Eiskalte Berge - Manfred Schumacher - E-Book

Eiskalte Berge E-Book

Manfred Schumacher

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Beschreibung

Eine mysteriöse riesige Flutwelle verändert von jetzt auf gleich das Leben deutscher Urlauber in Tirol. Jessica, Elsi und einige andere retten sich in eine Berghütte und kämpfen in den von gewaltigen Wassermassen umspülten Hängen zunehmend um ihr Überleben. Die Dinge spitzen sich zu, als ein psychopathischer Killer bei einem Absturz eines Kleinjets entwendete Diamanten in seinen Besitz zu bringen versucht. Eiskalte Berge von Bestseller-Autor Manfred Schumacher ist eine faszinierende Mischung aus Science-Fiction und Thriller, der die Entwicklung von einem Endzeitszenario zu einer dystopischen Gesellschaft aufzeigt. Manfred Schumacher lebt in Rheinhessen, studierte Anglistik/Amerikanistik, Politik und Philosophie und promovierte über ein literaturwissenschaftliches Thema. Später leitete er eine PR-Agentur. Er ist Autor des historischen Romans „Der Hurenwagen“, der ebenfalls im vss-verlag erschien.

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Seitenzahl: 455

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Manfred Schumacher

Eiskalte Berge

Manfred Schumacher lebt in Rheinhessen, studierte Ang­listik/Amerikanistik, Politik und Philosophie und promovierte über ein literaturwissenschaftliches Thema. Später leitete er eine PR-Agentur. Er ist Autor des historischen Romans „Der Hurenwagen“, der ebenfalls im vss-verlag erschien.

Impressum

 

 

 

 

 

 

Eiskalte Berge

 

 

 

 

 

 

 

Manfred Schumacher

 

 

 

 

 

Impressum

 

Copyright: vss-verlag

Jahr: 2022

 

 

Lektorat/ Korrektorat: Peter Altvater

Covergestaltung: Giuseppa Lo Coco-Ame

 

 

Verlagsportal: www.vss-verlag.de

 

 

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verfassers unzulässig.

 

 

 

 

 

 

 

 

Große Teile der Handlung dieses Romans spielen in Tirol und im Allgäuer Raum.

Aber nicht nur sie sind fiktiv. Die ganze hier beschriebene Welt wie auch ihre Bewohner und die dargestellten Ereignisse sind frei erfunden. Das schließt nicht aus, dass es Menschen geben könnte, die sich in einer Situation - wie der beschriebenen oder einer viel wahrscheinlicheren - genauso oder ähnlich wie die Akteure im Buch verhalten.

Kapitel 1

 

Die Frau mit dem grau gesträhnten Haar wartete. Sie wartete schon mehrere Sekunden, harrte geduldig in ihrem gelb geblümten Kleid aus, das einen Hauch von Dirndl hatte. Ihre Augen, alt, faltig und ein wenig wässrig, ruhten tief in einem müden Gesicht. Müde vom ständig frühen Aufstehen, von der Arbeit an der frischen Luft in der Landwirtschaft. Wahrscheinlich bei Wind und Wetter, wahrscheinlich auch seit frühen Jahren. Die Pension neben der Landwirtschaft betrieb sie mit ihrem Mann seit über dreißig Jahren, wie sie an einem der vorherigen Tage erzählt hatte. Fünf Gästezimmer, zwei davon kleine Apartments, zwei Doppel- und ein Einzelzimmer. Dazu gehörte auch ein kleiner Frühstücksraum, in dem die Frau gerade vorhin ihre Frage gestellt hat­te und immer noch unbeirrt dastand, ihren abwartenden Blick auf das Gesicht der Rothaarigen mit der blassen Haut und den hel­len Sommersprossen gerichtet.

Endlich nickte die Rothaarige zur Antwort. Die Pensionswirtin, die mit dem Serviertablett in ihren Händen wartete, nickte zurück. Wortlose Entgegnung auf die gleichfalls stumme Antwort, mit der die Rothaarige auf ihre Bemerkung reagiert hatte. Die Hände der Pensionswirtin griffen über den Tisch und sammelten die Reste vom Frühstück ein. Teller, Tassen, Untertassen und Besteck, auch Eierbecher, an denen gelbe Flecke von Dotter klebten. Ebenso die von Resten roter und gelber Marmelade und Konfitüre verschmierten gläsernen Miniaturschälchen. Mit vollem Tablett trottete sie davon. Sie verschwand durch einen Rundbogen in einen Raum, in dem die rothaarige Frau, die Jessica Bringmann hieß, die Küche vermutete.

Jessica war heute Morgen nicht bei der Sache. Deshalb hatte sie die Pensionswirtin auch sekundenlang auf eine Antwort warten lassen. Frau Ammann, so hieß sie, hatte sie sicher für unhöflich gehalten. Eine dieser unfreundlichen Piefkes eben, von denen ihr sicher bereits viele untergekommen waren. Jessica überlegte einen Moment, ob sie sich übermorgen, vor der Abreise, dafür entschuldigen sollte. Im nächsten Moment hatte sie es wieder vergessen. Ihr Blick wanderte zu Verena, die ihr gegenübersaß. Vreni, ihre beste Freundin, solange sie sich zurückerinnern konnte. Fast seit Sandkastenzeiten, so viel war sicher. Jessica strich sich eine rote Locke aus der Stirn und schielte zu Fabian, Vrenis Mann Fabian Sturm, der rechts neben Vreni saß und sich den Rest vom Käsebrötchen in den Mund schob. Sein Gesicht war länglich wie seine ganze Gestalt und wirkte beim Kauen noch kantiger, als es ohnehin war. Jessicas Blick wechselte wieder zu Vreni, kurz und verstohlen, blieb für den Bruchteil einer Sekunde an ihrem schwarzen Haar hängen, dem sie seit Jahren einen Pagenschnitt verpasste. Gleich darauf wanderte er hinunter zu dem großen Mund, den sie mit knallrotem Lippenstift betonte, dann wieder hoch zu ausdruckslosen Augen und müden Lidern.

Sie hatten fast stumm gefrühstückt, routiniert wie ein eingespieltes Team – alle drei. Vreni und Fabian hatten sich, nachdem Jessica sich vor drei Monaten nach neun Jahren von Jens getrennt hatte, intensiv um sie gekümmert. Gemeinsame Frühstücke nach etlichen gemeinsamen Übernachtungen inklusive, bei denen die Frauen abwechselnd geheult und über Jessicas Ex abgelästert hatten. Fabian hatte meist aufmerksam und rücksichtsvoll auf seine unaufdringliche Art dabeigesessen, Anteil genommen. Eben lieb und nett, wie er war, und das war vielleicht auch Teil des Problems. Vrenis Vorschlag, ein verlängertes Wochenende in den Bergen zu verbringen, war ebenfalls Teil der gemeinsamen Trauerarbeit in Sachen Ex gewesen. So waren es die Österreicher Lechtaler Alpen geworden.

Weil alle drei routinierte Wanderer waren, die auch vor Bergrouten nicht zurückschreckten, war der Plan gewesen, sich in Tagestouren und einer abschließenden Zweitagestour ordentlich zu verausgaben und die Abende bei gutem Essen in gemütlicher Runde ausklingen zu lassen. Zwei Touren hatten sie schon hinter sich. Heute sollte es über das Gufelgrasjoch zur Steinseehütte gehen, eine der vom Alpenverein empfohlenen Premium-Routen der Region, wo sie übernachten wollten. Das Auf- und Abgesteige in den Hängen und zwischen den Felsen war natürlich anstrengend, zumal wenn man Monate lang nichts in der Richtung gemacht hatte. Die beiden Touren steckten allen sicher in den Knochen, Jessica allemal. Aber das war es nicht allein, warum es ein schweigsames Frühstück geworden war. Jessica waren die Bilder vom Vorabend nicht aus dem Kopf gegangen. Deshalb war sie der Pensionswirtin auch so lange eine Antwort schuldig geblieben. Dabei hatte Frau Ammann den Ortsunkundigen nur einen freundlichen Hinweis geben wollen. „Es kommt heuer wohl ein Wetter auf. Denken S´ daran, wenn S´ in die Berg ´naufgehen“, hatte sie angemerkt.

Es hatte alles gestern Abend damit angefangen, dass Fabian unbedingt zu einem Vortrag des Museumsvereins über alte bäuerliche Geräte wollte, den er in einem der im Flur ausgelegten Prospekte entdeckt hatte. So war er eben. Sich unbedingt mit Land und Leuten der Region beschäftigen, in die es ihn zufällig für ein paar Tage verschlug und die er danach nie mehr im Leben wiedersah. Das Ganze zog sich spät in den Abend, abschließend garniert mit einer historischen Tiroler Jause. Damit hatte er Vreni und Jessica zu ködern versucht. Beide hatten abgewinkt und neben ihrem gegen Null gehendem Interesse ihre müden Knochen als Entschuldigung vorgeschoben. Er war jedenfalls weg, die beiden Frauen waren dageblieben, hatten in der Alpenblüte was gegessen und sich danach auf ihre Zimmer verzogen – dachte Jessica.

Tatsächlich hatte alles damit angefangen, dass es am ersten Abend im einzigen Restaurant am Ort pickepacke voll gewesen war und die Bedienung sie an den Tisch mit den beiden Pforzheimern gesetzt hatte. Max und Oliver oder Olaf, Jessica wusste es nicht mehr so ganz genau. Auf jeden Fall auch sie beste Freunde, sportlich, angenehm, irgendwo Mitte vierzig und hier in der Gegend seit Jahren jedes Jahr wegen Bouldern und Bergwandern unterwegs. Fabian und Jessica warteten später draußen lange auf Vreni, weil sie noch für kleine Mädchen musste. Jessica war es schließlich zu viel geworden, während Fabian weiter geduldig gewartet hätte, und sie war zurück, um nach Vreni zu schauen. Die hatte in fröhlicher Runde bei den beiden Männern gesessen, als sei das das Natürlichste der Welt. Die beiden hätten sie auf einen Absacker eingeladen, hatte sie draußen gesagt, und Jessica hatte sich nichts weiter dabei gedacht. Bis gestern Abend, als sie, nachdem die Frauen sich auf ihre Zimmer verabschiedet hatten, noch mal raus gewollt hatte, um eine kurze Runde durchs Dorf zu machen.

An einem der Chalets, in denen sich die Pforzheimer eingebucht hatten, hatte sie die beiden gesehen. Vreni und Max oder Oliver, ihretwegen auch Olaf. Sie hatte sich vor Schreck in eine Einfahrt geduckt, als sie so plötzlich Zeugin des Vorfalls geworden war. Es war unnötig gewesen. Sie war weit genug weg gewesen und außerdem hatten die Berge bereits tiefdunkle Schatten auf das Tal und das Dorf geworfen, das sie umgaben. Aber sie war auch nicht so weit weg gewesen, um nicht genau zu erkennen, dass es Vreni gewesen war, die sich in inniger Umarmung mit dem Mann befunden hatte. Am Holzpfosten am Eingang hatte sie sich an ihn gepresst, beide Gesichter im Schatten der offenstehenden Tür zu einem verschmolzen. Gleich darauf waren sie nach Innen verschwunden. In einem der Zimmer war Licht angegangen und Vorhänge waren zugezogen worden. Jessica war rasch zurück in ihre Unterkunft. Später hatte sie Schritte draußen auf dem Flur gehört, die sie als die von Vreni ausgemacht hatte. Noch später, viel später, die von Fabian. Sie hatte lange wach gelegen und Vreni am Morgen auf der Treppe vor dem Frühstück abgepasst, sie wortkarg, aber bestimmt am Ärmel nach draußen bugsiert.

„Du hast ihn gevögelt, diesen Typ. Gestern Abend. Ich hab´ dich gesehen. Hast du nicht alle Tassen im Schrank?“, hatte sie ihr unmittelbar vor den Latz geknallt. Dabei hatte sie sie zornig angefunkelt und ihre Stimme hatte wie ein ganzes Nest gereizter Klapperschlangen gezischt.

Vreni hatte sie nur einen Moment verblüfft angeschaut, mit den Schultern gezuckt. „Ist halt passiert.“ Wieder ein Zucken mit den Schultern.

„Und Fabian? Spinnst du denn nur?“

„Das mit Fabian krieg ich schon klar, zerbrich dir mal darüber nicht den Kopf, Jess.“ Eine kurze Pause, dann: „Außerdem hat es nichts zu bedeuten, wirklich nicht.“ Dann hatte sie sie fast flehentlich angeschaut. „Vergiss das einfach, Jess. Das war dumm von mir. Ein dummer Ausrutscher. Du kennst mich doch.“ Wieder ein flehentlicher Augenaufschlag.

Ja, sie kannte sie. Sicher tat sie das. Es hatte in den vielen Jahren, die sie mit Fabian zusammen war, bereits einige Ausrutscher gegeben. Jessica hatte unnachgiebig den Kopf geschüttelt, um ihre Meinung zu dem Thema unmissverständlich klarzulegen. Dann hatte sie aus dem Augenwinkel einen Blick durch das Fenster in den Frühstücksraum geworfen und Fabian entdeckt, der sich gerade an ihrem Tisch hingesetzt hatte und von Frau Ammann mit einer Kaffeekanne bedacht worden war. Jessica hatte mit dem Kinn zur Scheibe gedeutet.

Vreni hatte den Wink verstanden und sie waren zurück ins Haus marschiert, hintereinander, und vor der Tür zum Frühstücksraum hatte Jessica erneut gezischt: „Darüber sprechen wir noch.“ Sie hatte von Vreni keine Antwort bekommen und es war das bereits erwähnte stumme Frühstück geworden.

Durch Vrenis Eskapade fühlte Jessica diesmal nicht nur die Welt der beiden bedroht. Tatsächlich hatte sie jedes Mal dieses Gefühl gehabt, wenn Vreni ihr einen Ausrutscher gebeichtet hatte, obwohl sie es irgendwann hätte besser wissen sollen. Die Welt der beiden war belastbarer als ihre eigene, deren Bedrohung sie gerade intensiv spürte. Auch deshalb war sie so stinkig auf Vreni. Immerhin hatte sie es nach langen Wochen mit Hilfe der beiden geschafft, den Scherbenhaufen, in den sich ihr Leben plötzlich verwandelt hatte, erfolgreich beiseite zu räumen. Ruhe und Ordnung in den Dingen, die tunlichst so bleiben sollten, wie sie waren. Das war es, was sie sich jetzt wünschte und brauchte.

Mit den Gedanken im Kopf stand sie eine Viertelstunde später mit geschultertem blauem Deuter-Rucksack vor der Haustür im Hof und warf einen prüfenden Blick hoch zu den Bergen. Von einem Wetter war glücklicherweise noch weit und breit nichts zu sehen. Das konnte sich in den Bergen aber rasch ändern, das wusste sie. Am Büfett hatte sie noch Brötchen, Käsescheibe, ging auch ohne Butter, und Banane abgegriffen. Obwohl ein Schild an der Wand die Gäste ermahnte zu respektieren, dass die Auslagen fürs Frühstücken und nicht als Reiseproviant gedacht wären. Egal, Frau Ammann hatte sowieso keine hohe Meinung von ihr. Es dauerte nicht lange, bis auch Vreni und Fabian aus dem Haus kamen. Fabian hatte die speckige Baseballkappe auf dem Kopf, die jede seiner Wanderungen begleitete. Vreni trug eine Sonnenbrille, obwohl Tal und Hänge noch im dunstigen Nebel lagen, durch die es Sonnenstrahlen kaum durchschafften. Als Jessica zu ihr rübersah, verzog Vreni die Mundwinkel zu etwas, was Jessica unter der dunklen Brille als verschwörerisches Grinsen deutete. Jetzt lass es aber mal gut sein, sollte es wohl bedeuten. Jessica kniff den Mund zusammen und drehte den Kopf zur Seite.

Fabian sah angestrengt auf sein Handy. Dann streckte er seinen Zeigefinger am Dorfplatz vorbei in Richtung einiger blühender Hangwiesen. „Dort hinauf, Ladies!“, ließ er folgen und schritt voraus. Sie dackelten ihm hinterher. Vreni warf Jessica einen verstohlenen Blick zu, doch die tat so, als bemerkte sie es nicht. Sie folgten einem schmalen Weg an einem Bach entlang bis zu einer Stelle, wo ein Steig ziemlich steil nach oben führte. Vreni hielt an, drehte sich um und schaute hinunter ins Tal. Die anderen beiden folgten ihrem Beispiel. Grimbach lag immer noch in einer dichten Nebelglocke. Nur der Kirchturm streckte sich wie ein kantiger weißer Pfahl mit roter Spitze durch die Nebelfetzen in den Himmel, als wollte er mit den Bergspitzen konkurrieren, die sich ringsum auftürmten. Hintereinander mühten sie sich an zackigen Felsen vorbei den Hang hoch. Nach den beiden vorangegangenen Tageswanderungen war das Gefühl von Muskelkater früh in den Beinen und Jessica versuchte, es zu ignorieren, indem sie beharrlich einen Schritt vor den anderen setzte. Sie konzentrierte sich auf den Pfad, der vor ihr lag, auch weil sie es musste. Der Steig verwandelte sich auf kurzen Abschnitten immer wieder in ein Geröllfeld, auf dem Trittsicherheit gefragt war, und wenig später gelangten sie an zwei kurze, mit Stahlseilen gesicherte Passagen, die einem die ganze Aufmerksamkeit abverlangten.

Nach einer Wegkreuzung ging es weiter hoch über sattgrüne Wiesen. Oben auf dem Hang stand einsam ein Gebäude, das von fern wie ein Schuppen mit rostigem Blechdach aussah. Fabian las ihnen aus seiner App etwas darüber vor, während sie unten im Tal das ferne Heulen einer Sirene hörten. Fabian erklärte, warum die komische Almscheune so hieß, wie sie hieß, während sei­ne Ausführung vom dezenten Läuten von Kirchenglocken untermalt wurde, die gedämpft aus dem Tal zu ihnen hochdrangen. Vreni sah Jessica verwundert an, sagte aber nichts. Jessica nahm kaum Notiz davon, weil sie sich in Gedanken an Fabian abarbeitete – dem fürsorglichen und manchmal bis zur Pedanterie spießigen Fabian.

„Bis ganz nach oben sind´s übrigens 1090 Höhenmeter“, hörte sie gerade seine Stimme im Hintergrund. Es klang so, als wäre es als Ansporn gedacht. Er hatte die Routen nicht nur auf seinem Handy. Hundertprozentig hatte er sie zuhause für alle Fälle auch ausgedruckt. Einem Handy konnte unterwegs der Saft ausgehen. Nicht dass seinem unterwegs der Saft ausging. Er hatte immer gleich zwei Powerbanks dabei, damit er auch im tiefsten Wald aufladen konnte. Fabian gehörte definitiv zu der Sorte Mensch, die für alles vorsorgte und vorplante. Nur seine eigene Ehe hatte er anscheinend chronisch schlecht im Blick. Jessica seufzte innerlich bei dem Gedanken. Er gehörte augenblicklich sicher auch zu den zehn Wanderern in Österreich mit dem reichhaltigsten Erste-Hilfe-Beutel im Rucksack. Wahrscheinlich hatte er sogar Salben gegen Steinbockbisse und Gämsentritte dabei. Jessica musste bei dem Gedanken grinsen.

„Ich muss mal“, riss Vrenis Stimme sie aus ihren Gedanken. Vreni nahm den Rucksack vom Rücken, stellte ihn neben ihren Füßen ab und schritt suchend nach rechts, um dann an etlichen Felsblöcken vorbei nach oben zu klettern. „Ich glaube, da vorn ist Edelweiß“, rief sie den beiden grinsend zu.

„Das würde mich wundern“, meinte Fabian sachlich. Nach wenigen Augenblicken tauchte Vreni wieder auf. Sie zuckte bedauernd mit den Schultern und Fabian warf Jessica einen bedeutungsvollen Blick zu.

„Schaut mal da drüben!“, rief Vreni ihnen plötzlich überrascht zu. Ihre ausgestreckte Hand deutete auf eine Stelle hinter ihnen. Beide fuhren wie auf Kommando herum und folgten dem Fingerzeig. Trotz Mützenschirm legte Fabian die Hand als Sonnenschutz an die Stirn. Sie blickten auf ein dunkles Fichtenwäldchen, das sich in einem seitlichen Hang knapp oberhalb von ihnen befand.

„Da hängt was Weißes in den Bäumen“, erkannte Jessica.

„Ein Flieger, das ist ein Flugzeug.“ Fabian staunte mit offenem Mund. „Muss abgeschmiert und in den Baumwipfeln hängen geblieben sein. Wahrscheinlich Sportflieger.“

„Über den Bäumen ist ´ne kleine Rauchfahne.“ Jessica kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

Fabian nickte.

„Wir müssen die Rettung benachrichtigen“, brachte Jessica aufgeregt hervor. Gleich darauf fingerte sie am Reißverschluss ihrer Fleece-Jacke und zog ihr Handy hervor. „Kein Empfang“, kommentierte sie enttäuscht, während sie ungehalten auf das Display stierte.

„Ich auch nicht“, bemerkte Fabian neben ihr. Auch er starrte sekundenlang auf sein Handy, bevor er aufschaute und seinen Blick wieder auf das weiße Objekt richtete, das schief zwischen den fernen Fichtenstämmen zu kleben schien. Mit dem Rücken zum Tal standen sie einige Sekunden reglos und beobachteten angestrengt.

„Wie ist dein Empfang?“, rief er Vreni über die Schulter zu. Er erhielt keine Antwort. Er drehte sich um und erstarrte, stand wie versteinert da.

Neben ihm stöhnte Jessica auf, die sich ebenfalls nach Vreni umgedreht hatte.

Fabian bekam es kaum mit, denn er brauchte seine gesamte Wahrnehmung, um zu kapieren, was er da sah. Er sah Wasser, nichts als Wasser – mächtig viel Wasser, überall, soweit das Auge reichte.

 

Kapitel 2

 

Der Flieger hing schräg, beinahe kopfüber, und verkantet zwischen den weit ausladenden Zweigen. Sie hielten ihn wie mit kräftigen, borstigen Krallen gegen den Zug der Schwerkraft. Auf der linken Seite fehlten die Kabinentür, ebenso Teile der Außenwand und vom Dach, und er ruhte starr, gleich einem angeknabberten weißen Rieseninsekt, in den Baumwipfeln. Von irgendwoher kräuselte dünner Rauch hoch, hell, fast weißlich. Die Maschine maß von der Nase bis zur Schwanzspitze nicht mal fünfzehn Meter, hatte aber ab dem Berggrat, hinter dem der Pilot sie runter in die Bäume gedrückt hatte, eine wahre Schneise der Zerstörung hinterlassen. Überall zerfetzte Äste, abgeknickte Zweige und abgesäbelte Baumspitzen. Etliche Fichten lehnten entwurzelt im Geäst angrenzender Stämme. Auch der Rumpf und die Flügel hatten einiges abbekommen. Das Astwerk, an dem der Rumpf rasend schnell vorbeigeschlittert war, hatte deutlich sichtbare Spuren in der Außenhaut hinterlassen. Eines der Triebwerke war verbeult wie ein alter Blechtopf. Auch daraus kräuselte Rauch, allerdings deutlich dunkler als der, der vor dem Cockpitfenster aus der Aluminiumschnauze des Fliegers quoll.

Etwas abseits, knapp zehn Meter darunter, wachte die Frau in mittlerem Alter aus ihrer kurzen Bewusstlosigkeit auf. Sie lag wie auf einem Polster. Der Boden war mit Fichtennadeln übersäht und sie merkte ihre Berührung unangenehm an den Handflächen, als sie sich aufstützen wollte. Sie unternahm einen neuen Anlauf, stemmte sich auf die Ellbogen. Sie robbte zu einem nahen Stamm, lehnte sich dagegen. Sie atmete tief ein, während sie sich verwirrt und hilflos fühlte. Ein Anflug von Angst griff nach ihr, konturenlos und unbestimmt, und das Gefühl ängstigte sie noch mehr. Sie versuchte sich zu beruhigen, schloss die Augen und atmete erneut tief durch. Als sie sich zu konzentrieren versuchte, bemerkte sie ihre Kopfschmerzen. Hinter dem rechten Ohr, das von hellbraunen Locken verdeckt wurde, spürte sie die schmerzende Stelle, bevor ihre Hand danach tastete. Als ihre Finger daran fassten, fühlte sie eine dicke Beule, die höllisch wehtat. Rasch zog sie die Hand zurück. An ihren Fingern klebte ein wenig Blut. Sie blickte sich hastig um. Ihr Blick flog zwischen einer Unzahl dunkler Stämme den Hang hinunter. Dort rauschte irgendwo ein Wasserfall. Sonst war es still und es roch leicht verschmort, aber kaum wahrnehmbar bei dem harzigen Geruch, den die vielen Nadelbäume verströmten. Dann fühlte sie den Schmerz direkt unter dem Knie. Sie erinnerte sich, dass sie ihn bereits vorhin gespürt hatte, ihn aber gleich wieder wegen ihrer Angst vergessen hatte. Sie berührte die Stelle, die sich feucht anfühlte. Der Stoff ihrer Hose pappte daran. Vorsichtig löste sie ihn von der Wunde, sah den dunklen Fleck, der sich gebildet hatte. Behutsam krempelte sie das Hosenbein hoch, beugte sich nach vorn, um den Schaden zu begutachten. Sie sah eine blutige Stelle, ein Riss im Fleisch nach der einen Seite. Blut rann das Schienbein hinunter und sammelte sich am Bund ihrer Socke. Sie fuhr mit der Hand über die Wunde, als könnte sie sie gesund streichen. Die Stelle brannte unangenehm und als sie die Handfläche nach oben brachte, sah sie den blutigen Streifen. Sie griff in die Innentasche ihres Blazers und zog ein besticktes helles Taschentuch hervor.

Sie wischte sich die Hand daran ab, mehrmals und intensiv, als könnte es Wasser und Seife ersetzen. Dann steckte sie es blutverschmiert zurück. Sie lehnte sich zurück, atmete angestrengt mit geweiteten Augen. Einige Sekunden verstrichen. Sie fuhr sich durchs Haar und blickte hastig nach allen Seiten. Sie überlegte einen Moment. Dann waren Teile der Erinnerung da. Sie schluckte, wollte schreien, doch sie unterdrückte den Impuls. Wieder wanderten ihre Augen umher, diesmal in eine andere Richtung. Langsam legte sie den Kopf in den Nacken. Ihr Blick wanderte die Stämme entlang nach oben zum Licht. Zwischen dem Licht, das schräg durch die Baumkronen fiel, und dem Nadelgeäst der Fichten entdeckte sie den hellen Klumpen, der in einem wüsten Geflecht von Ästen eingeklemmt war. Sie nahm die windschiefe Tragfläche wahr, unter der die verbeulte Turbine hing. Daraus tropfte ein rußiger, öliger Sud herab. Plötzlich stieß sie einen gellenden Schrei aus, rief mit lauter Stimme Namen. Erst beim dritten Anlauf realisierte sie, was sie rief. „Max! - Käthchen!“ Dann wieder: „Max! - Käthchen!“ Als sie die Kraft zu einem weiteren Versuch fand, klang ihre Stimme schon fast wie das heißere Gekrächze einer Krähe.

Sie sank erschöpft zurück, lehnte wieder an dem Stamm. Dann entdeckte sie die leblose Gestalt rechts über sich, etliche Meter entfernt. Sie hing über einen Ast, als hätte sie dort jemand zum Trocknen an einer Wäscheleine aufgehängt. Der Schreck schnürte ihr die Kehle zu, doch endlich fand sie Luft für einen verzweifelten Schrei: „Max!“ Er klang langgezogen und gequält. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, als könnte sie ihn erreichen. „Ach, du je - ach, herrje!“, stammelte sie aufgeregt, merkte, wie sich ihr Atem beschleunigte und wie sie panisch wurde. Der Mann klemmte bäuchlings zwischen zwei Ästen, rührte sich nicht, schien bewusstlos. Seine Arme hingen schlaff herab, waren verkratzt, wie auch sein Gesicht. „Was - was soll -?“ Sie stockte, brabbelte etwas vor sich hin und ruderte hilflos mit den Händen durch die Luft. Sie wollte hoch, sackte jedoch zurück. „Käthe! Käthchen!“, schrie sie jetzt, so laut sie noch konnte. Ihr schmaler Brustkorb hob und senkte sich heftig unter der Anstrengung. „Kä – the!“ Ihr verzweifelter Ruf, gedehnt und flehentlich, verhallte ungehört zwischen den schier endlosen Baumreihen. Alles blieb still bis auf das schwache, sich alle paar Sekunden wiederholende Geräusch, das der herabtropfende Sud verursachte.

Plötzlich hörte sie ihn leise stöhnen. „Max, ich bin hier“, rief sie ihm hastig zu. „Max - halt durch! Du musst durchhalten, hörst du?“ Sie rappelte sich unter Aufbietung all ihrer Kraft auf. „Ich – ich bin gleich bei dir, Max, gleich.“ Sie taumelte, als sie stand, und drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Dann, wie aus dem Nichts, war die junge Frau bei ihr, fasste sie an beiden Armen und bewahrte sie vor einem Sturz.

„Käthchen!“, stieß die Ältere überrascht hervor. Ihre Augen strahlten vor Freude, als sie die junge Frau an sich riss und unter Tränen, die plötzlich aus ihr hervorquollen, umarmte. „Käthchen!“, wiederholte sie liebevoll. „Geht´s dir gut, Käthchen? Bist du unverletzt?“ Sie küsste die Junge auf die Wange und strich ihr zärtlich über die Haare, die dieselbe Farbe wie ihre hatten.

„Ja, Mama, alles gut“, sagte die junge Frau und es klang wie zur Beruhigung. Sie legte die Hand an die Wange ihrer Mutter, um mit dem Daumen sanft über die weiche Haut zu fahren. „Aber ich bin Elsi, Mama, Elsi, das weißt du doch.“

Die Frau nahm es nicht mehr zur Kenntnis, weil sie in Gedanken wieder bei Max war. Hastig löste sie sich aus der Umarmung, trat einen Schritt zurück und deutete aufgeregt in seine Richtung. „Dort! - Max!“ Sie schrie es fast. „Wir müssen ihm helfen.“

Elsi stieß einen erschreckten Schrei aus, als sie ihren Bruder hilflos in den Ästen entdeckte. Einen Augenblick starrte sie entsetzt in seine Richtung, dann kam Bewegung in sie. „Komm mit!“, hielt sie ihre Mutter über die Schulter hinweg an, während sie zu ihm hineilte. Sie humpelte leicht, doch sie überging den Schmerz, den ihr jeder Schritt verursachte. „Max – Max, hörst du mich?“, rief sie ihm nach oben zu, als sie unter ihm stand. Er antwortete nicht. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und bekam eine seiner Hände zu fassen, drückte sie fest. Sie legte den Kopf weit in den Nacken. „Wir holen dich jetzt runter, Max. - Sofort“, sprach sie ihm Mut zu, obwohl sie nicht wusste, ob er sie hörte. Hinter sich roch sie das Parfüm ihrer Mutter und hörte, wie sie sich aufgeregt hin- und herbewegte. „Mama! – Mama!“, versuchte sie sie zu beruhigen, noch während sie sich zu ihr umdrehte. „Du nimmst seine Hände! Hörst du, Mama!“

Die Frau nickte, während sie Elsi mit unruhigen Augen ansah.

„Mama, das ist ganz wichtig. Du musst fest seine Hände nehmen, während ich versuche, seine Füße über die Äste zu drücken.“

„Ja – ja, natürlich“, brachte Elsis Mutter leise hervor. Sie schluchzte und Tränen kullerten über ihre Wangen.

„Mama“, ermahnte Elsi sie, so behutsam sie konnte. „Mama, du musst ihn vielleicht allein auffangen, wenn ich es nicht schnell genug schaffe, dir zu helfen.“ Sie schaute ihrer Mutter angestrengt ins Gesicht. „Hast du das verstanden? Du musst unbedingt versuchen, ihn, so gut es geht, abzufangen, wenn er zu rutschen anfängt.“

Ihre Mutter nickte erneut, rasch mehrmals hintereinander. Als sie neben Elsi trat, schniefte sie und wieder traten ihr Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit dem Handrücken trocken. Dann reckte sie beide Arme nach oben. Sie wirkte hoch und schmal, überragte ihre Tochter um mehrere Zentimeter, sodass sie sich nicht auf die Zehenspitzen stellen musste, um die Hände ihres Sohns zu fassen. „Max“, murmelte sie gequält, als sie seine Handflächen an ihren spürte. Sie umschloss seine Hände. Sie umschloss sie sanft, aber zugleich auch fest, so fest sie konnte. Sie warf einen raschen Blick zu Elsi hinüber, die sich unter Max´ leicht herabhängenden Beinen in Position gebracht hatte.

Die Tochter hob die Arme in die Höhe und gab der Mutter durch eine Kopfbewegung ein Zeichen. Sie presste ihre Hände flach gegen seine Schuhsohlen und drückte mit aller Kraft nach oben. Er bewegte sich ruckweise nach der anderen Seite, während die beiden Äste, auf denen er lag, ebenso ruckweise nach unten und oben schwangen.

„Ahh!“, stöhnte Elsi auf, als sie erneut mit aller Kraft gegen seine Absätze presste. Ein Ast knackte verdächtig.

Fichtennadeln rieselten nach unten und verteilten sich im Haar und über das Gesicht der Mutter. Sie gab einen Laut des Unmuts von sich, kräuselte die Nase und um ihren Mund zuckte es. Gleich darauf blies sie Luft aus, mehrmals, während sie sich mit ihrem schwachen, zarten Körper weiter tapfer gegen das Gewicht stemmte, das sie jeden Moment abzufangen bereit war. Dann plötzlich rutschte er gänzlich nach der anderen Seite. Die Frau schrie ängstlich auf, als der reglose Körper rasch auf sie zuglitt, sie erst zu umarmen schien und dann auf dem Waldboden unter sich begrub.

„Scheiße!“, krächzte Elsi hervor. „Scheiße!“ Schon war sie bei ihnen. „Mama!“, schrie sie verzweifelt, riss an beiden, versuchte sie aufzurichten. „Max!“, stöhnte sie mehr, als dass sie rief. Sie packte ihn eilig an den Oberarmen, zog ihn zu sich heran und suchte den Augenkontakt zu ihm. Er sah nicht besser aus als vorher, atmete aber, was sie ungemein beruhigte.

Die Mutter kam mit großen Augen und besorgtem Blick unter ihm hervor, rappelte sich mühsam hoch. Sie suchte forschend in Max´ Gesicht und war ebenso erleichtert wie Elsi, als sie an ihm keine Veränderung gegenüber vorher feststellte. Sie zogen ihn etwas weg von der Stelle, an der er heruntergekommen war. Vorsichtig betteten sie ihn unter einer Fichte, dort, wo es um den Stamm herum ein dickes Polsterbett aus Fichtennadeln gab. Mit Elsis Unterstützung lehnte ihn die Mutter mühsam an den Stamm. Er stöhnte und auf seiner Stirn standen Schweißperlen.

Die Mutter kniete jetzt über ihm, hielt seine Wangen mit beiden Händen. „Wir müssen ihm helfen.“ Sie hatte den Kopf zur Seite gedreht und schielte zu ihrer Tochter hoch.

Elsi las in ihrem Blick nackte Verzweiflung.

„Papa! – Wir müssen Papa anrufen!“

„Papa ist in Konstanz, Mama. Wie soll er uns da helfen können.“ Elsi spürte einen Anflug von Unmut. „Wir rufen die Polizei, die Feuerwehr“, entgegnete sie.

Die Mutter nickte. „Natürlich. Wir rufen die Polizei“, sagte sie etwas erleichtert. Auf ihr Gesicht schlich sich ein dankbares Lächeln.

Elsi suchte in der Tasche ihrer Jeans nach dem Handy. Nach wenigen Sekunden gab sie ihre Bemühungen frustriert auf. „Kein Netz!“, schnaufte sie und steckte das Smartphone achtlos wieder ein.

„Meins ist in meiner Tasche“, fiel der Mutter ein. Aufgeregt fuchtelte sie hin und her, als wollte sie im nächsten Moment unter dem Baum danach suchen.

„Wir haben denselben Provider. Du hast sicher auch kein Netz, Mama“, machte Elsi ihre Hoffnung zunichte.

Die Mutter reagierte darauf mit einem gequälten Laut. „Was machen wir denn jetzt nur?“ Sie hatte den Blick eines gehetzten Tiers.

„Sie werden uns suchen“, versuchte Elsi, sie zu beruhigen. „Sie suchen uns sicher schon.“ Sie drückte ihr aufmunternd die Schulter. „Der Pilot hat vorher sicher einen Notruf abgesetzt.“ Elsi nahm ihre Hand fort und beugte sich über Max. Sie fühlte seine Stirn, strich mit dem Handrücken über den Schweiß, der in großen Tropfen darauf stand. Der Schweißfilm fühlte sich kalt an und Elsi wünschte sich in dem Moment nichts sehnlicher herbei als die herannahenden Schritte und Stimmen des Bergungstrupps. Es fehlte nicht viel und sie hätte sie in unbändiger Sorge um Max herbeigebrüllt. Doch wegen ihrer Mutter unterdrückte sie den Impuls und beherrschte sich. Als sie sich verzweifelt ihre Alternativen überlegte, hörte sie über sich ein knackendes Geräusch. Ihr Blick flog hoch und sie sah, wie sich die Nase des Fliegers nach unten bewegte und Äste unter der Last wie dürres Stroh brachen. „Schnell weg hier!“, rief sie voller Panik. Sie packte Max an den Handgelenken und schleifte ihn bereits über den Waldboden, als ihre Mutter noch einen protestierenden Schrei ausstieß. Elsi bewahrte so viel Geistesgegenwart, dass sie ihn über Nadeln, Moos und Flechten zog und nackten Fels und Geröll vermied. „Komm, Mama – komm!“, brüllte sie über ihre Schulter.

Die Mutter schaute ihr entgeistert nach, stand wie erstarrt, und es kam erst Bewegung in sie, als es über ihr gefährlich polterte, knackte und knallte.

Elsi mühte sich mit ihrer Last eine leichte Anhöhe im Wald hoch. Sie keuchte und ihr Atem flog, als sie Max etliche Sekunden später behutsam zwischen karstigem Fels auf einen breiten Moosflecken bettete. Ihre Mutter stand hinter ihr, hechelte wie ein Hund und folgte mit erschreckten Augen dem Schauspiel, das sich gerade unterhalb ereignete. Das Flugzeug hatte sich mittlerweile fast seinen Weg durch das Sperrgitter aus Ästen und Zweigen nach unten gebahnt. Das Astwerk der Fichten lenkte es schräg nach unten weg und die Schnauze schoss zu guter Letzt auf das obere Ende eines recht steilen Geröllabhangs, der wie eine Schneise zwischen zwei Baumgruppen nach unten führte. Das Reststück folgte dem Bug, klatschte schwer auf den Boden und sofort schlitterte das Wrack den Hang hinunter. Es glitt immer rascher, wie auf Bohnerwachs, mit lautem, schabendem Geräusch hangabwärts, bis es unten in einer Mulde aufprallte. Dort drehte es sich wie ein sich windender Aal zur Seite und es krachte, als eine Tragfläche brach. Schließlich kam der Rest der Maschine, von mehreren Stämmen am Weiterrutschen gehindert, zur Ruhe.

Beide Frauen, die den Vorgang gespannt beobachtet hatten, schauten sekundenlang stumm hinunter auf den ramponierten Flieger.

„Hoffentlich hab´ ich ihm nicht wehgetan“, sagte Elsi leise. Sie sagte es mehr zu sich als zu ihrer Mutter.

Die Mutter rührte sich nicht, bis Max erneut stöhnte. Sie sah zu ihm runter, bemerkte seine immer noch feuchte Stirn und holte das blutverschmierte Taschentuch hervor.

Elsi legte ihr die Hand auf den Arm. „Nicht damit, Mama“, sagte sie sanft. Sie reichte ihr ein Papiertaschentuch, das sie bereits aus der Hosentasche befördert hatte.

„Kind, du blutest ja am Kinn“, entfuhr es der Mutter erschrocken, als sie danach griff. Sie hatte die Verletzung ihrer Tochter erst jetzt bemerkt. Sie deutete auf die Schürfwunde, die sich vom Kinn schräg über Elsis Hals zog.

„Das ist nichts Mama“, beruhigte Elsi sie. „Nur ein Kratzer.“

„Und dein Fuß?“, wollte die Mutter wissen, die sich jetzt an Elsis hinkenden Gang von vorhin erinnerte.

„Nur verstaucht. Alles gut.“

„Wirklich?“

„Ja, Mama, wirklich.“

Einige Sekunden vergingen, in denen sich beide wieder um Max kümmerten. Elsi streifte sich ihren elfenbeinfarbenen Kapuzenpulli über den Kopf, den sie über einem schwarzen T-Shirt trug, und klemmte ihn Max in den Nacken, damit er es möglichst bequem hatte. Weil sie das hilflose Warten nicht mehr aushielt, warf sie immer wieder einen flüchtigen Blick nach oben, wo sie den Saum des Wäldchens vermutete. Als sie es wieder mal tat, bemerkte sie den dunklen Fleck am Knie ihrer Mutter. „Was ist da passiert?“ Sie deutete auf die Stelle.

„Aufgerissen. Es tut kaum noch weh“, erhielt sie zur Antwort.

„Lass mich mal nachsehen!“

Folgsam setzte sich die Mutter neben Max auf den Boden. Sie streckte ein Bein nach vorn, das andere behielt sie angewinkelt.

Elsi schob das Hosenbein hoch und besah sich die Stelle. Der Riss sah tief aus und blutete noch immer. Ein Rinnsal zog sich das Schienbein entlang in die Socke. „Das muss genäht werden“, teilte Elsi ihr mit.

Ihre Mutter nahm es teilnahmslos zur Kenntnis. Sie wandte sich wieder Max zu.

Elsi überlegte angestrengt, bis ihr die weiße Klappe mit dem kleinen grünen Kreuz in der Kabine einfiel. Dahinter musste sich immer noch der Erste-Hilfe-Kasten befinden. „Ich geh´ runter zum Flugzeug. Wir brauchen was zum Verbinden“, entschied sie. „Vielleicht find´ ich auch was für Max.“

Ihre Mutter sah sie ängstlich an.

„Ich bin gleich wieder zurück“, beruhigte Elsi sie sofort. Sie richtete sich auf und legte ihrer Mutter kurz eine Hand auf die Schulter, drückte sie aufmunternd. Sie machte sich an den Abstieg, umging das Geröllfeld, indem sie sich am Rand der Baumreihe rechts der Schneise entlangbewegte. In Gedanken beglückwünschte sie sich, dass sie sich am Morgen für die hohen Stiefel entschieden hatte. Sie machten ihr den Weg jetzt angenehmer, auch wenn der Fußknöchel weiter wehtat. Auf der Hälfte der Stre­cke nach unten entdeckte sie ihn. Sie erkannte den Mann sofort, obwohl er bäuchlings mit abgewandtem Gesicht auf einer Felsplatte lag. Um seinen Kopf hatte sich eine Lache aus dunklem Blut gebildet. Er hatte sich mit ihnen in der Kabine befunden. Sie erkannte ihn an dem dunkelblauen Mantel mit Fischgrätmuster. Er hatte ihn anbehalten und die Mantelschöße baumelten jetzt wie erschlaffte Flügel über den Felskanten.

Bis heute hatte Elsi noch keinen Toten gesehen und die unvermittelte Begegnung verschlug ihr den Atem. Sie schluckte schwer. Ihr Blick fiel auf zwei kleine Klumpen schleimigen Matschs, die etwas abseits vom Kopf auf dem Stein klebten. Als sie realisierte, um was es sich handelte, wandte sie sich angeekelt ab. Rasch setzte sie ihren Weg fort, indem sie den größtmöglichen Bogen um den Toten machte. Plötzlich vernahm sie ein Rauschen, dumpf, tief und anhaltend, und schloss im selben Moment enttäuscht aus, dass es sich um die Rotorblätter eines Hubschraubers handelte. Dann hörte sie es in Wellen, mal laut, dann wieder leise und danach wieder laut. Es hörte sich fast so an wie das Rauschen einer Muschel und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, den Geruch von Meer zu spüren. Verwundert verlangsamte sie ihren Schritt. Als ihr Blick auf den Flieger fiel, der nur noch knapp zehn Meter entfernt zwischen Baumstämmen klemmte, dachte sie an die Frau, die ebenfalls mit ihnen in der Kabine gewesen war. Sie war ihr irgendwie in besonderer Erinnerung geblieben. Elsis Blick glitt vom Rumpf zum Cockpit, in dem sie die Umrisse einer Gestalt ausmachte. Sie spürte ein Gefühl der Beklommenheit in sich aufsteigen. Vorsichtig bewegte sie sich auf den Rumpf zu.

 

Kapitel 3

 

Knapp zehn Minuten später war Elsi zurück. Überglücklich teilte die Mutter ihr sofort mit, dass Max, als sie fort war, wieder zu sich gekommen war. Es ging ihm aber nicht wirklich besser. Immerhin war er ansprechbar. Er schlug manchmal die Augen auf und antwortete durch Nicken und Kopfschütteln. Elsi versorgte notdürftig die Kniewunde der Mutter mit Materialien, die sie dem kleinen orangefarbenen Plastikkoffer entnommen hatte. Sie hatte den Erste-Hilfe-Koffer, ihren Rucksack und die Handtasche der Mutter mit zurückgebracht. Sie hatte sofort auf dem Handy herumgedrückt, nachdem sie die Tasche vom Kabinenboden aufgesammelt hatte. Aber ihre Vermutung, dass auf keinem ihrer Handys ein Netz verfügbar war, hatte sich leider bestätigt. In der Handtasche hatte sie auch eine fast volle Packung Ibuprofen gefunden, die die Mutter, solange Elsi zurückdenken konnte, gegen ihre Migräne einnahm.

Elsi zerkleinerte zwei Tabletten und flößte sie Max mit Wasser ein. Sie setzte ihm die Flasche erneut an den Mund. Das Schlucken fiel ihm schwer und die Flüssigkeit lief ihm aus dem Mundwinkel. Rasch zog Elsi die Flasche zurück. Als sie sie wieder ansetzte, knackten plötzlich oberhalb Zweige und sie glaubte, Stimmen und Schritte zu hören. Auch ihre Mutter, die auf der anderen Seite neben Max kniete und seine Hand hielt, hatte etwas vernommen. Ihr Kopf flog in die Richtung, aus der die Geräusche kamen.

„Hallo! Hier – hier unten sind wir“, schrie Elsi hinauf in den Wald.

Auch ihre Mutter beteiligte sich, aufgeregt und so laut sie konnte. „Sie kommen“, stieß sie hervor. Sie flüsterte es fast. „Endlich!“

Elsi nickte mit einem glücklichen Lächeln. „Max, gleich wirst du versorgt“, brachte sie, zu ihrem Bruder gewandt, leise hervor. Der hatte die Augen geschlossen und nickte schwach. „Sie bringen dich ins Krankenhaus und dann geht es dir bald besser.“

Die Mutter schluchzte und schniefte vor Erleichterung, drückte aufmunternd Max´ Hand. Zwischen den Fichtenstämmen tauchten zwei Personen auf, ein Mann und eine Frau. Ihre Gesichter wirkten abgehetzt und erschöpft, beiden stand der Schweiß in dicken Perlen auf der Stirn. Die Baseballmütze des Mannes war mit Schweißflecken bedeckt, der Ausschnitt seines T-Shirts war klatschnass. Auch das Shirt der Frau war an mehreren Stellen durchgeschwitzt. Sie trugen keinerlei Uniform und sahen eher wie stinknormale Wanderer aus.

„Gott sei Dank sind sie da“, rief die Mutter ihnen freudig entgegen.

Die Frau machte ein verwirrtes Gesicht und stockte. Dann blies sie sich eine rötliche Locke aus der Stirn. Sie ging weiter, kam näher heran. Der Mann folgte ihr mit ausdruckslosem Gesicht. Die Neuankömmlinge umrundeten den Stamm, bis sie nahezu am Fußende von Max´ Behelfslager standen. Die Rothaarige setzte den Rucksack ab und als sie wieder hochkam, fuhr sie sich mit der Hand über den Hals. Sie musterte die am Boden kauernden Frauen kurz, nachdem sie Max einen prüfenden Blick zugeworfen hatte.

„Sind Sie von der Bergrettung?“, fragte Elsi mit misstrauischem Blick. Gespannt sah sie zu der Rothaarigen hoch.

Die Frau schüttelte langsam den Kopf. „Nein, sind wir nicht“, gab sie leise zurück.

Elsis Mutter stöhnte enttäuscht auf.

Auch Elsi empfand ihre gerade frustrierte Hoffnung wie einen Stich in die Brust.

Die Frau tauschte mit ihrem Begleiter einen raschen Blick aus. „Sind Sie mit dem Flieger abgestürzt?“ fragte sie, zur Mutter gewandt.

Die nickte kurz. „Mein Sohn.“ Sie zeigte auf Max. „Er muss rasch ins Krankenhaus.“

„Es tut mir leid“, sagte die Frau und um ihre Mundwinkel zuckte es. „Aber wir können nichts tun. Wir – wir waren am Berg, als es passierte.“

„Was passierte?“, wollte Elsi wissen.

„Sie wissen es also noch nicht?“, fragte die Frau zurück. Ihr Blick wanderte verlegen zu ihrem Begleiter.

„Was wissen wir noch nicht“, bohrte Elsi ungeduldig nach.

„Nun -“, die Frau zögerte, „wir sahen den Flieger in den Bäumen hängen und haben den Rauch gesehen.“

Elsi spürte, dass sie aus irgendeinem Grund von ihrer Frage ablenken wollte.

„Wir mussten sowieso hierher hoch“, fuhr die Frau fort. Wieder ging ihr Blick zu ihrem schweigsamen Begleiter. Der hatte sich auf einen Felsbrocken gesetzt. Den Rucksack hatte er sich auf die Knie gepackt. Ihren Blick schien er nicht zu bemerken. Er saß einfach nur mit zusammengepressten Lippen und starrem Blick da, stierte vor sich hin. Die Frau wandte sich wieder Elsi zu. Um ihre Mundwinkel spielte ein schmerzliches Lächeln und in ihren Augen lag ein seltsamer Blick. „Ich denke -“, begann sie, während sie sich neben Elsi auf eine Matte aus Fichtennadeln niederließ, „ich denke, wir leisten euch beim Warten Gesellschaft.“

Elsi nickte ihr gedankenverloren zu, während sie sich darauf konzentrierte, den verrutschten Sweater in Max´ Nacken wieder in eine für ihn angenehmere Position zu bringen.

Die Mutter lächelte dankbar herüber.

„Wenn wir schon da sind, können wir uns auch miteinander bekannt machen. Ich bin Jessica und das ist Fabian.“ Sie deutete auf ihren Begleiter, doch der reagierte nicht. Er hatte den Blick gesenkt und starrte den Boden an.

Elsi hatte ihre Tätigkeit unterbrochen, zuerst zu Jessica, dann zu Fabian hingeschaut. Sie wartete zwei Sekunden auf eine Reaktion von ihm. Als keine erfolgte, sagte sie: „Elsi.“ Sie sagte es leise und tippte sich leicht an die Brust. „Das ist meine Mutter Cora. – Cora Axt.“ Sie deutete neben sich.

Elsis Mutter beugte sich nach vorn und streckte Jessica ihre schlanke Hand entgegen.

Jessica ergriff sie und schüttelte sie leicht. „Das ist Max“, hörte sie Elsi sagen.

„Hoffentlich kommen sie bald.“ Frau Axt schaute Jessica mit ängstlichem Blick an.

„Ich sollte -“, Jessica räusperte sich, versuchte den Kloß, der plötzlich in ihrem Hals steckte, herunterzubekommen. „Ich sollte – ich muss euch jetzt doch sagen, was da draußen tatsächlich -.“ Ein Geräusch unterbrach abrupt ihre Ausführung. Es kam aus der Luft, irgendwo von oben, näherte sich.

„Ein Hubschrauber!“, stieß Elsi freudestrahlend aus. „Ein Hubschrauber – Mama, hörst du´s? Sie kommen! Endlich kommen sie!“ Ihre Stimme überschlug sich.

Sogar Fabian hob den Kopf und blickte stumm in die Richtung, aus der das knatternde Geräusch kam.

Es war tatsächlich das Geräusch eines Hubschraubers. Es bewegte sich über den seitlichen Hang hinweg, über den Jessica es vorhin mit Fabian zu dem Waldstück geschafft hatte. Irgendwo oberhalb vom Wald wurde es lauter, nahm immer mehr an Intensität zu. Dann plötzlich nahm es ab, verebbte. Die Frauen lauschten nach oben und suchten mit ihren Augen erwartungsvoll den Waldrand ab. Das Geflecht aus Zweigen, Ästen und Fichtenstämmen, die dicht an dicht standen, versperrte ihnen jedoch fast gänzlich die Sicht. Nur der Waldsaum war als heller Streifen auszumachen.

„Hilfe! Helfen Sie uns!“, schrie Elsi nach oben. Irgendwo brach krachend ein Ast. „Hallo, hier sind wir!“, brüllte sie erneut.

„Hilfe!“, krähte Frau Axt aufgeregt.

Auch Jessica beteiligte sich. Als sie einen zweiten Versuch unternahm, kam in Elsi Bewegung. Sie kam aus der Hocke hoch und eilte den Hang hinauf. Doch nach wenigen Metern verlangsamten sich ihre Schritte zu einem Humpeln. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte sie es weiter.

Nach zwei weiteren Schritten wurde sie von Jessica, die ihr hinterhergestiegen war und sie mittlerweile eingeholt hatte, am Arm zurückgehalten. „Ich gehe Ihnen entgegen, okay?“ Jessica schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und bewegte sich an ihr vorbei nach oben. Nach wenigen Metern tauchten oberhalb die Konturen zweier Männer auf.

„Hallo, hierher“, machte Jessica sich bemerkbar. Die beiden bewegten sich auf sie zu. Jetzt sah sie sie deutlich zwischen den Stämmen. Beide waren um die dreißig und trugen rote Jacken mit schwarzen Einsätzen. „Dass Sie nach all dem vorhin noch auf einem Rettungseinsatz sind.“ Jessica schaute den Größeren der beiden fragend an.

„Sind wir nicht“, antwortete er müde. „Wir waren zufällig da oben.“ Er deutete mit dem Finger über seine Schulter. „Wir hörten Rufe.“

„Sie kommen also nicht wegen dem Flugzeugabsturz?“

Beide machten ein erstauntes Gesicht, schüttelten den Kopf. „Wir sind oben nur gelandet, um die Lage zu peilen“, brachte sich der Kleinere ein, dessen Haare um einiges dunkler als die seines Kollegen waren.

„Ein Sportflugzeug. Liegt irgendwo unten im Wald“, erklärte Jessica. „Es gibt Überlebende. Ein junger Mann ist wohl schwer verletzt.“

„Hm“, machte der Größere und fuhr sich verlegen durch seine blonden, fast schon gelben Haare. „Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt.“ Der Anflug eines bitteren Lächelns huschte über sein Gesicht. „Ich bin übrigens Hansi Lenner. Von der Tiroler Bergwacht. Das ist mein Kollege Peter Pössl.“ Er deutete auf den Mann neben sich. Pössl reagierte, indem er ihr freundlich, aber mit trüben müden Augen zunickte.

„Ich bin Jessica – Jessica Bringmann“, erwiderte sie.

„Waren Sie im Flieger?“, wollte Pössl wissen.

„Nein. Wir waren auf einer Wandertour, als es passierte. Ein Freund von mir hat wohl seine Frau am Berg verloren.“ Sie schluckte und suchte nach Worten. „Wir beide haben es mit knapper Not hoch in den Wald geschafft. Dort stießen wir auf die Leute.“ Auffordernd sah sie erst Pössl und dann Lenner an. „Vielleicht können Sie doch was tun?“

„Was soll ich Ihnen erzählen. Sie wissen es ja selbst.“ Lenner sah sie mit ernstem Blick an und schob ein resigniertes Achselzucken hinterher. „Aber eine Erstversorgung kriegen wir schon noch hin.“ Beide setzten sich in Bewegung.

Jessica drehte um und schritt ihnen voraus.

„Wir schauen erst mal. Dann holen wir unsere Ausrüstung“, hörte sie Pössl. Sie nickte, ohne sich umzudrehen. Dann stockte sie, blieb stehen und drehte sich zu den beiden um. „Da ist noch eins“, begann sie. „Die Leute wissen noch nichts von dem da draußen. Sie haben gerade erst den Absturz überlebt. Überfallen Sie sie nicht damit!“

Lenner nickte.

„Wenn sie aus dem Wald raus sind, sehen sie´s eh“, gab Pössl zu bedenken.

„Das ist doch noch früh genug“, gab Jessica zurück.

Als sie bei den Axts ankamen, wurden sie von den beiden Frauen freudig begrüßt. Lenner fragte nach dem Hergang des Unglücks und machte sich, da Mutter und Tochter keine sichtbaren größeren Blessuren davongetragen hatten, an die Untersuchung von Max. „Er hat Prellungen am Bauch“, stellte er fest, als er Max´ Bauch freigelegt hatte. Er deutete auf die Stellen. „Wohl innere Verletzungen.“

„Er muss rasch ins Krankenhaus“, stieß Elsi hervor.

„Bitte, ganz rasch“, bettelte Frau Axt. Ihre Stimme klang flehentlich.

„Wir – holen die Trage und bringen ihn erst mal hoch zum Heli“, antwortete Lenner ihr ausweichend und warf Jessica einen Seitenblick zu. „Vielleicht hat sonst noch jemand überlebt. Einer muss da runter und nachschauen“, meinte er dann, zu Pössl gewandt. Der nickte.

„Das können Sie sich sparen“, bemerkte Elsi knapp. Lenner sah sie erstaunt an. „Ich war vorhin unten. Die anderen sind alle tot. Der Mann, die Frau und der Pilot. Einer fehlt. - Da war noch ein Mann mit uns in der Kabine.“ Sie presste kurz die Lippen zusammen. „Den muss es vorher rausgehauen haben. Bevor der Flieger hier unten in die Bäume krachte.“ Sie sah den Bergretter mit starrem Blick an. „Der andere Mann, der oberhalb vom Wrack, liegt auf halber Strecke mit eingeschlagenem Kopf im Hang. Die Frau in der Kabine, auch tot. Auch den Piloten hat´s – erwischt.“ Sie zögerte kurz vor dem letzten Wort und atmete danach tief durch, starrte weiter Lenner an.

Der zögerte, überlegte einen Moment. Er verkniff das Gesicht, schüttelte den Kopf. „Das da unten -“, er zeigte den Hang hinunter, „muss ich selber überprüfen. Anders geht das nicht.“

„Aber Max!“, hielt Elsi ihm vor. Auch Frau Axt, die neben Max kniete, sah ängstlich zu ihm hoch.

„Das dauert nicht lang. Ich bin gleich zurück“, sagte Lenner bestimmt. Er wandte sich von ihr ab und sah Pössl an. „Hol schon mal die Trage und den Rucksack. Leg ihm einen Zugang und spritz ihm was gegen die Schmerzen.“ Sein Finger wies in Max´ Richtung. Schon machte er sich an den Abstieg. Nach wenigen Minuten war er wieder zurück. „Da unten gibt es nichts mehr zu retten“, meinte er knapp.

Elsi machte eine Handbewegung, als wollte sie sagen: Hab ich´s nicht gesagt? Lenner ging nicht darauf ein, schritt auf seinen Kollegen zu. Er nahm ihn zur Seite. Beide steckten die Köpfe zusammen und tuschelten eine Zeit lang. Die Frauen schauten erstaunt hinüber, schwiegen jedoch und warteten dann, während die beiden Max für den Abtransport vorbereiteten.

Als Lenner sich aufrichtete, fuhr seine Hand in seine Jackentasche. Er zog ein Funkgerät hervor und drückte daran herum. „Die gehen immer noch“, meinte er zu Jessica mit einem schwachen Grinsen. Es rauschte, dann war eine Männerstimme zu hören. „Schorschi, wir kommen jetzt mit einem Schwerverletzten und vier weiteren Personen hoch. Zu allem Überdruss gab es heuer hier unten einen Crash. Einer dieser kleinen Geschäftsflieger von Cessna.“

„Wo sollen die bittschön hin?“, quakte die erstaunte Stimme des Mannes am anderen Ende.

„Das klären wir oben“, knurrte Lenner knapp und schaltete ab. Er steckte das Funkgerät zurück und gab allen ein Zeichen. Vorsichtig nahmen er und Pössl die Trage auf und schritten voraus. Als sie den Saum des Fichtenwäldchens fast erreicht hatten, stockte Lenner und raunte Pössl zu stehenzubleiben. „Wir setzen kurz ab“, wies er seinen Vordermann an. Zwei Sekunden später stand die Trage am Boden.

Die anderen hatten mittlerweile zu Lenner aufgeschlossen. Die Frauen schauten Lenner fragend an, während sich Fabians Blick ins Leere verlief.

„Also – wir fliegen euch jetzt allesamt hoch zur Freiburger Hütte, nur dass ihr´s wisst“, verkündete er entschieden. Sein Blick streifte Jessica.

Elsi schnappte hörbar nach Luft. „Aber er muss in die Klinik“, polterte sie los. Sie hatte den Kopf in den Nacken gelegt und funkelte Lenner trotzig an.

Frau Axt war ganz sprachlos und starrte die beiden Bergretter abwechselnd mit offenem Mund an. „Natürlich muss er das“, japste sie los. „Was denken Sie denn nur!“ Sie schnappte nach Luft. „Er kommt ins Krankenhaus, nur ins Krankenhaus und sonst nirgendwo hin!“

Jessica legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter, doch sie schüttelte sie ungehalten ab, zitterte jetzt am ganzen Leib.

„Es – es tut mir leid“, begann Lenner erneut. „Es tut mir furchtbar leid, aber wir können ihn in kein Krankenhaus fliegen.“ Er blickte Frau Axt fest ins Gesicht, doch in seiner Stimme lag Bedauern.

„Wieso denn nicht?“, fauchte Elsi ihn mit schmalen Augen an.

„Weil es kein Spital mehr gibt, das wir anfliegen können“, mischte sich Pössl ein. Alle Augen wandten sich ihm zu. „Sorry, Leute, aber die Wahrheit ist, dass wir landunter sind“, fuhr er mit verkniffenem Gesicht fort.

Elsi und ihre Mutter verstanden immer noch nur Bahnhof. Irgendwo in der Nähe knackte ein Ast, doch alle Augen blieben auf Pössl gerichtet, die derjenigen, die es bereits wussten, ebenso wie derjenigen, denen die Neuigkeit gerade den Boden unter den Füßen wegzuziehen drohte. Mutter und Tochter Axt stierten Pössl und dann Lenner mit unverständigen Blicken an.

„Es gab eine – phh! -“, er suchte nach Worten, „eine Wahnsinnsüberschwemmung. Überall da unten, überall.“ Er konnte nicht weitersprechen, drückte rasch eine Träne weg. „Wir waren im Tal, wo wir herkommen, haben darüber gekreist, immer wieder. Waren überall!“ Er stockte und schniefte. „Unsere Familien, Häuser, Ortschaften. Alles weg, alles unter Wasser.“ Er wischte sich noch ein paar Tränen mit dem Handrücken fort. „Das ganze Land, Orte, Städte, alles verschwunden.“ Traurig schaute er von Elsi weg.

„Es kam aus heiterem Himmel“, sprang Jessica ihm bei. „Eine riesige Wand aus Wasser. Sie rauschte auf einmal ins Tal.“ Sie schluckte, schloss einen Moment die Augen. „Alles geschah relativ leise. Ich meine, für das, was passierte, war es beinahe geräuschlos.“ Sie warf Fabian einen Blick zu, suchte in seinem Gesicht nach einer Bestätigung.

Fabian nickte leicht und wie in Gedanken.

„Wir waren auf einer Tour. Da vorn am Berg.“ Jessica wies mit dem Finger hangabwärts nach links, wo dichte Baumkronen den Blick in die Ebene verdeckten. „Der Tod kam ganz leise. Für die Leute da unten muss es von jetzt auf gleich vorbei gewesen sein.“ Sie machte eine Pause und atmete schwer. „Dann klatschte die Flut überall an die Felsen, stieg hoch, ganz rasch. Es war furchtbar. Nein, nicht furchtbar“, korrigierte sie sich. „Es raubte einem für einen langen Moment den Verstand, lähmte einen. Es -.“ Sie stockte, schüttelte nur noch den Kopf.

„Ihr seht es ja gleich selber“, meinte Lenner mit belegter Stimme. Damit beendete er das unbehagliche Schweigen, das nach Jessicas Worten entstanden war. Er gab Pössl ein Zeichen. Die Bergretter nahmen die Trage mit dem Verletzten wieder auf und setzten den Aufstieg zum Waldsaum fort. Die anderen stapften ihnen schweigsam hinterher. Als sie ins Freie traten, hörte man nur das Rauschen kreisender Rotorblätter, das gerade einsetzte. Ansonsten war alles still. Nur ein leiser Wind strich kaum hörbar durch die Wipfel der Fichten und bewegte die Halme der verschonten Almwiesen. Der Helikopter stand gut dreißig Meter oberhalb auf einem schmalen Plateau und glänzte in der Sonne wie eine überreife Tomate. Keiner beachtete ihn. Alle zog es sofort, nachdem sie den Wald verlassen hatten, zu einer nahen Kuppe, von der sich ihnen ein weiter Blick ins Tal bot. Jedem, ob er es bereits zuvor oder jetzt zum ersten Mal sah, verschlug der Anblick den Atem. Das Tal, wie sie es kannten, war verschwunden.

Jessica suchte die Hand von Fabian, der neben ihr stand, und drückte sie stumm. Er stand stocksteif wie eine Statue und starrte hinunter. Auch die anderen waren wie versteinert. Das Wasser reichte bis zum Horizont. Aus unerfindlichem Grund war plötzlich ein neues Meer entstanden. Etwas, wofür die Natur mehrere Millionen Jahre brauchte, hatte sich wie im Zeitraffer in Minuten abgespielt. Jessica spürte den Tod, der seine unheimliche Hand über das Tal ausgebreitet hatte, glaubte ihn fast zu riechen. Nicht nur über das Tal. Sie dachte an daheim und spürte, wie eine eiskalte Faust ihr Herz umklammerte.

Wenig später rauschten sie im Helikopter am Kaiserjoch vorbei. Der Pilot, ein Mann mit dunkler Fliegerbrille und tiefbraunem Gesicht, hielt kurz danach auf den Muttekopf zu. Einer der beiden Bergretter hatte Max eine Infusion angehängt und Lenner, der auf einer Art Notsitz neben ihm saß, sprach ihn immer wieder an. Die Mutter und die Schwester, die unmittelbar neben ihm saßen, beäugten ihn besorgt. Jessicas Blick fiel aus dem Fenster auf die endlose Wasserfläche, über die der Hubschrauber hinwegschoss. Sie schaute entgeistert, immer noch entgeistert, auf das, was sie sah. Die Alpenregion, wie man sie gekannt hatte, gab es nicht mehr. Die langgestreckte und seitlich verzweigte Gebirgskette hatte sich anscheinend in eine bizarre Insel verwandelt, die nach Norden und Westen von Wasser eingerahmt war. Die vielen grünen Täler dazwischen waren verschwunden, wie vom Wasser verschluckt, und das Vorgebirge hatte einen neuen Strand bekommen, an den die Brandung schlug. Sie dachte an das, was sie durch das Wasser verloren hatte. An die daheim, die es -. Sie versuchte, den Gedanken abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Sie sah ihre Gesichter vor sich, mit denen die Namen auftauchten: Jana, Steffi, Bastian, Jens, ja - auch Jens. Vreni. Die arme Vreni! – Jessicas Gedanken kreisten weiter. Die eigenen Eltern bereits verstorben, kein Kind. Ihre persönliche Trauerliste war kurz. Gottseidank!