Tage zwei Einzelzimmer nehmen, um entscheiden zu können, ob wir zusammen weiterreisen wollen. Ich werde das Wohnmobil mieten, es dann natürlich auch selbst fahren und wir können uns jederzeit trennen, wenn einer von uns das möchte.«

Sie nickte. »Warum wollen Sie diese Reise machen?«

»Im Augenblick habe ich nichts Besseres vor.«

»Wow, was für eine Motivation.«

Ehrlichkeit wurde selten belohnt. »Und Sie?«, fragte ich.

»Abenteuer, spannend, sich auf diese Weise kennen zu lernen. Wie bist du auf die Idee gekommen?« Sie war zum 'Du'übergegangen.

»Zu zweit ist es billiger.«

»Noch solch eine Antwort und ich komme nicht mit.«

Ich lachte und suchte nach einer charmanteren Erwiderung, war aber aus der Übung. »Wahrscheinlich bin ich im tiefsten Herzen doch ein Abenteurer.« Ich setzte noch hinzu »no risk no fun«, das kam meistens gut an.

»Schon besser.«

Der Kellner brachte das Essen und ich konnte mich etwas entspannen. Wir lobten den Mittagstisch und ausnahmsweise auch mal das Frühlingswetter der letzten Wochen.

Kaum hatten wir aufgegessen, blickte Lena auf ihre Uhr. »Ich muss los. Mailen Sie mir einfach Ihre Flüge. Entweder bin ich dann am Flughafen oder nicht. Falls Sie mit jemand anders fliegen wollen, geben Sie mir bitte bis Ende der Woche Nachricht.«

Jetzt wieder 'Sie'? Mir war es recht, keine zu schnelle Vertraulichkeit, aber wahrscheinlich hatte ich Lena enttäuscht und verärgert.

Ich holte den Zettel mit den Flugzeiten aus meiner Manteltasche und reichte ihn ihr. »Es wäre schön«, sagte ich, aber Lena war mit dem Zettel in der Hand schon an der Tür und ließ mich verwirrt zurück.

Ich griff nach meinem Notizheft in der Hosentasche, schlug es auf und schrieb Lena Rausch: Augenfarbe: seegrün, Gang: Katze, Stimme: voll, warm, Geruch: Wie die Luft nach einem Regenschauer, mit etwas Zitrone. Besondere Kennzeichen: viel Gestik beim Sprechen.

Da ich unter einer leichten Form der angeborenen Prosopagnosie leide, der Unfähigkeit, Gesichter als Ganzes zu erkennen, achte ich auf die Stimme, Augenfarbe, Gang und Geruch von Menschen und notiere sie mir, wenn es mir wichtig ist, sie wieder zu erkennen. Der deutsche Ausdruck für diese Schwäche ist Seelenblindheit. Ich benutze ihn aber nicht. Er macht mir Angst.

4

Das Sonnenlicht blendete mich. Ich hatte gestern Abend vergessen, den blickdichten Vorhang zuzuziehen. Ich schloss die Augen und versuchte, die Fetzen meines Traumes festzuhalten, ehe sie sich ganz auflösten. Schwester Beata hatte darin an meinem Bett gesessen und meine Hand gehalten, während der Arzt zu mir sagte: »Wissen Sie denn nicht, dass Sie hierhergehören?« Auf dem Unterarm des Arztes war eine achteckige Burg mit acht Türmen eintätowiert, die wie eine Krone aussah. Es musste das Castell del Monte sein, über das ich vor kurzem gelesen hatte. Ich erinnerte mich an die Zahl acht als Symbol für das Unendliche und die Ewigkeit, für Glückseligkeit, aber auch für Gerechtigkeit und Fülle. Der Traum war angenehm, wie im warmen Wasser schwimmen, während am Beckenrand Schnee liegt.

Als ich die Augen öffnete, sah ich als erstes an der Wand einen großen dunklen Flachbildschirm. Darunter standen ein Hotelschreibtisch und ein schwarzer Kunstlederstuhl, auf dem meine Jeans und mein bordeauxfarbenes Jackett lagen. Ich hatte Hotelzimmer noch nie gemocht, fühlte mich dort noch einsamer als sonst. Niemand hinterließ in den Zimmern Spuren, auch ich nicht. Der Mann, der mir aus dem Spiegel neben dem Schreibtisch entgegenblickte, hatte dunkle Ringe unter den blaugrauen Augen und das volle kurze Haar war grau geworden. Das Gesicht war schmal geworden, aber das Grübchen am Kinn gab es noch. Ich fühlte mich müde, und mein Rücken schmerzte. Wir waren gestern spät im Hotel Erwin in Venice Beach angekommen. Lena Rausch und ich. Ich hatte mich schon darauf eingestellt, allein zu reisen, als ich sie am Gate in Frankfurt entdeckte. Fast wäre ich auf sie zugelaufen und hätte sie in die Arme genommen, so überrascht war ich.

Sie teilte mir mit, dass sie Business Class gebucht hatte, und wir sahen uns erst am Kofferband in LA wieder. Hoffentlich war das kein Fehler mit ihr. Sie machte, was ihr gerade in den Sinn kam, war voller Energie und schien keinem Genuss abgeneigt. Das war zu viel für mich. Noch konnte ich auch allein weiterreisen. Mein Hals war trocken, ich holte mir ein Wasser aus der Minibar und ging auf den kleinen Balkon.

Das Zimmer lag zum Hinterhof im zweiten Stock. Gegenüber eine bemalte Mauer, eine Filmszene aus den Fünfzigern. Ein Mann in schwarzem Anzug öffnete einer Frau im Abendkleid die Autotür von einem Benz. Im Hintergrund die glitzernde Großstadt, LA? Die Frau lächelte verführerisch. In der linken Ecke der Mauer stand in weißer Schrift: 'Like a dream I remember from an easier time ...'Lenas Zimmer lag schräg über mir. Sie war gestern Abend nach dem langen Flug frisch und munter, wie nach einem Wellness-Wochenende, an den Strand spaziert, während ich Mühe hatte, die Augen aufzuhalten, mich mit schmerzenden Knien und geschwollenen Füßen wie ein alter Mann fühlte und mich früh schlafen legte.

Ich war nicht mehr gewohnt, mich mit jemand anderem abzustimmen, wenn ich es überhaupt je konnte. Im Hospiz hätte es genug Arbeit für mich gegeben, im Büro oder der Verwaltung. Stattdessen reiste ich völlig sinnlos mit einer unbekannten aufgedrehten alten Frau durch Kalifornien.

Als ich zum Frühstück in die Bar im Hotel ging, saß dort schon Lena an einem der runden Bistrotische. Vor sich hatte sie einen Teller mit einem fünffach geschichteten Blaubeer-Pfannkuchen und eine große Tasse Milchkaffee. Sie schaute auf den riesigen Bildschirm, der an der Wand gegenüber hing. Es lief 'Manche mögen's heiß'. Hinter der Theke zischte die Kaffeemaschine heißen Wasserdampf aus einer Düse und schäumte damit Milch in einer Tasse.

»Guten Morgen.«

»Es kommt nicht darauf an, wie lange man wartet, sondern auf wen man wartet«, antwortete Lena.

»War das ein Kompliment?«

»Nein, ein Filmzitat. Wissen Sie was, Mr. Feelding? Sie sind wie Dynamit.« Lena grinste »Ich nenne dich aber trotzdem Lukas. Schade, dass du gestern Abend nicht mehr mit am Strand warst.«

Ich nickte und bestellte einen Milchkaffee und Spiegeleier mit Speck bei der blonden jungen Kellnerin. Sie hatte ein Adlertattoo auf dem Oberarm und lächelte, als hätte ich ihr gerade eine große Freude gemacht. Vielleicht sollte ich sie fragen, ob sie mit mir reisen wollte.

»Lena, wir können uns immer noch entscheiden, getrennt zu reisen oder nur für eine Zeit und uns dann wieder treffen.«

»Angst gekriegt? Schade, damals im Forum dachte ich, wow, das ist ein Abenteurer, das kann spannend werden.« Ihr Blick ging wieder zu 'Manche mögen's heiß'. »Jetzt denke ich, sieht aus wie Kevin Costner und spielt Forrest Gump.« Sie sah mich wieder an und schien die Wirkung ihrer Worte zu überprüfen.

»Was für ein ganz besonderes Kompliment«, sagte ich.

Ihre Fragerei und ihre Selbstgefälligkeit nervten mich.

»Also, wie bist du auf diese Idee gekommen und warum mit mir?« Sie redete, als wären wir alte Bekannte, die sich hier zufällig wieder getroffen haben.

»Das hatten wir schon mal, Sie wiederholen sich, Frau Dr., und ich weiß es immer noch nicht.« Vielleicht, weil ich nichts mehr zu verlieren habe, dachte ich und sagte: »Okay, wir haben noch zwei Tage hier, übermorgen bringt uns die Autovermietung den Camper. Was hast du heute vor?«

»Dich kennen lernen.«

Wahrscheinlich war ich Lena bald los. Für sie war ich ein Langweiler. Sie würde dann sagen: Wir passen einfach nicht zusammen.

Lena sah mich fragend an: »Was möchtest du machen?«

»Ich werde zu Hause sitzen und an der Pastete herumknabbern.«

»Wow, das war 'Manche mögen's heiß'.«

Ich zuckte mit den Achseln und genoss Lenas Erstaunen.

»Gut, dann gehen wir zu den 'Green Doctors' an den Strand und holen uns für 30 Dollar ein Marihuanarezept.« Lena sah mich an, dann lachte sie. »Okay, war nur ein Scherz.«

Zwei Stunden später saßen wir in einem der heruntergekommenen Strandcafés, das an beiden Seiten von einem Tattooladen eingerahmt wurde. Wahrscheinlich würde Lena als Nächstes vorschlagen, dass wir uns jeder ein Tattoo stechen lassen. Ich war erschöpft. Lena war immer wieder stehen geblieben, um einige der Obdachlosen, die ihren Einkaufswagen den Ocean Walk lang schoben, wie alte Bekannte zu begrüßen und sich mit ihnen zu unterhalten. »Woher kannst du so gut Englisch?«

»Ich habe mal zwei Jahre in LA gelebt ... Lange her.« Lena lächelte und sah aufs Meer. Es war ein anderes Lächeln als sonst und ihr Gesicht war weicher geworden. »Bin einer Liebe gefolgt, aber …« Mitten im Satz sprang sie von ihrem Stuhl auf und stürmte auf einen Flügel zu, der an der Strandseite des Ocean Walks zwischen den Palmen stand. Nein, nicht auf den Flügel, sondern auf den alternden Musiker, der davorsaß. Den Kopf nach vorne gebeugt, sah er seinen Fingern zu, wie sie die Tasten mal zärtlich streiften, mal wild auf sie einhämmerten, dann wieder hochhüpften, um sich auf anderen niederzulassen, und für einen Augenblick mit diesen zu verschmelzen. Er spielte 'Morning has broken'. Als Lena auf ihn zulief, begann er mit rauchiger Joe Cocker Stimme zu singen. Die beiden umarmten sich zur Begrüßung und schienen bereits eine sehr herzliche Beziehung entwickelt zu haben oder kannten sie sich von früher?

Lena winkte mich heran und stellte ihn mir vor: »Mein Freund Jack. Er war damals vor 30 Jahren ein hoffnungsvoller Nachwuchspianist, dann hat ihm das Leben übel mitgespielt, Krankheit, Drogen, die ganze Katastrophe. Jetzt ist ihm nur noch der Flügel geblieben.«

Jack trug einen abgewetzten dunkelblauen Anzug und ein gelblich-weißes Hemd, dessen Kragen und Manschetten durchgestoßen waren. Die verfilzten grauen Haare hatte er mit einem dünnen schwarzen Kabel zu einem Zopf zusammengebunden. Seine Haut war großporig und gelbbraun, Sonne und Alkohol ... Jack trug keine Schuhe und seine Füße waren rot und geschwollen. Er lächelte Lena aus seinen wässrigen hellblauen Augen an.

Lena erwiderte diesen Blick und sagte: »Play it again, Sam.« Jack begann 'As time goes by'.

Inzwischen hatten sich einige Passanten dazugestellt. Lena klatschte begeistert, als Jack geendet hatte. Die anderen fielen in den Beifall ein und es klirrte in der Metallbüchse auf dem Flügel. Lena legte Jack den Arm um die Schulter und gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange.

»I'll get you an expresso?«

»Better make it Whisky.«

Lena ging in das Café und kam mit zwei Gläsern Whisky zurück, gab Jack eines und stieß mit ihm an. Sie sah mich an. »Um die Zeit trinkst du noch nichts, stimmt's?«

Ich nickte. Es war kalt und windig und ich fror. Ich ging weiter, aber Lena kam hinterhergerannt.

»Eifersüchtig, oder warum gehst du?«

»Wir sind zu unterschiedlich Lena. War schön, dich kennen zu lernen. Lass' uns allein weiterreisen«, sagte ich und ärgerte mich über meinen förmlichen Ton.

»Schön dich kennen zu lernen«, Lena äffte mich nach, »du weißt doch gar nicht, wie kennen lernen geht.«

»Dann erklär's mir mal, Frau Doktor.«

»Üben hilft«, sagte Lena und ging zurück zu Jack.

5

Nachmittags war Lena zum Getty Center nach LA gefahren. Ich war zu müde für ein Kunstmuseum gewesen und hatte auch keine Lust gehabt, den Nachmittag mit Lena zu verbringen. Jetzt war die Sonne hervorgekommen und ich trat raus auf meinen Balkon. Auf dem Boden lag ein handbeschriebenes Blatt Papier, die Schrift war an einigen Stellen verwischt. Der Text war in Deutsch.

Ich begann zu lesen: Stefan nahm ihre Hand. Er stellte sich vor, wie diese Hand nach dem Skalpell griff und mit einem Schnitt den Bauch öffnete. Jetzt war diese Hand warm und weich. Sie löste sich aus seiner und fuhr zart über seinen Oberschenkel. Stefan stand auf und zog die Vorhänge der Wohnwagenfenster zu. Dann legte er sich wieder neben Nina. Ihr Haar duftete nach Zitrone und Honig. Er atmete tief ein, er wollte diese Erinnerung in sich aufnehmen. Während er Ninas Nacken küsste, wanderten seine Hände langsam von ihrenSchultern zu den Brüsten.

Die nächsten Zeilen waren verwischt und nur einige Worte zu lesen: Wärme, Klopfen.

Lena war Chirurgin, vor kurzem in Rente gegangen. Die Protagonistin in dieser Geschichte schien auch Chirurgin zu sein und ebenfalls in einem Wohnwagen unterwegs.

Es klopfte, schnell ging ich zurück ins Zimmer und schob den Zettel unter die Hotelmappe.

Lena stand vor der Tür: »Hi, Mr. Unknown, hab' dir was mitgebracht.« Sie reichte mir eine Postkarte. »Die Schwertlilien von van Gogh.«

Ein blaugrünes Meer aus Lilien, die Halt ineinander fanden und doch wild und stark waren. Ich drehte die Karte um.

»Am Ende unserer Reise schreib ich was drauf«, sagte Lena. Sie schlug vor, essen zu gehen, in ein kleines Restaurant am Strand, in dem es sehr guten Fisch gäbe. Wahrscheinlich eine Empfehlung von Jack.

»Wird das ein nettes Kennenlern-Essen zu dritt, mit deinem Pianospieler?«, fragte ich und schickte schnell noch ein Lächeln hinterher.

»Gute Idee, er könnte nachher am Strand für uns spielen.«

Ich verdrehte die Augen.

»Aber romantisch wäre es doch?«

»Wie alt bist du eigentlich, Lena?«

»Das ändert sich stündlich, je nachdem welche Lena gerade das Sagen hat. Und du? Zeitlos, oder?«

Ich zuckte die Schultern, zog mein Jackett über und folgte Lena. Immer rannte sie zwei Schritte vor mir. Bloß den Ärger nicht anmerken lassen. Dieser vielleicht letzte gemeinsame Abend sollte schön werden. Nie wieder Abschied im Streit. Lena stoppte vor einem kleinen blauen Haus, vor dem zwei runde Stehtische mit Barhockern standen. Die Glasfensterfront war zur Seite geschoben und wir setzten uns drinnen an einen der langen Tische. An einer Wand hingen fünf Fernsehbildschirme, auf denen unterschiedliche Programme liefen: Nachrichten, Baseballspiel, Talkshow, Kindertrickfilm und ein Western. An einem Tisch hatte sich eine Gruppe von Männern unterschiedlichen Alters, die meisten übergewichtig, zum Baseballspiel schauen zusammengefunden. Sie kommentierten es lautstark.

Wir bestellten Fish'n'Chips und zwei Mojitos.

»Du bereust es schon mit der durchgeknallten Alten gefahren zu sein, stimmt's?«, sagte Lena. »Aber was willst du von der Reise? Liebe? Abenteuer?«

Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht Flucht?«

»Wovor?«

Hätte ich das bloß nicht gesagt. »Keine Ahnung.«

»Dann mach daraus wenigstens die schönste Flucht, die man sich vorstellen kann.«

Der Wirt, ein älterer Mann mit schulterlangen, grauen dünnen Haaren und einer fleckigen, ehemals weißen Schürze brachte uns die Mojitos, dekoriert mit Limettenscheiben und Pfefferminzstängeln. »Enjoy.«

Ich nahm mein Glas und wollte mit Lena anstoßen.

»Hey, man muss sich beim Anstoßen in die Augen schauen, sonst drohen sieben Jahre schlechter Sex.« Lena versuchte, meinen Blick festzuhalten. Eine Einladung zu einem Spiel? Ich sah sie an und lachte, wollte nicht schüchtern oder langweilig sein. Sie flirtete so gnadenlos, es war schwer, ihr zu widerstehen, sich nicht begehrt zu fühlen.

Der Wirt kam mit zwei riesigen Portionen fettiger Chips und in Teig gebackenen Fischstücken. »Enjoy. These are the best Fish'n Chips you'll ever get.«

»I know. A friend told me. Thanks.« Lena lächelte den Wirt an und er strahlte, als habe er gerade einen Preis für die weltbesten Fish'n Chips gewonnen. Wie machte sie das nur? Jack, der Wirt, plötzlich waren sie glücklich und stolz.

»Woher kennst du Jack eigentlich?«

»Damals in LA spielte er in den Clubs, die ich besuchte. Manchmal gab seine Band auch ein Konzert, hier am Strand in Venice Beach. Mein Freund organisierte einige der Konzerte und so lernte ich Jack etwas kennen.« Sie machte eine Pause. »Jedenfalls möchte ich dich auf der Reise auch kennen lernen«, sagte Lena und schob sich mehrere Chips mit den Fingern in den Mund. »Was heißt das? Wolltest du mir doch erklären«, sagte ich.

»Nein, ich habe dir vorgeschlagen zu üben. Okay, fangen wir an. Dein Lieblingsgericht?« Lena machte eine Pause, als denke sie nach. »Ich würde sagen: Rouladen. Das Lieblingsgericht der deutschen Männer. Nein. Quatsch. Vielleicht heißt sich kennen, die größte Sehnsucht und die größte Angst des anderen zu erahnen? Aber das kann Jahre dauern.«

»Dann würdest du mich besser kennen, als ich mich selbst«, sagte ich.

Das Grölen der Männer am Nebentisch wurde immer lauter, wahrscheinlich befand sich das Spiel an einem entscheidenden Punkt.

»Also das war zu schwierig. Probieren wir eine andere Frage. Wärst du gern dein Reisepartner? Ich beispielsweise bin eigentlich die ideale Reisebegleitung, neugierig, begeisterungsfähig, abenteuerlustig und ich liebe Überraschungen.«

Sie sagte das, als müssten alle so sein. »Klingt gut, aber anstrengend«, sagte ich.

Lena holte ein kleines rotes Notizheft hervor und begann etwas aufzuschreiben.

»Das Protokoll des heutigen Abends?«

»Du hast Entwicklungspotential.« Lena grinste. »Das spüre ich.« Lena machte eine Pause, als überlege sie. »Wenn ich dir sage, ich schreibe erotische Geschichten, glaubst du das?«

Hatte sie den Zettel unter der Hotelmappe gesehen?

Ich gab mich souverän, vielleicht eine Folge des großzügig mit Rum gemischten Mojitos und fragte: »Wo spielen die?«

»Nie im Bett. Der Ort für die nächste wird die verlassene Fischfabrik hier in Venice Beach sein.«

Lena rief den Wirt und bestellte zwei Zombies.

Er nickte anerkennend und beunruhigt. »Are you sure? Lady, what are you doing?«

Er kam zurück mit zwei orangefarbenen Drinks mit pinken Papierschirmchen verziert.

»Also abgemacht?« Lena griff nach meiner Hand.

»Was?«

»Die Reise. Und dass wir uns hin und wieder in die Augen sehen.« Sie nahm den Zombie und prostete mir zu.

Ich versuchte, in den grünen See ihrer Augen zu blicken, aber er war zu tief und ich nahm schnell einen Schluck von dem orangenen Gift.

»Geht doch, aber ist noch ausbaufähig«, sagte Lena, ließ meine Hand los und strich dabei noch leicht über meinen Unterarm. Ich bekam eine Gänsehaut und schob es auf den Zombie.

»Okay, für heute reicht's. Lass uns zahlen«, sagte ich.

Als wir rauskamen, wehte uns ein lauer Wind entgegen. Der Himmel ultramarinblau, ein weißer Pinselstrich eines Flugzeugs noch zu erahnen. Die Wellen ein leises Ausatmen des Meeres. Ich nahm Lenas Hand. »Abgemacht«, sagte ich, den Zombie im Blut.

6

Der Kaffee war dünn, das Omelett versalzen, mein Kopf schmerzte und die Kellnerin mit dem Adlertattoo schien frei zu haben. Ich hatte mich an einen Tisch gesetzt, von dem aus ich die Tür im Blick hatte und stellte mir vor, wie Lena reinkäme, in ihrer türkisfarbenen Hose und weißem T-Shirt. ›Hi Lukas!‹, würde sie sagen, ›was machen wir mit diesem wunderbaren Morgen?‹ Dann, ehe ich etwas antworten könnte, ›sag' nichts, du bist verkatert.‹ Aber Lena kam nicht. Ich rief sie an. Sie ging nicht ran. Der Kaffee hatte einen bitteren Geschmack in meinem Mund hinterlassen und mein Magen kämpfte mit dem Omelett. Es hatte keinen Zweck länger hier zu warten. Ich fuhr mit dem Aufzug in den 3. Stock und klopfte an Lenas Tür. Nichts. Der Rezeptionist schien nicht beunruhigt, aber er war immerhin bereit, mir ihr Zimmer aufzuschließen. Es war leer, das Bett gemacht. Er lachte nur, als ich vorschlug, die Polizei zu benachrichtigen.