Voll verliebt im Tor - Ulrike Bliefert - E-Book + Hörbuch

Voll verliebt im Tor E-Book

Ulrike Bliefert

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Beschreibung

Als Paul sich verletzt, scheint sein Traum von einer Fußballkarriere ausgeträumt. Doch das lässt seine fußballbegeisterte Zwillingsschwester Paula nicht zu! Tapfer stellt sie sich als "Paul" ins Tor der D-Jugend von Hertha BSC. Ein abenteuerliches Verwirrspiel beginnt: um Mädchen-Sein, Junge-Sein und das, was so alles passiert, wenn man sich zum ersten Mal verknallt.

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Ulrike Bliefert

Voll verliebt im Tor

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ulrike Bliefert, Jahrgang 1951, ist den Fernsehzuschauern u. a. alsUlla in der Comedyserie Das Amt bekannt. Sie schreibt zudem erfolgreich Drehbücher (u. a. für den Tatort). Ulrike Bliefert ist mit einem Schauspielerkollegen verheiratet, hat eine Tochter und lebt in Berlin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2011 © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2011 Erstmals erschienen unter dem Titel »(K)ein Junge wie Paul(a)« © Arena Verlag GmbH, Würzburg 2008 Alle Rechte vorbehalten Einband: Frauke Schneider unter Verwendung zweier Fotos von Brad Wilson/Photonica © gettyimages und Jupiterimages/Comstock Images © gettyimages ISBN 978-3-401-80361-6

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Inhaltsverzeichnis

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Herzlichen Dank den Jungs der U11/2006–07 von Hertha BSC Berlin

Jason Burmeister, Jasin Ghandour, Max »Schucki« Schuckert, Marcel Rausch, Nico Beyer, Dominik Pelivan, Leo-Jonathan Teßmann, Fabian Engel, Yanni Regäsel, Cem Kagitci, Bilal Kamarieh, Maximilian »Maxi« Hofmann, Orkan Cinar, Marc Moldenhauer und ihrem wunderbaren Trainer Michael Dober

für ihre Hilfe, Unterstützung und gute Laune!

Die Braut trug Pink. Der Bräutigam war ganz in Weiß. Himbeereis mit Sahne, dachte Paula und versuchte tapfer, gegen die aufsteigende Rührung anzukämpfen. Warum musste man bei Hochzeiten bloß immer heulen?

Sie schaute verstohlen zu Paul hinüber. Ihr Zwillingsbruder hatte trotz Mamas Protest darauf bestanden, seine Haare zu einer Irokesenbürste hochzugelen. Wie Bastian Schweinsteiger. Schweini war zumindest frisurtechnisch sein großes Vorbild, auch wenn er als Spieler eher von einer Torwartkarriere träumte.

Unwillkürlich musste Paula grinsen: Paul sah in seinem schwarzen Samtanzug eher aus wie irgendein Geigen-Wunderkind. Oder wie dieser nervig niedliche Junge aus der Kaffeewerbung. Oder wie Lord Fauntleroy, Der kleine Lord. Jedenfalls nicht wie ein hoffnungsvoller Nachwuchs-Kicker von Hertha BSC.

Obwohl er genau das war. Vor einer Woche war die Bestätigung gekommen: Paul Schmidtke, neues Mitglied der D-Jugend des Berliner Traditionsvereins! Er hatte den Brief über seinem Kopf geschwenkt und war in der Küche herumgetanzt wie ein Derwisch und die ganze Familie hatte mit Kochlöffeln und Topfdeckeln ein Höllenkonzert dazu veranstaltet: Paul war auf dem Weg zum Fußballprofi einen Riesenschritt weitergekommen; schließlich wurden auch die Schweinis, Podolskis und Timo Hildebrands mal alt.

Paula seufzte. Fast konnte man ein bisschen neidisch werden. Aber Schweini hin, Podolski her: Sie hatte als Keeperin ihrer Schulmannschaft sowieso ganz andere fußballerische Vorbilder. Allen voran Ursula Holl. Hübsch, pfiffig und unschlagbar darin, die angreifenden Gegnerinnen …

»Liebe Gemeinde, wir sind heute hier zusammengekommen, um dieses Brautpaar …«

Jetzt reiß dich zusammen und versuch, dich zu konzentrieren, rief Paula sich zur Ordnung. Da vorne heiratet deine Oma und du denkst mal wieder nur an Fußball!

Andererseits half das ganz gut, die albernen Tränen in den Griff zu kriegen.

Der Pfarrer schlug feierlich seine dicke, ledergebundene Bibel auf. Vier verschiedene Lesezeichen. Da konnte man sich leicht mal verheddern.

Und während der Pfarrer umständlich dafür sorgte, dass er bei der Trauung nicht versehentlich einen Tauf- oder Beerdigungsspruch vorlas, liefen vor Paulas innerem Auge noch einmal die Fernsehbilder von damals ab: Uschi Holl! Wenn die im DFB-Finale die zwei Elfmeter nicht gehalten hätte, wäre es um den FFC Frankfurt geschehen gewesen!

Die Hochzeitsgesellschaft stand auf und faltete die Hände: »Vater unser, der du bist im Himmel …«

Ich möchte einmal so toll sein wie Uschi Holl, dachte Paula, kniff die Augen zu und faltete fest die Hände. Bestimmt hatte man als Gott Wichtigeres zu tun, aber: Schön wär’s schon. »Wie im Himmel, so auf Erden …«

Der Stadionrasen flirrte in der Sonne. Am Elfmeterpunkt der Star der gegnerischen Mannschaft. Frauschaft müsste es eigentlich heißen, unterbrach Paula ihre Tagträumerei, um gleich darauf wieder in ihrem imaginären Tor zu stehen. Jetzt riss sie wie in Zeitlupe die Arme hoch und flog mit untrüglichem Instinkt in die richtige Ecke. Der Ball landete in elegantem Schwung zwischen ihren behandschuhten Händen und die jubelnde Menge hielt es nicht länger auf ihren Stadionbänken: »Paula! Paula! Paula!«

»In Ewigkeit, Amen«, murmelte die Gemeinde.

Paula öffnete die Augen und blies die angehaltene Luft aus. Als sie sich wieder hinsetzte und gegen die Rückenlehne der Kirchenbank fallen ließ, drückte sie die Schleife im Rücken. Oma Helga hatte auf einer richtigen Frisur bestanden und Paulas fast polange blonde Haarmähne in zwei kunstvoll ineinander verschlungene Zöpfe gebändigt. Unten hatte sie das Zopfgebilde dann mit einer riesigen Samtschleife dekoriert. Das Ding wog gefühlte drei Zentner. Und das Ganze in Babyrosa.

Keine gute Farbe, wenn man fast zwölf ist.

Die neuen Schuhe drückten auch.

Seufzend legte Paula die Hände in den Schoß und schaute an sich herunter. Na ja, das Kleid war okay.

Wenigstens hatte keiner verlangt, dass sie als Zwillinge im Partnerlook gingen. Ihre Mama hatte diesen Zirkus von Anfang an nicht mitgemacht. »Ich hab zwei Illinge«, pflegte sie zu sagen, »und jeder Illing hat seinen eigenen Kopf. Also soll er auch seinen eigenen Stil entwickeln!«

Paul mochte am liebsten Jeans und Poloshirts. Ein bisschen zu brav für Paulas Geschmack. Sie selbst experimentierte gern. Je schriller, desto besser: knallgrüne Chucks zum rot karierten Schottenrock oder ein ausgeleiertes Secondhand-Glitzertop überm Rollkragenpulli.

»Bei aller Liebe …«, hatte Mama angefangen und Paula wusste bereits, was kommen würde. »So kannst du auf keinen Fall in die Kirche gehen, Paula! Wenigstens dem Brautpaar zuliebe …«

Schließlich hatte man sich auf ein langes, bunt besticktes weißes Baumwollkleid im Boho-Stil geeinigt. Mama hatte es in der Fußgängerzone im Schaufenster entdeckt und Oma Helga hatte sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen wollen: »Wie ich früher! So was haben wir uns damals aus alten Kreuzstich-Tischdecken selbst genäht!«

Damals, das war irgendwann in den Siebzigern gewesen. Und wenn man Oma glauben durfte, war damals alles besser. Komisch nur, dass Oma Helga und all ihre Freunde damals trotzdem ständig gegen irgendwas protestiert hatten. »So toll kann es damals dann ja wohl doch nicht gewesen sein«, hatte Paula irgendwann mal eingewandt, und als Oma Helga daraufhin ausnahmsweise mal absolut kein Kommentar einfiel, hatte Paulas Mutter ein bisschen schadenfroh gekichert.

Jetzt kämpfte Paulas Mutter allerdings genau wie die meisten anderen Hochzeitsgäste mit den Tränen.

Paula musterte sie verstohlen von der Seite. Gesine Schmidtke hatte ihre wilden braunen Locken zur Feier des Tages extra beim Friseur hochstecken lassen. Sie trug ein kurzes, ärmelloses Kleid und darunter das verhassteste Kleidungsstück überhaupt: hautfarbene Strumpfhosen!

Paula grinste. Trotz all der Mühe wirkte ihre Mutter kein bisschen erwachsener. Puppenschnute hatte Oma Helga sie als Kind genannt. Und genauso sah sie auch aus. Stupsnase, Sommersprossen, Schmollmund. Kein Wunder, dass alle sie für Pauls und Paulas ältere Schwester hielten.

Paula rechnete nach: Oma Helga war keine zwanzig gewesen, als sie ihre Tochter zur Welt brachte. Und als ob es die Familientradition verlangte, war Omas Tochter ebenfalls pünktlich neun Monate nach ihrer Abifeier Mutter geworden. Und das gleich zweifach.

Dann müsste ich als Tochter von Omas Tochter traditionsgemäß in – Paula nahm zum Rechnen die Finger zu Hilfe – in … sieben Jahren ein Kind kriegen.

Nee, ganz sicher nicht!

Und heiraten würde sie auch nicht. Oder wenn, dann erst nach etlichen Jahren Bedenkzeit. Es mussten ja nicht unbedingt zweiundzwanzig sein, wie bei Oma und Horst.

Die schauten sich da vorne am Altar gerade tief in die Augen und Hotte nestelte in seiner Smokingtasche nach den Trauringen: Oma und Horst, genannt Hotte.

Die beiden hatten sich Anfang der Achtziger bei einer Antiatomkraft-Demo kennengelernt. Hippie-Helga und Hotte, der Polizist. Oma Helga hatte sich bei einem Sitzstreik immer wieder von Hotte wegtragen lassen; so lange, bis er sie zum Pizzaessen einlud.

Heute würde er sie keinen Meter mehr schleppen können und Oma Helga sah in ihrem himbeerrosa Seidenkostüm auch eher wie ein Mitglied der britischen Königsfamilie als wie eine Revoluzzerin aus.

Aber Hotte schien das knallpinke Outfit seiner Braut zu gefallen; er strahlte wie ein Honigkuchenpferd.

Er sieht ein bisschen aus wie dieser Schauspieler, der in den alten James-Bond-Filmen die Hauptrolle gespielt hat, dachte Paula. Zu blöd, dass er sich allen Familienprotesten zum Trotz nicht von seinem komischen Schnauzbart trennen will. Aber im Fußball war er ein Ass.

Hotte Reimann hatte Paul und Paula das Kicken beigebracht, als sie kaum laufen konnten. Als sie vier wurden, hängte er im Garten einen Autoreifen auf. »Eine Schaukel«, freuten sich Paul und Paula. Aber Hotte erklärte ihnen, dass das eine mobile Torwand sei. Und dann übte er mit ihnen so lange Bälle durch den Autoreifen zu schießen, bis sie im Park und auf dem Schulhof unschlagbar waren.

Vorne am Altar zitierte der Pastor einen Spruch, der offenbar nicht in der Bibel stand: »Gott hat die Frau nicht aus des Mannes Kopf geschaffen, dass sie ihm befehle, noch aus seinen Füßen, dass sie seine Sklavin sei, sondern aus seiner Seite, dass sie seinem Herzen nahe sei.«

Cooler Spruch, dachte Paula.

Und überhaupt: Das mit dem Sitzstreik und der Pizza hatte Oma damals wirklich prima hingekriegt. Handwerklich war Hotte zwar ein Totalausfall und auch als Kfz-Mechaniker steckten Oma und Mama ihn glatt in die Tasche, aber er war nun mal der einzige Mann im Haus. Einen Papa gab es nur per Brief und Postkarte und – seit sie einen eigenen Computer hatten – auch per E-Mail.

Paula seufzte hörbar. Es war toll, einen Vater zu haben, der in Afrika kranken Menschen half. Und es war ganz in Ordnung, dass ihre Eltern nicht geheiratet hatten, bloß weil ein Kind unterwegs war. Dass es zwei sein würden, stellte sich ja erst viel später heraus. Da hatte Papa Christof bereits das Stipendium für Kapstadt. Und Oma hatte rigoros verkündet, dass man die Kinder auch alleine groß kriegen würde. Also blieb Papa in Afrika. Bis heute. Wenn er alle drei Jahre einmal nach Deutschland kam, fühlte er sich wie ein Tourist.

Er war nett. Aber für sie und Paul blieb er ein Fremder.

Paula wischte den Gedanken beiseite. Er war okay. Er schrieb witzige E-Mails und schickte die originellsten Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke.

Aber wenn es in den letzten Jahren in Bio und Erdkunde gehapert hatte, war es Hotte gewesen, der mit ihnen bis in die Nacht an den Hausaufgaben saß. Er hatte ihnen geholfen, den halb toten Igel gesund zu pflegen, der in ihrem Vorgarten gelandet war, und er konnte toll Gitarre spielen.

Wie aufs Stichwort hauchte Oma Helga feierlich ihr »Ja!«.

Es folgte ein schnauzbärtiger Kuss, der Chor stimmte »When I’m 64« von den Beatles an und das Brautpaar schritt feierlich durch den Mittelgang der Kirche.

Hotte zwinkerte Paula im Vorbeigehen zu.

Einen besseren Opa kann man sich gar nicht wünschen, dachte Paula und fuhr sich hastig mit dem Handrücken über beide Wangen.

Jetzt gab es erst mal eine riesengroße Hochzeitsparty und dann – gleich morgen – sollte es losgehen. Von Köln nach Berlin; genauer: nach Köpenick.

Kannst du auch nicht schlafen?« Paul war aus seinem Zimmer herübergeschlappt und stand unschlüssig in der Tür.

»Nee«, brummte Paula.

Unter ihnen hämmerten unverdrossen die Beats. Die Zimmer waren schon fast leer geräumt und Oma, Mama, Hotte und die Hochzeitsgäste tobten sich seit Stunden auf einer Tanzfläche aus, die praktisch das gesamte Erdgeschoss einnahm. Aber es war nicht der Lärm, der Paula und Paul vom Schlafen abhielt.

»Ist schon irgendwie komisch, hier wegzuziehen, oder?« Paula knipste die Nachttischlampe an und forderte ihren Bruder mit einem Kopfnicken auf, sich zu ihr zu setzen. »Püppi scheint das Ganze jedenfalls nichts auszumachen«, grinste Paul.

Püppi, das zweijährige Dobermann-Mädchen, lag vor Paulas Bett und schnarchte selig vor sich hin, von den sich türmenden Umzugskisten, den aufgerollten Teppichen und den gähnend leeren Regalen ringsum völlig unbeeindruckt.

Vorsichtig stieg Paul über den schlafenden Hund und ließ sich neben seiner Schwester aufs Bett fallen.

»Für Püppi ist Köpenick ja auch echt die große Nummer«, stellte Paula fest. »Sie kriegt ’ne nagelneue Hütte und ’nen Riesengarten zum Toben.«

»Und wir kriegen immerhin ’ne ganze Etage nur für uns«, gab Paul zu bedenken.

»Na jaaa …« Paula wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. Das neue Zuhause war wirklich nicht zu vergleichen mit dem mausgrauen Sechzigerjahre-Reihenhäuschen, in dem sie bis jetzt gelebt hatten.

Die alte Villa, die Hotte vor einem Dreivierteljahr völlig überraschend von einer Großtante geerbt hatte, war ein Traum: ein imposantes Holzbauwerk aus den Zwanzigerjahren mit zwei Terrassen und einem ausgebauten Dach, das die Zwillinge ganz allein bewohnen durften. Es gab für jeden ein eigenes kleines Zimmer zum Lernen und Schlafen, dazu ein Bad und eine winzige, aber gemütliche Teeküche. Der Clou jedoch war das Balkonzimmer, das die beiden gemeinsam als eine Art Wohnzimmer benutzen durften; möbliert mit Tante Käthes behäbigem blauem Samtsofa und ihrem riesigen, ebenso betagten Esstisch, dem Oma Helga die Beine auf Couchtischhöhe abgesägt hatte. Sie hatten sich vorgenommen, das Ding mit Goldfarbe zu streichen. Es würde toll aussehen; wie in einem Maharadscha-Palast. Komisch, dass sich die ganz große Freude trotzdem nicht einstellen wollte.

»Ich kenn da doch kein Schwein …«, maulte Paul, »und außerdem …«

»Ach was!«, unterbrach ihn Paula. »Du bist in die D-Jugend aufgenommen, da wirst du vor lauter Training und Punktespielen sowieso zu nichts anderem kommen. Und außerdem: Wie heißt der Spruch noch mal? Elf Freunde sollt ihr sein!«

»Na jaaa. Aber das heißt ja nicht automatisch, dass man in der Mannschaft auch ’nen richtigen Freund findet. Zum Reden und so.«

Paula wuschelte ihrem Bruder durch die immer noch vor Styling-Gel starrende Schweini-Bürste. »Hast im Zweifelsfall doch mich.«

»Vielen Dank«, grummelte Paul, »aber das ist ja wohl echt nicht dasselbe.«

Paula seufze. Natürlich war das – Zwilling hin, Zwilling her – nicht dasselbe!

Sie selbst hatte sich ihre künftige beste Freundin schon so gut wie ausgesucht: Sie hieß Carlotta Prinz und wohnte gleich gegenüber von Tante Käthes Haus.

Carlotta war mit Kaffee und einem ganzen Tablett voll Bienenstich aufgekreuzt, als sie die Villa zum ersten Mal in Augenschein genommen hatten.

»Erst mal gucken«, hatte Hotte gesagt, »erst mal gucken, ob wir das Erbe überhaupt annehmen sollen. Ich hab bis jetzt ja noch nicht einmal gewusst, dass ich eine Großtante namens Käthe habe. Weiß der Himmel, in was für einer Bruchbude die da in Köpenick gehaust hat.«

Doch der Anblick der prächtigen alten Villa inmitten des riesigen Gartens hatte ihnen allen die Sprache verschlagen.

Von der Straße aus war das Haus fast nicht zu sehen: Hinter dem schmiedeeisernen Zaun wucherte eine dichte, meterhohe Ligusterhecke. Wie ein Dornröschenschloss, dachte Paula. Erst einmal waren sie allesamt schweigend durch die Räume gelaufen und konnten ihr Glück kaum fassen.

Dann hatten sie sich auf der Frühstücksterrasse, wo Tante Käthes wacklige alte Korbmöbel standen, versammelt und Kriegsrat gehalten.

»Du gehst doch sowieso nach deinem Geburtstag in Rente«, begann Oma Helga und setzte ihr bei Hotte scheinbar immer noch funktionierendes Sitzstreik-Lächeln ein.

Hotte brummte so etwas wie »Das ist noch längst nicht amtlich«. Aber als er Oma Helgas Blick liebevoll über die Tulpen, Narzissen und Hyazinthen im Garten wandern sah, kapitulierte er. Blumen und Pflanzen waren nun mal Oma Helgas Ein und Alles.

»Ich kann ja mal drüber nachdenken«, grummelte er.

Und dann war unversehens Carlotta in die Familienversammlung geplatzt. »Das soll ich Ihnen von meiner Mutti vorbeibringen«, hatte sie gesagt und fast so etwas wie einen Knicks gemacht, als sie Oma Helga die Thermoskanne und das Kuchentablett überreichte.

»Mann, ist die spießig!«, hatte Paula ihrem Bruder zugeflüstert und sich klammheimlich über Carlottas brave Pony-Frisur und den faden blauen Faltenrock lustig gemacht.

»Och, wieso?«, hatte Paul achselzuckend eingewandt und Carlotta mit seinem schönsten Schweini-Grinsen bedacht.

Und dann waren sie zu dritt losgezogen und hatten ihre neue Umgebung erkundet, bis sie Blasen an den Füßen hatten. Carlotta machte den Fremdenführer. Es gab ein prächtiges Rathaus aus roten Ziegeln, ein strahlend weißes Barockschloss mit einem romantischen Park dahinter und den Fischerkietz mit seinen winzig kleinen, alten Hutzelhäuschen. Zwei Flüsse – die Dahme und die Spree – flossen in Köpenick zusammen und ganz in der Nähe gab es zwei richtig tolle Badeseen.

»Und das da ist meine Schule«, hatte Carlotta auf dem Rückweg gesagt, kurz bevor sie wieder in die Ernst-Grube-Straße einbogen.

Das da war die Alexander-von-Humboldt-Oberschule und Das da sah erst mal gar nicht so toll aus: ein graues Gebäude mit schießschartenartig schmalen Fenstern. »Sieht ein bisschen aus wie ein Bunker«, meinte Paula skeptisch.

Aber dann hatte Carlotta ihnen von der neuen Sportanlage erzählt und vom Freilicht-Klassenzimmer und der schicken schuleigenen Cafeteria. Und von Frau Dohr, der tollen Englischlehrerin, und dem schönen Dr. Pesch – Geschichte und Deutsch – für den sämtliche Mädchen der Schule schwärmten.

Als sie am Abend mit Carlotta und ihrer Mutter Sybille im Garten saßen und ein improvisiertes kleines Grillfest abhielten, stand es für Paula bereits fest: Sie würden nach Köpenick ziehen und sie würde auf die Humboldt-Schule gehen, in Carlottas Klasse!

Gesine Schmidtke hatte die Achseln gezuckt: »Mir soll’s recht sein, aber erst mal müssen vielleicht noch ein paar andere Dinge geklärt werden. Zum Beispiel, womit ich hier meine Brötchen verdienen soll.«

Das mit den Brötchen hatte sich dann innerhalb kürzester Zeit wie von selbst ergeben: Das Restaurant-Schiff Lucullus suchte einen neuen Pächter und Gesine Schmidtke – ihres Zeichens Chefköchin im Kölner Rheinpark-Restaurant – gab dort kurzerhand den Kochlöffel ab, um künftig ihre unschlagbaren Sößchen in Köpenick – und als selbstständige Unternehmerin – zu kreieren.

Und dann ging es Schlag auf Schlag: Das alte Reihenhäuschen wurde verkauft, Paula wurde wie gewünscht auf der Humboldt-Oberschule angemeldet, Paul, der unbedingt auf ein Sportgymnasium wollte, bekam einen Platz in der wenige Fahrradminuten entfernten Flatow-Schule und Oma Helga und Hotte beschlossen, endlich zu heiraten.

Alles bestens. Selbst Püppis neue Hundehütte war bestellt und rechtzeitig geliefert worden.

Trotzdem saßen Paul und Paula auf der Bettkante, konnten nicht schlafen und hatten ein flaues Gefühl im Bauch.

Als ob sie irgendwie geahnt hätten, was da auf sie zukommen sollte.

Tschüss, ihr beiden, bis morgen.« Hotte knuddelte Paul und Paula noch mal kräftig durch, bevor er sich auf seine Vespa schwang, um die vorbestellten Brötchen für die Möbelpacker abzuholen.

Oma Helga verabschiedete sich derweil im Garten von ihren Kletterrosen: »Und ihr reißt euch bitte zusammen und zickt nicht gleich rum, wenn die neuen Besitzer euch mal zu wenig Wasser oder zu viel Dünger geben, verstanden?«

Die riesigen Blüten der Constance Spry nickten tapfer im Wind.

»Glaubst du echt, dass die Rosen irgendwas von dem verstehen, was Oma ihnen da erzählt?«, fragte Paul.

Paula schob die Unterlippe vor und runzelte die Stirn. »Keine Ahnung. Ich kenn mich mit Pflanzen nicht aus. Aber auch wenn es den Blümchen wurscht ist, ob wir wegziehen oder nicht: Oma Helga tut’s jedenfalls gut, mit ihnen zu quatschen.«

Jetzt marschierte Oma Helga zu den Haselbüschen herüber und Paula hätte schwören können, dass sie dabei heimlich eine Träne verdrückte.

»Ich mach ihr mal ’nen Kaffee«, brummte Paul und düste in die Küche, um den italienischen Espressokocher in Aktion zu setzen, der in Minutenschnelle Omas heiß geliebte pechschwarze Brühe hochblubbern und sie zumindest zeitweise über ihren Abschiedsschmerz hinwegtrösten würde.

Paula blieb am Gartentor stehen, schaute sich noch einmal um, atmete tief durch und stieß erleichtert die Luft aus: Für sie gab es nichts, was sie in ihrem alten Zuhause hielt. Nina, ihre beste Freundin, war schon vor über einem Jahr in ein piekfeines Schweizer Internat gewechselt. Und trotz der E-Mails, die sie sich seitdem mehr oder weniger regelmäßig schrieben, hatte die alte Nähe zueinander die räumliche Trennung nicht lange überlebt. Und außerdem: Als Zwilling war man irgendwie nie allein. Und dann war da ja schließlich Carlotta, die schon ganz aufgeregt auf sie wartete.

»Paula, komm, du musst mir helfen!«, unterbrach Gesine Schmidtke Paulas inneres Abschiedsritual.

Sie stand vor der geöffneten Heckklappe ihres Wagens und redete beschwörend auf Püppi ein. Püppi hörte ihr wedelnd und mit schief gelegtem Kopf zu. Aber sie machte keinerlei Anstalten, in den Wagen zu springen.

»Hopp, schöön hopp!!« Keine Reaktion. Paulas Mutter warf genervt die Hände in die Luft. »Komm, Paula, wir müssen sie irgendwie da reinhieven.«

Paula dachte kurz nach. Ins Auto gehievt zu werden, war irgendwie unwürdig für ein Dobermädchen, auch wenn es erst zwei Jahre alt war. Kurz entschlossen stieg Paula vorne ins Auto, schloss die Tür und rief: »Huuu! Fieser Gangster!«

Wie ein geölter Blitz sprang Püppi in den Wagen und schaute sich zähnefletschend und knurrend nach dem vermeintlichen Übeltäter um. Zack, war die Heckklappe zu. Püppi wurde gelobt und gekuschelt und dann waren endgültig nur noch die Rucksäcke und der Reiseproviant zu verstauen. Es konnte losgehen!

Hotte und Oma würden mit dem Zug nachkommen, sobald der Möbelwagen beladen und das Haus endgültig leer und abgeschlossen war.

»Schnick, schnack, schnuck.« Paul und Paula spielten um das Recht auf den Beifahrerplatz. »Schere schneidet Papier!«, feixte Paul.

Pech gehabt, dachte Paula und verzog sich auf den Rücksitz, während Paul sich vorne neben ihrer Mutter anschnallte.

Es war genau dieser Moment, der sich später wie die Endlosschleife eines Filmclips immer wieder in ihrem Kopf abspulen sollte.

Doch jetzt ging es erst einmal durch die verstopfte City Richtung Autobahn. Fünf langweilige Stunden lagen vor ihnen; mindestens! Paul hatte sich das Hertha-Lexikon gekauft, stöberte darin herum und stellte am laufenden Band irgendwelche Quizfragen: »Woher stammt der Name Hertha?«, »Wie hießen die Vereinsgründer?«

Irgendwann hielt sich Paula demonstrativ ihren Krimi vor die Nase und schaltete auf Durchzug. Das ging eine ganze Weile gut. Aber kurz vor Berlin legte er wieder los: »Wer war bei Hertha der erfolgreichste Spieler aller Zeiten?«, »In welchem Jahr stand Hertha im UEFA-Cup-Halbfinale?«

»Paul, du nervst!«

»Wie heißt das Vereins-Maskottchen?«

»Käpt’n Blaubär?« Paula hatte definitiv die Nase voll.

»Herthinho«, antwortete Gesine Schmidtke zu Pauls und Paulas Verblüffung.