Elisabeth Kopp - René Lüchinger - E-Book

Elisabeth Kopp E-Book

René Lüchinger

0,0

Beschreibung

Die Kopps. Kein Ehepaar hat die Schweizer Öffentlichkeit stärker elektrisiert als Elisabeth und Hans W. Kopp. Sie waren Kinder des Kalten Krieges und lebenslänglich ein Liebespaar. Sie stiegen auf in die höchsten beruflichen und gesellschaftlichen Sphären des Landes. Zwei Leben, ein Schicksal. Sie: nach der Einführung des Frauenstimmrechts erste Gemeindepräsidentin der Deutschschweiz, erste Bundesrätin der Schweiz. Er: Wanderer zwischen den Welten, Starwirtschaftsanwalt, Universitätsdozent, Oberst im Generalstab, 'Medienpapst', Sachbuch- und Belletristikautor. Dann, am 27. Oktober 1988, ein verhängnisvolles Telefonat zwischen den beiden Ehepartnern. Der Sturz. Die gesellschaftliche Vernichtung. Zusammen blieben sie trotzdem.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 420

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Vorspann

Cover

Titel

René Lüchinger

Elisabeth Kopp

Zwei Leben – ein SchicksalAufstieg und Fall der ersten Bundesrätin der Schweiz

Stämpfli Verlag

Impressum

Impressum

Die bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliografie ist über www.d-nb.de abrufbar.

© Stämpfli Verlag AG, Bern · 2014

2., unveränderte Auflage · 2014

Korrektorat · Benita Schnidrig, Stämpfli Verlag AG, Bern

Gestaltung · Stämpfli Verlag AG, Bern

Umschlag · Nils Hertig, clicdesign, Liebefeld

ISBN ePub 978-3-7272-6167-1

Inhalt

Vorwort

Schicksalstage 6

27. Oktober 1988 – ein Telefonat, das zum Rücktritt führte

2. Oktober 1984 – eine Wahl, die in den Bundesrat führte

Eine Frau entdeckt die Politik

Wanderzeit: von der Aare an den Zürichsee

Freiheit für Ungarn

Im Lokalen ist das Politische ganz nah

Vorzeigefrau des Freisinns

Eine Frage des Herzens

Junge Frau findet ihre zweite Hälfte

Hans W. Kopp: ein Mann fürs Leben

Im Auge des Taifuns

Keine Schonfrist für eine Bundesratskandidatin

Ein Ruf hallt durchs Land: Skandal!

Die «Affäre Kopp»: Profiteure, Trittbrettfahrer, Zaungäste

Ein Leben im Schatten

Die Kopps nach dem Fall

Was bleibt?

Die Bilanz eines sogenannten Jahrhundertskandals

Bildteil

Anhang

Quellen

Personenregister

Vorwort

Ein Buch über Elisabeth Kopp, welches notgedrungen auch ein Buch über Hans W. Kopp wäre? Was notgedrungen auch ein Buch über den Freisinn, über die Presse und die politische Kultur im Land in den 1980er Jahren wäre? Was weiterhin ein Buch wäre über den Durchbruch der Frauen zum Stimmrecht? – Ein grosser Stoff, zweifellos. Als mich diese Anfrage des Berner Stämpfli Verlags im Frühjahr 2012 erreichte, war für mich nach kurzer Überlegung klar: Dieses Buch will, ja muss ich schreiben. Und zwar unabhängig von allem und von allen; inhaltlich und finanziell auf eigenes Risiko.

Mich interessierte: Wie war ein solch beispielloser gesellschaftlicher Absturz in einem zivilisierten Land wie der Schweiz möglich, der damit endete, dass bei Elisabeth und Hans W. Kopp die ökonomische Lebensgrundlage zerstört war? Hält das bis heute nachwirkende öffentliche Bild – sie eine ihren Mann schützende Lügnerin, er ein dubioser Anwalt mit krummen Geschäften – der kritischen Überprüfung nach 25 Jahren und Konsultation sämtlicher verfügbarer Akten stand?

Persönlich habe ich kaum Erinnerungen an die sogenannte Kopp-Affäre. Ich kam als junger Journalist 1987 nach dem Studium im Ausland in die Schweiz und war zum Zeitpunkt, als Elisabeth Kopp in Bern zurücktrat, Wirtschaftsredaktor bei einer Presseagentur in Zürich. Ich habe Elisabeth Kopp nie getroffen – bis zu jenem Tag im Frühjahr 2012, als ich sie in Zumikon das erste Mal besuchte. Ich wollte bei meinem Besuch herausfinden, ob sie sich für Gespräche zur Verfügung stellen würde. Sie überlegte nicht lange: «Ja, ich will!» In den nächsten fünfzehn Monaten entstanden rund dreissig Stunden Interviews. Jede ihrer Aussage habe ich in Akten und Befragungsprotokollen verschiedenster Provenienz aus damaliger Zeit überprüft. Keine ihrer Aussagen hat nicht gestimmt.

Ich habe Elisabeth Kopp jedes Kapitel vor der Publikation vorgelegt. Wir hatten eine Abmachung. Sie darf das Manuskript sehen, und ich ändere sachliche Fehler. Alles andere ist tabu. Beide haben wir uns daran gehalten. Einen einzigen Satz bat sie mich herauszustreichen. Er war ihr zu persönlich. Ich bin ihrem Wunsch gefolgt.

René Lüchinger

Zürich, im Oktober 2013

Schicksalstage

27. Oktober 1988 – ein Telefonat, das zum Rücktritt führte

Der Tag beginnt wie immer im Hause Kopp. Mit der morgendlichen Lektüre der Neuen Zürcher Zeitung. Nicht viel Aufregendes hat die Alte Tante von der Falkenstrasse zu melden an diesem Tage, der die Schweiz verändert. Auf der Front der Besuch des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl beim Kreml-Chef Michail Gorbatschow. Tauwetter in den deutsch-russischen Beziehungen, und der Christdemokrat aus der Pfalz spricht denn auch von einem «Fundament des Vertrauens» zwischen den beiden gewichtigen Politikern. In London kündigt die Iron Lady Margaret Thatcher die Bereitschaft für eine vierte Kandidatur als britischer Permier an, und aus Bern berichtet die NZZ wie immer aus der Bundesratssitzung vom Vortage. Das Siebnergremium mit Dame hat beschlossen, einen direkten Gegenvorschlag zur Gentechnologie-Initiative des Beobachters auszuarbeiten, und genehmigt «das von einer deutlichen Ertragsschwäche gekennzeichnete» SBB-Budget für das Jahr 1989.

Auch sonst ist nicht viel Aufregung im Blatt. Im Vermischten gibt es einen Flugzeugabsturz auf dem Fisetenpass. Vier Tote. In Kleinbasel ein Familiendrama. Eine Tote. Ansonsten Aussicht auf «schönstes Herbstwetter». Vorwiegend sonnig. Bis zu neunzehn Grad. Schliesslich ist noch zu vermelden, dass Xamax Neuenburg die Türken von Galatasaray Istanbul daheim mit drei zu null geschlagen hat und nun beste Chancen aufweist, das Achtelfinale im Europacup zu erreichen. Das immerhin verspricht etwas Adrenalin.

Im Bundeshaus West hat das Tagewerk für Bundesrätin Elisabeth Kopp bereits begonnen, als sich ihre persönliche Mitarbeiterin Katharina Schoop bei ihr meldet. Es gäbe ein paar Geschäfte zu besprechen und auch sonst ein paar Sachen, meint sie, und dann wäre da noch etwas Unangenehmes. In welcher Reihenfolge sie rapportieren solle. Elisabeth Kopp reagiert, wie es ihre Art ist: Unangenehmes will sie sofort wissen. Katharina Schoop erzählt von einer Firma namens Shakarchi Trading AG, die einem Herrn namens Mohammed Shakarchi gehöre. Diese Firma werde im Zusammenhang mit einem grossen Fall von Geldwäscherei erwähnt. Das Brisante dabei: ihr Mann, Hans W. Kopp, sitze als Vizepräsident im Aufsichtsrat dieser Gesellschaft. Die Bundesrätin erschrickt ob dieser Nachricht, das, so geht es ihr durch den Kopf, hat mir gerade noch gefehlt. Sie arbeitet als verantwortliche Justizministerin seit längerem an einem Geldwäschereiartikel, den sie initiiert hat und nun im Gesetz verankern will – und jetzt das! Elisabeth Kopp kennt weder diese Firma noch deren Besitzer, noch ist ihr präsent, dass ihr Mann dort in verantwortlicher Organfunktion tätig ist – der Jurist Hans W. Kopp sitzt schliesslich in zahlreichen Verwaltungsräten. Nur eines ist für die Justizministerin klar: Ihr Mann muss von diesem Amt sofort zurück­treten.

Es ist acht Uhr zwanzig an diesem Morgen, als bei Hans W. Kopp das Telefon klingelt. Er sitzt in seinem Büro an der Kurhausstrasse am Zürichberg, wo er seit Jahren und sehr erfolgreich seine dreissigköpfige Anwaltskanzlei Kopp & Partner betreibt. Am Draht meldet sich seine Gattin Elisabeth Kopp, Bundesrätin und Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD). Sie hält sich kurz, denn sie ist in Eile an diesem Morgen. Es gehe um die Shakarchi Trading, meint sie. Es gebe Gerüchte, dass dieses im Noten- und Goldhandel tätige Unternehmen im Verdacht stehe, in einen Geldwäschereifall verwickelt zu sein, führt Elisabeth Kopp weiter aus, während sie selber als Schweizer Justizministerin gerade an einem Gesetz gegen diesen Missbrauch arbeite. Hans W. Kopp versucht seine Frau zu beschwichtigen. Er sei ohnehin «auf dem Weg hinaus» aus diesem Verwaltungsrat, seinen Rücktritt habe er bereits angekündigt. Während er dies sagt, hallt aus dem Hörer ein «gottlob» zurück. Er solle das sofort tun, rät die Gattin, damit keine weitere «politische Front» entstehe. Noch am gleichen Tag, verspricht er, werde er das Demissionsschreiben aufsetzen – auch, weil er dann bis Ende Oktober im Ausland sein und weder Zeit für eine Kündigung des Verwaltungsratsmandates noch für Gespräche mit seiner Frau haben werde.

Und dann äussert Elisabeth Kopp noch eine weitere Bitte. Er solle doch rasch Katharina Schoop anrufen, ihre persönliche Mitarbeiterin. Sie wisse Näheres zu diesen Gerüchten. Hans W. Kopp kennt diese Frau zumindest oberflächlich aus seiner Anwaltstätigkeit in Zürich. Eine brillante Juristin ist sie zweifellos, eine Enddreissigerin, Doktorin der Rechte, im Beruf eher technokratisch denn politisch orientiert. Er selber ist es gewesen, der seiner Gattin einen Wink gegeben hat, als diese im Frühjahr vor zwei Jahren eine persönliche Mitarbeiterin mit juristischer Expertise suchte. Franz Neff, der zweite persönliche Mitarbeiter damals, ist studierter Soziologe, und als ehemaliger Sekretär der freisinnigen Zürcher Kantonalpartei nicht Jurist, sondern, zumindest im regionalen Rahmen, ein politischer Kopf. Dieses Telefonat zwischen den beiden Eheleuten dauert kaum fünf Minuten, dann legt Hans W. Kopp auf und wählt eine nächste Nummer.

Am Draht meldet sich Katharina Schoop. Sie betont, dass sie auf Bitte ihrer Chefin ihr Wissen an ihn weitergebe. Zwei Brüder namens Ma­gharian sässen im Tessin in Untersuchungshaft. Das seien Armenier, libanesische Staatsangehörige, und sie gehörten in das Umfeld des Geldwäschereifalls Pizza Connection. Ein weiterer Armenier, ebenfalls liba­nesischer Staatsangehöriger, sei Simon Ankeshian, der vom April 1985 bis Oktober 1986 Direktor der Shakarchi Trading gewesen sei und sich auch Yassar Berber nenne. Der sitze nicht in Untersuchungshaft, gelte aber als der Mafiaboss von Istanbul und stehe unter anderem in Zusammenhang mit dem Kampf um das Monopol auf der Balkanroute im Heroin- und Kokainschmuggel. Hans W. Kopp hört zu.

Von einer Untersuchungshaft von einem oder zwei Magharians weiss er bereits: der Verwaltungsratspräsident und Besitzer der Shakarchi Trading, Mohammed Shakarchi, hatte dies gegenüber seinem Vizepräsidenten Hans W. Kopp einmal erwähnt. An den Namen des zweiten von Katharina Schoop genannten Armeniers namens Ankeshian erinnert er sich vage und ohne konkrete Erinnerung. Der Rest klingt fremd für ihn. Er wiederholt das Versprechen, das er Minuten zuvor auch der Bundesrätin gegeben hat: dass er gedenke, noch am gleichen Tag von seinem Amt als Vizepräsident der Shakarchi Trading zurückzutreten. Die Juristin erwähnt noch, dass die Bankkonten der Firma infolge dieser Vorkommnisse gesperrt seien. Bei diesem letzten Punkt widerspricht Hans W. Kopp – wäre dies so, wäre er als Vizepräsident dieser Gesellschaft mit Sicherheit im Bilde. Nach höchstens zehn Minuten legt Hans W. Kopp auf. So wie er die Sachlage spontan einschätzt, beruhen diese Informationen auf Gerüchten über die Shakarchi Trading, wie sie seit Monaten im Land herumschwirren. Trotzdem ruft er umgehend seine Sekretärin in sein Büro, beauftragt diese, mit Datum des 27. Oktober 1988 ein Demissionsschreiben aufzusetzen, das seinen sofortigen Rücktritt aus dem Verwaltungsrat dieser Firma dokumentieren soll.

Hans W. Kopp fühlt sich auch deshalb ohne weitere Abklärungen oder Gespräche mit dem Besitzer zu diesem Schritt ermächtigt, da dies bereits vor einer Woche anlässlich einer Verwaltungsratssitzung Thema gewesen ist. Am 21. Oktober 1988 nachmittags um zwei hatte der Verwaltungsrat der Shakarchi Trading in einem Konferenzsaal der koppschen Anwaltskanzlei an der Kurhausstrasse getagt. Thema ist die Konstituierung des Verwaltungsrates der Gesellschaft. Das Protokoll hält später unter anderem fest, dass nichts vorläge, was Hans W. Kopps «Vertrauen in Herrn Shakarchi» in Frage stellen könnte, «dieser sich aber trotzdem das Recht vorbehalte, seine Situation laufend neu zu beurteilen». Dies beinhaltet insbesondere und ausdrücklich auch die Möglichkeit, zu jeder Zeit den sofortigen Rücktritt einzureichen, sollten die Gerüchte rund um die Shakarchi Trading nicht verstummen.

Der Uhrzeiger an diesem schicksalhaften Morgen ist inzwischen auf acht Uhr vierzig vorgerückt. Ein weiteres Mal nimmt Hans W. den Telefonhörer zur Hand. Er wählt die Nummer der Tureva AG in Zürich, die als Kontrollstelle der Shakarchi Trading fungiert, und verlangt nach einem Mitarbeiter mit dem fremdländischen Namen Samir Nihad Jarallah, der dort die Prokura besitzt. Hans W. Kopp schätzt diesen Mann, dessen Vertrauenswürdigkeit und Fachkompetenz, der zudem perfekt schweizerdeutsch spricht. Wenn einer weiss, ob bei der Shakarchi Trading Konten gesperrt sind, sagt sich der Anrufer, dann ist das Samir Jarallah. Der reagiert mit Erstaunen. Aktuell, meint er, existiere kein einziges Konto, das gesperrt sei. Nur diesen einzigen Fall hat es einmal gegeben, der Jahre zurückliegt: Für ungefähr einen Tag ist seinerzeit ein Konto der Shakarchi Trading beim Schweizerischen Bankverein blockiert gewesen. Als Verantwortlicher der Kontrollstelle könne er nur sagen, da sei «alles perfekt in Ordnung» und er hege auch nicht den Hauch eines Zweifels, was die Lauterkeit von Mohammed Shakarchi betreffe.

Mohammed Shakarchi, das ist der Mann hinter der Shakarchi Trading. Ein Mohammedaner sunnitischer Prägung, Ende vierzig, geboren in der nordirakischen Stadt Mossul, aufgewachsen im Libanon, gelangt er Anfang der 1970er Jahre noch vor Ausbruch des Bürgerkrieges im vorderasiatischen Land in die Schweiz. Er heiratet eine Genferin namens Mireille Wyss, zwei Buben kommen zur Welt, und die vierköpfige Familie wohnt im ländlichen Ebmatingen, Gemeinde Maur, mit prächtiger Berg- und Seesicht. Ein im Grunde stinkbürgerliches Leben. Die Firma hinter dem Mann erscheint am 18. August 1983 erstmals in den Zeitungsspalten – nicht aber der Name des Gründers: In der Neuen Zürcher Zeitung unter der Rubrik Rohwaren und Devisen heisst es an diesem Tag: «Neue Aktiengesellschaften – Shakarchi Trading AG, Zürich. Zweck: Import, Export, Handel mit Gütern und Waren aller Art. Ak­tienkapital: 5 Millionen Franken. Verwaltungsräte: Dr. Hans W. Kopp, Zumikon, und Mireille Shakarchi-Wyss, Maur.» Das riecht nach gewöhnlichem Familienbusiness. Die Gattin sitzt im Verwaltungsrat, der Mann geschäftet im Büro, und als gesetzlich vorgeschriebener Aufsichtsrat ist da noch der Jurist, der bei der Gründung treuhänderisch tätig ist. Und auch der damit öffentlich gemachte Geschäftszweck dieser Firma ist kaum dazu angetan, die Phantasie für illegales Tun zu beflügeln.

In Sichtweite von Bahngeleisen und mit dem Rücken zum Hallenstadion in Zürich Oerlikon, in einem unscheinbaren dreigeschossigen und frei stehenden Zementsteinbau, befinden sich die Büros der Shakarchi Trading – umsäumt von dichtgewachsenem Baumgrün. Ein Kamera­auge mustert jeden Besucher, und nur nach positivem Prüfbescheid gibt eine schwere Metalltüre den Weg in das Innere frei. Drinnen, im obersten Stock, ein stattlich dimensioniertes Kommandopult, Bildschirme und Telefonanlagen, die Nabelschnur zur Welt für die knapp zwei Dutzend Trader, die hier ihrem Job nachgehen. Das heisst Banknotenhandel mit den arabischen Ländern, Devisen und Goldgeschäfte mit der Türkei, aber auch kommuner Handel mit Haselnüssen oder Sultaninen aus dem Land am Bosporus. Vordergründig ist dies ein imposantes Geschäft: Dank dem Gold- und Devisenhandel liegen die Umsätze bei 25 Millionen Franken – pro Tag. Macht gegen acht Milliarden Franken im Jahr. Bei Lichte besehen, präsentiert sich das Ertragspotential in diesem Business freilich etwas moderater. Manch ein Goldhandel, der An- und Verkauf des Edelmetalls, findet nur auf dem Papier statt, was zu gewaltigen Umsätzen führt. In der Kasse von Mohammed Shakarchi verbleibt davon höchstens ein halbes Prozent. Ein wohlhabender Mann ist der Firmenchef gleichwohl.

Diesen ruft Hans W. Kopp nun direkt an, nachdem er nach dem Telefonat mit seiner Frau in dieser Angelegenheit bereits einige Gespräche geführt hat. Es ist fünf vor neun Uhr morgens, als Mohammed Shakarchi den Hörer abnimmt. Er beschwört, dass keine Konten gesperrt sind, schwört, es sei alles in bester Ordnung, es gebe keinerlei gesetzeswidrige oder unlautere Machenschaften in seinem Umfeld. Offensichtlich fühlt sich Mohammed Shakarchi gewaltig unter Druck. Bereits vor knapp vier Wochen, am 1. September 1988, hat die welsche Tageszeitung 24Heures eine Schlagzeile publiziert, die jeden tüchtigen Goldhändler aufschrecken lassen musste: «Schweizer Goldbarren für die Türkei» stand da geschrieben. Autor des Berichts: Oliver Grivat, Journalist des Blattes, der schon öfter die etwas komplizierten Familien- und Geschäftsverhältnisse der Shakarchis thematisiert hat. Da ist der Vater, Mahmoud Shakarchi, der in den 1950er Jahren zunächst aus dem Libanon, später aus Zürich einen Noten- und Goldhandel betreibt und über Jahre eng mit der Schweizerischen Bankgesellschaft (SBG) zusammenarbeitet – er gründet in Zürich die Firma Shakarco AG. Als der Clanchef im Jahre 1983 stirbt, hinterlässt er vier Kinder aus zwei Ehen und kein Testament. Es bricht Streit aus unter den Erben, «Intrigen entzweiten die Familie, Safes wurden ausgeräumt, Anwälte mussten eingeschaltet werden», schreibt das Wirtschaftsmagazin Bilanz, und zu allem Überfluss kommt es auch noch zum Clash der Rechtskulturen. Nach islamischem Recht wären die beiden Söhne aus erster Ehe bei der Erbteilung bevorzugt worden, ohne testamentarische Hinterlassenschaft aber kommt schweizerisches Recht zur Anwendung, und so wittert Mohammed Shakarchi die Gefahr, von seinen Stiefgeschwistern übervorteilt zu werden. Er drängt darauf, die väterliche Shakarco zu liquidieren, und gründet stattdessen seine eigene Shakarchi Trading.

Fünf Jahre nach dem Tod des Vaters wird Mohammed Shakarchi erneut von seiner Familiengeschichte eingeholt. Für den letzten Montag im August des Jahres 1988 kündigt das türkische Fernsehen eine Dokumentation über den bandenmässigen Goldschmuggel zwischen der Schweiz und der Türkei an. Mitten im Geschehen: die väterliche, noch nicht liquidierte Shakarco. Oliver Grivat, der Shakarchi-Experte und 24Heures-Journalist, wird aus diesem Grund im Vorfeld der brisanten Erstausstrahlung vom Schweizer Korrespondenten des türkischen Boulevardblattes Hürriyet interviewt und erfährt erst auf diesem Wege über die Existenz des Streifens. Sofort setzt er sich in ein Flugzeug mit Destination Istanbul und dort an jenem Montagabend vor die Mattscheibe – so wie zehn Millionen Türken auch. Was er in Istanbul zu sehen und zu hören bekommt, inspiriert ihn zu einem Artikel, den er in der Donnerstagausgabe seiner Zeitung publiziert. Er schreibt: «La société Shakarco, en mains libanaises, est impliquée dans un gros trafic d’or entre la Suisse et la Turquie.» Im Dok-Film heisst es, dass schätzungsweise siebzig Tonnen des Edelmetalls auf verschlungenen Pfaden durch Schmugglerbanden über die syrisch-türkische Grenze verschoben werden. Während die Schlepper dreissig Tonnen Gold auf eigenes Risiko und auf ihrem eigenen Buckel über die Grenze tragen, heisst es dort, kassieren «die grossen Fische» ab. Der Schweizer Journalist erfährt am Bosporus zudem, dass ausgerechnet die Filmer aus der von einer Militärjunta mit harter Hand regierten Türkei in der Schweiz zwei Stunden lang von Zürcher Kantonspolizisten festgehalten und verhört worden waren, als sie Aussenaufnahmen des Firmendomizils der Shakarco drehen wollten – dieses befindet sich an derselben Adresse wie Mohammed Shakarchis Shakarchi Trading, und dieser ist es auch gewesen, welcher der Film­equipe nonchalant die Polizei auf den Hals gehetzt hat. Kein Hinweis findet sich im türkischen Dok-Streifen jedoch auf die Tatsache, dass Hans W. Kopp, der Vizepräsident der Shakarchi Trading, mit der Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements verheiratet ist.

Grund zur Beunruhigung hat Mohammed Shakarchi gleichwohl, als ihn Hans W. Kopp an diesem Morgen des 27. September 1988 kurz vor neun Uhr anruft. Er kann zwar beteuern, dass alles in Ordnung ist, dass er mit Geldschmuggel nichts am Hut hat und überhaupt ein ehrbarer Geschäftsmann ist, der den in der Schweiz völlig legalen Goldhandel betreibt. Aber eben: Shakarchi, Shakarchi Trading, Shakarco und alles an einer Firmenadresse – das sieht nun aus wie ein unentwirrbarer Knäuel von Firmen und Personen im Solde des illegalen Goldschmuggels. Diese Einschätzung teilt auch Hans W. Kopp, als er an diesem Morgen mit dem Firmeninhaber spricht. Deshalb, so meint dieser, trete er mit sofortiger Wirkung aus dem Verwaltungsrat der Shakarchi Trading aus und lege auch sein Mandat als Anwalt der Gesellschaft nieder. Das, meint Hans W. Kopp, ist er seiner Frau und deren Amt als Bundesrätin schuldig. Gerade auch, weil die Justizministerin aus Eigenini­tiative und federführend an einem Geldwäschereiartikel arbeitet. Der Angesprochene, Mohammed Shakarchi, ist nicht wirklich überrascht. Er hat wohl mit dieser Reaktion von Hans W. Kopp rechnen müssen, schliesslich hatten der Präsident und sein Vize bereits kurz nach Publikation des Artikels in 24Heures über diese Eventualität gesprochen. Er kann nicht anders als diese Demission annehmen. Mohammed Shakarchi macht jedoch auch aus seinem Herzen keine Mördergrube. Er fragt sich, ob wohl die Gebrüder Magharian hinter dem nicht enden wollenden Gerede stecken würden. Vielleicht, weil sie ihm schaden wollen? Oder Simon Ankeshian, sein ehemaliger Direktor bei der Shakarchi Trading? Hat auch er einen Grund zum Rufmord? Hans W. Kopp weiss darauf keine Antwort, meint nur, er kenne diese Gerüchte, sei aber selber in der letzten Zeit von der Presse in dieser Angelegenheit nicht angegangen worden.

Wie gewohnt legt Hans W. Kopp über all diese Telefongespräche eine sogenannte unformelle Stenonotiz an, wie das Juristen gerne tun. Fünfzig Minuten lang kritzelt er mit runder Schrift A4-Vorder- und Rückseiten voll, am Schluss unterschreibt er mit Kürzel und Datum. Das Original legt er zuhause in den Safe der Villa Drei Eichen in Zumikon. «Ausnahmsweise», wie er später einmal notiert. Fast so, als hätte er eine Vorahnung darüber, dass die Telefone an diesem Morgen sein Leben und das seiner Gattin buchstäblich auf den Kopf stellen könnten. Er hat schliesslich die Seite-eins-Schlagzeile noch im Kopf, die keine vier Wochen zuvor in zwei Zentimeter grossen Lettern im nationalen Boulevardblatt gestanden hat: «Nach der Steueraffäre jetzt Schmuggelvor­wurf – ist Hans W. Kopp ‹Mr. Goldfinger›?» Es ist ein Nachzug auf den Bericht im welschen 24Heures über den Goldschmuggel-Film im türkischen Fernsehen. In boulevardesker Freizügigkeit und mit mässiger journalistischer Präzision stehen da Sätze nebeneinander in diesem Bericht, die auch bei gewaltsamer Zusammenführung einfach keinen kohärenten Sinn zu ergeben vermögen. Es heisst da in der 84-Zeilen-Meldung: «Als Vizepräsident der Shakarchi Trading soll Kopp beim Goldschmuggel in die Türkei mitgemischt haben.» Vier Zeilen weiter heisst es: «Nach einem Bericht des türkischen Fernsehens ist die Zürcher Shakarco Ausgangspunkt für einen umfangreichen Goldschmuggel in die Türkei.» Die nächsten Sätze lauten: «Mit der Shakarco hat Hans W. Kopp direkt nichts zu tun. Doch soll Kopps Partner bei der Shakarchi Trading, Mohammed Shakarchi, mit dem Präsidenten der Shakarco verwandt sein.» Und ein paar Zeilen weiter unten steht: «Ebenso wohnen der Präsident der Shakarchi Trading, Mohammed Shakarchi, und Mireille Shakarchi-Wyss, Verwaltungsrätin der Shakarco, an der gleichen Adresse in Ebmatingen.»

Als nüchternes Fazit dieses Textbreis bleibt: Da wird munter mit Firmennamen von Shakarco bis Shakarchi Trading jongliert und ausgerechnet jenes der beiden Unternehmen des Goldschmuggels im grossen Stil verdächtigt, in deren Verwaltungsrat Hans W. Kopp eben nicht sitzt, obwohl dieser doch, so weiss jedenfalls der Blick, bei diesem Geschäft mit grosser Kelle mitmischen soll. Shakarco bis Shakarchi Trading, überall sitzen Leute, die miteinander verwandt sein sollen – und das ist auf dem Boulevard der Gerüchte äusserst verdächtig – insbesondere dann, wenn zwei von denen auch noch unter einem Dach wohnen. Dass diese beiden offensichtlich glücklich verheiratet sind und hoffentlich Briefkasten und Bett teilen, dass es sich bei den anderen sogenannten Verwandten um die Nachfahren des Gründers der Shakarco aus zwei Ehen handelt, die Blutsverwandtschaft also eine logische Folge dieser Tatsache darstellt – welcher stramme Boulevardjournalist liesse sich von solch faktischen Kleinigkeiten vom grossen Bild abbringen, das er zeichnen will: dass eben Hans W. Kopp im Dunstkreis fremdländischer Namen zum Mr. Goldfinger eines Schmuggelrings aufgestiegen ist. Genau dieses Bild gerinnt nun zur öffentlichen Gewissheit.

Am Abend, als ihr Tagewerk vollbracht ist, sitzt Elisabeth Kopp in ihrer kleinen Wohnung in der Berner Altstadt und wählt die Nummer von Drei Eichen in Zumikon. Hans W. Kopp nimmt ab. Sie könne wirklich beruhigt sein, meint er zu seiner Frau, er habe, wie ihm geheissen, Ka­tharina Schoop angerufen, und was diese ihm erzählt habe, sei entweder Mumpitz oder ihm längst Bekanntes gewesen. Und im Übrigen habe er seine Demission aus dem Verwaltungsrat aus der Shakarchi Trading heute mit sofortiger Wirkung vollzogen. Sie brauche sich also keine Sorgen zu machen.

Nachts, im Bett, drehen ihre Gedanken trotzdem. Wie so oft in letzter Zeit bringen für Elisabeth Kopp erst Schlafmittel Ruhe.

2. Oktober 1984 – eine Wahl, die in den Bundesrat führte

Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Kein einziges Wort zum Thema verschwendet die Neue Zürcher Zeitung auf der Frontseite der Dienstagausgabe jenes Tages, an welchem im Bern eine historische Bundesratswahl stattfindet. Historisch ist dieses Ereignis allemal: Wird Elisabeth Kopp gewählt, ist sie die erste Bundesrätin der Schweizerischen Eidgenossenschaft. Kommt an ihrer statt ihr Herausforderer Bruno Hunziker in die Kränze, bliebe die Politik in der Regierung des Landes auch dreizehn Jahre nach Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene ausschliesslich Männersache und der Kanton Zürich hätte erstmals seinen traditionellen Bundesratssitz verloren. Es ist so oder so ein Tag, der die Schweiz verändert.

Die NZZ verliert darüber weder Kopf noch Nüchternheit, sondern lediglich vierzehn Zeilen, einen ganzen Abschnitt im Inlandteil unter der spröden Headline «Session der Eidgenössischen Räte – Bundesratswahl nach wie vor offen». Weiter schreibt der Chronist aus Bern: «In Bern hat die 3. Sessionswoche begonnen, in deren Zentrum die Ersatzwahl in den Bundesrat steht. Über den Ausgang lässt sich am Vorabend des Ereignisses nur spekulieren. Die Mitglieder des Wahlgremiums sind ausserordentlich zurückhaltend im Andeuten ihrer Präferenzen und im Abgeben von Prognosen. Als eher unwahrscheinlich erscheint die über das Wochenende da und dort geäusserte Vermutung, dass eine dritte Kandidatur mit Aussicht auf Erfolg ins Spiel gebracht werden könnte.»

Einen Anflug von Recherche- und Gefühlsintensität über das unmittelbar Bevorstehende leistet sich immerhin der Tages-Anzeiger. «Tendenz­wende zugunsten von Elisabeth Kopp», heisst es dort, und weiter, «in den Nachmittags- und Abendstunden vor der Bundesratswahl war unter Parlamentariern und Funktionären aller Fraktionen die Meinung zu hören, dass über das Wochenende eine Tendenzwende zugunsten der Zürcher Kandidatin Elisabeth Kopp stattgefunden habe. Unterschiedlich beantwortet wurde die Frage, ob Frau Kopp ihren Rückstand der letzten Woche gegenüber ihrem Konkurrenten Bruno Hunziker in diesen letzten Vorwahlstunden noch wettmachen könne. Als wahlentscheidend betrachten Beobachter die Haltung der CVP-Fraktion. Wenn annähernd die Hälfte dieser Fraktion für Frau Kopp stimmen würde, so wäre ihr knapper Wahlsieg wahrscheinlich.»

Als diese Zeilen zu später Stunde in der Nacht vor der Wahl gedruckt werden, wälzt sich Elisabeth Kopp bereits im Bett und versucht den Schlaf zu finden. Auch Hans W. Kopp ist in die Bundesstadt gefahren, in die Berner Altstadtwohnung an derKramgasse, die Elisabeth Kopp bewohnt, seit sie vor fünf Jahren in den Nationalrat gewählt worden ist. Sie hat eine Kleinigkeit gekocht, gemeinsam essen sie zu Abend, und natürlich ist der kommende Tag das dominierende Thema bei Tisch. Im Falle einer Wahl, ist sich Elisabeth Kopp bewusst, wäre in ihrem Leben nichts mehr, wie es einmal war. Die vertraute Umgebung von Drei Eichen in Zumikon würde sie nur noch an Wochenenden zu Gesicht bekommen. Das gemeinsame Glas Wein mit ihrem Gatten, ein Ritual, bei dem nach getanem Tagwerk Hans und Elisabeth Kopp über die Ereignisse des Tages zu plaudern pflegen, wäre ebenfalls Vergangenheit. Und keine zwei Hunde, kein Hovawart und kein Malteser, würden sie mehr schwanzwedelnd begrüssen; stattdessen wären des Abends in einer Berner Wohnung Aktenberge durchzuarbeiten. Elisabeth Kopp würde viel Persönliches, was ihr wichtig ist, gegen eine grosse Einsamkeit eintauschen. Diese Bedenken äussert sie, und während sie an ihrem Weinglas nippt, steht da plötzlich auch die alles entscheidende Frage im Raum, der Elisabeth Kopp in der Nacht vor der Wahl keinesfalls ausweichen will: «Kann ich das überhaupt?» Hans W. Kopp hört zunächst ruhig zu. So wie er das immer tut. Er beschwichtigt und ermuntert seine Frau, meint lächelnd: «Natürlich kannst du das.» Und im Übrigen, die Männer, die da im Bundesratszimmer zu sitzen pflegen, seien schliesslich auch nicht als Politiker vom Himmel gefallen. Das ist die Art, mit der er Elisabeth immer wieder zum Lachen bringt und bei ihr auch Reaktionen provoziert. So auch jetzt. «Sie tun aber so!» Um Mitternacht gibt es Nachrichten im Radio Beromünster, und ein Sprecher bringt die neuesten News zur bevorstehenden Wahl. Bruno Hunziker, wird berichtet, sei in angeregtem Gespräch mit Parlamentariern im Schweizerhof gesichtet worden. In den Gläsern perlt der Champagner, die Gesichter verströmen Siegeszuversicht. Typische Impressionen in der Nacht der langen Messer, in der politisiert, gezählt und spekuliert wird auf Teufel komm raus und keiner wirklich weiss, was sich tut hinter den Kulissen der helvetischen Politik. Eine klare Haltung vertritt allerdings Beatrix Iklé, die Mutter der zur Wahl Stehenden. Sie würde, wenn sie nur könnte, Hunziker wählen. So wäre sichergestellt, dass ihre Tochter die zentnerschwere Last eines Bundesratsamtes nicht auf ihre schmalen Schultern packen muss.

In der Kramgasse werden die Neuigkeiten aus dem Radio natürlich registriert und von Hans W. Kopp mit einem knappen Kommentar versehen. «So ein Quatsch», meint der zu seiner Gattin, «du wirst gewählt, und zwar im ersten Wahlgang.» Elisabeth Kopp sieht das keineswegs so eindeutig. Unter normalen Umständen wäre einer wie Bruno Hunziker so gut wie gewählt – zu sehr entspricht der Aargauer dem Profil des Politikers, der seit 1848 die sieben Plätze im Bundesratszimmer besetzt hält. Er ist ein Mann im besten Mannesalter, 54 Jahre, Anwalt und seit über fünfzehn Jahren Berufspolitiker als FDP-Grossrat und Regierungsrat im Kanton Aargau und mittlerweile sieben Jahre im Nationalrat. Dazu FDP-Präsident, Verwaltungsrat bei der Neuen Aargauer Bank oder der Sprecher + Schuh im Kantonshauptort. Also das, was man hierzulande gemeinhin als politisches Schwergewicht betitelt, neben dem gewöhnlich kaum ein Weg vorbeiführt, ein strammer Vertreter des Wirtschaftsestablishments, das seit Jahr und Tag den Ton angibt in der hohen Politik.

Dagegen steht Elisabeth Kopp für das ungewohnt Neue. Eine Frau, die politisch aus dem Lokalen kommt, unmittelbar nach der Einführung des Frauenstimmrechts im Kanton Zürich in den Gemeinderat ihres Wohnortes Zumikon und zur Gemeindepräsidentin gewählt worden ist und bereits neun Jahre später den Sprung in den Nationalrat schafft, seit nun fünf Jahren also auf nationaler Ebene politisiert. Sie ist 48 Jahre alt und sitzt in keinem Verwaltungsrat. Unter normalen Umständen nicht das, was im Berner Politbetrieb als Schwergewicht durchgehen würde. Schwergewichte sind unter der Bundeshauskuppel immer männlich.

Aber die Umstände, sind sie normal an diesem Wahltag Anfang Oktober, für den sogar die Meteorologen eine «eigenartige Wetterentwicklung» registrieren und nach einem nassen September mit doppelter als der gewöhnlichen Regenmenge nun Sonnenschein prognostizieren mit gegen zwanzig Grad? Nein, die Umstände sind nicht normal an diesem Urnengang. Neun Monate sind es her, seit die Zürcher SP-Nationalrätin Lilian Uchtenhagen als erste Bundesrätin verhindert worden ist durch die männlichen Schwergewichte. Felix Auer ist damals einer von ihnen gewesen, der Baselbieter FDP-Nationalrat, der in der Nacht vor der Wahl für seinen Wunschkandidaten Otto Stich geweibelt und mit diesem Dolchstoss gegen die Frau für die trüben Stunden vor der Wahl einen neuen Begriff in den politischen Jargon eingeführt hat: die Nacht der langen Messer.

Die Nacht der langen Messer. Sie ist auch jetzt. Das weiss Elisabeth Kopp, als sie mit leichtem Schlaf dem Morgengrauen entgegendämmert. Die Gedanken an das Kommende, die quälenden Fragen, ihr Respekt vor dem hohen Amt: Alles dreht ohne nennenswerte Schlafpause in ihrem Kopf. Punkt vier Uhr in der Früh ist sie hellwach. Ihr erster Gedanke: Was tun bis um acht, wenn endlich der Politbetrieb im Bundeshaus offiziell beginnt? Was sie im Falle einer Wahl in der Annahmeerklärung sagen will, hat sie sich bereits zurechtgelegt – das ist sich Elisabeth Kopp schuldig. Schliesslich sind die Umstände ja nicht normal. Weil das getan ist, wendet sie sich, da sie nun einmal wach ist und Ablenkung braucht, den praktischen Fragen zu. Was anziehen? Einen Hosenanzug besitzt Elisabeth Kopp nicht. Ebenso wenig ein Deux-Pièce. Gewöhnlich trägt sie einen Jupe, einen Halbrock mit Rollkragenpullover, manchmal mit einem bunten Foulard. Aber heute? Elisabeth Kopp steht unschlüssig vor ihrem Kleiderschrank. Schliesslich nimmt sie das beste Stück heraus, das dort hängt. Eine blaufarbene Bluse und dazu passend einen in Blau- bis Bordeauxtönen gehaltenen Rock aus Schurwolle aus dem Modeatelier Akris in St. Gallen.

Nur einen Steinwurf von der Kramgasse entfernt, rund um das Bundeshaus, herrscht trotz morgendlicher Dunkelheit bereits Betrieb. Vor den Seiteneingängen, wird später rapportiert, stehen morgens um fünf ein paar Frühaufsteher, die auf einen privilegierten Tribünenplatz aspirieren. Früher als gewöhnlich strömen auch die Parlamentarier in den Nationalratssaal, zahlreicher als sonst im Tenue dunkel, etliche von ihnen haben wohl angesichts der möglicherweise historischen Wahl zu festlichem Tuch gegriffen. Ein besonderer Farbtupfer findet bereits lange vor Sitzungsbeginn seinen Weg in den Nationalratssaal, als ein Weibel mit einem riesigen Blumenstrauss aufkreuzt und diesen auf dem Pult von Lilian Uchtenhagen abstellt – eine Reminiszenz an die Bundesratsersatzwahl von vergangenem Dezember, als die Sozialdemokratin vergebens versucht hat, die bundesrätliche Männerbastion zu knacken. Kaum kreuzt jedoch Elisabeth Kopp auf, wird klar, wer zumindest in diesem Zeitfenster vor der Wahl die Protagonistenrolle spielt. Sie muss sich den Weg zu ihrem Platz im Nationalratssaal buchstäblich erkämpfen – ein Tross von Fotografen und Kameraleuten macht dies zu einem eher beschwerlichen Unterfangen. «Mehr Ellbogenfreiheit», rapportiert später der Tages-Anzeiger, «genoss der zwei Stühle nebenan sitzende Konkurrent, Bruno Hunziker.»

Punkt acht Uhr erschallt das Glöcklein. Der Genfer Liberale André Gautier, Nationalratspräsident und in dieser Eigenschaft nun auch Vorsitzender der Vereinigten Bundesversammlung, eröffnet die Sitzung, verabschiedet gemäss dem Protokoll zunächst den scheidenden Bundesrat Rudolf Friedrich – er tut es in getragenen Worten, und am Schluss gibt es «grossen herzhaften Applaus von allen Bänken ausser von jenen der äusseren Linken», notiert der Chronist des Tages-Anzeigers. Dann folgt das nächste Traktandum, auf das alle gewartet haben: Ersatzwahl des Bundesrats. Es gibt missbilligendes Gemurmel im Saal, als ein Parlamentarier diese durch eine Wortmeldung verzögert. Walther Röthlin, CVP-Nationalrat aus dem Urkanton Obwalden, lässt sich dadurch nicht beirren. Er will dem Wahlkörper noch ein letztes Mal ins Gewissen reden, zitiert das geflügelte Wort eines britischen Politikers, der gesagt haben soll: «Was moralisch falsch ist, kann politisch nicht richtig sein», und setzt dies in einen Zusammenhang mit der medialen Schlammschlacht gegen den Gatten der zur Wahl stehenden Elisabeth Kopp. Er sagt: «Ist es nun moralisch richtig, was wir in den letzten Wochen an Intrigen und Gemeinheiten im Zusammenhang mit der heutigen Bundesratswahl erleben mussten? Das Berner Politparkett wurde zur Bühne persönlicher Feindseligkeiten degradiert. Die Sippenhaft feiert Urständ. Sorgen wir dafür, dass die ethischen Grundwerte unserer Demokratie hochgehalten werden!» Der Redner erntet nur müden Applaus.

Siebzehn Minuten dauert dieses Vorspiel zur Wahl, siebzehn Minuten, die den Anwesenden viel länger vorkommen. Dann werden die Wahlzettel verteilt, wieder eingesammelt, und für weitere lange zwanzig Minuten ziehen sich die Stimmenzähler zurück. Dann ist Stille im Saal. Es ist zwanzig vor neun, als Ratspräsident André Gautier die historischen Worte spricht: «Est élue avec 124 voix Madame Kopp.» Wieder ist ein Moment Stille. Dann brandet Applaus. Für helvetische Verhältnisse ewige fünfzig Sekunden lang. Unüberhörbar ist ein lauter Freudenschrei, der von der Zuschauertribüne herunterschallt. Der Gemeindeschreiber von Zumikon kann einfach nicht mehr an sich halten. Dort fällt Brigitt, die Tochter, dem Vater Hans W. Kopp um den Hals, und Max Iklé, ehemaliges Mitglied des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank und Vater der nun Gewählten, wischt sich verschämt eine Träne aus dem Auge.

Seltsam verzückt, als wär’s ein Wesen von einem anderen Stern, beobachtet der Korrespondent des Tages-Anzeigers die zierliche Frau, die nach erfolgter Wahl nach vorne zum Mikrophon schreitet. Er schreibt: «Eindrücklich war es, mit welch natürlicher Sicherheit Elisabeth Kopp nach der Resultatverkündung vortrat und Annahme ihrer Wahl erklärte, eindrücklich, mit welcher Souveränität sie nach den letzten aufreibenden Tagen diesen Schritt vollzog.» Man muss Verständnis haben für diesen Schreibenden männlichen Geschlechts. In Amerika mag es 1933 die erste Ministerin gegeben haben, in Rumänien 1947, in der DDR 1952 und selbst im afrikanischen Tansania 1961 – in der Schweiz ist dies fast zwei Dutzend Jahre später eine sensationelle Premiere. Die Frage wäre höchstens, wie denn um Gottes willen diese Elisabeth Kopp, «die gewissermassen das Selbstbewusstsein der modernen Frau verkörpert» – so der Tages-Anzeiger weiter – anders hätte laufen sollen als eben so, wie sie es getan und es der Korrespondent gewissenhaft rapportiert hat? Als wollte sie diese geschlechtsbedingte Überhöhung, bei der eben stets auch ein Hauch Herablassung mitschwingt, von der ersten Minute mit Schalk neutralisieren, meint Elisabeth Kopp in ihrer frei gesprochenen Antrittsrede: «Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich kann Ihnen aus naheliegenden Gründen nicht versprechen, im Bundesrat meinen Mann zu stellen. Was ich Ihnen jedoch zusagen kann, ist, dass ich alles tun werde, um das, was als Frau und Mensch in mir steckt, aufzubieten. In diesem Sinne erkläre ich Annahme der Wahl.» Sie sagt aber auch: «Mit meiner Wahl als erste Frau in den Bundesrat ist weniger ein persönlicher Erfolg verbunden, sondern ich sehe darin eine Anerkennung der Leistung aller Frauen auf politischem Gebiet, auf den verschiedenen Stufen unseres Staatswesens, und ich möchte an dieser Stelle auch ganz besonders allen Frauen aus allen Parteilagern für ihre Solidarität und ihre Unterstützung danken.»

Dann «erklingt erstmals mit erhobenen Schwurfingern von sanfter Frauenstimme: ‹Ich schwöre es!›», schreibt die Neue Zürcher Zeitung und dokumentiert mit ihrer Wortwahl, dass auch das FDP-Hoforgan in dieser historischen Stunde nicht gänzlich ohne Klischees auskommt. Im ersten TV-Auftritt direkt nach der Wahl kommt als Erstes die Frage, die wohl zu erwarten war. «Wie sagt man eigentlich», will der Interviewer wissen, «Frau Bundesrat oder Frau Bundesrätin?» Die Angesprochene entgegnet knapp: «Ich habe immer noch am liebsten Frau Kopp.»

Und im Lichte dieser Frau Kopp dürfen sich vor der Geschichte nun wohl auch die sechs männlichen Ratskollegen sonnen. Wie sprach doch ein sichtlich stolzer Bundespräsident namens Leon Schlumpf am Tage der Wahl? «An uns», meint der SVP-Bundesrat, «wird man sich erinnern, weil wir im Amt waren, als die erste Frau gewählt wurde.» Er ist es auch, der kraft seines Amtes als erster Bundesrat zur Begrüssung eine Bundesrätin wangenküssen darf. Er tut es im Lichtpegel der TV-Kameras, sagt etwas von «grosser Freude», legt beherzt seine beiden Hände um ihren Hals, gibt ihr ebenso beherzt einen Kuss rechts und links, und drückt ihr einen blumenreichen Strauss in die Hand. Dann kommt Alphons Egli, CVP-Bundesrat, deutet, ganz alte Schule, zunächst einen Kuss auf den Handrücken an, dann zweimal die Wange. Otto Stich, zweimal Wange, ein paar Worte, ein Lächeln, und weg ist er. Jean-Pascal Delamuraz, gleiche Partei wie Elisabeth Kopp, leistet sich, ganz welscher Bonvivant, drei Küsse für die erste Bundesrätin. Schliesslich Pierre Aubert, der Sozialdemokrat, ringt sich zunächst ein Küsschen ab, schiebt dann, nach einer unschlüssigen Pause, ein zweites nach. Und Kurt Furglers Wangenküsse für Elisabeth Kopp werden von den TV-Kameras nicht einmal dokumentiert, wie er sich angestellt hat, der Weltgewandte von der CVP, lässt sich nicht mehr eruieren. Das vorhandene Material an laufenden Bildern lässt jedenfalls einen Schluss zu: Die fünf vom Bundesrat geben sich vor den TV-Kameras ehrlich und ernsthaft Mühe beim Küssen, jeder nach seiner charakterlichen Façon. Eine gewisse Lockerheit im Umgang mit der Dame, die nun wie sie im Bundesrat sitzt, das müssen die Herren in ihren mehrheitlich grauen Anzügen aber noch lernen. Die Disziplin «Wie küsse ich eine Bundesrätin?» liesse sich jedenfalls mit etwas Training durchaus noch perfektionieren.

Ausserhalb des nun wieder kompletten Siebnergremiums wird das Resultat der geheimen Wahl nun in extenso interpretiert. Dass der Gegenkandidat Bruno Hunziker lediglich 95 Stimmen auf sich vereinigen kann – bei 22 Wahlzetteln mit anderen Namen und 3 ungültigen – lässt folgende Schlüsse zu: Seine Stimmen hat Bruno Hunziker beim Gros der 16 Aargauer Parlamentarier sowie den Deutschschweizer Männern geholt, wobei rund die Hälfte der insgesamt 60 CVP-Stimmen und ebenfalls die Hälfte der insgesamt 28 SVP-Männer seinen Namen in die Urne gelegt haben dürften. Hinzu kommen schätzungsweise ein halbes Dutzend weitere FDP-, etwas mehr SP-Voten und schliesslich eine Handvoll Stimmen aus kleineren Fraktionen.

Es sind die Tessiner und die Welschen sowie die Frauen innerhalb der Vereinigten Bundesversammlung, welche Elisabeth Kopp bereits im ersten Wahlgang zum Sieg getragen haben. Die Politbeobachter gehen davon aus, dass rund 60 der 69 Volksvertreter aus den romanischen Kantonen sowie die überwiegende Mehrzahl der 18 Deutschschweizer Frauen für die erste Bundesrätin gestimmt haben. Auf der anderen Seite dürften von den 159 Deutschschweizer Männern nicht einmal ein Drittel für Elisabeth Kopp gestimmt haben. Aus der eigenen Fraktion hat sie über drei Viertel der Stimmen, insbesondere aus den lateinischen Kantonen, geholt, und die Sozialdemokraten sind nahezu geschlossen der Fraktionsempfehlung gefolgt. Die kleine Kammer, die traditionell eher konservativ politisiert, dürfte dieses Mal mehrheitlich der Frau den Vorzug gegeben haben. «Der Ständerat mit seiner ganzheitlichen Betrachtungsweise und seinem Sensorium für die Stimmung ausserhalb des Parlaments kam ebenfalls zum Schluss, dass die Nichtwahl einer in jeder Hinsicht ausgewiesenen Kandidatin in der Öffentlichkeit kaum verstanden und eine das politische Klima belastende Entfremdung zwischen pays légal und pays réel bewirken würde», notiert anderntags die Neue Zürcher Zeitung. Selbst der Blick und die Züri Woche, das nationale sowie dass zürcherische Boulevardblatt, welche die mediale Schlammschlacht gegen den Gatten der nun Gewählten intensiv befeuert haben, geben sich am Tag danach lammfromm. «Jetzt ist die Luft wieder rein», notiert etwa der Blick, «wäre die ‹Schlammschlacht› nicht vor der Wahl ausgetragen worden, so hätten die Gerüchte weiter gegärt.» Und die Züri Woche meint: «Eines kann man Bundesrätin Kopp nicht nachsagen: dass sie nicht belastbar wäre. Wie sie die hektischen Tage vor der Wahl durchstand, wie sie sich im Getümmel des Bundeshauses am Dienstagmorgen bewegte und ausdrückte, das hatte schon Format und Klasse. Gerade diese Augenblicke zeigten aber auch, was den Erfolg dieser Frau ausmacht: eine Mischung aus Persönlichkeit, Disziplin und geschicktem politischem Marketing. Nicht so sehr eine Landesmutter wurde gewählt, sondern eine Frau, die sich in einer Männerwelt durchzusetzen versteht.» Es sind wohlwollende Worte. Sie zeigen aber auch die Doppelbödigkeit der Massenpresse: ob Schlammschlacht oder braver Applaus zum Wahlsieg – der Boulevard nimmt für sich selbstverständlich in Anspruch, stets im Recht zu sein.

Eine Frau entdeckt die Politik

Wanderzeit: von der Aare an den Zürichsee

Er will sie Peter nennen. Das ist sein kleiner, geheimer Plan für den Fall, dass das zweite Kind, das zu Weihnachten des Jahres 1936 zur Welt kommen soll, nach der zweijährigen Marianne wieder ein Mädchen werden sollte. Er, das ist Max Iklé, der Vater, Doktor der Jurisprudenz, mittlerweile 33 Jahre alt. Einige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin sitzt er mit seiner Frau Beatrix, einer geborenen Heberlein, im Wohnzimmer zusammen und sinniert über mögliche Namen. Schnell ist klar: Wird es ein Bub, heisst der Rudi, und irgendwie erwarten die Eltern auch, dass es ein Rudi wird. «Und wenn es nun aber ein zweites Mädchen werden würde?», fragt die Gattin, «dann hätten wir ja nicht einmal einen Namen bereit.» Das geht natürlich nicht. Anna Elisabeth wäre eine Möglichkeit, so heisst die Mutter von Max Iklé, und auch mütterlicherseits taucht dieser Namen in den Annalen auf. Und weil Elisabeth so viel schöner klingt als das harte Anna, bleibt dieser schliesslich erste Priorität. Aber eben: Max Iklé schmiedet einen Geheimplan, einen Plan B sozusagen, dies, nachdem er ein Buch gelesen hat, das diese Idee in sein Hirn eingepflanzt hat. Ein Vater hatte dieses über seine Tochter – diese hiess auch Elisabeth – zu Papier gebracht und seinem Werk den pragmatischen Titel gegeben, der Max Iklé so gefallen hat: «Meine Tochter hiess Peter». Dieser Vater beschreibt sein Töchterlein als lustig und übermütig, als wär’s ein Büblein, und weil Max Iklé sich das auch wünscht, will er, sollte es keinen Rudi, sondern eben eine Elisabeth geben, diese einfach Peter nennen.

Es sind schlechte Zeiten, als dieses Kind zur Welt kommt, das schlimmste Jahr seit Weltwirtschaftskrise herrscht, weit über hunderttausend Menschen sind in der Schweiz ohne Arbeit, in England ist das Pfund, in den USA der Dollar abgewertet worden, und beide Länder geben auch den Goldstandard auf. Im Juni 1936 gibt Bundesrat Hermann Obrecht, ein Freisinniger, als zuständiger Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartementes eine geheime Studie in Auftrag, die im Falle einer Abwertung des Schweizer Frankens geeignete Massnahmen zur Verhinderung der Inflation zu untersuchen hat, während die Mehrheit des Bundesrates wie auch die Spitzen der Schweizerischen Nationalbank (SNB) eisern an der Goldparität festhalten wollen. Als Ende August 1936 auch Frankreich ihre Valuta um einen Drittel abwertet, dreht die Stimmung im Bundesrat – am 26. August, einem Samstag, fällt in Bern gegen den Widerstand von zwei Bundesräten der historisch einmalige Entscheid für eine Abwertung des Frankens um dreissig Prozent. Keine guten Zeiten also, um ein Kind auf diese Welt zu stellen. Selbst der Frauenarzt meint zur Schwangeren, dass ein Kind, das zu Weihnachten 1936 erwartet würde, heuer nicht einmal Freude an seinem Geburtstag haben könne.

Ein Freudentag wird der Tag der Geburt Christi in der Tat nicht: Die kleine Elisabeth kommt nämlich zehn Tage früher als geplant zur Welt, und nun ist in der Wohnung Iklé am Zürichberg gelegentlich wieder Säuglingsgeschrei zu hören. Hineingeboren ist sie in «eine Familien-Saga der Tüchtigkeit und der Brillanz», notiert die Weltwoche knapp fünf Jahrzehnte später, als ebendiese Elisabeth als erste Frau in den Bundesrat gewählt wird. Es ist ein anfänglich beschwerlicher Aufstieg in die höheren geschäftlichen und gesellschaftlichen Sphären. Die ersten Iklés werden bereits in napoleonischen Zeiten in der Gegend von Hannover urkundlich erwähnt, und möglicherweise hat die französische Herrschaft über die Stadt an der Leine zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu diesem Familiennamen inspiriert. In den Hamburgischen Geschichts- und Heimatblättern heisst es jedenfalls dazu: «Über die Entstehung des Familiennamens Iklé wird in der Familie angenommen, dass er eine Zusammenziehung von Isaak Levy ist, wobei der Accent aigu die Abkürzung anzeigen soll.» Im politischen Umfeld zu jener Zeit in Hannover klingt der französisch angehauchte Nachname zumindest nicht fremd, und der Akzent auf dem letzten Vokal führt dazu, dass er für Menschen gallischer Zunge aussprechbar ist. Ein Moses Iklé taucht dann in den 1830er Jahren in Hamburg auf. Der Urgrossvater der späteren Bundesrätin ist Mitglied der jüdischen Gemeinde Hamburg, betreibt an der Elbe eine Firma für den Import und Export von Textilien, besonders Stickereien und Spitzen. Immer wieder reist Moses Iklé in die Ostschweiz, um St. Galler Spitzen einzukaufen. Der Weg führt dessen Nachfahren weg vom Judentum zum Protestantismus, vom Handel in die Textilproduktion und von Deutschland in die Schweiz.

Gradlinig verläuft dieser Weg nicht. Es sind fünfzehn Kinder zu ernähren – vier davon sterben früh – und als der Urgrossvater Moses Iklé am 22. Oktober 1864 stirbt, hinterlässt er einen Berg von Schulden, den Witwe und Söhne notgedrungen abtragen. Und einige der männlichen Nachfahren bleiben dem angestammten Geschäft der Familie Iklé treu. Der älteste, Leopold, wird schon als Zwanzigjähriger nach St. Gallen geschickt, um Ware einzukaufen. Im Hotel Weisses Rössle oder später im Hecht nimmt er Quartier und unterzieht das Angebot der heimischen Fabrikanten einer eingehenden Prüfung. Kurze Zeit später, im Jahre 1861, noch zu Lebzeiten des Vaters also, gründet der älteste Sohn in der Gallusstadt ein permanentes Einkaufskontor, um intensiveren Kontakt zu den Produzenten pflegen zu können. Das ist möglich, als auch im urbanen Zentrum der Ostschweiz mittlerweile Handel und Wirtschaft liberalisiert sind und vor allem uneingeschränkte Niederlassungsfreiheit herrscht. In diese Exportfirma Iklé tritt in den 1870er Jahren auch das zweitjüngste der Iklé-Kinder ein, Adolf Iklé, der Grossvater der späteren Bundesrätin, und auch dieser lässt sich in St. Gallen nieder. Im Jahre 1880 wird aus dem einfachen Textilhändler ein Fabrikant. Leopold Iklé baut mit Rieter- oder Saurer-Maschinen die erste sogenannte Schiffli-Stickerei der Ostschweiz, wird zum Pionier der aufkommenden maschinellen Stickerei, und die Qualität der Produkte ist derart exquisit, dass in den Modezentren der Welt Iklé zum Synonym avanciert für höchste Qualität und Perfektion zu jedoch auch stolzen Preisen.

Iklé frères entwickelt sich zu einer ansehnlichen Firma mit Hauptsitz in einem Geschäftshaus namens Columbia an der St. Galler Vadianstrasse. Wenn Leopold der Ältere nicht gerade auf Geschäftsreise ist, pflegt er im Chefbüro gegenüber seinem jüngeren Bruder Adolf zu sitzen, und beide gönnen sich des Öfteren eine Havanna-Zigarre. Es sind die Zeiten, in denen Stehpulte und Tintenfässer zum Inventar der Büros gehören, die Geschäftskorrespondenz noch handschriftlich und in Schönschrift zu Papier gebracht wird. Die Iklés, einst als jüdischstämmige Immigranten in St. Gallen angekommen, sind inzwischen angesehene Persönlichkeiten in der Stadt, pflegen Umgang mit den grossbürgerlichen Kreisen und nehmen lange vor der Jahrhundertwende das Bürgerrecht der Vadianstadt an. Es ist die Blütezeit der Textilindustrie, und St. Gallen ist um diese Zeit fünftgrösster Handelsplatz in diesem Metier. In den besten Zeiten sind praktisch alle Nachfahren des Moses Iklé in der Familienfirma beschäftigt, das Unternehmen besitzt eine Fabrik im St. Galler Feldli, im vorarlbergischen Höchst und im französischen St. Quentin; Filialen gibt es in Berlin, dem thüringischen Plauen, in Paris, London oder New York. Und auch mit den lokalen Lieferanten ist die Firma bestens vernetzt, beispielsweise mit dem Textilausrüster Heberlein in Wattwil. Eine Anekdote aus dieser Verbindung hat sich im Gedächtnis der Nachfahren besonders eingeprägt. Ein Malheur ist es: Ein Posten edler Stoffe aus dem Hause Iklé war verdorben, da eine chemische Substanz auf den Stoff geraten war und durchsichtige Flecken hinterlassen hatte. Der Firmenchef Georges Heberlein nimmt daraufhin den Weg vom Toggenburg bis nach St. Gallen unter die Füsse, um den Schaden persönlich zu besichtigen. Adolf Iklé, der Auftraggeber und Grossvater der späteren Bundesrätin, meint lapidar und halb im Ernst, wenn die Chemietupfen wenigstens regelmässig auf dem Stoff verteilt wären, liesse sich das vielleicht als modernes Muster verkaufen – aber so? Ein paar Wochen später taucht Heberlein wieder in Iklés Kontor auf und präsentiert wortlos einen Stoff mit gleichmässiger, durchsichtiger Musterung. Adolf Iklé entfährt angesichts dieser im Heberlein-Labor entwickelten Neuheit ein spontanes «Sie sind ein verdammt gescheites Luder!», und für Heberlein wird die Linie Transparent zu einem Verkaufsrenner.

Für den Textilhandel und auch die Fabrikation ändern sich die Zeiten mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der nachfolgenden Weltwirtschaftskrise, und zu allem Überfluss kommt weisse, bestickte Unterwäsche ausser Mode – nun liegt bunt im Trend. Im Jahre 1929 verkaufen die Textilfabrikanten ihr Unternehmen Iklé frères an Reichenbach & Co.; letzteres hält immerhin noch über sechs Jahrzehnte in der Textilproduktion und im Handel durch, bevor es Mitte der 1990er Jahre in Konkurs geht. Diesen Niedergang muss Adolf Iklé nicht mehr miterleben. Er stirbt 1923, als sein drittältester Sohn Max Iklé in die Rekrutenschule einrücken muss, also über ein Dutzend Jahre bevor 1936 Elisabeth zur Welt kommt. Die spätere Bundesrätin hat väterlicherseits weder ihren Grossvater noch die Grossmutter Anna Elisabeth Steinlin kennen gelernt – diese stirbt Anfang der 1930er Jahre. Gesichert ist immerhin, dass es sich bei den Steinlins um eine alteingesessene St. Galler Familie handelt, und gesichert ist auch, dass Grossmutter Steinlin eine geborene Naeff aus Altstätten im St. Galler Rheintal und direkt verwandt mit jenem Wilhelm Mathias Naeff gewesen war, der bei der Gründung des schweizerischen Bundesstaates 1848 dem ersten Bundesrat angehört und während knapp dreier Jahrzehnte als Postminister gewirkt hatte.

Die Iklés und die Heberleins, die einst bereits geschäftliche Verbindungen unterhalten hatten, knüpfen bald noch engere Bande. In den 1930er Jahren heiratet Max Iklé in die Familie ebenjenes George Heberlein hinein, den der Grossvater der nachmaligen Bundesrätin einst als «verdammt gescheites Luder» tituliert hat – und dessen Tochter Beatrix Heberlein ist deshalb die erste Mutter einer Bundesrätin. Die Iklés und die Heberleins sind aus ähnlichem Holz: Beide sind deutsche Immigranten, beide sind in der Textilindustrie tätig, beide erlangen das Schweizer Bürgerrecht, und beiden gelingt der Aufstieg in die wohlhabende Bourgeoisie der Ostschweiz. Bei Letzteren ist es ein Färbergeselle namens Georg Philipp Heberlein, der anno 1825 aus dem deutschen Braubach mit Ranzen und Stab zur Walz aufbricht, schliesslich als Zwanzigjähriger den Ricken überquert und in Wattwil hängen bleibt. Der Ururgrossvater mütterlicherseits der nachmaligen Bundesrätin findet Arbeit bei der Färberei Bösch, wird im Toggenburg nach zwei Jahrzehnten eingebürgert und eröffnet eine kleine Garnfärberei – die Keimzelle des späteren Heberlein-Konzerns. Zwei Generationen später übernimmt im Jahre 1896 George Heberlein die Führung in der Garnfärberei, die Familienfirma beschäftigt damals bescheidene 45 Mitarbeiter. Als exakt vierzig Jahre später, 1936, Elisabeth Iklé zur Welt kommt, ist unter der Ägide des Grossvaters daraus ein breitgefächertes Textilimperium geworden mit über tausend Angestellten.

All das mag nach beruflicher und gesellschaftlicher Arriviertheit klingen. Aber das täuscht gerade im Falle von Max Iklé, der nun eine vierköpfige Familie ernähren muss, gewaltig. Im Grunde ist der zweifache Familienvater seit seinem Studienabschluss, der mittlerweile ein knappes Jahrzehnt zurückliegt, noch nicht wirklich im Berufsleben angekommen. Es sind familiäre Gründe, die den frischgebackenen Doktor der Rechte im Jahre 1927 zunächst in das Berlin der Roaring Twenties verschlagen – es ist dies eine etwas komplizierte Geschichte, die mit seiner eigenen Familie wie auch den eingeheirateten Heberleins zu tun hat. Das kommt so: Im Jahre 1923 kauft eine Zürcher Finanzgruppe ein Unternehmen namens Tri Ergon, das in Zürich und Berlin Filialen betreibt. Interessant an der Firma ist die Tatsache, dass sie über ein Patent verfügt, das «die fotografische Aufzeichnung des Tons direkt am Filmrand ermöglicht», wie es im Standardwerk «Geschichte des Schweizer Films» des Filmwissenschaftlers und ehemaligen Direktors des Schweizer Filmarchivs Hervé Dumont heisst. In einem kleinen, schalldichten Studio an der Berliner Bülow-Strasse lassen die neuen Besitzer aus der Schweiz ein paar kleine Tonfilme herstellen, und sie zeigen diese erstmals an einer geschlossenen Veranstaltung in der Reichhauptstadt und kurze Zeit später auch im Zürcher Kino Bellevue