Eisrosensommer - Ulrike Bliefert - E-Book

Eisrosensommer E-Book

Ulrike Bliefert

4,5
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Pia, Richterin an einem Schülergericht, verliebt sich unsterblich in einen der Delinquenten - den charismatischen Jonas. Opfer einer Verleumdung sei er, behauptet Jonas, und Pia will ihm nur allzugern glauben. Doch es häufen sich unerklärliche, äußerst beunruhigende Vorfälle. Nach einem verheerenden Unfall beschleicht Pia ein furchtbarer Verdacht: Ist Jonas doch nicht so unschuldig, wie er behauptet? Was sie nicht ahnt: Je näher sie der schrecklichen Wahrheit kommt, desto mehr gerät sie selbst in tödliche Gefahr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 181

Bewertungen
4,5 (18 Bewertungen)
12
3
3
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Ulrike Bliefert,Jahrgang 1951, ist den Fernsehzuschauern u. a. als Darstellerinder Maximiliane in der Verfilmung von Christine BrücknersJauche und Levkojen / Nirgendwo ist Poenichen und alsUlla in der Comedyserie Das Amt bekannt.Sie schreibt zudem erfolgreich Drehbücher.Ulrike Bliefert ist mit einem Schauspielkollegen verheiratet,hat eine Tochter und lebt in Berlin.Sie hat inzwischen mehrere Jugendthriller veröffentlicht.

Titel

Ulrike Bliefert

Eisrosensommer

Impressum

Erste Veröffentlichung als E-Book 2012© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2012Alle Rechte vorbehaltenCovergestaltung: Frauke Schneider unter Verwendungeines Fotos von Marina Mariya © shutterstockISBN 978-3-401-80127-8www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Definition

PsychopathPerson, die wiederholt mit gesellschaftlichenNormen in Konflikt gerät, keine Schuldgefühle kennt und zur Loyalität anderen gegenübernicht fähig ist.Quelle: Spektrum Akademischer Verlag

Prolog

21.15 h Die letzten Schüler verlassen den Seitentrakt des Humboldt-Gymnasiums.

Im Innern des Gebäudes entsorgt Len­nart Peters (18) ein gebrauchtes Tempotaschentuch im Papierkorb, klaubt einen heruntergefallenen und dann offenbar vergessenen Kugelschreiber vom Boden auf, testet ihn auf der Rückseite einer zerknüllten Busfahrkarte auf seine Funktionstüchtigkeit und steckt ihn ein.

Draußen auf dem Oberstufenhof wird es still. Es beginnt zu schneien.

Len­nart Peters wirft einen flüchtigen Blick auf sein Handy.

21.18 h Er stapelt die Stühle aufeinander, schiebt sie in die Ecke und schließt den Oberstufenraum ab.

Als er im Begriff ist, auch die Außentür abzuschließen, bemerkt er, dass er seinen Schal an der Garderobe hängen gelassen hat.

Er geht zurück. Den Schlüssel lässt er stecken.

21.23 h Len­nart Peters verlässt erneut das Schulgebäude. Als der Schlüssel nicht im Schloss steckt, durchsucht er irritiert die Taschen seines Parkas, dann die Außenfächer seines Rucksacks.

21.25 h Auf dem Parkplatz heult ein Motor auf.

Len­nart Peters schrickt zusammen und läuft auf seinen Wagen zu.

Offenbar hat sich jemand einen Scherz erlaubt.

»Hey! Was soll das?!«

Er versucht, die Gestalt hinter dem Steuer zu erkennen.

Scheinwerfer blenden auf.

Len­nart Peters reißt den Arm hoch, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen.

»Mensch, hört auf mit dem Quatsch!«

Der Wagen setzt zurück, wendet, rast auf die Umfriedungsmauer des Sportbereichs zu und schrammt kreischend daran entlang.

Dann wendet er erneut und bleibt stehen.

Len­nart Peters beginnt zu rennen.

»Seid ihr wahnsinnig geworden oder was?!«

Er nestelt sein Handy aus der Tasche und hält es demonstrativ hoch.

»Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, ruf ich die Polizei!«

Der Motor heult im Stand erneut auf.

Als Len­nart Peters bis auf wenige Meter an den Wagen herangekommen ist, tritt der Unbekannte hinter dem Steuer das Gaspedal durch. Len­nart Peters wird vom linken Kotflügel gestreift und auf den Asphalt geschleudert.

21.28 h Er liegt bewusstlos am Boden. Aus seiner aufgerissenen Lippe sickert Blut.

Als er wieder zu sich kommt, steht sein Wagen mit geöffneter Fahrertür mitten auf dem Parkplatz.

Len­nart Peters richtet sich benommen auf.

In der Ferne hört er schwach das Geräusch eines sich entfernenden Mofas.

Sein Handy ist verschwunden.

Knapp drei Monate später gelangt der «Fall Len­nart Peters« auf den Tisch des Teen-Court Leipzig: ein fünfköpfiges Richterteam aus Schülerinnen und Schülern verschiedener Schulen, unter Supervision von Fabian Schmücke, Sozialarbeiter (27).

Keiner der Anwesenden ahnt, dass ihr Urteil den sprichwörtlichen Schneeball auslösen wird, der auf dem Weg zum Tal zur tödlichen Lawine anwächst, die alles mit sich reißt und zerstört.

1

Der Optiker drehte und wendete das Gestell in den Händen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Und Sie wollen diese Monstrosität tatsächlich freiwillig im Gesicht spazieren tragen?«

»Ja, will ich.«

Pia Canisius schob energisch das Kinn vor und schickte einen – wie sie hoffte – eiskalt entschlossenen Blick über die Verkaufstheke. Als ungefärbte, echte, wirkliche und wahrhaftige Blondine hatte man’s nicht leicht mit eiskalt entschlossenen Blicken; zumal, wenn – wie in Pias Fall – noch himmelblaue Augen und ein Porzellanteint dazukamen, und gut zehn Zentimeter an einer wenigstens ansatzweise imponierenden Körpergröße fehlten.

»Freu dich doch«, pflegte ihre Schwester Nele – lang, schlaksig, rothaarig und sommersprossig – zu sagen. »Ist doch Gold wert! Die Kombi weckt bei Männern sozusagen automatisch Beschützerinstinkte!«

Aber Pia wollte nicht beschützt werden! Pia hatte es gründlich satt, von ihrer Schwester wie ein Kind behandelt und von ihren Eltern trotz ihrer beinahe achtzehn Jahre immer noch »Mäuschen« gerufen zu werden.

Der Optiker tappte ungeduldig mit dem Brillengestell auf seine Handfläche. »Wir hätten da was im Angebot, das Ihnen bestimmt eher …«

»Nein, danke.«

Pia starrte den jungen Mann so durchdringend an, wie sie nur konnte.

Ob man auch mit Brille Leute hypnotisieren kann?

Dass sie neuerdings eine – wie die Ärztin es genannt hatte – »Sehhilfe« brauchte, empfand sie beinahe als persönliche Niederlage. Aber Kontaktlinsen, wie Nele sie trug, waren ihr viel zu umständlich. Und so hatte sie nach der Devise »Wenn schon, denn schon!« ein riesengroßes, dunkelblaues 80er-Jahre-Gestell ersteigert. Bei E-bay. Mit daumenbreiten Bügeln und Fassungen, die an alte Fernsehbildschirme erinnerten. Ziemlich genau das Gegenteil von schlicht und unauffällig.

»Bei unserem Angebot des Monats würden Sie sogar noch gratis eine Sonnenbrill. . .«

»Nein!«

»Und unsere Versicherungspolice für den Fall, dass Ihnen das gute Stück einmal zu Bruch gehen sollte?«

Pia kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

Achselzuckend und offensichtlich in seiner Berufsehre gekränkt tütete der junge Mann das blaue Monstrum ein und beschriftete den Abholzettel.

»Ist morgen Nachmittag fertig.«

Pia warf einen raschen Blick auf ihr Handy-Display.

Kurz nach drei. Könnte knapp werden.

Die Teen-Court-Sitzungen begannen zwar immer erst um vier, aber Fabian Schmücke, der betreuende Sozialarbeiter, hatte eine obligatorische Abchillphase eingeführt: Handys und iPods aus, zusammen Kaffee oder Tee trinken und erst mal runterkommen, bevor die eigentliche Verhandlung losging.

»Danke. Tschüssi.«

Der Optiker brummelte ungnädig: »Ja. Wiedersehn«, und Pia rannte zur Bahnhaltestelle.

Während der Fahrt ließ sie in Gedanken noch einmal die Ereignisse Revue passieren, über die sie heute im Schülergericht zu urteilen hatten.

Der Fall hatte vor drei Monaten reichlich Staub aufgewirbelt: »Nächtlicher Spuk auf dem Schulhof«, hatte der Leipziger Kurier getitelt. Von »unbekannten Vandalen« war die Rede gewesen und davon, dass »unsere Kinder selbst in der Schule nicht mehr sicher« seien.

Typisch, dachte Pia, reine Panikmache.

Der Zeitungsbericht hatte definitiv nicht den Tatsachen entsprochen, denn erstens hatte sich das Ganze zwar in winterlicher Dunkelheit, aber keineswegs nachts abgespielt, und zweitens handelte es sich bei der mysteriösen Gestalt hinter dem Steuer keineswegs um einen »unbekannten Vandalen«, sondern um Len­nart Peters’ siebzehnjährigen Mitschüler Jonas Romeike, den einzigen Teilnehmer des abendlichen Bio-Tutoriums, der ein Mofa sein eigen nannte. Dass er zudem so unvorsichtig war, das gestohlene Handy in der Mülltonne vor der elterlichen Villa zu entsorgen, hatte dafür gesorgt, dass er gleich am nächsten Morgen dingfest gemacht werden konnte.

Doof noch dazu, schoss es Pia durch den Kopf, typisch Söhnchen reicher Eltern.

Doch sie rief sich sofort zur Ordnung: Mit Sicherheit waren nicht alle Kinder reicher Eltern wohlstandsverwahrloste Egozentriker; schließlich stammte sie selbst aus einer ausgesprochen gut betuchten Familie. Aber sie hatte festgestellt, dass die Reichen in Fernsehkrimis fast immer die Bösen waren, und es regte sie auf, dass dieses Vorurteil in Gestalt von Jonas Romeike womöglich wieder mal bestätigt wurde.

Die Teen-Court-Sitzungen fanden im Leipziger Süden statt, in einem Gebäude, zu dem der prosaische Name »Jugendhaus« nicht so recht passen wollte: Außen sonnengelb und innen weiß gestrichen, mit hohen Räumen und fast überall noch erhaltenen Stuckdecken. Das Mobiliar bestand aus einem gemütlichen Sammelsurium ausrangierter Einzelstücke, und von der Terrasse im Hochparterre gelangte man über ein paar Stufen in einen herrlich verwilderten Garten. Fabian Schmücke, der zuständige Sozialarbeiter, hatte dort im vergangenen Sommer sogar einen kleinen Goldfischteich angelegt.

Als Pia ankam, waren Marlon und Katja bereits dabei, Tee zu kochen. Katja hatte Kekse mitgebracht – ihre Eltern hatten einen Spätkauf-Kiosk, und da fiel immer mal das ein oder andere für die Sitzungen ab – und Fabian Schmücke legte die Fotokopien aus, auf denen noch mal alle wesentlichen Punkte zum aktuellen Fall zusammengefasst waren.

Pia ließ ihren Rucksack fallen, verteilte rasch noch ein paar Kaffeebecher auf dem Tisch und vertiefte sich in die Unterlagen.

»Sagt mal, findet ihr das nicht irgendwie seltsam? Seit wann landen denn solche Hämmer bei uns auf dem Tisch? Für mich sind das gleich fünf Straftaten auf einmal!«

»Ist doch egal. Was letztlich auf unserem Tisch landet, bestimmen schließlich nicht wir, sondern die Staatsanwaltschaft«, brummte Marlon und machte sich über die Kekse her. »Außerdem gehört den Eltern von Jonas Romeike die älteste und renommierteste Tanzschule hier in Leipzig. Die räumen schon in dritter Generation regelmäßig Goldmedaillen ab. So jemandem pinkelt man nicht ans Bein, wenn’s sich vermeiden lässt, verstehste?«

»Was heißt denn ans Bein pinkeln?!«, mischte Katja sich ein. »Das saubere Söhnchen von denen hat sie doch wohl nicht mehr alle. Dem Typ gehört gewaltig eins auf die Mütze!«

»Genau!« Demonstrativ zählte Pia Jonas Romeikes Sündenregister an den Fingern ihrer linken Hand auf: »Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs, Sachbeschädigung, fahrlässige oder sogar vorsätzliche Körperverletzung, Fahrerflucht und Diebstahl.«

Marlon kicherte. »Der Apfel fällt nicht weit vom Birnbaum …«

»Musst du immer wieder auf dem Thema rumhacken?!«

Pia fuhr regelmäßig aus der Haut, wenn jemand sie auf die Canisius’sche Familientradition ansprach: Sie hatte nicht die geringste Lust, in die Fußstapfen von Mutter, Vater, Schwester, Großvater und Urgroßvater zu treten und Rechtsanwältin zu werden. Aber die ewige Paragrafen-Diskutiererei zu Hause färbte natürlich trotzdem ab.

»Mensch, der Typ hat riskiert, dass Len­nart Peters schwer verletzt wird! Wieso geht es dann plötzlich nur noch um Paragraf 248b und 142? Unbefugter Gebrauch eines Fahrzeugs und unerlaubtes Entfernen vom Unfallort: Das sind doch Bagatellen!«

»Eben!« Fabian Schmücke ließ sich in seinen Schreibtischsessel fallen, ein Stück abseits vom Konferenztisch: Er gehörte schließlich nicht direkt zum Schülergremium, sondern hatte lediglich eine Art Aufsichtsfunktion. »Und nur darüber habt ihr hier und heute zu befinden. Alles andere ist nicht euer Bier.«

»Aber… Dieser Jonas Romeike ist doch eindeutig ein Riesenarschloch!«

»Vergiss es, Pia. Für Riesenarschlöchigkeit geht man nun mal nicht in den Knast. Sonst säße schließlich mehr als die Hälfte der Menschheit im Gefängnis.«

»Haha …« Pia zog eine ungnädige Grimasse. Manchmal ging ihr Fabians unerschütterlich gute Laune mitsamt seinen lahmen Scherzchen wirklich auf die Nerven.

Doch bevor sie sich weiter aufregen konnte, lenkte er ein. »Okay, Leute, ich versteh ja eure Bauchschmerzen. Aber fahrlässige Körperverletzung ist nun mal kein Offizialdelikt und Len­nart Peters hat seine Anzeige keine vierundzwanzig Stunden später zurückgezogen. Die Sache mit dem Handydiebstahl hat er auch auf sich beruhen lassen. Das Ding war zwar uralt, aber es hat den Aufenthalt in der Mülltonne schadlos überlebt. Wahrscheinlich, weil es uralt war.« Er zuckte die Achseln. »Wo kein Kläger, da kein Richter.«

Bevor Pia etwas erwidern konnte, stürmten Laura und Patrick – zwei weitere Teen-Court-Mitglieder – den Sitzungsraum.

»Hi, Leute!«

«Na? Kloppt ihr euch mal wieder um irgendwelchen Killefitt?«

Während Fabian breit grinsend nickte, schüttelte Pia energisch den Kopf. »Von wegen Killefitt! Der hat den Typi doch eindeutig mit Absicht angefahren!«

»Ach komm, Pia, reg dich ab!« Patrick kramte seine Zigarettendreh-Utensilien hervor und sprach, den Filter lässig zwischen die Lippen geklemmt, weiter. »Len­nart Peters ist hingeknallt und hat sich die Rübe angeschlagen. ’n paar Schürfwunden, blaue Flecken und ’ne aufgeplatzte Lippe. Ist doch nichts Dramatisches.«

»Genau.« Auch Laura hielt Pias Bedenken offenbar für reichlich übertrieben.

Oder sie will einfach nur Patrick imponieren, dachte Pia resigniert. Während Patrick schwungvoll die zweite Zigarette in Angriff nahm, atmete sie tief durch und machte – um einen ruhigeren Tonfall bemüht – einen zweiten Versuch: »Überlegt doch mal! Dass das Ganze relativ glimpflich ausgegangen ist, ändert doch nichts dran, dass Jonas Romeike schuld an allem war!«

Laura zog einen Flunsch. »Kann uns doch wurscht sein. Vielleicht ist Len­nart Peters einfach nur gestolpert oder ausgerutscht.« Sie gierte bereits nach der Zigarette. »Kann doch jedem, der im Dunkeln irgendwo rumrennt, passieren.«

»Er wär’ aber nicht im Dunkeln rumgerannt, wenn das mit dem Wagen nicht passiert wäre!«, trumpfte Pia auf. Aber Patrick und Laura waren bereits auf dem Weg zur Terrasse.

Pia seufzte. Jedenfalls wird der Typ von mir kein Verständnis zu erwarten haben, schwor sie sich innerlich.

Im Nachhinein war ihr klar, dass vermutlich noch nie jemand so schnell seinen Prinzipien untreu geworden war wie sie, als Jonas Romeike eine knappe Viertelstunde später den Besprechungsraum betrat: dunkelblaue Augen, lange, lockige schwarze Haare und ein Gesicht wie einer jener blassen romantischen Dichter des vorletzten Jahrhunderts, die lebenslang an Liebeskummer litten und irgendwann an Schwindsucht starben. Oder wie der bleichsüchtig-schwermütige Hauptdarsteller einer neuzeitlichen Vampirschmonzette.

Kontaktlinsen!, dachte Pia als Allererstes, doch bei näherem Hinsehen wurde ihr klar, dass das poetische Augenblau genauso echt war wie das ungewöhnlich tiefe Schwarz von Jonas Romeikes schulterlanger Lockenpracht. Passend dazu war er von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet.

»’n Tag«, sagte er und blieb in der Tür stehen, bis Fabian ihn mit Handschlag begrüßte und hereinbat.

Während Fabian zum Zeichen, dass er nicht aktiv an der Urteilsfindung beteiligt war, zurück zu seinem Sessel schlappte, setzten sich Katja, Marlon und Laura auf der linken und Pia mit Patrick auf der gegenüberliegenden Seite an den Verhandlungstisch.

Als Jonas Romeike neben ihr Platz nahm, stellte Pia fest, dass er nicht nur gut aussah, sondern zu allem Überfluss auch noch verdammt gut roch.

Bestimmt irgendeins von diesen tollen Männer-Deos, bei deren Duft die Mädels in den Werbespots reihenweise durchdrehen. Aber lass dich nicht ablenken, Pia!

Jonas begrüßte die Runde mit einem Kopfnicken und bedachte Pia mit einem verhaltenen kleinen Lächeln.

Pia lächelte nur ein ganz, ganz kleines bisschen zurück.

Glaub ja nicht, du kannst mich auf die Tour rumkriegen!

Was folgte, waren die üblichen Präliminarien: Vorstellung aller Beteiligten, Festlegen der Gesprächsregeln und schließlich der Hinweis, dass die vom Teen-Court beschlossenen Sühne- oder Wiedergutmachungsmaßnahmen nur dann die Umgehung eines ordentlichen Gerichtsverfahrens nach sich ziehen würden, wenn die entsprechenden Auflagen auch tatsächlich erfüllt wurden.

Jonas hörte mit gesenktem Kopf zu und nickte ab und zu bestätigend.

Er sieht überhaupt nicht durchgeknallt aus. Aber das tun psychopathische Serienkiller schließlich auch nicht.

Pia warf einen kurzen Blick zu Katja hinüber. Die strahlte Jonas Romeike an wie ein Honigkuchenpferd. Laura ebenso.

Na bravo.

Die Jungs guckten finster; besonders Patrick, dem Lauras offensichtlich hingerissenes Lächeln nicht entgangen war.

Der platzt gleich vor Eifersucht, dachte Pia. Auch nicht gerade das Gelbe vom Ei, wenn’s um höchstrichterliche Neutralität geht.

Doch während Jonas seine Version der Geschichte erzählte, entspannte sich die Stimmung am Tisch zusehends.

»Das Ganze war doch nur als Witz gedacht!« Er ahmte mit erhobenen Händen eine Geistererscheinung nach und verstellte die Stimme: »Buhuuu, wie spooky, mein Auto fährt von ganz alleine auf dem Parkplatz rum und so…«

Laura kicherte. Danach war es still am Tisch. Alle schauten Jonas erwartungsvoll an.

Nach einer Weile kramte er umständlich ein Tempotaschentuch hervor und knetete es – als immer noch keiner am Tisch etwas sagte – nervös in den Händen.

»Mensch, ich kann doch nur Schaltwagen fahren«, erklärte er schließlich zerknirscht. »Automatik?« Er zuckte die Schultern, »Hab ich keine Ahnung von! Und dann waren da nur zwei Pedale statt drei und da… Najaaa, da hab ich die Bremse mit dem Gaspedal verwechselt. Scheiße…«

Erneutes Taschentuchkneten.

Marlon zuckte die Achseln. »Verstehe. Shit happens.«

Pia merkte, wie sie – ohne es zu wollen – erleichtert ausatmete. Jonas’ Geschichte klang einleuchtend.

Keine gute Idee, die Sache mit dem Autoschlüsselklau, aber bestimmt nicht mit irgendwelchen finsteren Absichten verbunden.

»Okay. Aber über die Tatsache, dass Len­nart Peters bei diesem Vorfall verletzt wurde, haben wir hier ja sowieso nicht zu befinden«, hörte sie sich sagen. Das klang, wie sie erschrocken feststellte, reichlich geschraubt.

Ach, was soll’s? Schließlich geht es hier ja nicht da­rum, bei Jonas Romeike zu punkten, sondern darum, ein gerechtes Urteil zu fällen!

»Trotzdem wüssten wir gern, warum du einfach abgehauen bist, als dein Kumpel da am Boden lag. Hätte doch wer weiß was passiert sein können.«

»Len­nart Peters ist kein Kumpel.«

»Bitte?«

»Len­nart Peters ist…« Jonas unterbrach sich und sprang auf. »Ach Scheiße. Hat ja eh keinen Zweck!«

Der Stimmungswechsel kam so plötzlich, dass zunächst niemand reagierte. Als Jonas jedoch Anstalten machte, den Raum zu verlassen, ging Fabian dazwischen. »Mensch, Mann! Wenn du das Angebot hier nicht annimmst, gibt’s ein richtiges Gerichtsverfahren. Und da wirst du mit hundertprozentiger Sicherheit verknackt. Das ist dir doch klar, oder?«

»Najaaa…«, Jonas blieb unschlüssig in der Tür stehen, »wenn ich hier sage, was davor so alles abgelaufen ist, dann heißt es doch gleich: Der hat den mit Absicht umgefahren!«

Das war – wenn auch indirekt – ein klares Misstrauensvotum gegen das Richtergremium! Sofort redeten alle gleichzeitig auf Jonas ein:

»Quatsch!«

»Wir sind doch nicht bescheuert!«

»Komm, jetzt setz dich erst mal wieder hin!«

»Darum geht’s doch hier überhaupt nicht!«

Jonas ließ sich noch einen Augenblick lang bitten, dann ging er zurück an seinen Platz, stützte die Ellenbogen auf und schaute, als er weitersprach, niemanden an.

»Len­nart Peters ist das Schulgenie! Und ’n Heiliger noch dazu! Gibt uns Normalsterblichen jeden Freitag kostenlos Nachhilfe: Bio-Tutorium! Hat er erfunden! Und dafür sogar den Schlüssel vom Hausmeister gekriegt.«

»Ja und? Ist doch nett von ihm. Ich meine: von Len­nart Peters.« Pia dachte an die neun Euro, die sie pro Nachhilfestunde verdiente und die sie verdammt gut brauchen konnte. Dieser Peters schien ein komischer Kauz zu sein, wenn er darauf verzichtete.

Jonas zuckte die Achseln. »Was heißt denn nett? Die Eltern von dem ham ’n Reiterhof. Also: Das sind eigentlich Bauern.« Er zog geringschätzig eine Augenbraue hoch. »Aber der Herr Sohn macht einen auf Super-Intellektueller!«

»Nana, nun mal langsam«, murmelte Marlon.

Oje. Das gibt zumindest von Marlons Seite Punkteabzug für Vorurteile, dachte Pia. Andererseits…

Andererseits schien dieser Peters tatsächlich kein angenehmer Zeitgenosse zu sein.

»Der Typ macht sich ständig bei den Lehrern lieb Kind. Und hinter unserem Rücken quatscht er mit denen über uns! Wie wir bei ihm im Tutorium mitmachen und so. Sogar Hausaufgaben gibt der uns auf!«

Marlon gab einen Grunzlaut von sich. »Kapiert. Kommt nicht gut, so was. Und da wolltest du ’s ihm mal so richtig heimzahlen, ja?«

»Nein! Ich wollt’ ihn nur ’n bisschen… erschrecken. Mehr nicht.«

Pia war hin und her gerissen. Einerseits schien dieser Peters ein ziemlich mieser Strebertyp zu sein, andererseits hieß das natürlich noch lange nicht, dass man deswegen seinen Autoschlüssel klauen, ihn über den Haufen fahren und dann einfach abhauen durfte.

»Ich geb ja zu, dass ich den Peters nicht abkann, aber…« – einen Moment lang sah es so aus, als ob Jonas Romeike in Tränen ausbrechen würde – »…aber ich bin doch kein Monster! Ich hab doch gesehen, dass ihm nichts weiter passiert ist.«

»Ach? Mediziner oder was?« Patrick konnte manchmal richtig schnippisch sein.

»Nee! Der Wagen hat ihn doch gar nicht berührt. Es hatte geschneit an dem Abend. Und er ist einfach nur beim Laufen ausgerutscht.«

Die weitere Besprechung dauerte keine halbe Stunde. Dann waren sich alle Beteiligten darin einig, dass es sich um nichts weiter als einen blöden Streich gehandelt hatte, und da Jonas’ Eltern den Blechschaden widerspruchslos bezahlt hatten und Len­nart Peters nicht ernsthaft verletzt worden war, fiel das Urteil entsprechend milde aus:

»Wir schlagen vor, dass du dich bei Len­nart Peters und seinen Eltern in aller Form entschuldigst…«

»…und als Wiedergutmachung an vier Wochenenden auf dem Peters-Hof bei der Arbeit hilfst. Einverstanden?«

Die Sache mit dem Helfen auf dem Reiterhof war Marlons Idee gewesen, von wegen Vorurteile und so weiter.

Jonas nickte. »Okay«, sagte er leise, »danke.«

Dann griff er nach seiner Tasche, warf das mittlerweile völlig zerfledderte Tempotaschentuch nach einem höflichen »Darf ich?« in den Papierkorb neben Fabians Schreibtisch und verabschiedete sich bei jedem einzelnen der Teen-Court-Mitglieder mit Handschlag.

»Danke«, sagte er in der Tür stehend noch einmal.

Dann war er verschwunden.

Schade eigentlich, dachte Pia.

Dass sie im Anschluss an die Sitzung noch eine – wahrscheinlich wie immer mordsanstrengende – Latein-Nachhilfestunde mit Rebecca Matussek zu absolvieren hatte, passte Pia überhaupt nicht in den Kram. Sie beschloss, die Stunde ausnahmsweise abzusagen. Zu ihrem Leidwesen ging jedoch nicht Rebecca selbst, sondern deren Mutter an den Apparat.

»Frau Matussek, es tut mir wahnsinnig leid, dass ich so kurzfristig…«

»Piiiia! Wie schön!« Therese Matussek pflegte jedes Mal das i wie eine Koloratursopranistin lang zu ziehen, und selbst bei den banalsten Anlässen erweckte sie den Eindruck, sie spiele die Hauptrolle in irgendeiner großen Oper.

Pia hatte mehr als einmal den Versuch gemacht, die Sache mit den Nachhilfestunden zu beenden, aber Rebeccas Mutter schaffte es jedes Mal, sie zum Weitermachen zu überreden. Selbst diesmal, wo es nur um die Absage einer einzigen Stunde ging, hatte sie sofort eine – wie sie es nannte – »wunderbare Idee«, um Pias Absichten zu durchkreuzen und die Stunde doch noch stattfinden zu lassen.

»Becky…« – sie nannte ihre Tochter Becky statt Rebecca – »…Becky kann dir doch einfach auf halbem Weg entgegenkommen. Oder noch besser: Ihr trefft euch im Bretschneider-Park! Bei den Steinbären! Unregelmäßige Verben kann man auch auf der grünen Wiese pauken!«

»Aber, Frau Matussek, ich… «

»Ich bring Becky mit dem Auto zum Coppiplatz! In zehn Minuten ist sie da! Dann musst du jetzt nicht erst umständlich zu uns rauskommen, und anschließend bist du ja vom Park aus in ein paar Minuten zu Hause! Einverstanden?«

»Ja, aber…«

Doch Therese Matussek hatte bereits aufgelegt.

Jedes Mal dasselbe, dachte Pia und ärgerte sich über sich selbst. Das Schlimmste war, dass Rebeccas Mutter sie zu allem Überfluss auch noch als eine Art beste Freundin ihrer Tochter betrachtete.

Wahrscheinlich, weil Rebecca-Becky keine anderen Freunde hat!

Pia selbst hatte zwar, nachdem ihre Freundin Amelie zum Schuljahrswechsel nach München gezogen war, noch niemanden gefunden, der Amelies Platz hätte einnehmen können, aber in Rebeccas Fall lagen die Dinge eindeutig anders: mit ihr wollte niemand näher zu tun haben.

Verwunderlich war das nicht, denn ihre abgedrehte Mutter hielt sich selbst für eine Auserwählte und ihre Tochter für eine Art intergalaktisches Zauberwesen: »Becky ist ein Perlen-Kind! Ihre Aura ist irisierend weiß, wie eine Perle, verstehst du, Pia?«

Natürlich hatte Pia rein gar nichts verstanden, aber Therese Matussek schien das nicht zu stören. Ihre Erklärung für das Becky-Phänomen klang genauso wenig plausibel: »Perlen-Kinder sind im Grunde nicht von dieser Welt; sie haben sich freiwillig inkarniert, als kosmische Wegbereiter einer neuen menschlichen Evolution.«