Frostkalt - Liliane Skalecki - E-Book

Frostkalt E-Book

Liliane Skalecki

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Beschreibung

Am ersten Advent wird in der Krippe am Bremer Dom ein ausgesetztes Baby gefunden, zwei Tage darauf ein Bäcker ermordet. Verdächtige ohne Alibi gibt es zuhauf: der Bruder des Bäckers, der ehemalige Azubi, ein Rosinenlieferant und der Vater, dessen Kind an einem allergischen Schock aufgrund einer Mandelallergie verstorben ist. Nach einer missglückten Erpressung gibt es ein weiteres Mordopfer, und eine junge Frau wird brutal zusammengetreten. Hölzle und Kollegen bekommen alle Hände voll zu tun…

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Biggi Rist / Liliane Skalecki

Frostkalt

Kriminalroman

Zum Buch

Ausgebacken Am ersten Advent wird ein ausgesetztes Baby in der Krippe am Bremer Dom gefunden, zwei Tage später ein Bäcker brutal ermordet. Von der Tatwaffe fehlt jede Spur. Verdächtige gibt es zur Genüge: Der Vater eines Kleinkindes, das an einem allergischen Schock aufgrund einer Mandelallergie verstorben ist, gerät in Hölzles Visier. Auch der Bruder des Bäckers, der im Streit um ein uraltes Backrezept mit diesem lag, der Lieferant, der mit pestizidbelasteten Rosinen handelt und ein entlassener Bäckerlehrling gehören dem Kreis der Verdächtigen an. Alle haben ein Motiv, keiner hat ein Alibi. Wenige Tage nach dem Tod des Bäckers wird eine junge Frau brutal zusammengetreten, und ein weiterer Mord geschieht nach einem misslungenen Erpressungsversuch. Die Obduktion ergibt, beide Opfer wurden mit demselben Messer erstochen. Doch die Suche nach dem Messer gleicht der Suche nach einer Nadel im Heuhaufen. Doch nur die Tatwaffe kann den entscheidenden Hinweis geben …

Biggi Rist, geboren 1964 in Reutlingen. Nach der Ausbildung zur PTA an der Naturwissenschaftlich-technischen Akademie in Isny/Allgäu arbeitete sie in der Labordiagnostik sowie in der Forschung und ist Co-Autorin wissenschaftlicher Publikationen. Zwei Jahre verbrachte sie in Australien, seit 2005 lebt sie in Lilienthal am Rande Bremens.

 

Dr. Liliane Skalecki, geboren 1958 in Saarlouis. Nach einer Banklehre studierte sie Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Vorderasiatische Archäologie an der Universität des Saarlandes. Seit 2001 lebt sie mit ihrer Familie in Bremen. Sie schreibt für die Zeitschrift ›Pferdesport –Bremen‹ und veröffentlichte bisher Fachartikel, Sachbücher und Chroniken. Seit 2012 schreibt sie gemeinsam mit Biggi Rist Kriminalromane für den Gmeiner-Verlag.

www.krimi-bremen.de

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Ausgerottet (2017)

Rabenfraß (2016)

Mordsgrimm (2014)

Rotglut (2013)

Schwanensterben (2012)

Impressum

Eine Person, die in diesem Roman vorkommt, hat zugestimmt, dass sie namentlich genannt wird. Alle weiteren Personen und Handlung sind frei erfunden. Dabei sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © wiw / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5550-6

Widmung

Wie immer für dich, Ralf. Biggi.

Für Georg, Marian, Arlena und Marcel. Liliane

Gedicht

Morgen kommt der Sensenmann,

Kommt mit seinen Klaben.

Backblech, Messer und Gewehr,

Ofen, Schaber und viel mehr.

Ja, ein ganzes Bäckerheer,

Der Tod möcht’s gerne haben.

Morgen kommt der Sensenmann,

Kommt mit seiner Klinge.

Orangeat und Zitronat

und Ammoniumcarbonat,

Mandeln, Zimt und Glutamat,

Lauter schöne Dinge.

Nimm nur reine Zutaten

und gib recht fein Acht:

Mehl, Rosinen, Kardamom,

Mandeln, kein Plutonium.

Backe nur laut Tradition,

Sensenmann wünscht gute Nacht.

Biggi Rist

Zitat

Krankheiten befallen uns nicht aus heiterem Himmel, sondern entwickeln sich aus täglichen Sünden wider die Natur. Wenn sich diese gehäuft haben, brechen sie unversehens hervor.

Hippokrates

 

 

Im Schoß der Familien herrschen oft Mißtrauen, Eifersüchtelei und Abneigungen, während uns ein zufriedenes, einträchtiges und heiteres Äußeres täuscht und einen Frieden vermuten läßt, der gar nicht vorhanden ist.

Jean de La Bruyère

Personen

Heiner Hölzle: Kriminalhauptkommissar in Bremen und Exilschwabe

Harry Schipper: Kriminaloberkommissar und Freund Hölzles

Peter Dahnken: Kriminaloberkommissar und Freund Hölzles

Dr. Sabine

Adler-Petersen: Rechtsmedizinerin in Bremen

Markus Rotenboom: Leiter der Kriminaltechnik

Carl Brodbeck: Betreibt die Traditionsbäckerei seiner Vorfahren

Vanessa Brodbeck: Carls Tochter

Isabell Brodbeck: Carls Ehefrau

Stefan Brodbeck: Carls jüngerer Bruder, ebenfalls gelernter Bäcker mit eigenem Betrieb

Jutta Brodbeck: Stefans Ehefrau

Samir Alavi: Auszubildender bei Carl Brodbeck

Moritz Hildebrandt: Samirs Freund

Fabian Evert: Vanessas Freund

Finja Evert: Fabians jüngere Schwester

Marlena Hagen, Zoe Jensen: Freundinnen von Finja Evert

Bernd und Mareike Uhlig: Eltern eines verstorbenen Kindes

Krischa Köttel: Rosinenlieferant

Christiane Johannsmann: Hölzles Exfreundin

Marthe Johannsmann: Christianes Großtante

Thorben Schmink: Reporter beim Weser-Blitz

Nuray Toprak: Schülerpraktikantin

 

 

Prolog

Maria durch ein Dornwald ging, Kyrie eleison.

Maria durch ein Dornwald ging, der hat in sieben Jahrn kein Laub getragen.

Jesus und Maria

Dass ihr gerade dieses Lied einfiel. Und nicht nur die Melodie spukte in ihrem Kopf herum, sondern auch der Text. Zumindest glaubte sie, dass der Text so lautete. Heiße Tränen strömten über ihr Gesicht. Die Glocken des Bremer Doms schlugen vier Mal. Es war stockfinster, der Wind fegte durch die Stadt. Wann hatte sie das Lied zuletzt gehört? Das musste doch Jahre her sein. Wahrscheinlich in der Kirche, an irgendeinem Adventssonntag. Denn da war sie sich sicher, es war ein Adventslied. Und wie ging es dann weiter? Irgendwas mit Was trug Maria unter ihrem Herzen? Kyrie eleison. Ein kleines Kindlein ohne Schmerzen.

Schmerzen. Sie hatte nicht geahnt, wie groß die Schmerzen sein würden. Nachdem vor Monaten ihre Periode ausgeblieben war, hatte sie zuerst alle möglichen Ausreden für sich gefunden und die wahrscheinlichste Möglichkeit, dass sie schwanger war, einfach negiert. Doch letztendlich hatte sie sich doch einen Schwangerschaftstest gekauft und wenig später heulend im Badezimmer gesessen, als der Test positiv ausgefallen war. Sie erwartete ein Kind. Mit 17. Alle Möglichkeiten hatte sie abgewogen. Es hatte sogar eine Zeit gegeben, in der sie sich auf das Baby gefreut hatte. Als die Schwangerschaft kaum mehr zu verheimlichen war und ihre Freundinnen schon misstrauisch ihren Bauch beäugten, hatte sie endlich den Mut gefunden, ihren Eltern zu beichten, dass sie ein Kind bekommen würde.

Die beiden waren so ahnungslos gewesen. Was sich dann in ihrer Familie abgespielt hatte, kam ihr noch heute vor wie eine Szene aus diesem absurden Theaterstück, das sie im Französischunterricht besprochen hatten. Ihre Mutter, die nicht bemerkt haben wollte, dass ihre Tochter schwanger war, war lautlos weinend am Esstisch zusammengesackt. Und ihr Vater war vollkommen ausgeflippt, hatte den nächstbesten Gegenstand, eine Zuckerdose, an die Wand geworfen. Sein Gesicht war puterrot angelaufen, seine großen Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Als sich seine Gesichtsfarbe normalisiert hatte, hatte er nur wissen wollen, wer der Vater des Babys sei. Vanessa hatte nur stumm vor sich hin gestiert und ihre Mutter lediglich ein wimmerndes ›Oh Gott, oh Gott, Kind wie konntest du uns das nur antun?‹ von sich gegeben.

»Freut ihr euch denn nicht wenigstens ein kleines bisschen?« Zaghaft hob sie den Blick.

Schon nach dem ersten Wort rastete ihr Vater erneut aus.

»Freut, freut, ja hast du sie noch alle? Du gehst noch zur Schule, wie hast du dir das alles vorgestellt? Was sollen denn die Leute sagen? Und glaubst du, deine Mutter hat Zeit, dein Balg aufzuziehen? Denn darauf läuft es doch hinaus, dass wir für das Kind aufkommen und es versorgen. Du bist doch selbst noch ein Kind!«

Ihr Vater atmete tief durch, hielt die Luft kurz an, stieß sie mit aufgeblasenen Wangen hörbar wieder aus. Es schien, als wollte er sich selbst beruhigen.

»Wer ist der Vater? Vanessa, ich frage dich nicht noch einmal. Welcher Hurensohn hat dir das angehängt?«

Die Drohung in seiner Stimme war schlimmer als das Geschrei davor. Sie saß neben ihrer Mutter, wollte nach ihrer Hand greifen. Doch wider Erwarten zog ihre Mutter die Hand heftig zurück, gerade so, als hätte sie sich verbrannt.

»Ihr kennt den Vater«, antwortete Vanessa leise, »Papa, er wird für mich sorgen, glaub es mir. Ganz bestimmt.«

Dann gab sie den Namen preis.

Mit allem hatte sie gerechnet. Mit wütendem Geschrei, Tränen, Sanktionen, irgend so etwas. Aber nicht mit dieser Reaktion. Ihr Vater sprang so heftig auf, dass der Stuhl nach hinten umkippte, und rannte aus dem Zimmer. Ihre Mutter blieb sitzen, brach in hemmungsloses Schluchzen aus, das Gesicht in beide Hände vergraben. Vanessa erkannte, dass es zwecklos war, die Abwesenheit des Vaters zu nutzen, um mit Mama zu reden und sie auf ihre Seite zu ziehen.

Kaum fünf Minuten später tauchte ihr Vater wieder auf, in der Hand eine Tasche, in die er wahllos Kleidungsstücke gestopft hatte. Die Tasche warf er ihr vor die Füße und brüllte sie an.

»Raus! Mach, dass du rauskommst!«

Vanessas Mutter stand auf, stellte sich nun doch schützend vor Vanessa, protestierte leise und mit zitternder Stimme:

»Aber, jetzt beruhige dich doch, wir können über alles …«

Doch ihr Mann schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab, stieß sie zur Seite, packte Vanessa am linken Arm, zog sie vom Stuhl hoch. Er hob die Tasche mit der anderen Hand auf, bugsierte seine Tochter vor sich her, riss die Tür zum Flur auf und gab Vanessa einen so heftigen Stoß, dass sie ins Stolpern geriet. Dann schmiss er ihr die Tasche hinterher, die vor der Haustür zu liegen kam.

Plötzlich schienen sein Zorn und damit auch seine Energie verbraucht, er drehte sich um und stapfte die Treppe hinauf ins Obergeschoss. Ihre Mutter, die in den Flur gekommen war, warf Vanessa nur einen ängstlichen, verstörten Blick zu. Unschlüssig stand sie da, sah die Treppe hinauf und schaute zu ihrer Tochter. Dann traf Vanessas Mutter eine Entscheidung und ging ihrem Mann hinterher. Vanessa hob die Tasche auf, blieb noch eine Sekunde stehen, hörte einen markerschütternden Schrei, der aus der Kehle ihres Vaters stammte, und das Heulen ihrer Mutter.

Nach dem Rauswurf war sie auf direktem Weg zu Samir gegangen, um bei ihm unterzukriechen. Schließlich war er der Vater des Kindes. Glaubte sie jedenfalls. Doch noch vor seiner Haustür war ihr klar geworden, dass dies keine gute Idee sein würde. Er wohnte noch zu Hause, und seine Eltern verhielten sich ihr gegenüber, seitdem sie wussten, mit wem ihr Sohn befreundet war, sehr reserviert. Ja, sie begegneten ihr beinahe feindselig. Es blieben ihr keine großen Alternativen. Sie schlug den Weg zu Fabians Zuhause ein. Nach 100 Metern kehrte sie um. Sie musste es Samir sagen. Schließlich stand sie zum zweiten Mal vor der Haustür, nahm all ihren Mut zusammen und drückte auf den Klingelknopf.

Nur zehn Minuten später fand sie sich auf der Straße wieder, wütend, enttäuscht, traurig und unglücklich. Was hatte sie denn erwartet? Dass der Iraner einen Ring aus der Tasche zog und sie vom Fleck weg heiraten wollte? Mit durcheinanderwirbelnden Gedanken machte sie sich auf den Weg zu Fabian. Es war mehr als überfällig, reinen Tisch zu machen.

Seit zwei Jahren war sie mit Fabian Evert zusammen, und eigentlich hätte sie ihm schon längst reinen Wein einschenken sollen. Dass es neben ihm seit geraumer Zeit einen anderen jungen Mann gab. Seitdem das mit Samir passiert war, war sie hin- und hergerissen. Samirs sanfte Art, seine dunkelbraunen Augen, die, sobald er sie anblickte, so rührend schimmerten. Auf der anderen Seite Fabian. So intelligent und geradeheraus. Ein Kumpel, mit dem sie glaubte, durch dick und dünn gehen zu können. In seiner Familie herrschte immer eine fröhliche Stimmung, seine Eltern ließen ihn gewähren, behandelten Vanessa fast wie ihre eigene Tochter. Nur Finja, Fabians jüngere Schwester, machte aus ihrer Eifersucht keinen Hehl, seitdem Fabian mehr seiner raren Zeit mit seiner Freundin verbrachte als mit ihr. In den letzten Wochen hatte sich Vanessa etwas von Fabian zurückgezogen und sich mehr dem Zusammensein mit Samir gewidmet. Sie hatte gespürt, wie unglücklich Fabian darüber war, dass sie sich weniger trafen. Doch sie hatte ihn immer wieder beruhigt, sie habe ihn doch lieb. Was ja auch stimmte. Nur das Problem war, dass sie Samir auch liebte. Vanessa hätte sich nie vorstellen können, dass so etwas möglich wäre. So einen Zustand gab es nur in Filmen, eine Frau, die zwischen zwei Männern stand und für beide dasselbe Gefühl hegte. Sie hatte einfach keine Entscheidung treffen können. Und nun blieb ihr gar nichts anderes mehr übrig. Was für ein Dilemma! Nun musste sie sich gezwungenermaßen entscheiden. Es half nichts. Das Dumme war, dass jetzt wirklich der ungünstigste Zeitpunkt dafür war, Fabian alles zu beichten. Vanessa wusste sich im Augenblick keinen anderen Rat.

Auch vor Fabians Haustür blieb sie einen Moment zögernd stehen. Wie würde Fabian reagieren?

Das große, weiß geklinkerte Haus sah einladend wie immer aus. Die Eingangstür flankierten zwei schlanke hohe, zu einer Spirale geschnittene Buchsbäume. Als Fabian die Tür öffnete, zog er sie sofort in seine Arme, strahlte über das ganze Gesicht. Vanessa presste ihr Gesicht an seine Brust, sie war kurz davor in Tränen auszubrechen. Ein kleiner Schluchzer entrang sich ihrer Kehle. Fabian schob sie ein Stück von sich weg und sah sie ernst an. Wie unglücklich Vanessa aussah.

»Komm rein. Was ist denn passiert?«

Er zog sie in die geräumige Eingangshalle und griff nach Vanessas Reisetasche. Er warf einen fragenden Blick darauf, doch Vanessa schüttelte nur stumm den Kopf. Dann gingen die beiden nach oben, wo Fabian eine eigene kleine Dachgeschosswohnung hatte, und setzten sich aufs Bett. Unruhig rutschte Vanessa hin und her. Dann packte sie entschlossen Fabians Hände und schaute ihm direkt ins Gesicht.

»Ich … ich bin schwanger«, flüsterte Vanessa.

Fabian starrte sie an, blieb sprachlos.

»Sag doch was«, bat sie ihn. Verzweiflung mischte sich in ihre Stimme.

Er schluckte hart, sein Adamsapfel trat deutlich hervor.

»Ich versteh nicht richtig. Du bist schwanger? Aber, wie kann denn so etwas möglich sein, du nimmst doch die …«

Dann fiel ihm ein, dass Vanessa schon vor längerer Zeit erwähnt hatte, sie vertrage die Pille nicht, sie bekäme Kopfschmerzen davon. Aber sie hatte nicht gesagt, dass sie sie abgesetzt hatte. Oder doch? Nein, sicher nicht. Sie hatten einfach nicht weiter über Verhütung gesprochen. Er war wohl insgeheim davon ausgegangen, dass sie die Pille trotzdem einnahm. Zumindest hatte sie nicht von ihm verlangt, ein Kondom zu benutzen.

»Nein. Schon länger nicht mehr«, gestand sie. Sie wurde rot. Keinen Moment hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, was dies für Konsequenzen haben könnte, weder für sich noch für Fabian oder Samir. Und schon gar nicht für den Rest der betroffenen Familien. Hatte einfach gehofft, dass es gutgehen würde und täglich ihre Körpertemperatur gemessen.

»Bist du jetzt völlig durchgeknallt? Und jetzt?«

Fabians Stimme klang brüchig. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit dieser Beichte. Er rückte ein Stück von ihr weg und schaute sie ausdrucklos an.

»Mein Vater hat mich rausgeschmissen. Er will nichts davon wissen. Und meine Mutter …, sie steht voll hinter ihm. Kann ich vielleicht bei euch …«, sie brachte den Satz nicht zu Ende.

Fabian war entsetzt. Vanessas Vater war zwar streng, er hatte immer über den Umgang seiner Tochter gewacht. Gegen Fabian hatte er nichts einzuwenden gehabt, hatte sich immer gefreut, wenn Fabian aufgetaucht war. Sie beide hatten sich gut verstanden. Er hatte ihm uneingeschränkt vertraut. Hatte sogar einmal in einer bierseligen Laune gesagt, so könne er sich seinen zukünftigen Schwiegersohn vorstellen. Die Schwangerschaft konnte also nicht der alleinige Grund für den Rausschmiss sein.

»Wir haben uns nicht mehr so oft gesehen in der letzten Zeit«, sagte er dann langsam. In seinen Augen glomm Misstrauen auf. »Willst du mir nicht vielleicht noch etwas sagen?«

Vanessa überlegte fieberhaft. Sollte sie Fabian in dem Glauben lassen, er wäre der Vater? Das wäre bestimmt der einfachste Weg. Fürs Erste. Schließlich war es ja auch nicht auszuschließen. Doch wie lange konnte sie noch mit den Lügen leben?

»Fabian bitte, ich weiß, ich hab mich dir gegenüber nicht okay verhalten, aber du bist der Einzige, der …«

Ihre Augen flehten ihn an.

Nicht okay verhalten. Was sollte das denn bedeuten? Nur, weil sie sich in letzter Zeit weniger gesehen hatten? Sie hatten doch beide im Moment viel um die Ohren, er mit dem Studium, sie stand kurz vor dem Abi. Da war es doch normal, wenn man nicht den ganzen Tag aufeinanderhockte. Prüfend ließ Fabian seinen Blick über Vanessas bleiches Gesicht gleiten. Sie schämte sich für etwas. Fabian dämmerte allmählich, was Vanessa ihm zu verstehen geben wollte. Es gab noch einen anderen in ihrem Leben.

»Es gibt jemand anderen, stimmt’s? Und das Kind ist von ihm«, seine Stimmte klang nüchtern.

Ihr Blick sagte alles.

Fabians Gesicht verwandelte sich in eine arrogante Miene, das Misstrauen war aus seinen Augen verschwunden. Stattdessen drückten sie jetzt Härte aus, keine Spur von Mitleid. Die Erkenntnis, dass Vanessa ihn mit einem anderen betrogen hatte, war wie ein Schlag in die Magengrube, und sein Herz hatte sich in Sekundenschnelle in einen Eisblock verwandelt.

»Sieh zu, wie du alleine aus diesem Schlammassel rauskommst. Ich fass es nicht. Wolltest du mir ein Kind anhängen, das gar nicht von mir ist? Wer ist er? Los, sag schon!«

Fabian hob die linke Hand zur Faust geballt, Vanessa zuckte zusammen, und er ließ sie kraftlos wieder sinken.

Vanessa traten die Tränen in die Augen.

»Es tut mir so leid, Fabi. Ich wollte das alles nicht. Es ist einfach passiert. Und ehrlich gesagt, ich weiß nicht, ob es von dir ist oder von …«, sie stoppte, holte tief Luft, »… Samir.« Den Namen flüsterte sie nur.

Fabian war bis ins Innerste erschüttert. Er empfand körperliche Schmerzen nach dieser Offenbarung, die schlimmer waren als die Muskelfaserrisse, die er sich bisher beim Tennis zugezogen hatte. Doch trotzdem rührte es ihn, wie sie auf seinem Bett saß, in sich zusammengesunken, mit bleichem Gesicht und mit von Tränen geröteten Augen. Fast hätte er sie in seine Arme genommen und getröstet, doch alles was er hervorbrachte, war: »Ich bring dich raus.«

Bis zum Tor begleitete er sie, trug ihre Tasche, hielt jedoch einen Meter Abstand von ihr.

»Wann kommt das Baby denn? Hast du genug Geld?«

Für einen Moment schöpfte Vanessa die Hoffnung, er würde ihr verzeihen, ihr anbieten, bei ihm bleiben zu können. Doch seine Miene und seine Körperhaltung drückten etwas anderes aus. Sie biss die Zähne zusammen, drückte den Rücken durch.

»Ich komm schon klar.«

Dann ließ sie ihn stehen und verschwand hocherhobenen Hauptes.

Vanessa ging mit schweren Schritten zur nächsten Haltestelle. Die Tasche wurde ihr eine Last, obwohl nur ein paar Kleidungsstücke darin waren. Sie stieg in die Straßenbahn, fuhr müde und erschöpft zurück in die Innenstadt. Einem mitleidigen Blick einer älteren Frau wich sie aus. Sie war nun auf sich alleine gestellt. Auf der Bank hatte sie etwas Geld, das sie zu ihrer Konfirmation bekommen hatte. Ursprünglich war es für einen kleinen Gebrauchtwagen gedacht, den sie sich anschaffen wollte, wenn sie den Führerschein in der Tasche hatte. Jetzt brauchte sie bald einen kleinen Wagen, aber nicht den, den sie sich vorgestellt hatte. Hoffentlich käme ihr Vater nicht auf die Idee, das Konto zu sperren. Nein, soweit würde er bestimmt nicht gehen. Außerdem würde sie in drei Wochen 18 werden, dann konnte sie machen, was sie wollte. Nachdem sie fürs Erste ein paar Hundert Euro abgehoben hatte, suchte sie das nächstbeste Café auf, um in Ruhe bei einem Latte macchiato über den nächsten Schritt nachzudenken.

Gab es nicht diese Mutter-Kind-Häuser, in denen man auf die Geburt des Kindes warten konnte, dort betreut wurde und vielleicht sein Kind zur Adoption freigeben konnte? Sie hatte davon gehört, dass es solche Heime gab. Vielleicht wäre dies eine Lösung. Nur, musste sie dann die Schule abbrechen? Irgendjemand musste das doch bezahlen. Vanessa wollte gerade ihr Smartphone herausholen, um mehr über diese Heime herauszufinden, als ihr das Schicksal in Gestalt einer jungen Frau zu Hilfe eilte.

»Das kann doch wohl nicht wahr sein, wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen?«

Die Bedienung, die an ihren Tisch gekommen war, um die Bestellung aufzunehmen, umarmte sie freudestrahlend.

Lea. Lea, die vor einem Jahr die Schule geschmissen hatte. Von der Vanessa gedacht hatte, Lea sei auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Lea, die von einer Karriere als Sängerin geträumt hatte und für die London das große Ziel gewesen war. In der Schule hatten sie einen sehr freundschaftlichen, aber keinen wirklich engen Kontakt gehabt. Lea war drei Jahre älter als Vanessa, war spät eingeschult worden und hatte in der achten Klasse eine Ehrenrunde gedreht.

Die beiden jungen Frauen wechselten einige Sätze, und Vanessa entging Leas wissender Blick nicht, den diese auf die kleine Wölbung ihrer Körpermitte warf. Eins und eins zusammenzuzählen war nicht schwer.

»Probleme?«

Damals war sie in der 20. Schwangerschaftswoche gewesen und bei Lea hängengeblieben. Diese jobbte im Café und sang abends in einer Band, die bald ganz groß rauskommen würde. Lea hatte Vanessa ein kleines Zimmer abgetreten, verlangte gerade so viel Geld als Zuschuss, wie die junge Schwangere aufbringen konnte.

Drei Wochen nach ihrem Einzug in Leas Wohnung war Vanessa ihrer Mutter zufällig in der Stadt über den Weg gelaufen. Sie hatte vorgeschlagen, sich kurz auf eine Tasse Kaffee hinzusetzen, doch Vanessa hatte abgelehnt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, ihrer Mutter gegenüberzustehen und sich so wenig zu sagen zu haben. Sie hatte wissen wollen, ob es ihr gut ginge und gesagt, dass der Vater das Thema ihrer Schwangerschaft mied wie der Teufel das Weihwasser. Kein Wort verlöre er über Vanessa. Ihre Mutter hatte sie hilflos umarmt und war dann in die andere Richtung gegangen.

Seitdem ging jede Woche eine Bareinzahlung von 100 Euro auf ihrem Konto ein. Ihre Mutter musste das Geld irgendwie vom Haushaltsgeld abknapsen oder vielleicht sogar aus der Kasse nehmen. Vanessa war klar, dass ihre Mutter mit der Angst lebte, ihr Vater könnte dies herausfinden. Natürlich konnte sie das Geld gebrauchen. Doch den persönlichen Kontakt zu ihrer Mutter mied sie, Vanessa legte keinen Wert auf ein weiteres Treffen mit ihr. Ihre Mutter glaubte wohl, ihre Schuldgefühle mit Geld wettmachen zu können. Ihr wäre es lieber gewesen, siehätte sich endlich einmal gegen den Vater durchgesetzt und zu ihr gestanden. So hatte sie kurz nach dem ersten Kontoeingang ihre Handynummer geändert und war somit nicht mehr für ihre Mutter erreichbar. Das Geld würde sie ihr irgendwann mit Zinsen zurückzahlen. Nichts wollte sie ihrer Mutter schuldig bleiben.

Lea war ihr Rettungsanker gewesen. Vanessa kam gut zurecht, kochte für sie beide, wenn es bei Lea beruflich turbulent zuging. Ihre Schwangerschaft verlief ohne Probleme. Gott sei Dank. Ihre Frauenärztin hatte sie erst gar nicht aufgesucht. Sie war über ihren Vater krankenversichert, und es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dies zu beanspruchen und damit über einen Umweg auf die Hilfe ihres Vaters angewiesen zu sein. Über eine Aufnahme in einem der Frauenhäuser hatte sie nicht weiter nachgedacht. Sollte medizinische Hilfe unbedingtnotwendig werden, könnte sie immer noch diese Möglichkeit überdenken.

Dann kam der Anruf aus München. Lea sollte zu Probeaufnahmen in die bayrische Landeshauptstadt kommen. Ein Musikscout hatte die Band gehört und war von Leas Stimme begeistert gewesen. Und dies kurz vor dem Geburtstermin. Lea hatte ihr das Versprechen abgerungen, keine Dummheiten zu machen. Wenn es soweit wäre, solle sie ein Krankenhaus aufsuchen. Alles würde sich finden, sie wäre ja bald aus München zurück. Zwei Tage später hatte Lea angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie doch noch länger bleiben würde, sie hätte bei den Aufnahmen einen total coolen Typen kennengelernt.

Nie hatte sich Vanessa einsamer gefühlt als an dem Tag, als Lea sie umarmt und sich auf den Weg nach München gemacht hatte. Ein Krankenhaus. Die wollten doch erst mal eine Versichertenkarte sehen. Nein, sie würde das Kind alleine zur Welt bringen. So schlimm konnte das nun nicht sein, früher hatte es ja auch keine Krankenhäuser gegeben.

Gestern Abend war es plötzlich losgegangen, und sie hatte entsetzt feststellen müssen, wie naiv sie doch war. Vanessa hatte nicht geahnt, keine Vorstellung gehabt, was auf sie zukommen würde. Glaubte bei jeder Wehe, sie müsse sterben. Diese Schmerzen! Die Wehen kamen in immer kürzeren Abständen. Sollte sie doch in ein Krankenhaus? Dazu war es zu spät, sie würde es so nicht einmal die Treppen hinunterschaffen.

In den frühen Morgenstunden kam das Baby zur Welt. Ein Mädchen. Irgendwie hatte sie es geschafft, die Nabelschnur zu durchtrennen. Vanessa war völlig erschöpft, fühlte sich leer, war zu keiner Emotion fähig, als sie das Baby betrachtete. Das Kind, das sie unter so unsäglichen Schmerzen auf die Welt gebracht hatte, war ihr fremd. In diesem Augenblick traf sie eine Entscheidung.

Sie wusch das Neugeborene, wickelte es in eine Windel und zog ihm einen dunkelblauen Strampelanzug an. Dann duschte sie schnell, schlüpfte in warme Sachen, verbarg ihre nassen blonden Haare unter einer Wollmütze. Das Baby stopfte sie in eine warme dunkelrote Jacke mit Teddyfutter, den kleinen Kopf schützte sie mit einer weichenMütze, die ein wenig zu groß war. Schließlich steckte sie ihr Kind in den bunten Babyschlafsack, den sie vor zwei Wochen bei einem Billigkaufhaus erstanden hatte. Noch eine mollige Decke um das ganze Bündel herum, damit die Kleine nicht auskühlte, und sie konnte los.

Leas Wohnung befand sich im fünften Stock. Am Ende der Treppe musste Vanessa sich zwar für einen Moment ausruhen, doch der Weg von hier bis zum Dom war nicht weit, das würde sie schaffen. Gott sei Dank war es für diese Jahreszeit eine erstaunlich milde Nacht. Sie begegnete kaum jemandem, und als sie zum Dom kam, war niemand zu sehen. Das Neugeborene, das sich nicht rührte und keinen Ton von sich gab, legte die frisch gebackene Mutter in die Krippe an der Ecke des Doms, die mit ihren lebensgroßen Figuren ein Anziehungspunkt während des Weihnachtsmarktes war. Ohne sich noch einmal umzudrehen, lief sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Sie merkte kaum, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Doch ihr Herz schmerzte, als wolle es jeden Augenblick zerspringen.

Kapitel 1

Gerade wollte Hölzle die Tasse zum Mund führen, als er von hinten einen kräftigen Schlag auf die Schulter erhielt und so den Großteil seines Glühweins verschüttete. Das heiße Getränk verbrannte ihm die Finger.

»Au, verdammt! Mensch Harry, du Depp, geht’s noch?«, fluchte Hölzle verärgert, als er sich umdrehte. »Jetzt grins nicht noch so saudumm!«

»Upps, tut mir leid, das wollte ich nicht. Na ja, du lebst ja noch. Ist von den anderen keiner da?«

Harry stellte sich neben Hölzle an den kleinen runden Stehtisch und schlug den Kragen seiner Jacke hoch.

»Siehst du hier sonst jemand? Du kannst manchmal echt blöd fragen«, brummte Hölzle und stellte seinen Becher ab.

Aus der Hosentasche seiner Jeans zog er ein Päckchen Papiertaschentücher, zog ein Tuch heraus und wischte sich den Glühwein von den Fingern. Der Glühwein war ordentlich gesüßt, denn nun waren seine Finger zwar trocken, aber klebrig.

»Ich hol mir auch was zu trinken«, verkündete Harry.

»Dann bring mir gleich noch einen mit«, orderte Hölzle und zeigte auf seinen fast leeren Becher. »Der geht aber auf deine Rechnung.«

Wenige Minuten später kam Harry mit zwei dampfenden roten Keramikstiefeln zurück, stellte einen davon vor Hölzle hin, der mittlerweile den kläglichen Rest ausgetrunken hatte. Sie stießen an.

»Und, fährst du nun an Weihnachten zu deiner Schwester nach Straßburg?«, wollte Harry wissen.

»Ich denke schon. Muss noch einen Zug buchen.«

»Na, dann sieh zu. An Weihnachten sind die Züge rappelvoll«, erinnerte Harry seinen Freund.

»Ja, ja, ich weiß. Sonst fahr ich eben mit dem Auto, es wird ja wahrscheinlich keinen Schnee geben. Wie fast jedes Jahr. Wahrscheinlich können wir an Weihnachten im Biergarten sitzen.«

Sie betrachteten das bunte Treiben auf dem Bremer Markplatz. Heute war das erste Weihnachtsmarktwochenende, morgen war der erste Advent. Jede Menge Leute drängten sich durch das Gewühl, manche schoben einen Kinderwagen vor sich her oder hatten einen Hund an der Leine. Hölzle konnte es nicht verstehen. Wozu musste man denn seinen Hund mitnehmen? Die armen Tiere. Die kleinen Hunde mussten doch fürchten getreten zu werden, und die Kinder in ihren Wagen sahen nur Beine, Hintern und sonst nichts. Die Schlangen an den Glühweinständen und Bratwurstbuden wurden immer länger, und Hölzle hatte den Eindruck, babylonisches Sprachgewirr umschwirre seine Ohren. Skandinavische Sätze, Englisch, Holländisch, von überall waren Touristen angereist, um den prächtigen Weihnachtsmarkt zu besuchen. Ein Stand hatte es dem Schwaben besonders angetan: die Bude mit der Holzkunst aus dem Erzgebirge. Als er die riesige Weihnachtspyramide entdeckt hatte, hatte er spontan entschlossen, sie zu kaufen. Nicht heute, nicht wenn die ganze Mannschaft dabei wäre. Vor nicht allzu langer Zeit hatte der Kriminalhauptkommissar seine Musikbox den Neffen in Straßburg vermacht. Sie war gefüllt gewesen mit den Singles der Flippers. Er hatte das gute Stück von seinem Vater geerbt und sie an die nachfolgende Generation weitergegeben. Eine Weihnachtspyramide war eine der letzten Erinnerungen an seinen Vater, der, wie er, im Polizeidienst gewesen war. Es war ein Ritual gewesen, wenn er zusammen mit ihm die Pyramide vom Dachboden geholt und zusammengesetzt hatte. Und nun hatte er eine ähnliche, nur noch bunter und mit etwas größeren Figuren, die sich durch die von den Kerzenflammen ermunterten Flügel drehten, an eben diesem Stand entdeckt. Wahrscheinlich hatte seine Schwester Babsi die alte Familienpyramide in der Nähe des Weihnachtsbaumes stehen.

Heiner Hölzle liebte den Bremer Weihnachtsmarkt, der zu den größten und schönsten in Deutschland gehörte. Er teilte dieses Vergnügen mit mehr als zwei Millionen Besuchern aus aller Welt, die in der Adventszeit nach Bremen kamen und sich an den vielen Ständen, die rund um das Rathaus, auf dem Marktplatz, am Dom, vor der Liebfrauenkirche und einem Teil der Obern­straße aufgebaut sind, gütlich tun. Mit den Jahren war der Markt immer weiter ausgedehnt worden, und Buden standen mittlerweile auch auf dem Ansgarikirchhof und dem Hanseatenhof. Etwas ganz Besonderes war der Schlachtezauber entlang der Weser, an deren Kaje historische Schiffe vor Anker liegen. Seit 2004 standen während der Adventswochen an der Schlachte Buden in mittelalterlichem Ambiente, beleuchtet von eisblauem Licht. In den liebevoll gestalteten Holzhütten wird Kunsthandwerk für jeden Geschmack angeboten, und man kann dabei zuschauen, wie historisch gewandete Handwerker nach mittelalterlicher Tradition arbeiten, oder man kann den Klängen von Musikanten lauschen, die nach mittelalterlicher Manier aufspielen. In die Nasen der Besucher steigen die appetitanregenden Düfte von geräuchertem Fisch, Met, Fruchtwein und vielem mehr.

»Da kommt der Rest«, Harry deutete mit seinem Stiefel in Richtung Schütting, Sitz der Bremer Handelskammer, als er den blonden Schopf von Dr. Sabine Adler-Petersen entdeckte. Begleitet wurde die Rechtsmedizinerin von Markus Rotenboom, dem Leiter der Spurensicherung und von Kriminaloberkommissar Peter Dahnken, der seine Freundin, die Kriminalbiologin Dr. Sina Leuchtenberg, untergehakt hatte.

»Pünktlich wie die Maurer«, spöttelte Hölzle mit einem demonstrativen Blick auf seine Armbanduhr, als die Gruppe sich an den kleinen Tisch zwängte.

»Wir sind noch im akademischen Viertel«, konterte Sabine. »Wollen wir hier bleiben oder runter an die Schlachte?«

»Sag doch gleich, dass du an die Schlachte willst«, neckte Rotenboom. »Aber von mir aus gerne.«

Die übrigen stimmten zu, Hölzle und Harry leerten ihre Becher, gaben sie am Stand ab, um das Pfand zurückzubekommen. Vom Marktplatz bis zur Schlachte brauchte man zu Fuß unter normalen Umständen fünf Minuten, doch heute dauerte es wesentlich länger. Es war kaum ein Durchkommen, und nur mit Mühe quetschten sie sich durch die Menschenmenge.

»Können wir endlich mal was essen? Ich hatte seit heute Morgen nichts mehr«, jammerte Harry.

»Bin dabei. Elchbratwurst?«, schlug Hölzle vor.

»Auf jeden Fall«, bekräftigten Markus Rotenboom und Peter Dahnken den Vorschlag einstimmig.

»Und was wünschen die Damen?«, fragte Harry.

»Flambierten Lachs«, kam es wie aus der Pistole geschossen von Sina.

»Oh ja, gute Idee«, freute sich Sabine und zerrte die Biologin am Jackenärmel weiter, »wir sind dann mal weg.«

Und flugs waren die beiden Frauen im Gedränge verschwunden.

Die Männer sahen sich an, verdrehten die Augen.

»Die kommen so schnell nicht wieder«, stellte Peter fest, »Sina bleibt garantiert an jedem Stand hängen, vor allem an denen, die Silberschmuck im Angebot haben.«

»Lass sie doch, wir ziehen uns zuerst ’ne Bratwurst rein und zum Nachtisch heiße Waffeln vom Mokkastand«, Hölzle lief das Wasser im Mund zusammen.

Nachdem sie ihre Elchbratwurst vertilgt und die Waffeln hinterhergeschoben hatten, spülten sie mit einem Becher Drachenglut nach. Ein Gaukler schlug sie in seinen Bann, der mit atemberaubender Geschwindigkeit mit brennenden Fackeln hantierte.

»Jetzt sind wir ja unter uns«, begann Markus zögernd und warf Peter und Harry je einen kurzen Blick zu.

Aha, die hend sich wohl abgschprocha, dass der Markus mi was frage soll. Do ben i jetzt mol gschpannt, dachte Hölzle belustigt, dem der Blickwechsel nicht entgangen war. Das Drachenblut, ein heißer Holunderbeeren-Kirschwein, entfaltete allmählich seine Wirkung. Nach den zwei Bechern Glühwein, die Hölzle zuvor getrunken hatte, war er nun leicht angesäuselt. Na ja, eigentlich waren es nur anderthalb gewesen, die Hälfte des einen Bechers hatte er dank Harry verschüttet.

»Seid ihr eigentlich zusammen, du und der Adlerblick?«, rückte Markus schließlich mit der Sprache heraus.

»Frag Sabine«, antwortete Hölzle mit einem Augenzwinkern.

»Mann, jetzt sag schon«, Harry versetzte Hölzle mit dem Ellbogen einen leichten Rippenstoß.

»Nicht so neugierig. Nee, Jungs, mal im Ernst, Sabine und ich …«

»Was ist mit mir?«

Plötzlich standen Sabine und Sina wie aus dem Boden gestampft neben den vier Männern.

»Ähm, nichts weiter, es ging nur um den Harzer Fall«, wich Hölzle aus.

»So, so.« Sabine setzte eine skeptische Miene auf. »Worum ging es genau?«

»Um euch zwei. Du weißt schon …«, stotterte Markus.

»Haha, die Männer sprachen offenbar über die rotweinlastige Nacht«, lachte Sina, »stimmt’s oder hab ich recht, Peter?«

Die Kriminalbiologin grinste verschwörerisch.

»Kein Kommentar«, Sabine lächelte verschmitzt.

»Guck mal, was ich mir gekauft hab«, wechselte Sina schnell das Thema und schob den linken Ärmel ihrer weinroten Jacke hoch. »Ist der nicht klasse?«

Um ihr Handgelenk schlang sich ein dicker Armreif aus gehämmertem Silber, verziert mit feinen Ornamenten.

»Sabine hat sich ein Amulett gekauft. Los, lass die anderen mal sehen«, forderte Sina die Rechtsmedizinerin auf.

Sabine öffnete ihren dunkelgrauen Wollmantel, lockerte das knallbunte Tuch um ihren Hals und ließ die Männer einen Blick auf ihren Neuerwerb werfen. Ein runder Anhänger aus poliertem schwarzem Horn baumelte an einem dünnen schwarzen Lederriemen um ihren Hals.

»Und was bedeutet das?«, wollte Hölzle wissen und deutete auf die eingravierten Runen.

»Was weiß ich, ist mir auch egal, sieht jedenfalls gut aus, oder?«

»Ja, ganz hübsch«, kommentierte Hölzle zurückhaltend und konnte nicht glauben, dass sich Sabine nicht nach der Bedeutung der altertümlichen Zeichen erkundigt hatte.

Bevor Sabine eine passende Antwort geben konnte, fragte Harry in die Runde: »Wollen wir noch auf einen Absacker irgendwohin, wo wir uns hinsetzen können?«

»Ja, die Frage ist nur: wohin? Ist sicher überall gerammelt voll. Aber vielleicht kriegen wir ja einen Tisch im Schüttinger oder können uns bei anderen dazuquetschen«, schlug Markus vor.

Alle waren einverstanden, es in der urigen Gasthausbrauerei in der Nähe des Marktplatzes zu versuchen. Sie marschierten los, Hölzle und Sabine bildeten das Schlusslicht. Heiner dachte über Markus’ Frage nach, ob er und Sabine nun ein Paar waren oder nicht. Er wusste es selbst nicht. Sie gingen zwar öfter mal miteinander aus, ins Kino, essen oder ins Theater. Aber eine weitere gemeinsame Nacht hatten sie seit dieser einen in Maarode nicht verbracht. Beide schienen sich davor zu scheuen, mehr als ein freundschaftliches Verhältnis entstehen zu lassen. Zudem hatte Sabine sich ein sechsmonatiges Sabbatjahr in England genommen und war erst im Herbst nach Bremen zurückgekehrt.

Hölzle ließ sich etwas zurückfallen, und Sabine passte sich seinem verlangsamten Schritt an. Fragend sah sie ihn von der Seite an, schwieg aber. Die anderen verschwanden langsam aus dem Blickfeld.

»Ist was?«, fragte sie nun doch.

»Nein, ja, ach ich weiß auch nicht«, stammelte Hölzle. Am liebsten hätte er sie einfach in die Arme genommen und geküsst.

»Aha, jetzt bin ich wesentlich schlauer. Danke für die Information.«

Hölzle antwortete nicht darauf und verfiel in Schweigen.

Als sie ein paar Meter weiter an einem Stand mit Mistelzweigen vorbeikamen, ergriff Sabine die Initiative, hielt ihn fest, nahm sein Gesicht in beide Hände und küsste ihn auf den Mund.

Es fühlte sich gut an. Weich, warm, und es war viel zu schnell vorbei.

»Und jetzt?«, fragte Hölzle.

»Nix. Mir war gerade danach«, sie knuffte ihn in den Oberarm. »Los, wir haben den Anschluss an die anderen verpasst.«

Sabine stapfte mit schnellen Schritten los, Hölzle folgte ihr kopfschüttelnd. Aus dieser Frau wurde er einfach nicht schlau.

*

»Mädchen, so klingt das schon besser. Noch einmal das hohe C, Carla, hallo, das Ceee.«