Lügenengel - Ulrike Bliefert - E-Book + Hörbuch

Lügenengel E-Book

Ulrike Bliefert

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Beschreibung

Leonie liebt es, mit ihrer besten Freundin Meike bouldern - klettern - zu gehen. Gemeinsam verbringen sie in einem Berliner Club jede freie Minute mit ihrem Hobby. Bis sich eines Tages die geheimnisvolle Sonja zwischen die Freundinnen stellt. Noch ahnt Leonie nicht, wer das Au-Pair-Mädchen wirklich ist. Doch dann gerät ihre Familie in große Gefahr...

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Seitenzahl: 257

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Ulrike Bliefert

Lügenengel

Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2007 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: Frauke Schneider E-Book-Umsetzung: CMS – Cross Media Solutions GmbH, Würzburg ISBN 978-3-401-80031-8

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Prolog

Sie ließ sich über den Rand der Brüstung fallen. Der Boden war übersät mit Scherben. Vorsichtig versuchte sie, sich aufzurichten. Glas knirschte unter ihren Sohlen. Einen Moment lang lähmte die Angst jede ihrer Bewegungen. Dann trat sie über die Schwelle und lauschte. Nichts. Stille. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, ging sie weiter. Um sie herum Relikte menschlicher Existenz: der Fetzen eines fleckigen, alten Teppichbodens, ein durchgesessenes Sofa, zwei Matratzen, aus deren zerschlissenen Bezügen gelblicher Schaumstoff quoll. Sämtliche Türen waren herausgerissen. Im Bad hatten die tropfenden Wasserhähne eine dicke bräunliche Kruste aus Rost und Kalk hinterlassen, bevor sie gänzlich versiegt waren. Der Gestank war unbeschreiblich. Sie betrat das Treppenhaus und begann zu laufen. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider: unzählige, verräterische kleine Echos. Leonie biss sich in den Handrücken, um ihr Schluchzen zu unterdrücken: Sie durfte sie nicht kommen hören! Ihre Tränen brannten in den vielen, winzig kleinen Schnittwunden auf ihrer Wange. Eigenartig, dass sie diesen lächerlichen kleinen Schmerz wie durch ein Brennglas verstärkt wahrnahm. Die Erinnerung an eine absurde Geschichte in irgendeiner Zeitung drängte sich in ihr Bewusstsein: Inmitten der Trümmer eines grauenvollen Massenunfalls hatte eine Frau auf der Autobahn gestanden und fasziniert auf die Laufmasche in ihrerStrumpfhose gestarrt, während um sie herum die Welt in Flammen aufging.Leonie wischte den Gedanken beiseite.Barfuß! Sie musste barfuß weitergehen!Als sie sich bückte, um die Schnürsenkel ihrer Schuhe zu lösen,hörte sie von oben, ganz weit oben, das leise Wimmern einesKindes.Sie rannte los.

1

Es war der erste Tag der Sommerferien. Eigentlich hatten sich dieBoulder Bearsheute nur getroffen, um sich zu verabschieden, bevor sie sich für sechs lange Urlaubswochen in alle Winde zerstreuten. Doch Alex hatte es verdient, nach all dem harten Training wenigstenseinrichtig tolles Zwischenergebnis zu sehen. Meinte jedenfalls Leonie. Und während die anderen lachten, schwatzten und keinerlei Anstalten machten, sich der Kletterwand zuzuwenden, hatte sie bereits zwei Drittel der mit kleinen Plastikfähnchen markierten Route bezwungen. Jetzt zog sie sich mit aller Kraft hoch und stellte die linke Zehenspitze auf eine winzige rote Kugel, während ihr rechter Fuß nach einem knallgelben, bananenförmigen Kunststoff-Trittstein auf der hölzernen Schräge tastete. Einer nach dem anderen hörte auf herumzualbern und schaute – jetzt schlagartig interessiert – zu ihr hoch. Aus dem Augenwinkel konnte Leonie sehen, wie Alex die Videokamera aus seinem Rucksack nahm und auf die Leiter zuging, die an der Rückseite der Boulderwand nach oben führte. Ihre Fußspitze auf dem kleinen roten Knubbel geriet gefährlich ins Rutschen. Mit einem beherzten Überkreuzgriff gelang es Leo-nie, sich zumindest vorübergehend abzusichern. »Allez! Allez! Allez!«, skandierten die Freunde und klatschten aufmunternd in die Hände. »Den hältst du fest!«, hörte sie Tevje rufen, aber Leonie hatte da so ihre Zweifel: Ihre Beine beschrieben jetzt beinahe eine geradeLinie und dieser unfreiwillige Spagat war ganz sicher nicht länger als drei Sekunden durchzuhalten. Aber sie konnte sich ja auch einfach fallen lassen. Das war das Schöne am Bouldern: ohne Seil und Karabiner klettern, nie höher als drei Meter, unten ein dickes Crash-Pad, das jeden harten Aufprall dämpfte, und jederzeit einen der Freunde aus dem Verein, der bereitstand, um den Kletterer aufzufangen. Der Schmerz in ihren Beinen wurde langsam unerträglich. Leonie schaute hoch und blickte in Alex’ Augen. Sie würde es schaffen! Er sollte stolz auf sie sein! Über den Rand der Boulderwand gebeugt, richtete er jetzt die Videokamera auf sie. Das rote Lämpchen begann zu blinken. Oh Gott! Sie würde furchtbar aussehen. Verschwitzte mausbraune Haare, die dunklen Augen weit aufgerissen vor Anstrengung und überhaupt: Viel zu langes Kinn, viel zu spitze Nase, ganz zu schweigen von dem viel zu kleinen Busen. »Leo! Komm! Du schaffst es!« Alex filmte gnadenlos weiter. Ein Schweißtropfen rann Leonie vom Nacken die Wirbelsäule entlang. Sie spürte den unwiderstehlichen Drang, sich zu kratzen. Oder sich wenigstens zu schütteln. »Hepp!«, kommandierte Alex und nickte ihr erwartungsvoll zu. Der Schweißtropfen rann ungerührt weiter und nahm ihre ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. »Hepp! Hepp! Hepp!«, skandierten jetzt auch die Freunde am Fuß der Boulderwand. Der Schweißtropfen erreichte den Saum ihres T-Shirts, gesellte sich zu seinen Vorgängern und hörte auf zu sein. Leonie keuchte. Über ihrem Kopf markierte ein Plastikfähnchen den letzten Griff: Viel zu weit weg! Nur mit einem Hechtsprung zu erreichen. Vorsichtig löste sie den linken Fuß von seinem rutschigen Untergrund, krallte sich im entscheidenden Moment in einen Vier-Finger-Griff, holte Schwung und erreichte knapp das graue Kunststoffhorn, an dem sie sich nun blitzschnell mit beiden Händen festklammerte: Geschafft! Begeisterter Applaus der am Fuß der Wand versammeltenBoulder Bears!

Da waren – Händchen haltend, wie immer – die beiden Unzertrennlichen Tina und Rebecca; die punkige Laura in der höchst eigenwilligen Gothic-Variante eines Kletter-Outfits und von den Jungs außer Tevje noch Kostja, der seinen kleinen Bruder Paul mitgebracht hatte. Und mittendrin, strahlend, stand der Star der Truppe: Maike. Maike, die beste Freundin, im hautengen roten Tank-Top, das nur knapp das bedeckte, was Tevje einen Mörderbusen nannte. Jedenfalls ist so ein Mörderbusen zumindest beim Bouldern eher hinderlich, dachte Leonie und musste unwillkürlich grinsen. Sie sprang auf das weiche Crash-Pad herunter. Kurz darauf kam Alex hinter der Boulderwand hervor und legte den Arm um ihre Schultern. »Super, Leo!« Da war es wieder! Konnte nicht wenigstens Alex mit gutem Beispiel vorangehen und ein winzig kleines-nie an das Leo-hängen? Zum x-ten Mal verfluchte sie ihre Eltern, die ihr diesen dämlichen Vornamen gegeben hatten: Leonie. Wahrscheinlich, weil sie lieber einen Sohn gehabt hätten: Leo, Leon oder Leonhard. Mit oder ohne h. Vielleicht war ihr Busen deshalb so mickrig: Da waren sich die Chromosomen womöglich nicht sofort im Klaren gewesen, dass aus ihnen statt des tollen Leonhard nur eine nicht mal halb so tolle Leonie werden sollte; mit einer Fünf in Mathe. »Der nächste Bouldercup ist deiner.« Wieder war es Alex, der sie bei der Rekapitulation ihrer persönlichen Mängelliste unterbrach. »Hast dich in den letzten Wochen enorm gesteigert!« Sie schaute zu ihm auf: Hellblond. Selten bei einem Mann. Unddazu knallblaue Augen. Maike hatte irgendwann mal was von schwedischen Vorfahren erzählt. »Na ja, wenn einer Magnussen heißt, wird er wohl kaum von spanischen Stierkämpfern abstammen«, hatte Leonie damals patzig geantwortet. Und das war der Moment, in dem Maike angefangen hatte, sie mit wachsender Begeisterung aufzuziehen: »Du bist in den Trainer verknallt!«, hatte sie gekichert, als sei es das Absurdeste und Blödeste auf der Welt. Leonie spürte Alex’ Hand auf ihrer Schulter. »Schöne Ferien, Leo. Und grüß mir die Berge!« Er lächelte zum Weiche-Knie-Kriegen. Aber er war bestimmt nur stolz auf sie, weiter nichts. Maike hatte nämlich verkündet,wennAlex jemanden verliebt angucken würde, dann wäresiedas! Aber Maike wurde sowieso von jedem verliebt angeguckt: Maike mit ihren tollen Haaren, die keines ihrer Färbe-Experimente übel zu nehmen schienen. Zurzeit trug sie einen perfekt geschnittenen weißblonden Pagenkopf und sah– mal abgesehen von der Farbe – ein bisschen aus wie eine kulleräugige Chinesin mit Schmollmund. Obwohl es Kulleraugen bei Chinesen sicher nicht gab. Leonies eigene Haare würden nach so einer Bleich-Attacke herunterhängen wie zu lange gekochte Spaghetti, und so ein knallrot geschminkter Kussmund würde sowieso nicht zu ihr passen. Schließlich war ihr Mund total normal, im Unterschied zu Maikes Superlippen. Leonie blies die Backen auf und dachte schuldbewusst an das, was ihre Oma immer gesagt hatte: »Neid ist etwas, das gehört sich einfach nicht!« Und Neid auf die beste Freundin war ja wohl das Allerletzte. Im Duschraum drehte sie zur Strafe den Kaltwasserhahn auf und quietschte laut, als das eisig kalte Wasser auf sie herunterprasselte. Maike stand zwei Duschen weiter und schäumte sich von Kopfbis Fuß mit irgendeinem Super-Moisture-Showergel aus dem unerschöpflichen Pröbchen-Vorrat ihrer Mutter ein. »Fang!« Maike warf Leonie eines ihrer kunterbunten Minifläschchen zu. »Wenn du willst, nehm ich davon einen ganzen Kasten voll mit in die Ferien.« »Ach was, im Hotel gibt es doch sowieso Duschgel vom Haus!« Im selben Moment hätte Leonie sich auf die Zunge beißen können. Klar gab es im Hotel jeden Tag Gratis-Duschzeug. Aber Maike wollte nun mal mit dem Pröbchen-Arsenal aus dem Frisiersalon ihrer Mutter etwas zum gemeinsamen Urlaub beisteuern. Was bist du doch manchmal für ein Gemütstrampel!, dachte Leo-nie und überlegte krampfhaft, wie sie ihre blöde Antwort irgendwie entschärfen könnte. Doch Maike war offenbar nicht im Geringsten beleidigt. »Meinst du, der schrille DJ vom letzten Jahr ist wieder in Sölden?«, fragte sie kichernd, machte Hasenzähne und schielte auf die Nasenspitze. Leonie lachte erleichtert: »DJ Tom-Tom? Bestimmt!« »Wetten, er hat es auch diesmal wieder auf dich abgesehen?« »Hör auf!« Leonie griff nach dem leeren Duschgelfläschchen und machte Anstalten, auf Maike zu zielen. Kichernd floh Maike in den Umkleideraum. Ihre gemeinsamen Sommerferien hatten mittlerweile bereits Tradition. Vor ein paar Jahren, als Maike nach der Scheidung ihrer Mutter und ihres Stiefvaters nicht einmal mehr in ein Ferienlager fahren konnte, weil der Salon ihrer Mutter nicht genügend Geld einbrachte, hatten Beate und Martin Schiller die Initiative ergriffen. »Leonie langweilt sich schrecklich in den Ferien, so allein mit ihren Eltern«, hatten sie irgendwann im Anschluss an eine Schulfeier verkündet. Und ob Frau Hanemann Maike nicht erlauben könne, im Sommer mit in die Berge zu fahren.

»Das macht uns wirklich nichts aus! Schließlich kostet die Autofahrt dasselbe, ob nun vier oder fünf Personen im Wagen sitzen.« Elke Hanemann hatte gezögert und Beate Schiller hatte instinktiv gemerkt, dass es Maikes Mutter unendlich unangenehm gewesen wäre, ihre Tochter einfach einladen zu lassen. »Wenn Sie Maike zum Essengehen ein bisschen Taschengeld mitgeben, reicht das vollauf! Für die Ferienunterkunft zahlen wir ja sowieso pauschal.« Maike hatte mit todernster Miene etwas von gesunder Landluft gefaselt und gekonnt ihre Kulleraugen eingesetzt. Und schließlich stimmte Frau Hanemann zu. Dass es sich bei der Ferienunterkunft um eine Doppelsuite im ersten Hotel am Platz handelte, wurde ebenso verschwiegen wie die Tatsache, dass in Sölden allein die Vorspeise in einem der vier hoteleigenen Restaurants so viel kostete wie ein Fünf-Gänge-Menü in Berlin-Kreuzberg. »Wann kommst denn du heute Abend?«, fragte Leonie, während die beiden Mädchen sich im Umkleideraum trocken rubbelten und anzogen. »Bestimmt nicht vor acht. Muss ja noch packen.« Leonie dachte sich ihren Teil. Organisation war nicht gerade Maikes Stärke. Pünktlichkeit auch nicht. Sie würde also um halb acht anrufen und mit ihr wie jedes Jahr die Checkliste für die gemeinsamen Ferien durchgehen. Sie selbst hatte bereits am Wochenende gepackt. Ersatzbatterien, die Spielesammlung für schlechtes Wetter, I-Pod mit zwei Kopfhörern, Bücher, Erste-Hilfe-Kasten. Und ein gerahmtes Gruppenfoto derBoulder Bears. Eins, auf dem Alex besonders gut getroffen war. Aber Maike würde bestimmt keinen Verdacht schöpfen. Ein Gruppenfoto halt. Total unverdächtig. Leo-nie hatte sich bei der Kletterfahrt damals einen üblen Sonnenbrand zugezogen und Alex hatte ihr irgendein kühlendes Zeugsins Zimmer gebracht.Leonie lächelte in der Erinnerung daran.»Kommst du, Leo?« Maike stand bereits in der Tür.Leonie riss sich aus ihren Gedanken, schulterte ihre Sporttascheund folgte ihrer Freundin nach draußen.

2

Am nächsten Morgen war Leonie schon um halb vier auf den Beinen und machte Frühstück für alle. Vor ihr lagen sechs lange Wochen Spaß und sie war fest entschlossen, jede Minute davon zu genießen. Es dauerte eine Weile, bis das letzte Gepäckstück verstaut und die ganze Familie reisefertig war, zumal es galt, Leonies zappeligen kleinen Bruder mit allen möglichen Varianten von Essen, Trinken und Spielzeug zu versorgen, damit er die lange Fahrt über einigermaßen friedlich blieb. Ein frommer Wunsch, seufzte Leonie innerlich. Zweijährige waren einfach nicht dafür gemacht, stundenlang still zu sitzen! Aber trotz der stressigen Abreise und der unvermeidlichen Staus war Leonies Mutter – wie immer, wenn es in die Berge ging – blendend gelaunt. Sie fuhr zügig bis rasant, trommelte im Takt auf das Lenkrad und improvisierte mit den beiden Mädchen zu sämtlichen Oldies, die im Radio kamen, einen höchst eigenwilligen Background-Chor. Ab und zu fluchte sie nach Herzenslust über den autofahrenden Rest der Welt und ließ ansonsten selig ihre schulterlangen braunen Haare im Fahrtwind wehen. Auf dem Beifahrersitz döste Martin Schiller erschöpft vor sichhin. Wahrscheinlich war er im Traum immer noch in der Firma und malte sich irgendwelche Schreckens-Szenarien auf einer der Baustellen aus. Als Nicky irgendwann kurz vor Innsbruck auch mit Maikes großartigster Grimassenschneiderei nicht mehr bei Laune zu halten war, musste Martin das Steuer übernehmen. Leonies Mutter rutschte neben Nickys Kindersitz und der Kleine hatte endlich »das Mama« für sich allein. Leonie hatte irgendwann angefangen, ihre Mutter »das Mama« zu nennen, wenn es um Nicky und seine Besitzansprüche ging. Unfassbar, wie so ein Winzling seine Erzeuger rund um die Uhr in Beschlag nahm. Leonie war schleierhaft, wieso sich die Menschheit trotz solch rücksichtsloser Miniterroristchen wie ihrem kleinen Bruder weiterhin vermehrte. Na ja, so ganz freiwillig war das mit der Vermehrung wohl auch nicht vor sich gegangen, musste Leonie zugeben. Monatelang war ihre Mutter von »Zyklusstörungen« ausgegangen und hatte den winzigen Bauchansatz auf das gute Essen bei ihrem Lieblingsitaliener zurückgeführt. »Das lässt sich garantiert mit ein bisschen Problemzonengymnastik wieder in Form bringen«, hatte sie gesagt. Erst als die Problemzone zu strampeln anfing, ging den Schillers auf, dass es ein Fehler gewesen war, die Möbel aus Leonies altem Kinderzimmer zu verschenken. Also wurden neue gekauft, das größere der beiden Gästezimmer wurde zum Kinderzimmer umgestaltet und nichts im wohlgeordneten Tagesablauf der Familie blieb, wie es einmal war. »Pipi!« Nicky strahlte. »Pipi!«, wiederholte er begeistert. »Ankündigung oder Vollzug?«, fragte Martin Schiller. »Das versteht er nicht«, versetzte Beate. »Dann übersetz mal.« »Nicky, musst du Pipi oder brauchst du eine neue Windel?«

Übergangslos begann Nicky zu heulen.»Ich glaube, du hast seine Gefühle verletzt«, grinste Martin.»Undichglaube, das ist jetzt eh egal: Die nächste Raststätte istdreißig Kilometer weiter.«Martin Schiller kräuselte die Nase und zog auf die rechte Spur.»Stimmt. Aber das ist eindeutig ein Notfall!« Und mit lautstarkem»Lalüüüü-lalaaa« steuerte er auf den nächstbesten Parkplatz zu.Jetzt rochen es auch die anderen.Auf einem öden Einheits-Parkplatz mit hässlichen braunen Holztischen wechselte Leonies Vater routiniert Nickys Windel.»Als du klein warst, hätte er nicht im Traum dran gedacht«, kicherte Beate und schenkte sich und den Mädchen den Rest dermittlerweile lauwarmen Cola ein.Gar nicht lustig, dachte Leonie. »Wieso eigentlich nicht?«»Damals war dein Vater rund um die Uhr mit seinem Architekturstudium beschäftigt. Und dann ist er in Opas Baugeschäft eingestiegen und ab da war esganzaus! Er kam gar nicht auf die Idee,dass es auch Spaß machen kann, ein Baby zu versorgen.«Besonders, wenn das Baby nur ein Mädchen ist, schoss es Leoniedurch den Kopf.»Mein richtiger Vater war schon über alle Berge, als ich so alt warwie Nicky«, meinte Maike und zuckte die Achseln.Ist eben alles relativ, dachte Leonie und lachte mit den anderen,als ihr Vater in komischer Verzweiflung die Hände hochwarf: Inkeinem einzigen der Müllcontainer war auch nur noch ein Millimeter Platz, um Nickys Hinterlassenschaft zu entsorgen.

Endlich: Sölden!Leonies Mutter wurde richtig zappelig. Sie war schon als Kind jedes Jahr mit ihren Eltern nach Tirol gefahren. Die Leidenschaftfürs Klettern hatte Leonie offenbar von ihr geerbt.Leider auch die fisseligen braunen Haare, dachte Leonie. Nickydagegen hatte dichte blonde Locken. Leonie war es ein Rätsel, wie jemand in dieser Familie zu so einer Haarpracht kommen konnte. Doch bevor sie weiter über die ungerechte Verteilung der schillerschen Gene nachgrübeln konnte, nahm ihr das grandiose Bergpanorama, das sich vor ihnen auftat, wie jedes Mal den Atem. Noch in den Sechzigerjahren war Sölden ein putziges kleines Dorf mit urwüchsigen Holzhäuschen und zwei, drei bescheidenen Hotels gewesen. Geranien blühten auf den Balkons und die mächtige Bergkulisse warf ihren Schatten auf die kleine Kirche. So zumindest kannte Leonie es aus dem Super-8-Film, den ihre Großeltern vor dreißig Jahren aufgenommen hatten. Die Dreitausender waren geblieben und auch das mit den Geranien auf den Balkons hatte sich über die Jahrtausendwende erhalten. Aber ansonsten war das Dorf nicht wiederzuerkennen: Sölden hatte sich im Lauf der Jahre zum Wintersport-Paradies Nummer Eins gemausert und ein Luxushotel nach dem anderen war in die Höhe geschossen. Zur Hochsaison beherbergte Sölden mehr Touristen als Einwohner.

Fiegels Sporthotelbestand aus einer ganzen Reihe großzügiger, strahlend weiß getünchter Einzelgebäude, zwischen denen ein runder, viergeschossiger Turm mit einem mittelalterlich anmutenden Dachkegel emporragte. Innen hatte sich ein ganzes Heer von Designern und Raumausstattern jede nur erdenkliche Mühe gegeben, dem Geschmack des modernen Großstädters nachzukommen: Statt alpiner Hüttenromantik herrschte gediegene Landhausatmosphäre, und in den Wellnessbereichen konnte man zwischen venezianischem Lagunenzauber oder zenbuddhistischer Strenge wählen. Die Besitzer allerdings hatten sich ihre österreichisch-herzliche,bodenständige Art bewahrt: Maria Fiegel schloss Leonies Mutter ohne Umschweife in ihre üppigen Arme: »Ja, Grüß Gott, Beatchen! Wir freuen uns ja so, dass ihr da seid.« Maike und Leonie sagten nur kurz Hallo, ließen ihre Rucksäcke fallen und düsten umgehend zum Schwarzen Brett: »Nachtwanderung mit Bergführer Othmar Hummel.« »Das ist der süße Mathestudent, der hier immer in den Semesterferien jobbt!« »Juniordisco mit DJ Tom-Tom.« »Er ist wieder da!«, gluckste Maike und zog ihre Lieblingsgrimasse. Auf einem Notizzettel stand »Hallo Boulderfreunde von nah und fern! Wir treffen uns täglich ab 9.00 h im Klettergarten Engels-wand.« Leonie versetzte Maike einen begeisterten Rippenstoß: »Super! Da gucken wir gleich morgen, ob die Franzosen ausBleauwieder dabei sind, ja?« »Au ja!« Sie meinteFontainebleau,das Mekka der Boulderer in der Nähe von Paris. ». . . tut uns wahnsinnig leid, das mit der Evi . . .«, seufzte Frau Fiegel. Leonie hatte nur mit halbem Ohr mitgekriegt, was in ihrem Rücken vor sich ging. Jetzt aber schrillten plötzlich sämtliche Alarmglocken in ihrem Kopf: Evi war nicht da? Die liebe, nette, pummelige Evi, beste aller Babysitterinnen? Leonies Mutter stand mit hängenden Schultern an der Rezeption und Maria Fiegels Apfelbäckchen-Gesicht war in tiefe Falten gelegt: »Das mit der Stelle auf Mallorca, das kam ganz plötzlich. Und man möchte so einem Mädelchen bei seinem Glück ja nicht im Weg stehen, gell?« Die Frage ist,welchemMädelchen!, dachte Leonie. Schön für die liebe Evi, dass sie jetzt offenbar in Palma de Mallorca einenStrand-Kindergarten leiten durfte. Aber Evis Glück bedeutete gleichzeitig den absoluten Ober-GAU für sie und Maike: Sechs Wochen lang mit Nicky auf dem Spielplatz abhängen, während Mama und Papa sich mit Ayurveda-Ölen beschmieren und durchwalken ließen? »Ein Albtraum!« Maike hatte es tatsächlich laut ausgesprochen. Auch Martin Schiller machte ein langes Gesicht und da half es gar nichts, dass Frau Fiegel versicherte, für die Wintersaison stehe natürlich wieder eine Fachkraft zur Verfügung. »Die Anneli von den Gstreins drüben, die macht ja im Herbst die Kin-dergärtnerinnen-Prüfung. Ein wirklich liebes Ding und zuverlässig wie...« Frau Fiegel fiel auf die Schnelle kein Vergleich in Sachen Anneli Gstreins Zuverlässigkeit ein. Sie verstummte und schaute einen Moment lang betreten von einem zum anderen. Wie aufs Stichwort fing Nicky an, leise zu wimmern. Nicht das nervige Geplärr wie sonst, wenn er seinen Willen nicht bekam, sondern ein unterdrücktes kleines Schluchzen, als habe er verstanden, dass es um ihn ging und dass die Evi ihn ein für alle Mal verlassen hatte. Leonie nahm den kleinen Bruder auf den Arm und strich ihm tröstend über sein verschwitztes blondes Kugelköpfchen. Maike starrte zu Boden und zog mit der Spitze ihres Turnschuhs das Teppichmuster nach. Inzwischen war Rigobert Fiegel eingetreten und wusste beim Anblick der reihum betretenen Gesichter offenbar sofort, worum es ging. »Ich lass mir was einfallen«, versprach er und nickte den Schillers aufmunternd zu. Im Klartext hieß das: »Maria wird’s schon richten.« Und mit Maria war ganz sicher nicht die himmlische, sondern seine höchst irdische Ehefrau gemeint. In gedämpfter Stimmung bezogen die Mädchen ihr Quartier. Eigentlich gab es Grund zum Jubeln, denn sie waren in diesemJahr erstmals in einer eigenen, sogenanntenJunior-Suiteuntergebracht; einen ganzen Hoteltrakt von derTurm-Suiteder Schillers entfernt: eigenes Bad, eigenes Telefon, eigener Balkon mit Blick auf den Außenpool und vor allem null elterliche Kontrolle! Aber was hatten sie davon, wenn Beate und Martin Schiller abends etwas vorhatten und Leonie und Maike auf Nicky aufpassen mussten? Adieu, Disco, Lagerfeuer, Nachtwanderung . . . »Wir kriegen das schon irgendwie hin«, tröstete Maike und ließ sich neben Leonie auf das riesige Doppelbett fallen. Sie gähnte. »Komm, lass uns morgen auspacken«, meinte Leonie. Auch ihr steckte die Fahrt in den Knochen. Die beiden zogen Waschzeug und Pyjamas aus dem Gepäck, machten sich bettfein und zappten noch ein bisschen durch die Kanäle des nagelneuen Riesen-Fernsehers. Dann übermannte sie die Erschöpfung nach der langen Reise.

3

Sie saß am Fenster und schaute in die nächtliche Stille. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses erloschen langsam die Lichter in den Hotelzimmern, eins nach dem anderen. Im Winter gingen die Gäste später zu Bett: Après-Ski. Die Sommergäste hingegen waren fast alle Frühaufsteher. Und diese Wellnessgeschichte hatte noch eine andere Sorte Menschen angelockt. Städter, für die das bisschen Landleben, das der Tourismus hier übrig gelassen hatte, wahrscheinlich schon fast zu viel war. Der Schaukelstuhl knarrte leise, als sie aufstand und hinüber in ihr Zimmer ging. Dort stand sie, fertig gepackt: eine hässliche dunkelgrüne Plastik-Reisetasche. Daneben ein verschnürter Pappkarton. Alles, was sie besaß.

Sie hörte, wie sich ihre Mutter im Nebenzimmer auf die andere Seitedrehte und leise im Schlaf stöhnte.Sie war ihr nichts schuldig. Morgen schon hätte sie in Wien sein können. Und dann weiter nach Budapest.Aber plötzlich war alles ganz anders gekommen.Nein. Sie konnte nicht gehen.Nicht nach dem, was heute geschehen war.

Am nächsten Morgen klingelte an der Hotel-Rezeption schon inaller Herrgottsfrühe das Telefon.»Fiegels Sporthotel, Grüß Gott, was kann ich für Sie tun?«Schweigen am anderen Ende der Leitung.»Sonja? Bist du das?«, fragte Maria Fiegel unsicher.Die Stimme klang überraschend fest und entschlossen. »Ich komme nachher vorbei. Sagen Sie denen das.« Dann wurde aufgelegt.»Kein Vergleich mit der Evi.« Seufzend legte Maria Fiegel den Hörer auf. Wenn das Mädchen hier arbeiten wollte, musste es lernen, ein bisschen verbindlicher aufzutreten. Andererseits musste man froh sein, dass sich überhaupt jemand angeboten hatte,von heute auf morgen Evis Job zu übernehmen.Gegen elf, als die Schillers und Maike gerade mit dem Frühstückfertig waren, kam Maria Fiegel zu ihnen auf die Terrasse. Sieschob ein blasses, hoch aufgeschossenes Mädchen von etwazwanzig Jahren vor sich her und strahlte übers ganze Gesicht.»Das ist sie.«Das Mädchen trug hennarot gefärbte Zöpfe und ein unförmigesolivgrünes Militär-Unterhemd zu bollerigen, alten Cargo-Hosenmit Tarnmuster. Es schaute unverwandt zu Boden und schwieg.»Das ist Sonja Franke, die neue Babysitterin!«, trompetete MariaFiegel betont munter in die irritierte Stille hinein.»Guten Morgen, Sonja! Ich bin Beate und das ist mein Mann Martin!«

Leonies Mutter war aufgestanden und streckte dem Mädchen mit gewinnendem Lächeln die Hand hin. ». . . das da drüben ist unsere Tochter Leonie und ihre Freundin Maike und das da...«, sie deutete hinunter auf den Miniatur-Kinderspielplatz am Fuß der Terrasse, ». . . das ist Dominik. Oder kurz: Nicky.« Das Mädchen drückte flüchtig Beates Hand, murmelte, ohne aufzuschauen, »Grüß Gott« und lief hinunter zum Sandkasten. Dort ließ Sonja Franke sich auf die Knie nieder und buk mit einer solchen Selbstverständlichkeit einen zweiten Sandkuchen neben Nickys Werk, dass ein geradezu hörbarer Seufzer der Erleichterung durch die Gruppe der Zuschauer auf der Terrasse ging.

»Hast du ihre Haare gesehen?«, kicherte Maike, während sie sich die Finger mit schützendem Tape umwickelte. Leonie hatte ihre Hände bereits mit Kalk bestäubt und klinkte die Chalkbag hinten an ihrem Gürtel ein. Der Granit der Engelswand flirrte in der Sonne. »Wieso? Zöpfe sind doch wieder in!« »AberHenna?Trägt doch heute kein Mensch mehr!« »Vielleicht hat sie unter dem Henna ja genauso langweilig straßenköterbraune Fisselhaare wie ich.« »Aber das ist doch kein Grund für dieses Ökotussen-Rot!« »Ist jedenfalls origineller als das Einheitsblond, mit dem die sonst hier alle rumlaufen!« »Auch wieder wahr. Jedenfalls: Der Kampfanzug ist stark.« Maike setzte den Fuß auf einen kleinen Felsvorsprung. »Nato-Grün statt Dirndlkleid: Das hat was.« »Gut, dass wenigstens die Klamotten von Sonja Gnade vor deinen Augen finden . . .« Leonie hangelte sich – rechts und links in einen Felsspalt gekrallt – den ersten Meter der fast senkrechten Wand hoch. Es war ein tolles Gefühl, wieder an echten Felsen zu klettern. Undder Engelswand-Klettergarten war erst der Anfang! Sozusagen die Einstimmung für die Dreitausender ringsumher. Maike hatte ihre wasserstoffblonden Ponyfransen mit einem rot gemusterten Piratentuch zurückgebunden und überholte Leonie behände wie ein Äffchen. »Aber Land-Ei bleibt Land-Ei«, sagte sie grinsend. »Und Sonja heißt heutzutage auch kein Mensch mehr.« »Maike, du bist ungerecht! Für seinen Namen kann ja nun wirklich keiner was. Und außerdem: Ich finde, Sonja klingt irgendwie . . . positiv. Wie Sonne und Ja.« Maike prustete: »Du spinnst. Echt!« Zur Bekräftigung zog sie eine ihrer unnachahmlichen Grimassen. Jemand lachte. Leonie drehte sich um: Unten auf der Liegewiese winkten zwei Jungen. Der eine war groß, breitschultrig und hatte eine Schlange oder etwas Ähnliches um den Oberarm tätowiert. Der kleinere hatte rotblonde Locken und sah aus der Entfernung ein bisschen wie ein Hobbit aus. Die beiden hießen Ben und Johannes, waren aus Emden in Ostfriesland und hatten gerade ihr Abi gemacht. Als Leonie und Maike wieder auf der Liegewiese ankamen, bot Johannes ihnen ». . . unter Bergfreunden« einen Platz auf der Picknickdecke an. Sofort rückte Maike mit ihrem gesamten Ostfriesenwitz-Arsenal heraus und machte sich bald darauf kichernd und flirtend mit Johannes auf den Weg zum Getränkestand. Allein gelassen musterten sich Ben und Leonie mehr oder weniger verstohlen und wussten nicht recht, was sie reden sollten. Immerhin erfuhr Leonie, dass Ben eigentlich Behrend mit Vornamen hieß und offenbar aus einer altehrwürdigen friesischen Großbauern-Dynastie namens Beninga stammte, während Johannes erst vor ein paar Jahren nach Emden gezogen war. Er hat genauso ein langes Kinn wie ich, dachte Leonie und musste unwillkürlich grinsen. Ben grinste – nicht ahnend, was der Anlass für Leonies Heiterkeit war – zurück.

Als Maike und Johannes vom Getränkestand zurückkamen, hatten sie bereits beschlossen, dass man sich am nächsten Tag wieder treffen würde. Zu viert natürlich.Leonie lehnte sich zufrieden zurück und blinzelte in die Sonne.Sonne und Sonja, dachte sie. Das komische Mädchen mit denHennazöpfen hatte ihre Ferien gerettet!

Als Leonie und Maike ein paar Tage später abends ins Hotel kamen, saß Nicky mit Schmusedecke und Kuschel-Teddy bewaffnetin seinem Bettchen und himmelte Sonja mit der ganzen Inbrunsteines Zweijährigen an: nicht die Spur des abendlichen Terrors,der Nickys Einschlaf-Ritualen üblicherweise voranzugehen pflegte.»Super!« Leonie war beeindruckt. »Dann übernehmen wir jetzt,bis Mama und Papa kommen.«»Ist nicht nötig.« Sonja strich mit dem Zeigefinger an Nickys Halsentlang. Der Kleine quietschte vor Vergnügen.Leonie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Sie hatten gemeinsam verabredet, dass Sonja bis zum frühen Abend bleibensollte. Danach würden sie und Maike auf Nicky aufpassen, bis ihre Eltern vom Yogakurs zurückkamen.Unsicher trat Leonie von einem Bein auf das andere. »Aber du hastdoch jetzt frei! Du willst doch sicher was unternehmen oder so.«Sonja versetzte Nickys Nasenspitze einen liebevollen Stups. »Keine Sorge, ich bleib hier. Frau Fiegel hat mir eins von den Personalzimmern gegeben. Gleich eine Etage höher, im Seitenflügel.«»Aber . . .«»Dann kann ich im Zweifelsfall rund um die Uhr bei Nicky sein.«Leonie schaute ratlos zu Maike. Die machte Hasenzähne undschielte auf die Nasenspitze. Nicht gerade eine gelungene Entscheidungshilfe. Leonie druckste herum.»Tja, dann . . .«

Jetzt erst drehte sich Sonja um und schaute die Mädchen an. »Zieht ruhig los, ihr beiden. Viel Spaß!« Sie strahlte.

»Babysitten macht glücklich? Ich glaub, ich spinne!« Maike wollte sich auf dem Weg zur Disco gar nicht mehr einkriegen. »Nichts gegen deinen kleinen Bruder, aber rund um die Uhrdutzi-dutzimachen? Da wirst du doch bekloppt!« »Wenn es danach ginge, würde kein Mensch mehr Kinder kriegen«, versetzte Leonie und musste sich im selben Moment eingestehen, dass sie sich oft genug wunderte, wie ihre Mutter die Wandlung von der erfolgreichen Bauunternehmerin zu »das Mama« überstanden hatte, ohne die gute Laune zu verlieren. »Irgendwie tickt die nicht ganz richtig!« »Wer?« Leonie hatte Maike nur mit halbem Ohr zugehört. »Na, diese Sonja!« »Bloß, weil sie Kinder mag?« »Nee. Ich meine: Hat die denn keine Freunde oder so was? Wenn ich den ganzen Tag gejobbt hätte, würde ich doch nicht freiwillig Überstunden machen!« »Aber offensichtlich ist Nicky ja geradezu verknallt in sie. Und umgekehrt.« »Na und? Kleine Kinder sind in jeden verknallt, der mit ihnen stundenlang Backe-Backe-Kuchen spielt.« Da hatte Maike nicht ganz unrecht. Aber nicht jeder, der mit kleinen Kindern stundenlang Backe-Backe-Kuchen spielte, tat das mit so offensichtlicher Hingabe wie Sonja. »Frau Fiegel hat erzählt, dass sie ein Einzelkind ist«, meinte Leo-nie nachdenklich. »Vielleicht hätte sie ja gern ein Geschwisterchen gehabt und jetzt ist Nicky für sie so eine Art Ersatz-Kleiner-Bruder . . .« »Bullshit!« Maike zog die Augenbrauen hoch und blies die Backen auf. Und damit war das Thema für sie erledigt.

4

Er hat genauso helle Locken wie ich als Kind. Sie lächelte. Und genausolange Wimpern.Sanft nahm sie die Hände des schlafenden Kindes in die ihren undschaute sich die winzig kleinen Fingernägel an. »Hab ich mir doch gedacht.« Sie lachte leise auf. »Oben breit, unten schmal. Wie meine.« Siebeugte sich dicht an Nickys Ohr hinunter. »Man sagt, Menschen mitspatenförmigen Nägeln können festhalten, was sie einmal zu packengekriegt haben«, wisperte sie.Sie hielt ihre Hand neben Nickys Kinderhand. Ihr Lächeln erlosch.Ich muss damit aufhören, dachte sie, gleich morgen muss ich damitaufhören.Ihre eigenen Nägel waren abgekaut bis aufs rohe Fleisch.Sie hatte nicht wieder damit anfangen wollen.Aber dann war das mit ihrem Vater passiert.Sie verscheuchte den Gedanken.Was geschehen war, war geschehen.Vergangenheit.Sie kreuzte die Arme und schob die Hände mit den blutumrahmten Fingerkuppen unter ihre Achselhöhlen.

DJ Tom-Tom war wie erwartet in Höchstform.Während Maike und Johannes sich auf der Tanzfläche austobten,saß Ben an einem der Tische im Nebenraum und pflegte seinenMuskelkater.»Typisch Flachland-Tiroler«, stöhnte er, »gleich in der ersten Woche auf die Wildspitze. So blöd kann auch nur ich sein.«