Elitewahn - Liliane Skalecki - E-Book

Elitewahn E-Book

Liliane Skalecki

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Beschreibung

Im Eliteinternat Schloss Waldesruh stirbt ein junger Lehrer angeblich eines natürlichen Todes. Malie, die ihn kannte, hegt Zweifel, da er ihr kurz zuvor von seltsamen Vorgängen im Internat berichtete. Tage später findet ihre Freundin Lioba die Leiche eines Professors, der sich für die Geschichte des Schlosses interessierte. Gemeinsam versuchen die Frauen das Geheimnis, welches sich hinter den Schlossmauern verbirgt, aufzuspüren. Malie kommt ihrem Gegner gefährlich nahe und gerät in Lebensgefahr …

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Biggi Rist / Liliane Skalecki

Elitewahn

Der 2. Fall für Malie Abendroth und Lioba Hanfstängl

Zum Buch

Auserwählt Im Eliteinternat Schloss Waldesruh am Bodensee stirbt der Lehrer Malte Jensen angeblich eines natürlichen Todes. Malie, die mit ihm befreundet war, zweifelt daran, denn kurz zuvor hat Jensen ihr von seltsamen Vorgängen im Internat berichtet. Ihre Freundin Lioba findet wenige Tage später die Leiche eines emeritierten Professors, der sich für die Geschichte des Schlosses interessierte. Die Diagnose lautet: Herzinfarkt. Gemeinsam versuchen Malie Abendroth und Lioba Hanfstängl zu ergründen, was hinter den Schlossmauern vor sich geht, welche Rolle der Geldgeber des Internats, eine Stiftung, und eine Partei dabei spielen und warum die beiden Männer sterben mussten. Ihre Recherchen ergeben, das Schloss gehörte einem jüdischen Geschäftsmann, der 1939 mit seiner Familie in die USA fliehen und es verkaufen musste. Während Lioba in den Archiven wühlt und Kontakt zu einem Nachfahren des Verkäufers aufnimmt, tritt Malie bei ihren Nachforschungen jemandem gewaltig auf die Füße und gerät in Lebensgefahr …

Dr. Liliane Skalecki, 1958 in Saarlouis geboren, studierte nach einer Banklehre Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Vorderasiatische Archäologie an der Universität des Saarlandes. Seit 2001 lebt sie mit ihrer Familie in Bremen. Sie schreibt für die Zeitschrift »Pferdesport Bremen« und veröffentlichte bisher Fachartikel, Sachbücher sowie Chroniken und Unternehmerdarstellungen.

 

Biggi Rist, 1964 in Reutlingen geboren, arbeitete nach der Ausbildung an der Naturwissenschaftlich-technischen Akademie in Isny/Allgäu in der medizinischen Labordiagnostik und zwei Jahre in der Forschung. Als 7-jährige schrieb sie sich selbst Geschichten und ist Co-Autorin wissenschaftlicher Publikationen. Zwei Jahre lebte sie in Melbourne/Australien, bevor sie mit ihrem Mann nach Lilienthal zog.

www.krimi-bremen.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Frostkalt (2017)

Ausgerottet (2017)

Rabenfraß (2016)

Mordsgrimm (2014)

Rotglut (2013)

Schwanensterben (2012)

Impressum

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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2018

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bundesarchiv_Bild_146-1978-013-07,_Nationalpolitische_Erziehungsanstalt_(cropped).jpg

ISBN 978-3-8392-5788-3

Widmung

Ralf, wie immer für dich. Biggi.

Für Georg, Marian, Arlena und Marcel. Liliane

Haftungsausschluss

Alle Personen und Handlung sind frei erfunden. Dabei sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die Gemeinde Storchenfels und Schloss Waldesruh sind fiktiv.

 

Zitate

»In unseren Augen, da muss der deutsche Junge der Zukunft schlank und rank sein, flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl. Wir müssen einen neuen Menschen erziehen, auf dass unser Volk nicht an den Degenerationserscheinungen der Zeit zugrunde geht.«

(Adolf Hitler)

*

»Erziehung ist organisierte Verteidigung der Erwachsenen gegen die Jugend.«

(Mark Twain)

*

»Viele Menschen sind gut erzogen, um nicht mit vollem Mund zu sprechen, aber sie haben keine Bedenken, es mit leerem Kopf zu tun.«

(Orson Welles)

*

»Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.«

(Astrid Lindgren)

 

Personenverzeichnis

Malie Abendroth: Gärtnerin aus Leidenschaft

Lioba Hanfstängl: Malies Freundin, Angestellte im Amt für Bau, Natur- und Umweltschutz

*

Personen von Schloss Waldesruh

Malte Jensen: Lehrer

Doktor Herbert Kanngießer: Direktor

Magnus Jäger: Schüler

Alexander von Langenegg: Schüler

Lennart Kropp: Schüler

Pauline Klingenberg: Verwalterin

Irma Schomberger: Sekretärin

Carsten Franke: Hausmeister

*

Weitere Personen

Franziska Fischer: Alexander von Langeneggs Freundin

Albert Wilder: Schüler der Napola Reichenau 1941 

Hermann Wilder: Alberts Vater

Aaron Goldmann: ehemaliger Besitzer des Schlosses

Levin Goldmann: Aarons Sohn und Alberts Freund aus Kindertagen

Bernd Laugand: Mitbegründer der PDW »Partei der Werte« und Vorsitzender der Wilder-Stiftung

Professor Hans Kessler: Historiker

Prolog

»Levin, Levin. Wach auf.«

Eine Hand rüttelte vorsichtig an seiner Schulter. Er lag auf der Seite, die angewinkelten Beine an den Bauch gezogen, den Kopf zur Brust geneigt. Wie ein Embryo. Schweiß lief ihm über das Gesicht, Speichel tropfte auf das schon durchnässte Kopfkissen. Wie oft hatte er seine Frau gebeten, ihn aus seinen Alpträumen zu befreien. Loswerden würde er die schrecklichen Bilder, die ihn nachts heimsuchten, nie. Es gab auch Nächte, in denen er selbst davon wach wurde. Oft konnte er sich zwingen, aus dem Traum herauszusteigen, so wie man einfach seinen Fernsehsessel verlassen kann, wenn der Film nicht gefällt. Manchmal versank er jedoch so tief in seinen Träumen, dass Moira Mühe hatte, ihn zu wecken.

Die Träume ähnelten einander. Während der Pubertät waren sie erstmals aufgetreten. Dann herrschte Ruhe. Keine wispernden Stimmen, keine Gesichter aus der Vergangenheit, die sich in seinen Schlaf schlichen. Viele Jahre lang waren seine Nächte traumlos geblieben. Moira und er hatten geheiratet, Mary und Phil waren zur Welt gekommen. Sein Geschäft wurde stetig ausgebaut, und er war zu großem Wohlstand gekommen. Doch jetzt, wo er, wie er es halb scherzhaft nannte, schon mit einem Bein in Olam Haba stand, plagten ihn die Träume wieder stärker. So, als wollten sie ihn an etwas erinnern.

»Bleib liegen. Ich bring dir einen Kaffee ans Bett. Ruh dich noch ein wenig aus. War es wieder so schlimm?«

Besorgt schaute Moira ihn an und strich ihm über die Stirn. Sie war aufgestanden und hatte ein Taschentuch geholt, mit dem sie ihm nun liebevoll über den Mund wischte.

»Nicht schlimmer als sonst. Nur vielleicht intensiver. Ich habe die Hitze regelrecht gespürt. Ich dachte, sie versengt mir das Gesicht.«

Moira schmunzelte.

»Du hattest dein Gesicht aber auch ganz schön tief ins Kopfkissen gedrückt.«

Dann wurde sie wieder ernst.

»Levin, es ist vorbei und alles ist gut. Nun ruh dich aus. Ich geh und hole Kaffee.«

Levin Goldmann richtete sich auf und lehnte sich an das gepolsterte Kopfteil des großen Bettes. Gedankenverloren betrachtete er seine runzeligen, von Altersflecken übersäten Hände, die auf der Bettdecke mit dem fröhlichen Kornblumenmuster lagen. Es wäre normal, jetzt, wo er die 90 schon überschritten hatte, dass er verstärkt an seine Kindheit zurückerinnert wurde, hatte ihm sein Freund und Psychiater Robert – Rob – Dillon erklärt.

»Ich kann dir Tabletten mitgeben, damit du besser schläfst«, hatte Rob angeboten, aber Levin hatte abgelehnt. Die Träume konnten ihn zwar aufregen, aber nicht mehr erschrecken. Der Wahnsinn und die damit verbundene Angst lagen Jahrzehnte zurück.

Heute war der Traum anders gewesen. Doch was war es, was ihn diesmal so extrem mitgenommen hatte? Levin schloss die Augen und ließ den Nachtmahr noch einmal Revue passieren. Laut und deutlich hörte er die Stimme seines Vaters Aaron, so, als stände er direkt neben seinem Bett.

»Levin, mein Junge. Wir wollen in die Stadt fahren. Ich will es nicht glauben, aber es heißt, die Synagoge wäre diesmal in Schutt und Asche gelegt worden. Das muss ich mit eigenen Augen sehen und mich vergewissern, dass es sich um eine gemeine Lüge handelt. Möchtest du mitkommen?«

Dunkel hatte sich Levin daran erinnert, dass ihr Gotteshaus schon zwei Jahre zuvor einmal in Brand gesteckt worden war. Sein Vater hatte damals eine große Summe Geld gespendet, damit die Schäden behoben werden konnten. 1936 war Levin zehn Jahre alt gewesen. 1936, das Jahr, in dem er zum ersten Mal einen runden Geburtstag gefeiert hatte. Seine Mutter Judith hatte viele Kinder eingeladen, doch nicht alle waren gekommen. Es war auch das Jahr gewesen, als sein bester Freund Albert das letzte Mal zu Levins Fest erschienen war.

Levin fuhr mit seinem Vater in die Stadt. Ein eiskalter Tag, der steile Weg bergab gefährlich glatt. Sein Vater Aaron saß konzentriert und mit grimmiger Miene hinter dem Steuer seines DKW F5 Meisterklasse, auf den er mächtig stolz war. Die Seiten in einem eleganten Eierschalenton, die übrige Karosserie tiefschwarz glänzend. Die ganze Zeit über schwieg Levin, hatte seine grüne Wollmütze tief ins Gesicht gezogen und die Hände in den gestrickten Fäustlingen geballt. Sein Vater war gekleidet, als wäre er zu einem wichtigen Empfang geladen. Dunkler Zweireiher, schwarzer Wollmantel und der unvermeidliche dunkelgraue Filzhut. Kurz bevor sie in die Sigismundstraße einbiegen wollten, bremste Aaron Goldmann den Wagen ab.

»Hier geht es nicht weiter, es ist alles abgesperrt. Wir parken am Rosgartenmuseum.«

Nachdem sein Vater den Wagen in der Rosgartenstraße abgestellt hatte, kletterte Levin vom Beifahrersitz, sah sich abwartend um, während Aaron den Wagen verschloss. Von allen Seiten strömten Menschen in Richtung Sigismundstraße, dick eingepackt in warme Mäntel, Wollschals vor den Gesichtern, aus denen rote Nasen lugten, die weiße Atemwölkchen hervorstießen. Es begann zu schneien, dicke Flocken fielen lautlos herab, versahen die Welt um Levin herum mit einem Puderzuckerüberzug.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, was geschehen ist? Wo wollen denn alle hin?«

»Wenn Sie das Spektakel noch miterleben wollen, beeilen Sie sich, die besten Plätze sind bestimmt schon weg. Wir dürfen ja alle nicht so nah ran.«

»Guter Mann, jetzt sagen Sie schon. Was passiert hier gerade?«

Der Mann, den Aaron angesprochen hatte, eilte jedoch mit schnellen Schritten weiter. Aaron blieb ihm auf den Fersen, Levin an der Hand hinter sich herzerrend, der Mühe hatte, mit den langen Schritten seines Vaters mitzuhalten.

Der Mann warf ihnen einen Blick über die Schulter zu.

»Die Synagoge ist in Brand gesteckt worden. Und nicht nur hier. Überall. Hören Sie denn kein Radio? Die Feuerwehr wollte zwar löschen, hat es sich dann aber wohl anders überlegt. Das heißt, man hat den Männern angeraten, es sein zu lassen. Jetzt ist alles einsturzgefährdet. Gleich wird gesprengt.«

Der Mann beschleunigte seine Schritte und verlor sich bald in der Menge.

Für einen Moment verharrte Aaron Goldmann, und Levin blieb mit klopfendem Herzen neben ihm stehen, sah angespannt zu seinem Vater auf. Was er sah, erschreckte ihn. Tränen schimmerten in den Augen seines Vaters, das hatte er noch nie erlebt. Der Anblick bereitete ihm Unbehagen. Nein, schlimmer, er verursachte Angst, die sich in seinem Inneren festfraß.

»Komm, mein Junge«, krächzte Aaron und fasste Levins Hand fester.

Vor ihnen hatten sich die Leute zu einer dichten Menschentraube zusammengedrängt. In geschlossener Einigkeit reckten alle die Köpfe, um die Sprengung aus gebührendem Abstand mitzuerleben. Vater und Sohn blieben vor einem geschlossenen Laden stehen. Levin begann, in seinem dicken Mantel zu schwitzen. Die Glut steckte noch in den Gemäuern der Synagoge, und ihre Wärme drang bis zu ihnen vor. Fast glaubte Levin, keine Luft zu bekommen. Luft, die vom Geruch der verbrannten Mauern geschwängert war. Er reckte den Kopf, um etwas zu sehen, was sich als sinnloses Unterfangen herausstellte, war er doch viel zu klein, um über die Menge hinwegzuschauen.

»Du bleibst hier stehen, und rührst dich nicht vom Fleck, hörst du Levin! Vielleicht kann ich es ja noch verhindern«, hörte er seinen Vater murmeln, dann drängte Aaron sich durch die Menge und war in wenigen Augenblicken aus Levins Blickfeld verschwunden.

Levin blieb angsterfüllt zurück. Wie konnte ihn sein Vater einfach hier alleine lassen? An die Hausmauer gedrückt, stand er stocksteif und mit aufgerissenen Augen da. Keine 20 Sekunden später ertönte eine laute Stimme durch ein Sprachrohr, die klar und deutlich bis zu dem Jungen herüberdrang.

»Achtung, Achtung! Hier spricht Adolf Irmlein, SS-Verfügungstruppe Radolfzell. Bleiben Sie hinter der Absperrung! Die Sprengung erfolgt in einer Minute.«

Die Sätze wurden noch zweimal wiederholt. Die Leute, die vor Levin standen, hielten sich die Ohren zu.

Wo war sein Vater denn hin? Und warum kam er nicht wieder? Hoffentlich war er nicht zu nahe an die Synagoge herangegangen.

Levin war hin- und hergerissen. Einerseits konnte er nicht verstehen, warum ihr Gotteshaus überhaupt zerstört wurde, bei diesem Gedanken erfasste ihn eine tiefe Wut, die die Angst zurückdrängte. Andererseits hatte er noch nie eine Sprengung erlebt. Eigentlich ganz schön spannend. Ob er in der letzten Reihe überhaupt etwas davon mitbekam? Die Frage wurde im selben Augenblick beantwortet. Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft, gleich darauf ein zweiter. Levin konnte die Druckwelle spüren, der Boden unter seinen Füßen vibrierte, dichter Qualm und zu Staub zerriebenes Gestein vereinigten sich und stiegen in einer riesigen Wolke in den Himmel. Menschen klatschten Beifall, manche johlten sogar.

Noch vor Schreck zitternd, hüpfte Levin von einem Bein auf das andere. Sein Blick irrte suchend umher in der Hoffnung, das Gesicht seines Vaters zu erhaschen. Die Menge begann sich zu teilen, und endlich sah Levin erleichtert seinen Vater auf sich zueilen. Aaron Goldmann sah aus wie ein Gespenst. Zementstaub bedeckte seinen Hut, seinen Mantel, sein Gesicht, das, wie es Levin vorkam, mit einem Mal gealtert schien. Grau und gebrochen. Wortlos nahm sein Vater ihn an die Hand, und schweigend gingen sie zum Wagen. Ein letztes Mal blickte Levin zurück. Die Menschenmenge hatte sich nun weitestgehend aufgelöst, und Levins Blicke kreuzten sich mit denen eines Jungen. Augen, die er so gut kannte. Ernst und zugleich traurig sah ihn das Gesicht seines Freundes Albert aus den Reihen der Gaffer an. Bittend.

Und das war vorher noch nie der Fall gewesen. Sein Traum endete immer damit, dass der Vater ihn stumm und von einer Staubschicht überzogen an der Hand nahm und ihn zum Wagen zurückbrachte. Ein Jahr später hatten sie Deutschland verlassen. Und Albert war in Wirklichkeit gar nicht in der Menschenmenge gewesen. Warum tauchte sein bester Freund aus Kindertagen plötzlich in seinem Traum auf?

»Nun, hast du den Traum abgeschüttelt?«

Moira stand mit einem Tablett in der Schlafzimmertür. Ihr wattierter Morgenmantel schlotterte an ihrem dünnen, fast ausgemergelten Körper, stellte Levin fest. Seine Frau hatte nach der Krebstherapie viel zu viel Gewicht verloren. Jetzt war sie immer noch dünn, nahm aber langsam und stetig wieder zu. Es war ein beschwerlicher Weg, aber seine Frau war eine Kämpferin. Sie war so ein positiver Mensch, hatte die Bestrahlung und die Chemotherapie nach der Operation klaglos ertragen, und, sobald ihr Körper wieder ein wenig Kraft gesammelt hatte, begonnen, ihr Leben wieder so zu leben, als ob es die verdammte Krankheit nie gegeben hätte. Moira war 15 Jahre jünger als er, hatte also noch ein Leben nach ihm vor sich. Doch davon wollte sie natürlich nichts hören.

»Was heißt abgeschüttelt. Er ist zu meinem nächtlichen Begleiter geworden. Ich habe mich schon daran gewöhnt. Darling, wenn es dir nicht zu viel Mühe macht, würdest du mir bitte meinen Laptop bringen?«

Moira runzelte die Stirn.

»Keine Arbeit so früh am Tag, hörst du!«, schimpfte sie gutmütig wider besseres Wissen.

Sie verschwand und kehrte mit dem Gewünschten unter dem Arm zurück.

»Ruh dich lieber aus, arbeiten kannst du später. Aber, was red’ ich, ich kenne dich lange genug. Ich mach mich schon einmal fertig. Ernie ist in einer Stunde da.«

Sie hauchte ihm noch ein Küsschen auf die Stirn und verschwand im Badezimmer. Ernie war ihr Fitnesstrainer. Levin bewunderte seine Frau. Mit ihren 76 Jahren ließ sie sich von Ernie schinden, ohne Wehklagen, ohne einen Jammerton. Sie sagte, der Sport helfe ihr, die Erkrankung zu verarbeiten, und sie wolle dem Krebs keine Chance lassen, sich jemals wieder in ihr breitzumachen. Auch Levin hatte bis vor fünf Jahren noch sein Sportprogramm absolviert, doch jetzt war er wirklich zu alt, um an einer Stange zu hängen oder mit einem Ball über die Gymnastikmatte zu rollen. Nur schwimmen ging noch prima, und es tat ihm gut.

Herzhaft biss Levin in seinen Bagel, den Moira mit Hommus bestrichen hatte. Auf das Kichererbsenpüree hatte sie dünne Scheiben Pastrami gelegt, genauso wie Levin es liebte. Dann klappte er seinen Laptop auf, spülte den Bissen mit einem Schluck Kaffee hinunter. Kurz blickte er auf die Schlagzeilen der Nachrichten aus aller Welt. Nichts, was er nicht schon wusste. Ah, das hatte er sich schon gedacht. Die deutsche Kanzlerin Merkel wollte es wieder wissen und kandidierte ein weiteres Mal. Ihn interessierte immer noch, was in Deutschland vor sich ging. Diese Frau saß nach wie vor fest im Sattel. Er hätte sich nur gewünscht, sie hätte schon früher ein Statement zu den ausländerfeindlichen Tendenzen gegeben. Doch dann hatte sie noch die Kurve bekommen.

Aber, wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen, dachte Levin bitter, als er an den neuen Präsidenten der USA und dessen erste Amtshandlungen dachte. Die Welt schien aus den Fugen zu geraten, und rechtspopulistische Ansichten waren auf dem Vormarsch. In den USA und in Europa. Er würde nicht mehr lange genug leben, aber er hoffte, dass seine Kinder und Enkel nicht erleben mussten, was er und seine Eltern durchgemacht hatten. Levin schüttelte die tristen Gedanken ab und klickte den Wetterbericht an, kaute genüsslich an seinem Bagel. Perfekt, sieben Sonnenstunden. Sein Enkel Noah feierte morgen seinen Geburtstag und dazu Familie und einige enge Freunde nach Martha’s Vineyard eingeladen, wo er für das Wochenende ein großes Ferienhaus angemietet hatte.

Und dann tat Levin das, weswegen er den Laptop überhaupt heute schon am frühen Morgen haben wollte. Er gab einen Namen in die Suchmaschine ein. Wie aus dem Nichts sprangen ihn diese durchdringenden eisblauen Augen an, drangen bis tief in sein Herz. Erschrocken sog er die Luft ein, erstickte beinahe an einem Bagelkrümel und bekam einen Hustenanfall. Mit zitternder Hand griff er nach dem frisch gepressten Orangensaft und trank drei große Schlucke davon, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Ich muss es gespürt haben, dachte er.

Levin glaubte an das, was Träume ihm offenbaren wollten. Heute Nacht hatte er in der Menschenmenge gestanden, sein Freund aus Kindertagen. Und jetzt schaute Albert ihm direkt ins Gesicht.

Albert Wilder. Wie er ein Greis. Ein Unternehmer und noch immer der Mann, der mit seinen bald 90 Jahren die Zügel eines großen Zulieferbetriebes für den Automobilbau fest in der Hand hielt.

Levin Goldmann klappte seinen Laptop zu, sein Kaffee war kalt geworden. Seit ewigen Zeiten hatte er nicht mehr an Albert gedacht. Wieso holte ihn dieses Gesicht innerhalb weniger Stunden plötzlich ein?

Die widersprüchlichsten Gefühle ergriffen von Levin Besitz.

Kapitel 1

März 2017

Malie Abendroth war begeistert gewesen, als sie den Auftrag erhalten hatte, einen Teil der Parkanlagen von Schloss Waldesruh zu verändern. Ihre Auftraggeberin, Pauline Klingenberg, wünschte eine behutsame Umgestaltung verschiedener Teile des großen Parks, Sichtachsen sollten wieder entstehen, alte Büsche mussten weichen, neue Pflanzen würden den alten Bestand ergänzen – eine große Herausforderung für Malie. Aber genau das reizte die Gärtnerin, die eigentlich freiberuflich auf der Insel Mainau arbeitete. Zudem konnte sie so vielleicht endlich die schrecklichen Geschehnisse1, die sie im vergangenen Sommer in höchste Gefahr gebracht hatten, verarbeiten. Der Auftrag kam wie gerufen und beinhaltete unter anderem auch das Anlegen eines Obst- und Gemüsegartens, den die Schüler von Schloss Waldesruh zunächst mitbetreuen und später selbstständig bestellen sollten.

Das herrschaftliche Anwesen, erbaut Mitte des 19. Jahrhunderts, diente seit gut fünf Jahren einem privaten Internat als Heimat und befand sich in der Nähe der Gemeinde Storchenfels. Momentan beherbergte das Schloss in seinen Nebengebäuden 80 Jungen im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, und 27 Lehrer bestritten den Unterricht. Geleitet wurde das exklusive Internat von Direktor Doktor Herbert Kanngießer. Hier erhielten die Jungen eine exzellente Ausbildung. Nicht nur in allen gängigen Schulfächern wurde Wert auf ein hohes Niveau der Wissensvermittlung gelegt – allein drei Fremdsprachen standen auf dem Lehrplan –, sondern die Schüler wurden auch sportlich und musisch gefordert und gefördert. Das Sportangebot hätte einem Olympiastützpunkt alle Ehre gemacht. Ein Leichtathletikplatz mit sechs Rundbahnen, eine Schießsportanlage, Reithalle nebst Pferdestall und ein Schwimmbad boten Sportmöglichkeiten, von denen ein normales Gymnasium nur träumen konnte. Im Sommer stand sogar Segeln auf dem Stundenplan. Dafür waren eigens Segeljollen angeschafft worden, die im Sportboothafen Überlingen vertäut lagen.

Schon vergangenen Oktober hatte Malie gemeinsam mit dem Lehrer Malte Jensen und einigen Schülern Beete für Gemüse und Kräuter angelegt, Kompost eingearbeitet und eine Mulchschicht aufgebracht. Malie hatte einen Pflanzplan erstellt und die Jungen über den Nutzen von Mischkulturen aufgeklärt. Welche Gemüse vertragen sich miteinander, und welche Pflanzen sollte man lieber nicht nebeneinander aussäen, welche Sorten entzogen dem Boden viel Stickstoff und welche weniger. Vor allem die jüngeren Schüler waren begeistert gewesen, konnten es jetzt kaum erwarten, das wachsen zu sehen, was sie teils nur als Saatgut kennengelernt hatten. Im Gewächshaus waren mittlerweile verschiedene Gemüsesorten vorgezogen worden, jetzt im Frühjahr war es an der Zeit, sie auszupflanzen.

Malte Jensen war mit dem gleichen Eifer wie seine Schüler an die Vorbereitung der Beete gegangen, und in den letzten Monaten hatte sich Malie Abendroth mit dem jungen Lehrer angefreundet, ihn ab und an zu sich zum Essen eingeladen oder ihn auf einen Kaffee in Konstanz getroffen. Malte Jensen war Ende 20, stammte aus dem hohen Norden der Republik, und so hatten die beiden gleich eine Gemeinsamkeit gefunden, kam Malie doch selbst ursprünglich aus Bremen.

Malte war im ostfriesischen Emden geboren und groß geworden. Seine manchmal etwas hektische Art erinnerte Malie an einen der berühmten Söhne Emdens: Otto Waalkes. Und auch der freche Humor von Malte war ihr gleich aufgefallen. Vielleicht gab es da oben im Norden ja eine Art Witzigkeitsgen.

Gerne wäre Malte im Norden geblieben, aber nach seiner Referendariatszeit hatte er keine Anstellung an einem Gymnasium in Wohnortnähe gefunden. Die Fächerkombination Sport und Biologie war nicht so gefragt, hätte er Physik, Chemie oder Mathe auf Lehramt studiert, wäre es ein Leichtes gewesen, eine Stelle in Norddeutschland zu finden. So war er bei der bundesweiten Stellensuche schließlich auf die Anzeige von Schloss Waldesruh gestoßen. Eigentlich hatte Malte Jensen niemals so weit wegziehen wollen, doch das Angebot war lukrativ gewesen, und ohnehin hatte er keine Wahl gehabt. Also hatte er seinem ostfriesischen Herz einen Stoß gegeben und war an den Bodensee gezogen. Schließlich musste er nicht nur für sich sorgen, sondern auch den Unterhalt für seine fünfjährige Tochter Venja bestreiten. Seine Frau Swantje hatte ihn vor zwei Jahren wegen eines Immobilienmaklers, den sie beide auf der Suche nach einem für sie geeigneten Haus eingeschaltet hatten, verlassen. Nein, nicht wegen eines Maklers, sondern wegen Ludger Hülsebusch, der Swantje und Malte das hübsche Friesenhaus vermittelt hatte. Malte war aus allen Wolken gefallen, als seine Frau ihm eröffnet hatte, dass sie nicht mehr mit ihm leben wollte. Er kannte Swantje noch von der Schule, seine erste und größte Liebe. Und jetzt wohnte Ludger mit Swantje und Venja in ihrem Traumhaus.

Malte vermisste seine kleine Tochter, und wann immer es ihm möglich war, fuhr er nach Emden. Zu Beginn seiner Tätigkeit war es unproblematischer gewesen, die Wochenenden zu nutzen, da er am Freitagmorgen nur zwei Stunden Biologie zu unterrichten gehabt hatte und sich anschließend direkt ins Auto setzen konnte, um die lange Fahrt in den Norden anzutreten. Doch nach Weihnachten hatte Direktor Kanngießer den Lehrplan geändert, und seither begann Maltes Wochenende erst am Freitagnachmittag um 16.00 Uhr, was zur Folge hatte, dass er erst um Mitternacht in Emden ankam. Und das nur, wenn er Glück hatte. Meist war der Wochenendverkehr so dicht, dass es ihm wie eine Ewigkeit erschien, die er auf der Autobahn verbrachte.

Zudem musste er neuerdings jeden zweiten Samstag im Monat für freiwillige Zusatzstunden Sport zur Verfügung stehen. So wurden seine Besuche im hohen Norden immer spärlicher. Seine kleine Tochter wuchs heran, ohne dass er daran teilhaben konnte. An manchen Tagen war er richtig verzweifelt. Hinzu kam noch, dass sich Malte am Internat mehr und mehr unbehaglich fühlte. Er war unglücklich über die strengen Regeln, die dort herrschten, und besaß kaum Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Schlossmauern. Wann hätte er diese bei der immer stärker werdenden Unterrichtslast auch knüpfen sollen?

»Hallo Malte«, begrüßte Malie den jungen Lehrer, als sie früher als vereinbart zum Gewächshaus kam. Noch war keiner der Schüler anwesend – es war noch Mittagspause –, und so konnte Malie etwas mit Jensen plaudern.

»Was treibst du denn hier schon? Keinen Appetit heute? Oder fehlen dir Labskaus oder Kohl und Pinkel auf dem Speiseplan? Wobei, die Saison ist eh zu Ende«, versuchte sie ihn aufzuheitern, denn das traurige Gesicht des hellblonden Lehrers war ihr gleich aufgefallen. Sie betrachtete ihn genauer. Die Hose saß nicht mehr, sondern schlotterte um seine Beine. Malte ging es offensichtlich nicht gut.

Die Miene des jungen Lehrers hellte sich auf, als er die hübsche Gärtnerin sah. Er mochte ihre asiatischen Züge, die sie dem Erbe ihrer thailändischen Mutter verdankte. Zudem war Malie Abendroth eine angenehme Gesprächspartnerin, interessierte sich nahezu für alle Themen, war unkompliziert und von ansteckender Fröhlichkeit. Es würde gut tun, ihr sein schweres Herz auszuschütten.

»Na ja, geht so, weißt du, ich hab echt Sehnsucht nach meiner Kleinen. Ich hab Angst, dass sie sich von mir entfremdet. Zuletzt war ich Anfang Februar dort, und da hatte ich schon so ein komisches Gefühl. Früher kam sie auf mich zugestürzt, warf sich regelrecht in meine Arme. Und jetzt? Sie bleibt vor der Haustür stehen, kommt zögerlich auf mich zu. Will sich noch nicht einmal von mir drücken lassen. Ich habe den starken Verdacht, Swantje manipuliert sie. Eigentlich wollte ich heute Nacht noch nach Emden fahren, aber Swantje hat mir eine SMS geschickt, dass sie mit Venja und Ludger übers Wochenende nach Greetsiel fährt.«

Mitfühlend legte Malie ihm die Hand auf den Arm.

»Das tut mir leid. Komm, wir setzen uns noch ein paar Minuten hin, bis die Jungs kommen.«

Mit einem Kopfnicken wies sie auf die hölzerne Bank, die neben dem Gewächshaus unter einer großen Linde, die gerade den ersten grünen Schimmer der austreibenden Blätter zeigte, stand. Noch bekam die Sonne die Chance, auf die Bank zu scheinen. In ein paar Wochen würde das dichte Blätterdach des Baumes diese Stelle in ein schattiges Sitzplätzchen verwandeln.

»Ich weiß nicht, ob diese Schule die richtige für mich ist«, wechselte Malte plötzlich das Thema.

Irritiert sah Malie ihn an.

»Wieso? Dachte, dir gefällt es hier, und die Bezahlung sei mehr als gut, wie du mir erzählt hast. Hast du Stress?«

Der groß gewachsene Mann musste sich, obwohl er saß, zu Malie hinunterbeugen, die wie ein kleines Mädchen neben ihm wirkte, um ihr seine Bedenken, die sich von Tag zu Tag verstärkten, zuzuraunen.

»Die sind hier, wie soll ich sagen, irgendwie altbacken, altmodisch.« Er machte eine kurze Pause und überlegte. »Nein, das trifft es nicht ganz. Ich weiß gar nicht, wie ich es ausdrücken soll. Fast komm’ ich mir vor, wie in einer alten preußischen Kadettenanstalt. Der Umgang mit den Jungs, eigentlich eine Art Drill, alles eher militärisch angehaucht. Nur als Beispiel, die sagen nicht ›Klasse‹, sondern nennen sie ›Zug‹.«

Er schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Keine Ahnung, es ist ja nur so ein Gefühl. Allein schon die Morgenversammlung. Wie bei der Bundeswehr, wie ein Appell. Die Jungs stehen ganz ruhig da, sollen diszipliniert zuhören und nicht mit der Wimper zucken. Dann wird ihnen und uns Lehrern vom Direktor mitgeteilt, was es an diesem Tag Besonderes gibt. Meist sind es Kleinigkeiten, für die Neunte fällt Geschichte aus, dafür zwei Extra-Englischstunden, die Anmeldefrist für den zusätzlichen Springlehrgang läuft ab, und so weiter. Alles eigentlich ganz normale Sachen, aber die Art und Weise wie das mitgeteilt wird, finde ich ziemlich seltsam.«

Malie fuhr sich mit der rechten Hand durch ihre dichten, kurzen schwarzen Haare.

»So wie du das erzählst, hört sich das echt komisch an. Aber was man so in der Zeitung liest, soll die Ausbildung doch wirklich gut sein. Sogar mehr als das.«

Er neigte den Kopf zur Seite.

»Na ja, die Schüler bekommen hier wirklich eine fundierte Ausbildung. Das stimmt schon. Mir gefällt einfach nicht, wie das hier vonstattengeht. Viel zu streng für meinen Geschmack. Die Kids haben schon ein enormes Lernpensum und kaum freie Zeit. Handy- und Internetnutzung sind abends ab 21.30 Uhr untersagt. Und dann noch morgendliche Spindkontrollen, ob die Wäsche auf Kante gefaltet ist, das Bett ordentlich gemacht, all so ein Zeug eben. Ich sag ja, wie bei der Bundeswehr. Nicht, dass ich dort gewesen bin, aber mein Bruder war einer der Letzten, die noch den Wehrdienst ableisten mussten.«

»So schlimm ist das doch jetzt nicht, wenn die Jungs ein wenig angehalten werden, ordentlich zu sein und sich um ihre Sachen zu kümmern, oder?« Malie runzelte die Stirn.

Verstohlen sah Malte Jensen sich um, räusperte sich, senkte seine Stimme beinahe zu einem Flüstern.

»Das ist längst nicht alles, Malie. Wenn du mich fragst, pflegen die hier rechtes Gedankengut, allein die Ansichten, die manche Schüler haben. Da wird dir echt schlecht. Neulich habe ich in der Bibliothek etwas gesucht und bin dabei zufällig über einige üble Bücher gestolpert. Bücher, die dort nichts zu suchen haben. Und dann, das glaubst du nicht …«

Wieder huschten seine Augen suchend umher, unruhig rutschte er auf der Bank herum.

Forschend betrachtete Malie ihn, jetzt wirkte Malte regelrecht gehetzt.

»Ich hab den Zugang nur zufällig entdeckt«, fuhr er fort. »Durch die Wüste …«

Ein schneller Blick über die Schulter, als befürchte er, hinter dem nächsten Busch verstecke sich ein feindlicher Lauscher.

»Und ich bin sicher, dass die Schwächeren getriezt werden. So richtig«, flüsterte er, sprang plötzlich wieder zu einem neuen Thema. »Dieser Magnus …«

Abrupt unterbrach er sich, als er die zehn Schüler, die zur Gartenarbeit eingeteilt waren, auf sie zukommen sah und stand auf.

»Dann lasst uns mal loslegen«, rief er laut und deutlich.

Malie war ratlos. Ratlos wie der Blick, den der junge Lehrer ihr gegenüber aufgesetzt hatte. Und sie empfand Jensens Verhalten als ziemlich seltsam. Was redete er denn für wirres Zeug durcheinander? Sie beschloss, ihm später weitere Fragen zu stellen. Welche Bücher hatte er gemeint, was verstand Malte unter Triezen? Zug, Kadettenanstalt, was wollte er ihr damit sagen?

»Guten Tag, Frau Abendroth«, klang es fast wie im Chor, als die Schüler sie begrüßten.

Malie war das Frau Abendroth viel zu streng. Doch obwohl sie den Jungs mehrfach das Du angeboten hatte, hielten sie an der förmlichen Begrüßung fest, wahrten Distanz.

»Tag, Jungs. Los geht’s. Alexander«, fragte sie den schlanken, dunkelhaarigen Teenager, »welche Gemüse oder Kräuter würdest du nicht in direkter Nachbarschaft zu Blumenkohl pflanzen?«

Alexander von Langenegg schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln, bevor er antwortete.

»Rote Bete, Erbsen, Schnittlauch und …, ach ja, Knoblauch. Dafür würde ich Bohnenkraut, Dill, Gurken oder Bohnen neben den Blumenkohl setzen.«

Malie nickte anerkennend.

»Sehr gut. Kümmerst du dich dann mit zwei deiner Mitschüler bitte um Blumenkohl, Brokkoli, Spitzkohl und Wirsing? Nimm die Beete A und B, und achte auf genügend Abstand zwischen den Pflanzen«, wies sie ihn an.

Sie verteilte weitere Aufgaben an die Schüler und überließ es Malte Jensen, ihnen zu zeigen, wie man die vorgezogenen Pflanzen behutsam aus ihren Töpfen befreite, ohne die feinen Würzelchen zu verletzen. Schließlich wandte sie sich an Magnus Jäger, der abwartend und betont lässig dastand. Malie mochte den 18-Jährigen nicht sonderlich. Er war noch nie wirklich unhöflich zu ihr gewesen oder hatte sich sonst irgendwie daneben benommen, doch seine teils überhebliche, teils herablassende Art ärgerte sie insgeheim. Und jetzt, nachdem Malte vage angedeutet hatte, dass Magnus möglicherweise andere Schüler drangsalierte, mochte sie ihn noch weniger. Doch sie ließ sich nichts anmerken.

»Magnus, Ihr Job ist das Kräuterhochbeet«, ließ sie ihn wissen.

Magnus Jäger wirkte älter als seine 18 Jahre. Er war groß gewachsen, die blonden Haare raspelkurz geschnitten. Malie wusste von Malte, dass der Schüler die Sportskanone des Internats war, und der einzige Schüler, der darauf bestand, gesiezt zu werden. Malie war es eigentlich egal, wobei sie zugeben musste, dass sie es ein bisschen albern fand. Aber das passte zu seiner ganzen versnobten Art.

»Hendrik«, wandte sie sich an einen schmächtigen 13-Jährigen mit dünnen hellbraunen Haaren, der in der Nähe stand, »du wirst Magnus dabei helfen.«

Der Junge öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, klappte ihn aber wieder zu und nickte ergeben.

Malie drehte sich wieder zu Magnus um.

»Ich nehme an, Sie sind genauso gut vorbereitet wie Ihre Mitschüler und wissen, welche Kräuter man eher nach Norden beziehungsweise Süden ausrichtet, und warum.«

Mit seinen kalten blauen Augen und einem Raubtiergrinsen sah er sie durchdringend an.

»Aber sicher, Frau Abendroth.«

Der muskelbepackte Hüne beugte sich zu ihr hinunter.

»Wobei, jetzt ärgere ich mich, dass ich gelernt habe. Gegen eine private Lehrstunde von Ihnen hätte ich ganz und gar nichts«, raunte er ihr heiser ins Ohr. »Ich komm gern mal zum Nachsitzen zu Ihnen nach Hause«, fügte er anzüglich hinzu.

Malie hätte ihn am liebsten geohrfeigt, beherrschte sich aber.

»Das glaube ich gern, mein Lieber. Das Problem ist nur, ich will mich nicht des Kindesmissbrauchs schuldig machen«, konterte sie mit säuselnder Stimme.

Dem kleinen Hendrik fielen beinahe die Augen aus dem Kopf, als er das hörte er biss sich auf die Lippen, um ein Lachen zu unterdrücken.

Jäger fuhr zurück, als hätte Malie ihn tatsächlich gezüchtigt, bekam vor Zorn einen roten Kopf. Eine passende Erwiderung wollte ihm nicht einfallen, woraufhin er sich abrupt umdrehte und zum Hochbeet stiefelte, wo die Kräutertöpfchen schon bereitstanden. Malie wartete nur darauf, dass Magnus eines davon mit einem Fußtritt in die Luft befördern würde, aber nichts geschah. Hendrik folgte ihm und schenkte Malie im Vorbeigehen ein anerkennendes Augenzwinkern.

Während die Schüler und Jensen ihre Arbeit verrichteten, spazierte Malie durch die Parkanlage, um sich den Detailplanungen der Parkumgestaltung zu widmen. Ihr schwebte neben einem Steingarten unter anderem auch ein Bachlauf vor, der munter über kleine Kaskaden plätschern und schließlich über einen größeren Wasserfall in einen Teich münden sollte. Bewundernd betrachtete sie auf ihrem Rundgang den alten Baumbestand des Parks, der so bleiben sollte, freute sich über knorrige Eichen, majestätische Buchen und ausladende Kastanienbäume. Lediglich einige Ausdünnungen waren hier vorzunehmen, doch das würde sie den Baumkletterern überlassen.

Sie gelangte auf eine große, noch taufeuchte Wiese, blieb stehen und sah sich um. Eine riesige Trauerweide am Rand der Wiese fiel ihr auf, deren lange Zweige sich sanft im Wind wiegten. Ja, das wäre ein guter Platz für den Teich. Vor ihrem inneren Auge erschien ein kleiner klarer See, umgeben von Schilfrohr, Blutweiderich, Sumpfdotter- und Gauklerblumen und Schwertlilien. Die große, alte Trauerweide, deren Zweige dann sachte die Wasseroberfläche berührten, ein hölzerner Steg in der Sonne, der zum Verweilen einlud. Schillernde Libellen und farbenfrohe Schmetterlinge, summende Bienen und Hummeln auf der Suche nach süßem Nektar. Malie konnte das sanfte Rauschen der Kaskaden, die sich über eine Natursteintreppe und schließlich den Wasserfall in den Teich ergossen, förmlich hören, lauschte in Gedanken dem quakenden Konzert der Frösche und Kröten.

Das würde eine echte Herausforderung werden, aber auch verdammt viel Spaß machen. Sie zückte ihr Handy, machte einige Bilder zur Gedächtnisstütze und wandte sich von der Wiese dem Schattenwald zu. Ein stetig ansteigender schmaler Kiespfad schlängelte sich hindurch, der ganz plötzlich eine kahle Anhöhe preisgab. Von hier hatte sie einen guten Ausblick auf das Schloss und seine Nebengebäude. Auf einem Sandplatz neben der Reithalle konnte sie die Pferde sehen, die sich an einer gut gefüllten Heuraufe gütlich taten.

Hier oben könnte der Steingarten entstehen, sinnierte Malie und ließ ihren Blick umherschweifen.

Im Sonnenlicht blitzte etwas auf, blendete sie für einen Moment, sodass sie die Augen zukneifen musste. Ein paar Meter von ihr entfernt lag etwas Glänzendes auf dem Boden. Sie ging hin, bückte sich, um das Ding aufzuheben. Es war eine kreisrunde Anstecknadel aus Blech. Der Hintergrund kobaltblau, darauf die verschlungenen, kupferfarbenen Buchstaben PDW. Darunter der kleine Schriftzug: »Partei der Werte«. Den äußeren Kreis bildeten die Worte: Puristisch. Deutsch. Wertvoll. Angewidert verzog Malie die Lippen. Diese Partei sorgte seit einigen Jahren immer wieder für Schlagzeilen und erfreute sich regen Zulaufs. Vor allem Geringverdiener und sozial benachteiligte Mitbürger unterstützten die PDW, aber auch Bürger mit akademischem Hintergrund wie Rechtsanwälte, Mediziner und Unternehmer hatten sich mittlerweile von den Phrasen beeindrucken lassen.

Sie schob das Blechding in ihre Hosentasche und fragte sich, wer es wohl verloren hatte. Außer dem Lehrpersonal und den Schülern betrat kaum ein Außenstehender das Gelände. Ja, ab und an kamen der eine oder andere Handwerker, und natürlich die Stallburschen, die sich um die Pferde kümmerten. Vielleicht noch die Eltern oder Lieferanten für die Küche. Aber gelangten diese bis auf diese Anhöhe?

Malie erinnerte sich an ihren ersten Besuch auf dem Schloss. Kurz nach dem Ortsschild »Storchenfels« war sie dem kleinen Wegweiser gefolgt, der sie nach zwei Kilometern Fahrt auf einem engen, gewundenen Sträßchen durch ein Waldstück zum Schloss geführt hatte. Zumindest bis zum steinernen Torbogen. Dort war Schluss gewesen. Ein großes Schild ließ jeden Besucher wissen, dass es sich hier um ein Privatgelände handelte. In großen Lettern prangten darauf die Worte:

»Einfahrt verboten! Keine Besichtigung!«

Malie hatte das etwas befremdlich gefunden, aber wahrscheinlich verirrten sich zu viele Touristen vom Bodensee hierher, in dem Glauben, sich ein altehrwürdiges Schloss anschauen zu können.

Sie schoss weitere Fotos und setzte ihren Weg durch den Park fort. Als sie wieder bei Malte Jensen und den Schülern ankam, war sie überrascht, wie weit diese schon mit ihrer Arbeit vorangekommen waren. Von den Beeten drang Magnus Jägers Stimme zu ihr herüber.

»Stell dich nicht so an«, herrschte dieser den jüngeren Hendrik an. »Ein paar Blasen an den Händen sind kein Grund, nicht weiterzuschaufeln. Los jetzt, was, glaubst du, würde dein Vater sagen, wenn er dich so sehen würde? Du alte Heulsuse.«

Malie runzelte die Stirn und ging mit festen Schritten auf die Gruppe zu, um sich schützend vor Hendrik zu stellen, doch Malte kam ihr zuvor.

»Hendrik, du kannst aufhören«, er legte dem Jungen, in dessen Augen Tränen schimmerten, die Hand auf die Schulter.

»Mischen Sie sich nicht ein! Hendrik gehört zu meinem Zug, und ich bestimme, wann er aufhört.«

Nicht nur Jägers Stimme, auch seine ganze Körperhaltung drückten eine Drohung aus.

»Es ist mir egal, Magnus. Wenn Hendrik weiterarbeitet, kann er für nächste Woche die Sportprüfung an den Geräten vergessen. Und da ich nun mal der Sportlehrer bin, und Sie nur ein Schüler sind, sage ich, wann Schluss ist. Ist das klar?«

Jensen straffte die Schultern, seine Lippen bildeten einen harten Strich.

»Leute wie Sie dürften überhaupt keine Lehrer sein. Zumindest nicht hier auf Waldesruh. Wieso unterrichten Sie denn nicht an einer Waldorfschule? Da passen Sie besser hin. Wir sind hier ein Elite-Internat, und Sie sind hier völlig fehl am Platz«, fauchte Jäger.

Bevor Jensen noch eine Antwort geben konnte, mischte sich Malie ein.

»Lass mal sehen, Hendrik«, sie nahm den Jungen an den Handgelenken und drehte seine Handflächen nach oben. Die Blasen waren zum Teil bereits aufgegangen, und die Haut glühte rot von der ungewohnten Arbeit mit der Schaufel. Hendriks Hände mussten höllisch brennen.

»Oh, das sieht aber nicht gut aus. Das muss desinfiziert werden, und dann lässt du dir am besten ein gepolstertes Pflaster draufmachen oder einen Verband anlegen. Melde dich gleich auf eurer Krankenstation. Die nächsten Tage fasst du besser keine Schaufel mehr an«, riet sie ihm.

»Was mischen Sie sich denn in unsere Angelegenheiten?«, fuhr Magnus Jäger sie an.

Malie ließ Hendriks Hände los, klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und beschloss, Jäger zu ignorieren.

»Das habt ihr sehr gut gemacht«, lobte sie die anderen Schüler und drehte Magnus demonstrativ den Rücken zu.

Magnus Jäger platzte beinahe vor Wut. Was bildete sich diese Frau denn ein? Eine Frau! Und dann auch noch eine Halbasiatin! Das war ja wohl der Gipfel. Ihm war sowieso völlig schleierhaft, warum man gerade die da angestellt hatte. Hatte man denn keinen anderen Gärtner gefunden, um die Parkanlagen aufzuhübschen? Dieses ganze zierliche Getue. Was konnte denn da herauskommen? Höchstens ein Bonsaigarten.

Grob packte er Malie an der Schulter, wollte sie zu sich drehen, doch mit dem, was dann folgte, hatte er nicht gerechnet. Malies über Jahre trainierte Reflexe ließen ihren Körper blitzartig reagieren. Sie riss ihren rechten Arm in einer kreisförmigen Bewegung hoch, blockte damit ihren Gegner, um mit der linken Hand sofort unter sein Kinn zu greifen und den Kopf nach hinten zu drücken. Mit der rechten Hand versetzte sie ihm fast zeitgleich einen Schlag, der Magnus zu Boden gehen ließ.

Mit aufgerissenen Augen, aus denen der Hass förmlich sprühte, starrte der junge Mann sie an.

Eine solche Schmach. Diese winzige Frau ließ ihn zu Boden gehen, und das vor all den anderen.

»Ich denke, wir verstehen uns jetzt, Magnus«, sagte Malie und sah auf ihn hinab. »Fassen Sie mich nie wieder an. Nie wieder.«

Die Umstehenden hatten das Geschehen mit ungläubigem Staunen verfolgt. Keiner sagte etwas. Für einen Moment herrschte eine fast gespenstische Stille. Dann rappelte sich Magnus wutentbrannt auf, klopfte sich den Dreck von der Hose.

»Das wird Folgen haben, darauf können Sie sich verlassen«, stieß er schnaubend hervor. »Und Sie«, wandte er sich an Jensen, »wieso sind Sie nicht eingeschritten? Als Lehrer sind Sie dazu verpflichtet, sich vor Ihre Schüler zu stellen.«

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und verließ schnellen Schrittes die kleine Gruppe. Fast wäre er dabei noch über einen Ast gestolpert. Malie sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten.

»Wow«, kommentierte Malte Jensen den Vorfall. »Wo hast du das denn gelernt?«

»Jahrelanges Training«, erwiderte Malie. »Ich befürchte, ich werde mich wohl entschuldigen müssen. Auch wenn es mir schwerfällt, das kannst du mir glauben. Aber schließlich will ich diesen Job behalten.«

»Ach, Magnus regt sich schon wieder ab«, meinte Alexander von Langenegg, »es ist ihm jetzt nur megapeinlich, weil Sie ihn vor aller Augen gedemütigt haben. Sein Motto ist: alle für einen und einer für alle. Wie bei den Musketieren. Deshalb lässt er solche Kleinigkeiten wie Blasen an den Händen auch nicht gelten. Er würde trotzdem weiterschaufeln, weil wir ein Team sind. Magnus ist ein guter Kamerad und Pate. Und ein überaus engagierter Dienstekapitän«, stellte sich der Junge vor seinen Freund.

Malie sah ihn verdutzt an.

»Was meinst du mit ›Pate‹ und ›Dienstekapitän‹?«

»Hier auf Schloss Waldesruh übernehmen ältere Schüler eine Patenschaft für die Jüngeren. Sie geben Nachhilfe, erledigen Stockwerksaufgaben, zeigen damit Verantwortung und soziale Kompetenz, und so weiter«, klärte Malte sie auf.

Statt einer Antwort hob Malie lediglich die Augenbrauen und kräuselte die Lippen, was ihrem Gesicht einen spöttischen Ausdruck verlieh.

»Wie auch immer, wir müssen hier Schluss machen, die Jungs haben noch Unterricht«, beendete Malte das Thema und bedeutete den Schülern, mit ihm zurück zum Schloss zu gehen. Mit einem kurzen Winken in Richtung Malie zog Malte mit seiner kleinen Herde ab.

Nachdenklich blieb Malie alleine zurück. Soziale Kompetenz. Ah ja. Magnus Jäger besaß ihrer Einschätzung nach davon nicht wirklich viel. Sie drückte noch ein wenig Erde um einige der neu gesetzten Pflänzchen fest, dann war es auch für sie Zeit, nach Hause zu fahren. Als sie die Hand in ihre Hosentasche steckte, um den Autoschlüssel hervorzukramen, stießen ihre Finger auf die Anstecknadel, die sie vorhin gefunden hatte. PDW. Puristisch. Deutsch. Wertvoll.

Problematisch. Dogmatisch. Wider den gesunden Menschenverstand. Das würde es besser treffen, ging es ihr spontan durch den Kopf.

 

»In gut zwei Monaten ist Dorffest in Storchenfels, und wir sollen dort Flagge zeigen, uns in irgendeiner Form engagieren«, informierte Magnus Jäger seine Kameraden, denen auch sein Freund Alexander von Langenegg angehörte. »Ich erwarte von euch Vorschläge, was wir vom Internat dazu beitragen können. Es sollten Projekte sein, die längerfristig angelegt sind. Nachhaltigkeit ist unser Stichwort. Alles soweit klar?«

Aufmunternd blickte er in die Runde. Noch immer nagte die Demütigung durch diese Gärtnerin an ihm, ebenso wie die Reaktion dieses dämlichen Lehrers Jensen. Den hatte er von Anfang an gefressen gehabt mit seinem Gerede von Fairness und Toleranz. Allerdings war Magnus insgeheim froh, dass die Jungs den Vorfall nicht weiter kommentiert hatten. Das trauten sie sich sicher auch nicht, kannten sie doch Magnus’ strengen Führungsstil gut genug. Einerseits fürchteten sie ihren Zugführer, andererseits sahen sie zu ihm auf, wollten so sein wie er. Stark, durchtrainiert und völlig angstfrei.

Magnus war der Sohn eines einfachen Bankangestellten, sein Vater hätte das Schulgeld niemals aufbringen können. Doch Magnus’ Onkel, Direktor Kanngießer, hatte seinen Schwager darin bestärkt, Magnus solle sich um ein Stipendium bei der Wilder-Stiftung bewerben. Der Junge hätte das Zeug dazu, einmal ganz nach oben zu kommen. Und dafür war eine elitäre Ausbildung in seinen Augen unerlässlich.

So war es dann auch geschehen. Die Stiftung hatte dem Antrag auf Förderung stattgegeben, und Magnus die Aufnahmekriterien des Internats mit Bravour bestanden. Er erinnerte sich noch zu gern an den Tag der Sportprüfungen der älteren Schüler, als man ihm quasi ein Pferd unter den Hintern geschoben und ihn angewiesen hatte, damit ein Hindernis zu überspringen. Er, der wie so viele seiner Mitschüler noch niemals auf einem Pferd gesessen hatte, hatte keine Sekunde lang gezögert. Das Hindernis war nicht wirklich hoch gewesen, vielleicht gerade mal 60 Zentimeter, aber die Höhe war nicht ausschlaggebend gewesen. Vielmehr der Mut, etwas zu tun, was ein Risiko barg. Drei andere Jungs hatten den Test nicht bestanden, weil sie sich geweigert hatten, in den Sattel zu steigen. Zwei weitere hatten sich verletzt, einer hatte den Arm gebrochen, der andere die Wirbelsäule geprellt, als sie beim Landen des Pferdes heruntergefallen waren. Aber wenigstens hatten die Verletzten Courage gezeigt. Doch er, Magnus, war mit dem Gaul über das Hindernis geflogen.

»Wie wäre es, wenn wir älteren Menschen bei Hausarbeiten oder beim Einkaufen helfen? So vielleicht einen Nachmittag in der Woche, am besten mittwochs, da ist früher Unterrichtsschluss«, schlug Hendrik vor, dessen Handflächen dicke Pflaster zierten.

Magnus zückte einen schwarzen Filzschreiber und notierte den Vorschlag auf einem Flipchart.

»Oder wir bieten kostenlos Nachhilfe an«, lautete Alexanders Vorschlag, »wir sind ja in allen Fächern sozusagen brillant.« Grinsend sah er in die Gesichter der anderen.

»Super Idee«, Magnus schrieb die Anregung auf.

Es folgten noch einige Beiträge, die Magnus auflistete. Mittlerweile redeten alle durcheinander, taten ihre Meinung kund, was sie von dem einen oder anderen Vorschlag hielten. Witze wurden gerissen, als einer meinte, man könnte ja den jungen Damen des Dorfes Nachhilfe beim Baden in Sipplingen geben. Die Jungs grölten. Nur einer wusste nicht, dass es dort einen Nacktbadestrand gab, und musste von Magnus erst eingeweiht werden.

»Wir könnten doch auch ein Fußballspiel mit den Flüchtlingen organisieren«, rief Lennart Kropp plötzlich laut dazwischen.

Alle verstummten und blickten den 13-Jährigen an, als ob er vorgeschlagen hätte, sie sollten mit bloßen Händen Klärschlamm schaufeln.

Magnus fing sich als Erster.

»Nimmst du Drogen? Du weißt, das ist hier verboten«, fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu. Ganz sicher war er sich nicht, ob Lennart einen Witz hatte machen wollen oder ob es dem Jungen ernst war.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Lennart, »ganz ehrlich Leute, das ist doch ’ne gute Idee.« Beifall heischend sah er in die Runde.

Ein ablehnendes Raunen ging durch die Gruppe, Lennart zog den Schwanz ein.

»Na gut, dann eben nicht.«

Lennart war erst nach Weihnachten ans Internat gekommen. Sein Vater war ein reicher Industrieller aus Paderborn, der einen weiteren Standort seiner Firma vor Kurzem in Stuttgart gegründet hatte. Deshalb waren die Kropps in die Landeshauptstadt gezogen, und Lennart hatte vom Paderborner Gymnasium Schloss Neuhaus auf das Elite-Internat in Storchenfels gewechselt. Wirklich eingelebt hatte sich der Junge noch nicht. Schon die Aufnahmeprüfung hatte ihn an seine Grenzen gebracht. Mit Mühe hatte er den Sporttest bestanden, war drei Mal vom Kletterseil abgerutscht, bis er es endlich schweißgebadet bis ganz nach oben geschafft hatte. Er hatte schon mit seinen Eltern über einen weiteren Wechsel an eine Stuttgarter Schule gesprochen, doch deren Meinung war eindeutig:

»Jetzt gib dir doch ein bisschen Zeit. Sei froh, dass du die Chance hast, an einer Eliteschule aufgenommen worden zu sein.«

Später, als sie über die Vorschläge abgestimmt hatten, und es Zeit war, auf die Zimmer zu gehen, hielt Magnus den kleinen Lennart zurück. Ein spontaner Einfall, wie er sich an Jensen rächen konnte, war ihm vorhin gekommen.

»So, ich erklär dir jetzt mal was. Und das nur dieses eine Mal«, er legte seine Hände auf die Schultern des Kleineren, »scheinbar hat man es versäumt, dich mit einigen unserer Spielregeln hier vertraut zu machen. Aber dafür bin ich ja nun da.«

Furchtsam sah Lennart zu ihm auf.

»Wir werden uns aus folgenden Gründen nicht mit Flüchtlingen einlassen, weder Fußball spielen noch irgendwelche anderen Berührungspunkte mit diesen Menschen suchen. Sie bringen Kriminalität in unser Land. Sie handeln mit Drogen, belästigen unsere Frauen und missbrauchen unser Sozialsystem, und sie haben andere Sitten und Gebräuche, die mit unserem Leitbild in keiner Weise konform gehen.«

Lennart runzelte die Stirn. In Paderborn war einer seiner besten Freunde Bakhit aus dem Südsudan gewesen. Auch Bakhits Familie hatte Lennart gemocht.

»Aber, das stimmt so nicht …«, hob er an, um Magnus zu widersprechen.