Grabesbitter (Doppelband zum Sonderpreis) - Ulrike Bliefert - E-Book

Grabesbitter (Doppelband zum Sonderpreis) E-Book

Ulrike Bliefert

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Beschreibung

Bitterherz: Wenn Bitterkeit sich in Hass verwandelt, gerät dein Leben in Gefahr. Genau das passiert Ninas bester Freundin Sophie, aus heiterem Himmel, völlig unvorbereitet. Ein Anruf, und nichts gilt mehr. Nina ist verzweifelt: Was hat ihr Freund Timo mit der Sache zu tun? Und ist Sophie überhaupt noch am Leben? Elfengrab: Lili ist tot. Die Elfe der Klasse, das feengleiche Wesen, die Spitzensportlerin. Und Sinas Intimfeindin. Die Nachricht schlägt im Internat ein wie eine Bombe. Trägt Sina eine Mitschuld an Lilis Tod? Da entdeckt sie ein Tagebuch, das noch mehr Fragen aufwirft. Vor wem hatte Lili Angst? Todesangst sogar? Sina beginnt, nach Spuren zu suchen.

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1

»Tjaaa ... Gesina, Sie sind also heute zum zweiten Mal bei mir, obwohl wir uns doch einig waren ...« Die Frau mit dem praktischen grauen Kurzhaarschnitt hob seufzend die Schultern und machte eine routinierte Kunstpause. Dann deutete sie auf den hässlich braun gepolsterten Besucherstuhl und lächelte Sina auffordernd an.

Sina setzte sich und lächelte zurück. »Sie haben Lippenstift auf den Schneidezähnen«, versetzte sie mit artigem Gesichtsausdruck und genoss es, dass Frau Haberlandt errötete und hastig ein Kosmetiktüchlein aus dem Behälter zupfte, der griffbereit auf ihrem Schreibtisch stand.

Sina kannte das schon: Die Kleenex-Box stand da für all die armen Hascherln, die unter Frau Haberlandts professioneller Güte und Barmherzigkeit zusammenklappten und in Tränen ausbrachen. Nicht mit mir, versicherte sie sich innerlich, diesmal nicht! Und überhaupt »verhaltensauffällig«? Was heißt das schon? Ein bisschen Klauen hier, ein bisschen Schuleschwänzen da: Was war denn schon dabei? Okay, man hatte sie einmal zu viel erwischt, und der Kaufhausdetektiv hatte es sich diesmal nicht nehmen lassen, die Polizei einzuschalten, aber im Grunde ...

»Im Grunde machen Sie doch alle nur so ’ne Welle, weil ich als Kind-aus-gutem-Hause einfach nicht in Ihr Konzept passe!«

Oje, hatte sie das tatsächlich laut gesagt? Dabei hatte Sina sich fest vorgenommem, sich diesmal auf keine Diskussionen einzulassen. Sie biss sich auf die Lippen.

Zu spät! Denn prompt setzte Frau Haberlandt zu dem an, was Sina insgeheim Textbaustein B-47/13 nannte: »Sina, ich fürchte, Sie machen es sich zu einfach.«

Hast du ’ne Ahnung, dachte Sina und schaltete auf Durchzug.

Das erste Mal, als man sie zum Schulpsychologischen Dienst geschleppt hatte, war wenigstens ihre Mutter noch dabei gewesen. Das war kurz nachdem Papa und seine Neue das schicke Haus in Zehlendorf gekauft hatten und alle behaupteten, sie wäre dort am besten aufgehoben. »Eine in jeder Beziehung optimale Lösung«, hatte Papa gesagt, und Mama und Tricia hatten strahlend dazu genickt.

Überhaupt waren in den letzten anderthalb Jahren alle immerzu und dauernd glücklich und zufrieden, stellte Sina grimmig fest: ihre Eltern, als sie die ach-so-einvernehmliche, friedliche Scheidung verkündeten, Tricia Myers, als sie als Gattin Nummer zwei ganz in Weiß an Papas Seite zum Traualtar schritt, und Mama, als sie kurz danach beschloss, wieder zu studieren.

»Ihre Eltern machen sich wirklich große Sorgen ...«

Aha, Frau Haberlandt war an der Stelle angelangt, an der an den Zusammenhalt der frisch gebackenen Patchworkfamilie appelliert wurde.

»Na toll!« Sina schnaubte verächtlich.

»Warum sehen Sie das denn so negativ?«, hakte Frau Haberlandt nach, offensichtlich erfreut, endlich eine Reaktion hervorzurufen. Doch Sina schwieg. Sich Sorgen machen stand schließlich in der Jobbeschreibung für Eltern, oder? Und überhaupt:Was heißt schon »Familienzusammenhalt«? Echt blöd, dass mich nie einer gefragt hat, was ich darunter verstehe. Wütend rekapitulierte Sina die jeweilige Einschätzung ihrer neuerdings Vater, Mutter, Papas-Neue und Papas-neues-Kind umfassenden Familie: Papa versteht darunter, dass alle sich immer und ununterbrochen lieb haben, damit er in Ruhe arbeiten kann. Mama versteht darunter, dass jeder sich individuell entfalten können muss und dass sie jetzt mal an der Reihe ist. Tricia versteht darunter eine Art locker-flockige Wohngemeinschaft mit Putzfrau, Kindermädchen und Designermöbeln, und Laura-Joy, das neue Superbaby, versteht darunter offenbar, dass alle beständig um sie herumtanzen, »ah« und »oh« seufzen und sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen.

Im Sinne dieser allzeit glücklichen Patchworkfamilie hatten die Erwachsenen, kaum dass Papas und Tricias Traumbaby zur Welt gekommen war, das halslose, zerknitterte Etwas als »Sinas Schwesterchen« bezeichnet. Offenbar erwarteten alle, dass dieses Zauberwort irgendeinen eingebauten Mechanismus auslöste, der zu uneingeschränkter Begeisterung für ein abwechselnd schreiendes oder selbstzufrieden vor sich hin dösendes Wesen in rosa Rüschendeckchen führen würde. Nein, da regte sich gar nichts in Sina. Und dann dieses grässliche, pünktlich zur Geburt des Kleinchens fertiggestellte Babyparadies! Tricia hatte ihren Ami-Geschmack erfolgreich von San Diego nach Berlin exportiert: Laura-Joys Zimmer hätte Barbie vor Neid erblassen lassen! Und egal ob rosa, schneeweiß oder pink: immer alles vom Feinsten. Selbst Uromas schöne, abgewetzte Sitzgruppe, die im alten Haus das Wohnzimmer beherrscht hatte, war Tricias Stylingfimmel zum Opfer gefallen. Statt der behäbigen dunkelgrauen Plüsch-Dinger war ein riesiges cremefarbenes Ledersofa angeschafft worden.

Dass Sina wirklich nur aus Versehen ein dicker, blauer Permanentfilzer darauf gekullert war – natürlich ohne Verschlusskappe –, wollte ihr keiner so recht glauben.

Dabei war es tatsächlich keine Absicht gewesen, das schicke, neue Sofa gleich am ersten Tag mit Filzstift zu versauen. Aber als Sina merkte, dass ihr das keiner so recht abnahm, fand sie die Sache am Ende ganz in Ordnung.

Ihr war sowieso schleierhaft, wie Papa und seine Neue auf die Idee kommen konnten, ein Death-Punk-Fan könne sich in ihrem durchgestylten Designerambiente wohlfühlen.

Okay, sie hatten ihr, was die Einrichtung ihres Zimmers betraf, freie Hand gelassen, aber irgendwie konnten sie sich dann angesichts der schwarzen Pannesamtvorhänge und des Rattenkäfigs auf der Fensterbank ihre Kritik nicht verkneifen.

Zum Einzug der als neues Haustier geplanten Laborratte war es leider nicht mehr gekommen, weil Tricia in Tränen ausgebrochen war und Papa sich – vor die Wahl zwischen dem Zusammenleben mit seiner jungen Frau oder einer Laborratte gestellt – für seine Angetraute entschieden hatte.

»Die zweite Frau Ihres Vaters ist mit Ihrer Erziehung schlicht und ergreifend überfordert«, stellte Frau Haberlandt wie aufs Stichwort fest. Sina hätte beinahe laut aufgelacht. Erziehung? Na, das sollte die sich mal trauen!

»Andererseits wäre es Ihrer Mutter gegenüber einfach nicht fair, sie dazu zu zwingen, ihr gerade erst wieder aufgenommenes Studium zu unterbrechen und nach Deutschland zurückzukehren. Das verstehen Sie doch, oder?«

»Mama?« Jetzt wurde Sina hellhörig. »Was hat denn das mit meiner Mutter zu tun? Meine Mama hat es sich redlich verdient, mal aus allem rauszukommen. Und in Cambridge studieren? Mit Anfang vierzig? Ist doch irre! Also was gibt’s denn daran nicht zu verstehen?«

»Na, dann sind wir uns ja einig«, stellte Frau Haberlandt zufrieden fest und zog einen Aktenordner aus dem Regal.

»Über was sind wir uns einig?« In Sinas Kopf begannen laut und vernehmlich sämtliche Alarmglocken zu schrillen.

Sanft tadelnd schüttelte Frau Haberlandt den Kopf. »Haben Sie mir denn nicht zugehört?«

»Ich ... äh ... nein ... doch, natürlich!«, stotterte Sina.

»Na prima! So, hier haben wir’s!«, erklärte Frau Haberlandt zufrieden und hielt Sina einen bunten Prospekt unter die Nase. »Dann werfen Sie mal einen Blick darauf.« Und wieder dieses professionell aufmunternde Lächeln, mitsamt erneut die Schneidezähne verunzierender Lippenstiftreste.

»Schlossinternat Granzow an der Müritz«, stand auf dem Prospekt. Ein schneeweißes Barockschlösschen, davor, auf einem klatschgrünen, wohlgepflegten Rasen, eine Gruppe schick frisierter Jungen und Mädchen.

Tennis, Golf und Reiten inklusive.

Sina wurde schlecht. »Die wollen mich abschieben?«, stammelte sie ungläubig. »Weg von Berlin? In ein Internat?«

»So dürfen Sie das nicht sehen, Sina.« Frau Haberlandt legte mit mildem Lächeln die Hand auf Sinas Schulter. »Die finanziellen Möglichkeiten Ihrer Eltern erlauben es Ihnen, den Rest Ihrer Schulzeit in einer der schönsten Ecken Mecklenburg-Vorpommerns zu verbringen. Das Angebot, das die für den Freizeitbereich haben, stellt ja sogar mein Lieblingshotel in Hammamet in den Schatten!« Sie lachte über ihren kleinen, privaten Scherz.

Sina merkte, wie ihr langsam die Tränen in die Augen stiegen. »Wann?«, brachte sie mühsam hervor.

»Sofort!« Frau Haberlandt strahlte, und das Lippenstiftrot auf ihren Zähnen glänzte.

Vampirblut, dachte Sina. Dann ging sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Vor dem Haus stand Tricia an der Beifahrertür ihres Cabrios: hübsch, groß, blond und langhaarig und von den Designerstiefelspitzen bis zum lässig hochgestellten Kragen ihrer klassisch weißen Hemdbluse absolut perfekt gestylt. »Na komm, ich lad dich zum Mittagessen im Café Luise ein, da können wir dann alles besprechen«, sagte sie und setzte ihr Betrachte-mich-doch-einfach-als-eine-Art-große-Schwester-Lächeln auf.

»Ich hab keinen Hunger«, erklärte Sina knapp, ließ Tricia stehen und trabte in Richtung U-Bahn.

»Wann kommst du denn nach Hause?«, rief Tricia ihr nach. Aha, dachte Sina, und schon ist wieder Schluss mit der Große-Schwester-Masche. Sie zuckte mit den Schultern, ohne sich auch nur umzudrehen. »Nach Hause? Ich hab doch sowieso kein Zuhause mehr!«

Die Fahrt vom Westen in den Osten Berlins dauerte fast eine Stunde. Gott sei Dank war die U-Bahn um diese Zeit fast leer. Sina startete ihren iPod, steckte sich die Earplugs in die Ohren, lehnte den Kopf an die zerkratzte Fensterscheibe und schickte sich an, die Umwelt auszublenden. Doch die übliche Gothic-Rock-Compilation versagte diesmal ihren Dienst. Sina wechselte zu Corvus Corax: Mittelalter-Metal, laut, wütend und archaisch. »Mille anni passi sunt ...« Sie wippte im Takt mit der Fußspitze. »Tausend Jahre sind vergangen ...« Nein, tausend Jahre waren es nicht gerade, aber zwei. Zwei Jahre, in denen sich ihr Leben so verändert hatte, als läge ein ganzer Äon dazwischen. Corvus Corax’ brachiale mittelhochdeutsche und lateinische Gesänge stellten quasi die Schnittmenge zwischen ihrem früheren und ihrem jetzigen Leben dar: Noch vor zwei Jahren war sie der Star des Schulchors gewesen, mit Agnus-Dei-Solo, blauem Samtkleidchen und braver Pferdeschwanzfrisur. Und den ersten Preis beim Literaturwettbewerb Schülerinnen und Schüler schreiben hatte sie auch gewonnen.

Aber das alles hatte nichts genützt. Ihre Eltern hatten sich getrennt. Sie nannten es »auseinandergelebt« und »gute Freunde bleiben« und erwarteten, dass ihnen ihre wohlgeratene Tochter eine Art Rundum-sorglos-Paket dafür ausstellte, dass sie von Stund an ihre eigenen Wege gingen: Mama zum Studieren nach Cambridge und Papa schnurstracks in eine neue, durchgestylte Familienidylle.

Das Ganze war in Sinas Augen schlicht und ergreifend absurd, und als sich ihre Mutter und Papas Neue dann auch noch wie die allerbesten Freundinnen aufführten, hätte sie am liebsten eine Bombe mittendrein geworfen.

Wenn ich damals Caro nicht gehabt hätte, dachte Sina.

Sie hatten sich nach einer Erster-Mai-Demo kennengelernt. Dabei hatte Sina da überhaupt nicht mitdemonstriert. Sie hatte nur mal gucken wollen, was rund um den Görlitzer Bahnhof – wo in der Walpurgisnacht traditionell Steine flogen – los war. Ein dünnes, leichenblass geschminktes Mädchen – nur ein paar Jahre älter als sie selbst und ganz in Schwarz – hatte dort direkt vor ihren Augen ein Auto in Brand gesteckt. Natürlich fand Sina das nicht in Ordnung. Aber nachdem sie später auf der Polizeiwache ein paar Worte mit der trotzigen jungen Frau gewechselt hatte, brachte Sina es einfach nicht fertig, sie zu verraten.

Von da an war sie Caro wie ein Schatten gefolgt, hatte sich ihre langen, roten Haare wie Caro pechschwarz gefärbt und sämtliche bunten Klamotten in die Altkleidersammlung gegeben. Caro hatte mit fünfzehn die Schule geschmissen und hielt sich seitdem mit Betteln, Schnorren und gelegentlichem Kaufhausdiebstahl über Wasser. Sina bewunderte sie maßlos und lernte in Windeseile alle einschlägigen Tricks. Ihre Transformation vom braven Mädchen zum Goth vollzog sich in weniger als drei Wochen.

Der Nebeneffekt, dass Mama, Papa und Tricia Myers von Stund an kein anderes Thema mehr hatten als »Sinas psychische Probleme«, war ihr gerade recht. Wenigstens bekam ihre penetrante Patchwork-Family-Idylle auf diese Weise endlich mal ein paar Kratzer und Beulen.

Sina suchte auf ihrem iPod nach einem ihrer Lieblingslieder.

»Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt«, sang Teufel, der rot gehörnte Sänger von Corvus Corax. Der Text war von François Villon, einem Dichter, Kriminellen und Herumtreiber des 15. Jahrhunderts. Der hatte sich so doll in ein rothaariges Mädchen verknallt, dass er ein Gedicht darüber geschrieben hatte. Und mehr als vierhunderthundertfünfzig Jahre später sang denselben Text ein umwerfend sexy aussehender Typ in feuerroten Lederklamotten: »... da schmolz er auch schon hin, der harte Mann, weil’s solche Liebe nicht tagtäglich gibt. Ich hab mich in dein rotes Haar verliebt ...«

Vielleicht sollte ich damit aufhören, mir die Haare schwarz zu färben, dachte Sina.

»Nächster Halt: Eberswalder Straße«, verkündete eine unpersönliche Tonbandstimme. Sina stieg aus.

Caro stand wie immer mit einem Plastikbecher in der Hand am U-Bahnhof Kastanienallee und quatschte die Leute an der Ampel mit »Haste mal ’n bisschen Kleingeld?« an. Ihre zottelige Mischlingshündin Köta lag friedlich vor sich hin dösend auf der schmutzig grau karierten Wolldecke zu ihren Füßen.

»Hallo, Lieblingshund!«, rief Sina. Sie hielt die Namensgebung »Köta« für ziemlich daneben und vermied es, die Hündin in der Öffentlichkeit so zu nennen. Köta interessierte das wenig. Sie schaute mit ihren klugen braunen Hundeaugen zu Sina empor und gab ein zufriedenes Brummen von sich, als Sina sie hinter ihren Schlappohren kraulte.

Caro hatte im Verlauf des Vormittags knapp zwölf Euro zusammengebettelt und lud Sina großherzig zu Konoppkes sagenhafter Currywurst ein.

Während sie in der Schlange standen und warteten, schaute Sina sich um: ein paar Neo-Ossis in Ethnopullis und Ökolatschen, ein paar Uralt-Ossis mit Vokuhila-Dauerwelle und Fantasiemuster-Anoraks und jede Menge junge Leute, denen man die Herkunft Ost oder West nicht mehr ansah – Punks, Emos, Goths und dazwischen ein paar durchgestylte Anzugtypen mit Trilby-Hut und Sonnenbrille.

Sina ballte unbewusst die Fäuste. Stattdessen schnarchlangweilige Schlossidylle in Meckpomm? Das konnten die ihr doch nicht antun! Das hier war doch genau ihre Welt: bunt, spannend und ein bisschen abgeranzt, aber immer in Bewegung und voller interessanter Menschen auf der Suche nach Neuem, Ungewohntem und vielleicht sogar Verbotenem.

Caro rückte weiter in der Schlange und wandte sich zu Sina um. »Die wollen dich also in so’n Nobelschuppen einknasten«, stellte sie ohne erkennbare Gemütsregung fest. »Na dann: viel Spaß!«

»Spinnst du?«, versetzte Sina. »Meinst du, ich geh da freiwillig hin?«

»Ach, nicht?« Caro wandte sie sich der Imbissfrau zu: »Zwei Curry scharf und zwei Pommes ohne.«

Sina fasste es nicht. »Mensch, Caro! Ich kann doch überhaupt nichts dagegen machen! Ich bin noch keine sechzehn!« Wie konnte Caro ihr nur unterstellen, dass sie aus freien Stücken in irgend so ein gottverlassenes Kaff ziehen würde?

»Dann hau doch ab von zu Hause«, meinte Caro und schüttete der Imbissfrau einen ganzen Berg Kleingeld auf den Tresen. Genervt zählte die den Betrag ab.

Sina wusste, dass Caro schon mit knapp dreizehn das erste Mal von zu Hause weggelaufen war. Prügelnder Vater, alkoholkranke Mutter: Verwunderlich war es nicht, dass Caro versucht hatte, ihrem lieblosen Elternhaus zu entkommen. Nur: Bei mir ist das was anderes, dachte Sina, bei mir sind alle lieb und nett und besorgt um mich und keiner kapiert, wieso es mir trotzdem tierisch mies geht.

»Hast du was gesagt?«, fragte Caro.

»Nee, Abhauen bringt doch nichts«, brummte Sina. Ihr einziger Versuch hatte bereits nach weniger als vierundzwanzig Stunden auf dem Polizeirevier geendet. Im Gegensatz zu Caro hatte sie weder das Know-how noch die Nerven für ein Überleben auf der Straße.

Die Imbissfrau wischte sich mit einer routinierten Armbewegung den Schweiß von der Stirn. »So, bitte sehr, die Damen: zwei scharf, zwei ohne!«

Sina und Caro verzogen sich, je ein Schälchen mit Currywurst und herrlich ungesund duftenden Fritten in den Händen, an einen der wachstuchüberzogenen Holztische zurück.

»Tja, dann heißt das wohl bye-bye«, erklärte Caro trocken und machte sich über ihre Pommes her.

»Aber ...« Sina wollte nicht glauben, dass ihre Freundin die Trennung so leicht nahm. »Aber ... macht dir das denn gar nichts aus?«

»Wieso?« Caro schlang gierig ein Stück Currywurst herunter und ließ ein zweites für Köta unter den Tisch fallen. »Du warst doch letzten Endes eh nur so ’ne Art Touri hier im Kiez: kleiner Abstecher ins wahre Leben und dann nichts wie zurück ins Schickimicki-Haus in Zehlendorf. Für euereins ist unsereins doch so was wie ’n Affe im Zoo.«

»Quatsch! Bloß wegen deiner Piercings und so?« Caro zog in dieser Hinsicht wirklich sämtliche Blicke auf sich. Augenbrauen, Nase, Zunge, Mundwinkel, Ohren: Es gab so gut wie keine Stelle, an der sie sich nicht irgendein Metallteil hatte einsetzen lassen. Und dazu diese zotteligen, pechschwarz gefärbten Haare: Das sah schon alles reichlich freakig aus.

»Aber du willst doch auffallen mit deinem Outfit ...«, wandte Sina ein.

Caro schüttelte gespielt ungläubig den Kopf. »Du raffst echt überhaupt nichts, was? Mann, wo unsereins in ’n Jugendknast wandert, schickt man euereins ins Nobelinternat und fertig. Was gibt’s ’n da zu jammern? Abi kriegste gratis hinterhergeschmissen, Studieren zahlt der Papa und – bums! – haste ausgesorgt! Also verzieh dich, werd glücklich und geh mir nicht weiter mit deinem Genöle aufn Keks!«

»Heißt das, du schreibst mir nicht mal?«, fragte Sina kleinlaut.

Caros Blick sprach Bände.

Na gut, Caro war schon fast achtzehn und gerade wieder frisch verliebt und entsprechend abgelenkt, aber ein bisschen Trost oder wenigstens ein kleines bisschen Abschiedsschmerz hatte Sina sich denn doch erhofft.

»Ja, ciao dann mal, okay?« Caro wischte sich die Currysoße vom Kinn und stand auf.

»Wo gehst du denn hin?«, fragte Sina, die immer noch nicht fassen konnte, dass Caro sich so gar nichts aus ihrer Trennung machte.

Caro tippte auf ihre rechte Schulter. »Was Keltisches in Farbe oder so. Olly muss üben, da krieg ich’s umsonst.«

Olly, das war Caros neuer Lover. Er ließ sich gerade in einem Piercing- und Tattoo-Studio in der Oderberger Straße anlernen. Sina schluckte. Was Keltisches in Farbe ... Das mit den Piercings hatte sie sich nie getraut, aber eine Tätowierung? Sie dachte an die braven Jungs und Mädels auf dem klatschgrünen Rasen in Meckpomm, an Tricias makellosen, blütenweißen Hemdblusenkragen und Frau Haberlandts Vampirblutschneidezähne.

»Ich komm mit!«, verkündete sie kurzentschlossen.

»Zugucken oder selber?«, fragte Caro skeptisch.

»Selber!«, erklärte Sina.

»Tut aber weh«, stellte Caro pragmatisch fest, »und bei dir kostet’s dann auch. Schätze, ’n Fuffi.«

»Schon klar.« Sina nickte ergeben. Fünfzig Euro waren auch bei ihrem großzügig bemessenen Taschengeld kein Pappenstiel, aber allein der Gedanke an die entsetzten Gesichter von Papa und Tricia war ihr das Ganze wert.

»Such dir was aus«, meinte Olly, als sie im Bloody-Ink–Studio ankamen. Er warf Sina einen speckigen Katalog mit verschiedenen Motiven zu und machte sich daran, seiner Caro ein brennendes Herz mit der Aufschrift Love kills slowly in die rechte Schulter zu sticheln.

»Ich nehm den Totenschädel mit den gekreuzten Unterschenkelknochen«, entschied Sina ohne langes Nachdenken.

Caro prustete. »Den To-ten-Schädel mit den ge-kreuz-ten Un-ter-schen-kel-knochen«, äffte sie Sina affektiert nach und wollte sich vor Lachen schier ausschütten. »Ham wir’s nich ’ne Nummer kleiner?!«

»Das heißt skull and bones«, erklärte Olly trocken und wischte konzentriert ein Blutströpfchen von Caros Schulter. Er schwitzte vor Anstrengung.

Caro lachte noch immer über Sinas Unkenntnis.

Sina starrte auf den Katalog mit all den Monstern und Mutanten. Caro hat mich nie wirklich gemocht, stellte sie nüchtern fest. Komisch, dass ich das bis heute nicht gemerkt habe.

Als sie aufstand, um zu gehen, drehte Caro sich grinsend zu ihr um.

»Dacht ich mir, dass du kneifst«, meinte sie spöttisch.

»Ach wo, ich muss nur pinkeln«, konterte Sina.

Eine knappe Stunde später saß sie auf Caros Platz, und Olly setzte in ihrem Nacken die Tätowiernadel an.

Es tat höllisch weh.

Als Sina kurz nach Mitternacht nach Hause kam, erwartete sie zu ihrer Verblüffung nicht das übliche Donnerwetter.

Stattdessen saßen ihr Vater und Tricia in trauter Zweisamkeit im Kaminzimmer beieinander. Die Filzstiftspur auf dem schicken, neuen Ledersofa wurde mittlerweile gnädig von einem himmelblauen Kaschmirplaid verdeckt, und auf dem Glastisch stand eine Flasche Rotwein mit drei Gläsern.

»Have a seat«, sagte Tricia. »Setz dich.«

»Wir möchten mit dir ein paar Sachen besprechen«, begann Sinas Vater und goss allen ein Glas Rotwein ein.

»Aua!«, entfuhr es Sina.

»Bitte?«, fragte ihr Vater irritiert.

»Nichts-nichts.« Verstohlen fuhr sich Sina mit der Hand in den Nacken. Das Tattoo war nicht größer als vielleicht fünf, sechs Zentimeter im Quadrat, aber es puckerte und brannte, als ob ihr jemand glühende Kohlen auf die nackte Haut gelegt hätte.

»Frau Haberlandt hat uns Schloss Granzow empfohlen, weil es derzeit das mit Abstand schönste und bestausgestattete Internat weit und breit ist«, fuhr Johann Terbeek fort. »Und ich möchte, dass du dir darüber klar bist, dass sich keiner von uns die Entscheidung leicht gemacht hat.«

»Nein, natürlich nicht«, versetzte Sina. »Nur: Allzu schwer kann euch die Entscheidung ja nicht gefallen sein. Denn nach meiner Meinung hat ja keiner gefragt.«

Tricia beugte sich vor und versuchte, ihre Hand auf Sinas Hand zu legen. »Nein, gefragt hat dich keiner«, sagte sie sanft und ignorierte geflissentlich, dass Sina demonstrativ ihre Hand wegzog, »aber gebeten haben wir dich, x-mal. Dass du zur Schule gehst, dass du deine Hausaufgaben machst und aufhörst, dich mit dieser Caro rumzutreiben.«

Das hat sich nach dem heutigen Nachmittag eh erledigt, dachte Sina und versuchte eisern, den brennenden Schmerz im Nacken zu ignorieren. Sie hatte das Gefühl, dass es von Minute zu Minute schlimmer wurde.

»Eigentlich ist es nicht üblich, dass mitten im laufenden Schuljahr neue Schüler aufgenommen werden, aber wir haben mit der Schulleiterin, Frau Dr. Jung, gesprochen, und sie ist bereit, in deinem Fall eine Ausnahme zu machen. Eine Schülerin ist nämlich ...« Johann Terbeek unterbrach sich erschrocken und sprang auf. »Aber ... Sinchen! Das ist doch kein Grund zu weinen!«

»Ach was!«, fauchte Sina. »Wegen dem blöden Internat heul ich doch nicht!« Sie biss die Zähne zusammen, aber es nützte nichts. Trotzdem liefen ihr die Tränen die Wangen herunter. Da, wo sich das Tattoo befand, musste mittlerweile das gesamte Fleisch vom Knochen weggeätzt sein. Jedenfalls fühlte es sich so an. Alles, was sie jetzt noch wollte, war wegrennen: rauf in ihr Zimmer, die Tür von innen abschließen und ab unter die Bettdecke.

Aber dazu kam es gar nicht erst, denn als ihr Vater fürsorglich den Arm um ihre Schultern legte und dabei ihren Nacken berührte, schrie sie so laut auf, das Tricia mit vor Schreck geweiteten Augen auf sie zugestürzt kam. Innerhalb von Sekunden hatte sie das Pflaster entdeckt.

»Oh my God«, murmelte sie, als sie es abgelöst hatte.

Sina wimmerte leise vor sich hin. Ihr war jetzt alles egal, sie wollte nur, dass das Brennen aufhörte.

Von da an liefen im Terbeek’schen Kaminzimmer zwei verschiedene Filme parallel: Tricia wurde zur Protagonistin einer Krankenhausserie und agierte so klar, kühl und effizient wie im Emergency Room von Sacred Heart.

Johann Terbeek mutierte zu einer Art Jack-Nicholson-Verschnitt, der den Teufel und sein gesamtes Höllenpersonal auf denjenigen herabbeschwor, der seiner Tochter das angetan hatte.

Zum ersten Mal war Sina froh, eine angehende Ärztin im Haus zu haben.

»Eine heftige allergische Reaktion«, erklärte Tricia, »und das anscheinend gleich doppelt: auf das Pflaster und auf die Farben. Wer weiß, was da alles drin war.«

»Aber Olly hat gesagt, er nimmt Biofarben ...«, wandte Sina kleinlaut ein.

»Ja, gerade die enthalten manchmal jede Menge Nickel«, erklärte Tricia und tupfte vorsichtig Cortisonsalbe auf Sinas Nacken.

»Olly-wie?«, fragte Sinas Vater und tippte auf die Schnellwahlnummer seines Rechtsanwalts. Natürlich war um die Zeit niemand in der Kanzlei.

»Ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen heißt«, erklärte Sina wahrheitsgemäß. »Und ein richtiger Tätowierer ist er auch noch nicht.«

Sie würde Olly nicht verraten, um keinen Preis! Sina war klar, dass sie sich das Ganze selbst zuzuschreiben hatte. Schließlich hatte sie sich diesen quietschbunten Totenkopf nur stechen lassen, um Caro ein letztes Mal zu imponieren. Dabei hätte sie doch wissen müssen, dass Caro außer von sich selbst von niemandem zu beeindrucken war.

Als Sina mit keinerlei Vernunftappellen dazu zu bewegen war, die Adresse des Tattoo-Studios zu verraten, gab Johann Terbeek schließlich auf.

Seltsam, dachte Sina. Weder Papa noch Tricia sind auf die Idee gekommen, mit mir zu schimpfen. Stattdessen werd ich getröstet und ins Bett gebracht wie ein Kleinkind. Das fühlte sich gar nicht so schlecht an. Und sie musste es ja auch niemandem weitererzählen.

»Sleep well, sweetie«, sagte Tricia, bevor sie das Licht ausmachte.

Sina lag auf dem Bauch – Hals und Nacken mit Mull bandagiert – und seufzte erleichtert. Der Schmerz hatte deutlich nachgelassen. Und bis alles abgeheilt war, durfte sie sicher noch zu Hause bleiben. Eine Galgenfrist, aber besser als nichts.

2

Das Schloss war beinahe noch weißer als auf Frau Haberlandts Hochglanzprospekt. Auf dem Rasen neben der kiesbestreuten Auffahrt saß allerdings kein einziger schick gestylter Schüler und keine einzige hübsch frisierte Schülerin.

Kunststück: Erstens war es dazu noch viel zu kalt und zweitens war es gerade mal halb elf. Die Reichen, Schönen und Begabten von Schloss Granzow hockten also allesamt in ihren Klassenräumen und paukten Mathe, Chemie oder Latein.

Sina hatte Tricia, Laura-Joy und ihren Vater im Hotel Am Yachthafen zurückgelassen und war mit dem Taxi zum Internat gefahren. Es war lieb, dass die drei einen Tag vorher mit ihr hergefahren waren, um ihr die Gegend zu zeigen, und Sina hatte zähneknirschend zugeben müssen, dass die mecklenburgische Fluss- und Seenlandschaft sie tatsächlich beeindruckt hatte. Aber wenn dieses weiße Schnörkelschlösschen nun mal für die nächsten vier Jahre ihr Zuhause sein sollte, dann wollte sie es auch im Alleingang für sich erobern und sich erst mal alles in Ruhe von außen angucken.

Doch daraus wurde nichts, denn kaum war das Taxi über den verräterisch knirschenden Kiesweg zurückgefahren, wurde im Seitenflügel des Schlösschens ein Fenster aufgerissen, und eine Stimme rief aufgekratzt: »Halli-Halloooo!«

Sina schaute hoch: Ein Mädchen mit roter Wollmütze winkte wild mit beiden Händen wedelnd zu ihr herunter.

Halli-Hallo?, dachte Sina. Das klingt ja wie in den alten Heimatfilmen, die in den Oster- und Weihnachtsferien immer im Nachmittagsprogramm laufen.

Doch bevor sie sich weiter über die altbackene Begrüßung mokieren konnte, wurde die Tür aufgerissen und ein sommersprossiges Mädchen mit langen braunen Haaren kam auf sie zugestürzt: »Hallo, du musst die Sina sein!«

Das Wollmützenmädchen stutzte nur einen winzigen Moment angesichts Sinas Goth-Outfits und der pandamäßig schwarz umrandeten Augen. Dann sprudelte es ohne Punkt und Komma los: »Herzlich willkommen auf Schloss Granzow! Ich bin die Nora, deine Patin! Wir wohnen zusammen!«

Ehe Sina sich versah, war das Wollmützenmädchen ihr um den Hals gefallen. Dann griff sich ihre »Patin« kurzerhand den Koffertrolley und trabte – Sina strahlend zum Mitgehen auffordernd – in Richtung Schlosspark. »Weißt du, die Lili ist nämlich seit nach den Ferien ’ne Exi«, plapperte sie weiter, »weil ihre Mutti doch nach Waren gezogen ist, und deshalb ist der zweite Platz bei mir im Zimmer frei!«

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