Elbensturm - Frank Rehfeld - E-Book

Elbensturm E-Book

Frank Rehfeld

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Beschreibung

Durch die finsteren Ränke des besessenen Elbenkriegers Lhiuvan werden die Zwerge von Elan Dhor all ihrer Verbündeten beraubt. Dabei stehen nur Warlon und seine Gefährten zwischen dem Elb und der dunklen Macht der Schattenmahre. Hat Lhiuvan diese erst einmal erlangt, wird nichts mehr seine Eroberungspläne stoppen können. Mit verzweifelter Entschlossenheit bereitet Warlon seine Zwerge darauf vor, ihr Leben zu opfern, um Lhiuvan aufzuhalten. Da erreicht sie unerwartete Hilfe …

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Seitenzahl: 515

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Frank Rehfeld

Elbensturm

Die Zwerge von Elan-Dhor 2

Roman

Originalausgabe

1. Auflage

Originalausgabe November 2012 bei Blanvalet,

einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Copyright © 2012 by Frank Rehfeld

Redaktion: Simone Heller

Karte: Jürgen Speh

HK ∙ Herstellung: sam

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-05803-6

www.blanvalet.de

1NIEMANDSLAND

An einem unbekannten Ort, zu einer unbekannten Zeit

»Barlok«, krächzte die Gestalt zum wiederholten Male, als wäre der Name ein Rettungsanker, an dem sie sich inmitten einer reißenden Strömung festklammerte. Und in gewisser Hinsicht traf das auch zu.

Als bloßes Bewusstsein war er durch die Unendlichkeit getrieben, ohne Erinnerungen, ohne jedes Zeitgefühl. Falls dort, wo er sich befunden hatte, Zeit überhaupt eine Bedeutung besaß.

Nun jedoch war er in die reale Welt zurückgekehrt. Er verfügte wieder über einen Körper, und die Erinnerungen brachen mit der Wucht einer Gesteinslawine über ihn herein, die ihn mit sich fortzureißen und unter sich zu begraben drohte. In seinem Geist herrschte Aufruhr. Informationen prasselten ungeordnet auf ihn ein, wie die Steine eines ungeheuer großen Mosaiks, ohne dass sein Verstand damit nachkam, sie zu ordnen.

Inmitten dieses Durcheinanders war sein Name wie ein Rettungsanker, der ihm Halt verlieh, ein Punkt der Ordnung, an dem er alles andere ausrichten konnte.

»Du heißt also Barlok und entstammst dem Volk der Zwerge«, sagte die Gestalt neben ihm nach einer Weile und erinnerte ihn wieder daran, dass er nicht allein war. Barlok schreckte aus seinem Dämmerzustand auf und wandte den Kopf. Zum ersten Mal sah er seine Begleiterin an.

Thalinuel war eine Elbin, das hatte er bereits gewusst. Sie hatte es ihm selbst gesagt, als er inmitten der Unendlichkeit treibend auf sie gestoßen war, denn im Gegensatz zu ihm hatte sie ihr Gedächtnis behalten und war sich ihrer selbst bewusst gewesen, hatte ihm sogar einen Teil ihrer Geschichte erzählt. Aber da hatte er sie nur als körperloses Bewusstsein wahrgenommen, sie jedoch nicht gesehen.

Jetzt erschreckte ihn ihr Anblick.

Sie überragte ihn um mehr als zwei Köpfe, und wie fast alle Angehörigen ihres Volkes hatte sie blondes Haar, doch trug sie es nicht lang. Es war kurz geschnitten, und die knapp fingerlangen Reste standen ihr wirr und verfilzt vom Kopf ab. Auch ihr Gewand war schmutzig, stellenweise sogar zerrissen, und hing unförmig wie ein Sack an ihr herab. Am meisten entsetzten ihn jedoch ihre zahllosen Verletzungen: Ihre Arme und Beine und ihr Oberkörper, soweit er zu sehen war, waren übersät mit braungrünen Flecken, die offenkundig von Schlägen oder Stößen herrührten, außerdem war ihre Haut an vielen Stellen abgeschürft und dick mit Schorf bedeckt.

»Für unsere Körper ist im Inneren des Tores keinerlei Zeit verstrichen, sie waren nicht existent«, sagte sie, als sie seinen Blick bemerkte. »Dadurch sind wir nicht nur der Alterung entgangen, sondern befinden uns auch im gleichen Zustand wie zu dem Zeitpunkt, als wir von dem Tor verschlungen wurden.«

»Aber deine Verletzungen …«

»Ich hatte eine … ziemlich schlimme Zeit, bevor es geschah. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, werde ich dir weiter davon berichten. Jetzt haben wir Dringenderes zu tun. Wir müssen erst einmal herausfinden, wo wir überhaupt sind. Wir scheinen allein zu sein.«

Barlok blickte sich um. Sie befanden sich auf einem gut zwei Dutzend Schritte durchmessenden Felsplateau am Fuße eines Berges. Auf einer Seite erhob sich eine steile Felswand, auf den anderen war es von gut doppelt mannshohen Gesteinsbrocken wie von einer natürlichen Brustwehr umgeben. Geröll bedeckte den Boden. Der Himmel war mit dichten, dunklen Wolken verhangen, die alles ganz grau und eintönig erscheinen ließen.

»Ich kann … mich nun wieder an alles erinnern«, sagte er. »Diese Thir-Ailith, zu denen du einst gehört hast – ich weiß nicht, ob sie etwas mit den Wesen zu tun haben, denen ich mein Hiersein verdanke. Sie waren schreckliche Zerrbilder von Elben, weshalb wir sie auch Dunkelelben nannten. Viele Jahrtausende vor meiner Zeit gab es einen Krieg innerhalb deines Volkes, und sie wurden in Katakomben tief unter dem Schattengebirge verbannt, bis wir sie unwissentlich befreiten, und sie über Elan-Dhor, unser Reich, herfielen.«

»Dann ist es ihnen also gelungen zu überleben.« Thalinuel ballte die Fäuste. »Und du sagst, ihre Verbannung lag bereits Jahrtausende vor deiner Zeit?«

»So ist es. Ja, sie haben überlebt, doch sie haben einen schrecklichen Preis dafür bezahlt. Ihr Denken und Handeln wurde nur noch von Blutdurst und Hass auf jede andere Lebensform bestimmt, sogar körperlich haben sie sich verändert. Durch das Tor, in das ich beim entscheidenden Kampf gegen sie gesogen wurde, haben sie sich mit magischer Kraft aus einer anderen Welt versorgt. Nur dadurch konnten sie überhaupt überleben. Die Hochelben, die uns bei unserem Krieg unterstützten, sprachen von einer ungeheuer starken und bösen Macht auf der jenseitigen Daseinsebene. Unter diesen Umständen sollten wir wohl froh sein, dass uns kein Empfangskomitee erwartet hat.«

»Wahrscheinlich. Du musst mir alles erzählen, was du weißt, aber nicht jetzt. Erst müssen wir herausfinden, was dies für eine Welt ist, doch nach allem, was du gesagt hast, dürfen wir nicht erwarten, hier freundlich aufgenommen zu werden.«

»Reizende Aussichten«, brummte Barlok. »Obwohl ich nicht verstehe, wieso dieses Tor nicht bewacht wird. Irgendetwas muss geschehen sein, wodurch wir aus dem Tor herausgeschleudert wurden. Ich habe etwas ungeheuer Finsteres wahrgenommen, das an uns vorbeigezogen ist, also muss das Tor unmittelbar vor unserer Ankunft geöffnet worden sein.«

»Du hast Recht und auch wieder nicht. Es ist schwierig zu erklären.« Thalinuel zögerte. »Auf den meisten Welten gibt es mehr als nur ein Tor, und wie die Vielzahl von Stollen in einer Zwergenmine sind sie untereinander verbunden. Man kann beim Öffnen eines Tores ein bestimmtes Ziel wählen, aber da wir unkontrolliert hinausgestoßen wurden, sind wir durch Zufall hier gelandet und nicht an einem anderen Ort auf dieser Welt. Seien wir froh darüber, so wurden wir wenigstens bis jetzt noch nicht entdeckt.«

Barlok scharrte mit den Füßen in dem lockeren Geröll auf dem Boden und stampfte ein paarmal kräftig auf.

»Kaum zu glauben, dass sich genau hier ein Tor befinden soll, das diese Welt mit anderen verbindet«, murmelte er. »Können wir es nicht nutzen, um wieder in unsere Heimat zurückzukehren?«

»Nein.« Entschlossen schüttelte die Elbin den Kopf. »Meine Kräfte würden niemals ausreichen, es erneut zu öffnen. Zeit meines Lebens war ich eine Kriegerin und habe mich kaum um Magie gekümmert. Ich verstehe nur wenig von diesen Dingen und wüsste nicht einmal, wie ich anfangen sollte.«

Sie trat auf den Felsenkranz zu und schwang sich mit geschmeidigen Bewegungen hinauf. Gleich darauf erstarrte sie.

»Was ist los?«, fragte Barlok. »Was siehst du?«

Thalinuel antwortete nicht. Fast eine Minute lang stand sie völlig regungslos da. Schon wollte Barlok sie ein weiteres Mal ansprechen, als sie endlich wieder aus ihrer Erstarrung erwachte und sich zu ihm herumdrehte. Ihr Gesicht war noch blasser geworden als zuvor.

»Sieh es dir selbst an.« Sie bückte sich und half ihm, die steilen Felsblöcke hinaufzuklettern. Als er oben angelangt war, konnte er verstehen, warum sie auf den Anblick so erschüttert reagiert hatte.

Steil und unwegsam fiel das Gebirge in Felswänden und Klippen vor ihnen ab, durchzogen von Schründen und Rissen, dazwischen immer wieder Täler, Plateaus und sanftere Abhänge, die mit nadelspitz aufragenden Felsen gespickt waren.

Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Viel schrecklicher war die Ebene, die sich daran anschloss.

Bis zum Horizont erstreckte sich vor ihnen eine verheerte Einöde, ein totes, verbranntes Land. Flüsse und Tümpel aus Feuer schienen es zu durchziehen, doch rasch erkannte Barlok, dass es sich ebenfalls um Schründe handelte, wo der Boden aufgerissen und glühende Lava bis an die Oberfläche gestiegen war.

Nichts Fruchtbares gab es in diesem Land, keine Wälder oder Wiesen, nicht einen Flecken Grün, so weit sein Blick reichte.

»Bei den Dämonen der Unterwelt! Was … was ist das?«, stieß er krächzend hervor. »Was kann ein Land so vollständig zerstören?«

»Ich kenne keine Dämonen der Unterwelt, aber was immer du darunter verstehst, ich denke, du kommst der Wahrheit damit ziemlich nah.« Thalinuels Stimme bebte. »Dies ist die Macht des Bösen, die du siehst. Eine Welt in Chaos und Vernichtung, beherrscht von den Göttern der Finsternis. Irgendwann sieht jede Welt so aus, in der sie und ihre Kreaturen die Oberhand gewinnen.«

»Wir haben bereits gewusst, dass diese Welt vom Bösen beherrscht wird. Was wir nun sehen, ist nur eine Bestätigung«, stellte Barlok fest.

Den allergrößten Teil seines Lebens hatte er unter der Erde verbracht. Lediglich die Flucht vor den Thir-Ailith hatte ihn gezwungen, einige Zeit auf der Oberfläche zu leben, aber er liebte sie nicht sonderlich, und sie war ihm stets fremd geblieben. Insofern schockierte ihn der Anblick nicht übermäßig, aber er konnte nachvollziehen, wie unerträglich er für die in engem Einklang mit der Natur lebende Elbin sein musste.

»Trotzdem – ich hatte zumindest gehofft, dass es nicht ganz so schlimm sein würde. Aber das hier … Machen wir uns nichts vor: Wir sind verloren! Wir werden nicht einmal von diesem Berg herunterkommen. Es gibt keinen Weg und …«

»Lass das nur meine Sorge sein«, unterbrach Barlok sie. »Ein Zwerg braucht keinen Weg, um sich im Gebirge zu bewegen. Es wird nicht einfach werden, aber ins Tal werden wir gelangen. Nur, was nutzt uns das? Wir müssen essen und trinken. Wasser können wir vielleicht finden, aber woher sollen wir feste Nahrung bekommen? Dieses Land dort unten ist völlig tot. Dort wächst nichts. Selbst wenn wir es erreichen, werden wir dort verhungern.«

Er ließ seinen Blick noch einmal über die trostlose Ebene wandern und ballte die Fäuste. Sollte das etwa ihr Schicksal sein? Waren sie der ewigen Gefangenschaft innerhalb des Tores nur entronnen, um nun hier elend zugrunde zu gehen? Er weigerte sich, daran zu glauben. So grausam konnte das Schicksal einfach nicht sein!

Er war Krieger, sogar einer der berühmtesten Kriegshelden von Elan-Dhor. Im Kampf gegen die Dunkelelben hätte er mit Freuden sein Leben gegeben, um sein Volk zu retten, und nichts anderes als den Tod hatte Barlok auch erwartet, als das Tor ihn verschlungen hatte. Davor hatte er keine Angst. Er hatte stets daran geglaubt, dass er eines Tages im Kampf den Heldentod sterben würde. Dementsprechend wäre es ihm lieber gewesen, inmitten einer gewaltigen Schar von Feinden aus dem Tor herauszutreten und von ihnen niedergemacht zu werden, als hier im Nirgendwo einer fremden Welt erbärmlich zu verhungern oder zu verdursten.

»Das Leben ist zäh und hartnäckig«, behauptete Thalinuel. Sie schien den ersten Schock überwunden und sich wieder etwas gefangen zu haben. »Es lässt sich nicht so leicht ausrotten, sondern überdauert oft im Verborgenen und kehrt an den unverhofftesten Orten zurück. Ich vermute, nicht einmal dieses Land hier ist völlig tot. Irgendwelche Pflanzen werden selbst diese Verheerungen überstanden haben.«

»Vielleicht ein paar Gräser oder Flechten, aber ich kann weit und breit keine Bäume oder Büsche entdecken, sodass wir uns von Obst oder Beeren ernähren könnten.«

»Wir werden sehen. Erst einmal müssen wir das Tal überhaupt erreichen. Wie ich dir schon gesagt habe – ich habe eine schwere Zeit durchgemacht, bevor ich in das Tor geriet. Mein Körper ist davon noch ziemlich geschwächt.«

Barlok trat bis unmittelbar an die Felskante und blickte noch einmal in die Tiefe. Von dem Plateau aus fiel das Gestein in jeder Richtung fast lotrecht mindestens ein halbes Dutzend Meter ab, viel zu hoch für einen Sprung auf den unebenen Fels. Ein gebrochenes Bein würde in dieser Umgebung den sicheren Tod bedeuten.

Sorgfältig musterte er die Felsen und entdeckte eine Stelle, an der sie deutlich rauer und zerklüfteter waren. Dort gab es eine Menge kleiner Vorsprünge und auch Vertiefungen im Gestein, die einem Kletterer Halt boten.

»Sieh dir das an«, sagte er. »Traust du dir zu, hier hinunterzuklettern?«

Thalinuel zögerte einen Moment, dann nickte sie.

»Normalerweise würde ich das sogar mit verbundenen Augen schaffen«, behauptete sie. »Aber auch so dürfte es kein allzu großes Problem sein. Immerhin bin ich eine Elbin, und hier geht es eher um Geschicklichkeit als um Kraft.«

»Dann los. Ich klettere zuerst. Solltest du abrutschen, kann ich dich dann immer noch …«

»Warte!« Thalinuel ergriff ihn mit einer Hand am Arm und hielt ihn zurück, mit der anderen deutete sie auf etwas Dunkles, das hoch über der Ebene am Himmel kreiste. »Was ist das?«

Auch Barlok starrte in die angegebene Richtung, konnte aber nicht mehr als einen winzigen Punkt erkennen.

»Wohl nur ein Vogel«, sagte er nach einigen Sekunden und zuckte mit den Achseln.

»Dafür ist es zu groß. Es fliegt sehr hoch und ist viel weiter entfernt, als es den Anschein hat«, widersprach Thalinuel. »Wenn das ein Vogel ist, dann muss er gigantisch sein.«

»Deine Augen sind offenbar wesentlich schärfer als meine. Worum es sich handelt, kannst du nicht erkennen?«

»Nein, aber es gefällt mir auf jeden Fall nicht. Solange wir nicht mehr über diese Welt wissen, sollten wir zunächst einmal alles als Gefahr betrachten, was sich nicht als harmlos erwiesen hat. Und was immer es ist, ich habe das Gefühl, dass es uns besser nicht entdecken sollte. Gehen wir lieber in Deckung.«

Sie sprangen wieder von dem Felsenkranz herab und duckten sich dahinter. Allerdings vermochte Barlok seine Neugier nicht zu zügeln und spähte alle paar Sekunden vorsichtig über die Kante.

Das unbekannte Wesen kreiste noch immer über der Ebene, doch sank es dabei allmählich tiefer und näherte sich dem Gebirge. Nach wie vor konnte er keine Einzelheiten ausmachen, aber er erkannte immerhin, dass es tatsächlich weitaus größer sein musste, als er zunächst angenommen hatte.

Er war gewiss nicht ängstlich, aber jetzt erwachte mit einem Mal eine tiefe, kreatürliche Furcht in ihm, dass es noch näher kommen und sie entdecken würde, und er war froh, dass er auf die Elbin gehört und sie sich versteckt hatten. Selbst aus der Entfernung meinte er mittlerweile spüren zu können, dass das Wesen durch und durch böse war, erfüllt von einer abgrundtiefen Bosheit, der sie nichts entgegenzusetzen hatten.

Barlok wünschte, es würde abdrehen und dorthin zurückfliegen, woher es gekommen war, doch den Gefallen tat ihm das Wesen nicht. Stattdessen kam es beständig näher. Barloks Hände wurden feucht und begannen zu zittern.

»Ich spüre es auch«, stieß Thalinuel hervor. »Eine Präsenz, wie auch ich sie noch niemals zuvor erlebt habe. Aber ich habe davon gehört. Wenn mein Verdacht zutrifft … Bei den lichten Göttern, welch ein unglaublicher Narr war Molakan! Wie konnte er sich nur jemals mit diesen Mächten einlassen!«

»Was für Mächte? Wovon sprichst du? Weißt du, was für eine Kreatur das ist?«

»Ich habe einen Verdacht, aber noch bin ich nicht sicher. Es könnte ein Drache sein, oder …« Sie schluckte schwer. »Nein, ich … ich kann nicht einmal darüber reden.«

Ihr war anzusehen, wie sehr die Gedanken sie quälten, deshalb gab Barlok sich für den Moment damit zufrieden, obwohl ihre Andeutungen ihn mehr beunruhigten, als jede konkrete Erklärung es vermocht hätte.

Ein Drache …

Feuer speiende Drachen gehörten zum reichen Schatz von Phantasiegestalten des Zwergenvolkes, waren Bestandteil zahlreicher Schauermärchen über die Oberfläche jenseits ihrer Minen. Auch in den Legenden anderer Völker, beispielsweise der Menschen, tauchten sie auf, doch hatte Barlok sie bislang stets für genau das gehalten: Mythen und Legenden, erfundene Kreaturen wie die im Leib der Erde hausenden Erzfresser – nichts, was es wirklich gab.

Und nun behauptete Thalinuel, das hoch am Himmel kreisende Wesen könnte ein leibhaftiger Drache sein, vielleicht sogar etwas noch Schrecklicheres. Unter normalen Umständen hätte Barlok ihre Aussage als Hirngespinst abgetan, aber es hatte sie in eine völlig fremde Welt verschlagen, und niemand konnte sagen, welche Kreaturen hier leben mochten. Möglicherweise jedoch sogar tatsächlich Drachen …

»Sieh nur!«, stieß er hervor.

Die Kreatur schien etwas entdeckt zu haben, denn sie begann plötzlich pfeilschnell mit angelegten Flügeln zur Ebene hinabzuschießen und wurde dabei größer und größer. Der Schrecken, der von Barlok Besitz ergriffen hatte, stieg sprunghaft an, und nur mit Mühe gelang es ihm, dagegen anzukämpfen. Es war ein Gefühl, als würde das Wesen ihm selbst aus der Entfernung nicht nur allen Mut, sondern auch alle Wärme aus dem Körper saugen.

Erst wenige hundert Meter über dem Boden entfaltete die Kreatur ihre Schwingen wieder und ging in einen Gleitflug über. Es waren gezackte Flügel wie die einer Fledermaus, mit einer gewaltigen Spannbreite, die auch nötig war, um den gigantischen Körper in der Luft zu halten. Und gigantisch war er wahrlich, wie Barlok jetzt sehen konnte, vergleichbar höchstens mit einem Zarkhan, der größten Bestie der Tiefenwelt. Einzelheiten jedoch konnte er auch jetzt nicht erkennen.

Dafür stöhnte Thalinuel neben ihm auf und schlug die Hände vor das Gesicht. Barlok bekam es nur aus den Augenwinkeln mit, da er unfähig war, seinen Blick von dem Ungeheuer abzuwenden. Was immer es entdeckt haben mochte, schien doch keine Bedeutung zu haben, da es nicht mehr tiefer sank, sondern sich flügelschlagend wieder in die Höhe schraubte. Das fast unerträgliche Gefühl der Beklemmung, das Barlok verspürte, ließ nach und legte sich schließlich ganz, als die Kreatur in der Ferne verschwand.

Erst jetzt wandte er sich Thalinuel zu. Sie war totenblass geworden, blankes Entsetzen flackerte in ihren Augen.

»Was … was war das? Wirklich ein Drache?«, fragte er beklommen.

»Nein.« Thalinuels Stimme bebte. »Etwas ungleich Schlimmeres. Etwas, vor dem sich selbst Drachen fürchten. Ein Dämon vom Anbeginn der Zeiten. Die schrecklichste Schöpfung der Chaosgötter, fast schon selbst ein Gott. Ein Schattenmahr!«

Barlok überlegte kurz. Irgendwo hatte er den Begriff schon einmal gehört, konnte sich aber weder an genauere Einzelheiten erinnern noch daran, in welchem Zusammenhang das gewesen war. Dennoch lief ihm bereits bei der bloßen Erwähnung ein Schauer über den Rücken.

»Sei froh, dass du noch niemals mit diesen Kreaturen zu tun hattest«, sagte Thalinuel, als hätte sie seine Gedanken gelesen. »Nur Wenige, die nicht selbst dem Chaos dienen, haben eine Begegnung mit einem von ihnen überstanden. Sie sind grauenvoll. Jede Welt, auf die sie gelangen, unterwerfen sie und verwandeln sie in einen Hort des Schreckens und der Furcht. Kaum jemand vermag ihrer Macht zu widerstehen. Auch hier, in dieser Welt, wird es nicht anders sein. Ausgerechnet hierhergeschleudert zu werden ist wahrscheinlich das Schlimmste, was uns widerfahren konnte.«

Barlok schwieg einige Sekunden lang. Auch wenn Thalinuel ihre Situation in düstersten Farben malte, weigerte er sich zu glauben, dass sie so hoffnungslos war. Anderseits hatte er selbst die ungeheure Macht und Boshaftigkeit der Kreatur gespürt, obwohl sie ihm noch nicht einmal nahe gekommen war.

Etwas Ähnliches hatte er auch bei den Dunkelelben empfunden, allerdings nicht annähernd so stark, und lediglich, wenn er sich in ihrer unmittelbaren Nähe befunden hatte. Da die Thir-Ailit jedoch nur durch die magische Unterstützung aus dieser Welt lebensfähig gewesen waren, hatte er auch damals vielleicht in Wahrheit schon die üble Macht der Schattenmahre wahrgenommen.

»Erzähl mir mehr darüber«, verlangte er. »Was sind das für Kreaturen? Was für eine Macht besitzen sie?«

»Eine unglaubliche. Sie sind die Geißel aller freien Völker, kennen nichts als Chaos, Unterdrückung und Zerstörung. Jeder Widerstand wird von ihnen brutal gebrochen; was sie nicht unterwerfen können, das vernichten sie mitleidlos. Ihre körperlichen Kräfte sind so immens, dass sie einen ausgewachsenen Drachen in Stücke reißen können, aber darüber hinaus verfügen sie auch über gewaltige magische Fähigkeiten. Und wie du gerade am eigenen Leibe erfahren hast, vermögen sie die Herzen selbst der tapfersten Krieger mit solcher Furcht und solchem Entsetzen zu erfüllen, dass diese ihre Waffen wegwerfen und fliehen.«

»Selbst wenn der Schrecken noch so groß ist, ein Zwergenkrieger wird sich niemals von seiner Furcht überwältigen lassen und einfach davonrennen«, behauptete Barlok stolz. »Ich wünschte nur, ich hätte Knochenbrecher, meine Streitaxt, hier.«

»Auch sie würde dir gegen einen Schattenmahr nichts nützen. Gegen die ihnen untergebenen Kreaturen des Chaos dürfte sie immerhin eine Wirkung zeigen. Aber selbst wenn, was würde uns eine Axt gegen Heerscharen von Dienern des Bösen helfen?«

»Du weißt ziemlich viel über diese Bestien, wenn man bedenkt, dass du selbst nur eine einfache Kriegerin bist und dies eine völlig fremde Welt für dich darstellt.«

Leichtes Misstrauen wallte in Barlok auf. Während sie gemeinsam im Tor gefangen gewesen waren, hatte Thalinuel begonnen, ihm ihre Geschichte zu erzählen, war damit jedoch noch nicht zum Ende gekommen. Immerhin wusste er, dass sie selbst einst zu den Ausgestoßenen gehört hatte, auch wenn das vor der Zeit gewesen war, als sie in die Katakomben unter dem Schattengebirge verbannt und dort zu Dunkelelben geworden waren. Diese Verwandlung hatte sie nicht mitvollzogen, aber was genau damals geschehen war, wusste er immer noch nicht.

Und damit auch nicht, auf welcher Seite sie wirklich stand!

»Natürlich weiß ich viel über sie«, schnaubte Thalinuel und hob den Kopf. Stolz blitzte plötzlich in ihren Augen. »Kein Elb wird jemals den glorreichsten Kampf unseres Volkes vergessen, als es uns vor Äonen gelungen ist, die Schreckenstyrannei der Schattenmahre über unsere Welt zu brechen und sie zu vertreiben!«

»Unsere Welt? Du meinst …«

»Ja. Auch die Welt, aus der wir stammen und die wir Elben Athalien nennen, war einst eine Welt des Chaos, unterjocht von den Schattenmahren. Das liegt Äonen zurück, lange, bevor der erste Zwerg geboren wurde. Sie führten dort eine Schreckensherrschaft, bis die Götter des Lichts beschlossen, sie nicht länger gewähren zu lassen. Wir Elben wurden entsandt, ihnen Einhalt zu gebieten.«

»Demnach ist es also doch möglich, gegen sie zu kämpfen und sie zu besiegen!«

Thalinuel nickte. Sie erhob sich und stützte ihre Hände auf den Steinring.

»Damals waren wir ein junges und wildes Volk, stark, entschlossen und zahlreich. Wir lebten nur für die Aufgabe, die uns die Götter übertragen hatten. Und dennoch dauerte der Krieg Jahrhunderte und kostete unvorstellbare Opfer. Mit Feuer, Stahl und Magie gelang es uns schließlich, die Mächte des Bösen zu besiegen. Aber nicht einmal wir waren in der Lage, die Schattenmahre zu töten, wir konnten sie nur bezwingen und durch ein Tor treiben, das wir hinter ihnen zerstörten. Es war der größte Kampf, den unser Volk je ausgetragen hat, die größte Tat, die wir je vollbrachten. Das ist der Hauptgrund, warum wir zu meiner Zeit das Verhalten der jüngeren Völker als so undankbar empfanden. Es ging nicht nur darum, dass sie sich gegen uns wandten, nachdem wir lange Zeit ihre Lehrer und Mentoren gewesen waren. Ohne unseren heldenhaften Kampf hätte es sie vermutlich niemals gegeben, oder höchstens als Sklaven der Mahre. Und diese Gefahr wird immer bestehen, deshalb gibt es seit ihrer Vertreibung keinen größeren Frevel, als ein Tor zu öffnen. Man kann im Voraus meist nicht sicher wissen, wohin es führen wird, und so besteht immer die Gefahr, den Schattenmahren auf diese Art einen Weg zurück zu ermöglichen.«

»Aber die Thir-Ailith haben es dennoch getan«, murmelte Barlok. Die Dunkelelben hatten immerhin so viel Verstand bewiesen, das Tor nur einen kleinen Spalt weit zu öffnen, gerade genug, dass sie mit den Schattenmahren Kontakt aufnehmen und diese sie mit ihrer Magie verwandeln und ihnen ein Überleben in der unterirdischen Felswüste ermöglichen konnten.

Er spürte, wie ihm erneut ein Schauer über den Körper rann, als er daran dachte, was hätte passieren können, wenn sie nur einen winzigen Fehler begangen oder in ihrer Aufmerksamkeit irgendwann nachgelassen hätten. Zweifellos war genau das die Hoffnung der Mahre gewesen, weshalb sie ihnen Unterstützung gewährt hatten.

Der Gedanke war zu schrecklich, um ihn weiterzuverfolgen, und er führte noch einen weiteren, nicht minder schrecklichen mit sich: Sie waren hier in der Einöde einer fremden, feindlichen Welt gestrandet, ohne die geringste Hoffnung auf eine Rückkehr. Thalinuel hatte bereits erklärt, dass es außerhalb ihrer Fähigkeiten lag, ein Tor zu öffnen, aber selbst wenn es anders gewesen wäre, hätten sie dies unter keinen Umständen tun dürfen, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, Verderben über ihre eigene Welt zu bringen.

Er verdrängte auch diesen Gedanken und stand ebenfalls auf.

»Bei dieser dichten Wolkendecke kann man die Sonne nicht sehen«, sagte er. »Wir wissen also nicht, wie spät es ist, aber ich hoffe, es wird noch ein paar Stunden hell bleiben. Nutzen wir die Zeit, um uns einen Weg aus diesen Bergen zu suchen.«

2RUINEN

August 9430 neuer Zeitrechnung der Elben

Lhiuvan rannte.

Er war auf der Flucht, ohne zu wissen, wovor er floh. Es war seinem Verstand entfallen, ebenso wie alles andere: wo er sich befand, wie er hierhergekommen und wie er überhaupt in diese Situation geraten war. Im Moment war all das auch bedeutungslos. Er wusste nur, dass etwas Schreckliches hinter ihm her war und dass ihn ein furchtbares Schicksal erwarten würde, wenn es ihn einholte.

Verfallene Gebäude säumten seinen Weg, Ruinen, die zum Teil kaum noch mehr als von Unkraut überwucherte Schutthaufen waren. Fensteröffnungen kamen ihm wie schwarze, tote Augenhöhlen vor, aus denen er mit gierigen Blicken angestarrt wurde, aber das war nur Einbildung. Nirgends zeigte sich die geringste Spur von Leben. Er war allein, allein mit seinem Verfolger.

Es war Nacht, doch der Mond hing voll und hell am Himmel und goss sein silbernes Licht über die zerstörte Stadt, sodass Lhiuvan fast wie bei Tage jedes Detail seiner Umgebung erkennen konnte.

Sein Atem ging keuchend, und seine Brust schmerzte. Bleigewichte schienen an seinen Beinen zu hängen und immer schwerer zu werden. Dennoch quälte der Elb sich ohne Pause weiter. Nackte Panik trieb ihn voran.

Immer wieder tauchte er in Seitenstraßen ein und wechselte die Richtung, ohne dass es ihm gelang, seinen Verfolger abzuschütteln. Ebenso wenig würde es ihm etwas nützen, sich zu verstecken, obwohl die Ruinen genügend Möglichkeit dazu boten. Aber das Grauen, das hinter ihm her war, würde sich dadurch nicht von seiner Fährte abbringen lassen, sondern ihn überall aufspüren.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als weiterzulaufen, weiter und immer weiter, bis die Erschöpfung ihn letztlich überwältigte und seine Flucht damit ein Ende fand. Schon jetzt schmerzten seine Beine, und er merkte, dass er beständig langsamer wurde.

Seine Panik wuchs und half ihm, noch einmal alle Kraftreserven zu aktivieren. Einige Minuten lang rannte er schneller, dann war auch seine letzte Kraft endgültig aufgebraucht. Sein Lauf ging in ein mühsames Taumeln über, bis seine Füße ihm vollends den Dienst versagten.

Zu Tode erschöpft stürzte er zu Boden. Obwohl er wusste, dass ihm dies nicht helfen würde, wälzte er sich hinter eine halb eingestürzte Mauer und blieb keuchend liegen, unfähig, sich noch einmal zu erheben.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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