Mordsgrimm - Liliane Skalecki - E-Book

Mordsgrimm E-Book

Liliane Skalecki

4,7

Beschreibung

Während einer Märchenforschertagung in Bremen wird ein Wissenschaftler erschlagen aufgefunden. Wenige Tage später gibt es dort ein weiteres Opfer. Als kurz darauf der Manager einer Castingshow tot in seinem Hotelzimmer entdeckt wird und ein Mord in Bremerhaven geschieht, deutet alles auf einen Serienmörder hin, denn bei drei Leichen wurden »märchenhafte« Zeichen hinterlassen: Esel, Hund und Katze. Doch der Hahn der Bremer Stadtmusikanten fehlt. Kommissar Heiner Hölzle jagt mehr als einen Mörder …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 464

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,7 (31 Bewertungen)
24
5
2
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Liliane Skalecki / Biggi Rist

Mordsgrimm

Hölzles 3. Fall

Zum Buch

Abgeschrieben Während einer Märchenforschertagung in Bremen wird einer der teilnehmenden Wissenschaftler erschlagen aufgefunden. Wenige Tage später taucht die erdrosselte Leiche einer Journalistin auf, die über die Konferenz berichtet. Bei beiden Ermordeten finden sich Blechfiguren in Form des Bremer Wahrzeichens: der Esel und der Hund der Bremer Stadtmusikanten. Hölzles Ermittlungen gehen in alle Richtungen, dann geschieht ein weiterer Mord. Der Manager einer Castingshow liegt erstickt in seinem Hotelzimmer, jedoch ohne dass der Mörder ein vergleichbares Zeichen hinterlassen hat. Dann meldet eine Polizeibeamtin Hölzle einen Mord in Bremerhaven mit der Vermutung, dass dieser mit den Morden in Bremen zusammenhängt, obwohl auch hier kein Blechtier am Tatort lag. Hölzle weigert sich, an einen Serienmörder zu glauben. Dann wird ihm die Katze der Stadtmusikantentruppe zugeschickt. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, denn der Hahn fehlt noch …

Dr. Liliane Skalecki, 1958 in Saarlouis geboren, studierte nach einer Banklehre Kunstgeschichte, Klassische Archäologie und Vorderasiatische Archäologie an der Universität des Saarlandes. Seit 2001 lebt sie mit ihrer Familie in Bremen. Sie schreibt für die Zeitschrift »Pferdesport Bremen« und veröffentlichte bisher Fachartikel, Sachbücher sowie Chroniken und Unternehmerdarstellungen.

Biggi Rist, 1964 in Reutlingen geboren, arbeitete nach der Ausbildung an der Naturwissenschaftlich-technischen Akademie in Isny/Allgäu in der medizinischen Labordiagnostik und zwei Jahre in der Forschung. Als 7-jährige schrieb sie sich selbst Geschichten und ist Co-Autorin wissenschaftlicher Publikationen. Zwei Jahre lebte sie in Melbourne/Australien, bevor sie mit ihrem Mann nach Lilienthal zog.www.krimi-bremen.de

Impressum

Zwei Personen, die als Randfiguren auftauchen, gibt es tatsächlich und ihr Einverständnis, dass sie in diesem Roman vorkommen, liegt uns vor. Alle übrigen Personen sowie die Handlung sind frei erfunden.

Dabei sind Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © DJI-FUNK – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4516-3

Widmung

Für Ralf, danke, dass es dich gibt. Für meine Familie. Biggi

*

Für meine Familie. Liliane

Zitat

»Meine von mir verfasste Dissertation ist kein Plagiat (…)«

Karl Theodor zu Guttenberg, 18. Februar 2011

*

»Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Aus Schneewittchen, Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm

*

»Größte Lieb’ gebiert den größten Hass.«

Ferdinand von Saar

Personenverzeichnis

Das Team

Heiner Hölzle: Kriminalhauptkommissar mit schwäbischen Wurzeln

Harry Schipper: Kriminaloberkommissar

Peter Dahnken: Kriminaloberkommissar

Markus Rotenboom: Leiter der Kriminaltechnik

Dr. Sabine Adler-Petersen: Rechtsmedizinerin

Jean-Marie Muller: Leiter des Kriminaldauerdiensts

*

Freunde/Familie

Christiane Johannsmann: Hölzles Freundin

Carola Johannsmann: ihre Schwester

Marthe Johannsmann: Christianes Großtante

Alexander und Jerôme: Hölzles Neffen

Dr. Ole Petersen: Ehemann von Sabine Adler-Petersen

*

Weitere Personen

Bremen

Prof. Gunther Lehmann: Literaturwissenschaftler

Dr. Moritz Koch: Literaturwissenschaftler

Ulf Koch: sein Bruder

Silvia Koch: seine Schwägerin

Dennis Koch: sein Neffe

Kira Funke: Freundin von Dennis

Annette Funke: ihre Mutter

Anne Piltz: Kiras Freundin

Bruno Nie: Casting-Manager

*

Bremerhaven

Achim Bringmann: Tourist in Bremerhaven

Martina Stedinger: Polizeikommissarin

*

Presse

Hanna Wagner: Journalistin beim Weser-Kurier

Thorben Schmink: Journalist beim Weser-Blitz

Prolog

Dr. Moritz Koch konnte sich an dieser Stadt einfach nicht sattsehen. Paris hatte bei eisiger Kälte nicht weniger Charme als an einem märchenhaft schönen Frühlingstag. Und ein großer Vorteil: Es waren erheblich weniger Touristen unterwegs. Er durchquerte den Jardin des Tuileries. Es war Ende Februar, und die Gärtner waren bereits dabei, diesen Prachtgarten, den Ludwig XIV. in dieser Form hatte anlegen lassen, auf den jährlich wiederkehrenden Ansturm, der im Frühling zu erwarten war, vorzubereiten. Die Sonne schien von einem blank geputzten, blitzenden blauen Himmel. Für den späten Nachmittag waren jedoch die nächsten Schneefälle angekündigt.

Moritz’ Weg führte ihn heute zum vorletzten Mal in die Rue Richelieu, wo sich das altehrwürdige Gebäude der Bibliothèque Nationale de France befindet. Mittlerweile hatte diese Bibliothek sechs Dependancen. Aber in diesem ältesten Teil atmete man den Hauch der Geschichte. Im 19. Jahrhundert war der gesamte Gebäudekomplex als Bibliothek von Henri Labrouste neu errichtet worden.

Moritz Koch, Literaturwissenschaftler und Märchenforscher, hatte hier in den Wochen seines Forschungsaufenthaltes wahre Schätze ausgegraben, und was er bald seiner Universität und den Kollegen präsentieren würde, konnte sich sehen lassen.

Auf der einen Seite freute er sich, bald wieder seinen normalen Trott aufzunehmen, andererseits würde er Paris schmerzlich vermissen. Aber man konnte ja nie wissen. Vielleicht wären auch die Fachkollegen aus Frankreich von seinen Perrault-Forschungen so begeistert, dass eines der heiß begehrten Stipendien ihn wieder nach Paris zurückbringen würde. In ein paar Wochen fand eine internationale Fachtagung der Märchenforscher in Bremen statt, wo er sicherlich Kollegen aus ganz Europa treffen würde.

Moritz hatte bereits vor zwei Tagen seine letzte Bestellung in der Bibliothek abgegeben. Er erhoffte sich von den Unterlagen nicht wirklich tief greifende neue Erkenntnisse, aber man musste auf Nummer sicher gehen. Der Karton, er ging davon aus, dass es sich um einen solchen handeln würde, enthielt nach den Angaben des Find­buches ausschließlich unvollständig erhaltene, zum Teil sogar zerrissene Texte, Briefe, Notizen und Aufzeichnungen, sozusagen das, was bei Charles Perrault im Papierkorb hätte landen sollen, aber offensichtlich dann doch aufgehoben worden war.

Er war zufällig auf die Signatur des Kartons gestoßen und hatte die Bestellung immer wieder vor sich hergeschoben. Zuerst hatte er die eindeutig wichtigen archivierten Unterlagen studieren wollen, und wenn er dann noch Zeit hätte, würde er sich den Inhalt des Kartons vornehmen.

Und heute war es soweit. Moritz hatte noch zwei Tage, und die reichten aus, sich mit diesen Papieren vertraut zu machen. Sollte sich doch noch etwas Wertvolles für ihn darin befinden, so konnte er es abfotografieren lassen, und man würde es ihm nach Kassel schicken.

Ein vorletztes Mal zeigte er seinen Benutzerausweis vor. Moritz betrat die riesige Rotunde, die den Lesesaal beherbergte. Wie immer legte er den Kopf in den Nacken und genoss den Anblick über ihm. Hohe eiserne Stützen trugen die mächtige lichtdurchflutete Kuppel, der ganze Raum war ein wahres Meisterwerk der Ingenieurskunst.

Mittlerweile begrüßte ihn die Dame an der Ausgabe mit einem freundlichen Bonjour, ça va Monsieur Koch?, worauf er stets antwortete Très bien, et vous, Madame Tricastin? Eben diese Mme. Silvie Tricastin hatte ihm bereits den angeforderten Karton bereitgestellt. Sie deutete mit schlanker Hand auf den Karton und hustete demonstrativ, denn er war mit einer dünnen Staubschicht überzogen, in der die Abdrücke der Finger des Mitarbeiters, der ihn herbeigebracht hatte, deutlich zu erkennen waren. Moritz war dies gewohnt. Akten, Schuber und Schachteln, die seit Jahrzehnten nicht abgerufen wurden, lagerten in den Regalen, mit dem Staub des Vergessens und der Vergangenheit bedeckt.

Moritz trug den Karton an seinen Leseplatz. Er war vielleicht 40 Zentimeter lang und zehn Zentimeter hoch, in einer Ecke prangte der Bibliotheksstempel, handschriftlich war darunter die Signatur zum Auffinden des Kartons in seinem Archivlager säuberlich zu lesen. Der dicke Bindfaden, der die Schachtel verschloss, war genauso verknotet, wie es Moritz schon in zig Archiven und Bibliotheken vorgefunden hatte: kreuzweise um den Karton geschlungen, oben einfach mit einer einzelnen Schleife gebunden, sodass man nur einmal am Ende des Fadens ziehen musste, um die ganze dünne Schnur zu entfernen.

Nachdem er den Faden sorgfältig zusammengewickelt hatte, blies Moritz vorsichtig über den Deckel. Der Staub wirbelte wie ein feiner Nebel auf und tanzte im winterlichen Sonnenlicht, das direkt durch das riesige Glasdach der Kuppel und die runden Tambourfenster auf seinen Platz schien. Moritz zog die weißen dünnen Baumwollhandschuhe über, mit denen er grundsätzlich bei allen archivierten Akten arbeitete. Auf den ersten Blick stellte er fest, dass vor allem lose Blätter im Karton lagen, einzelne Papiere steckten auch in Klarsichthüllen. Missmutig schüttelte er den Kopf. Er hielt nichts von diesen Hüllen. Die Dinger brachten es doch glatt fertig, den kostbaren Inhalt zu zerstören, denn die Weichmacher des Kunststoffs besaßen eine fatale Wirkung auf das alte Papier.

Moritz arbeitete sich systematisch vor. Jemand, der vor ihm den Karton gehabt hatte, musste ein Kenner Perraults gewesen sein, denn wie er feststellte, waren die einzelnen Zettel, oftmals nur mit kurzen Notizen bekritzelt, manche auch mit kleinen Zeichnungen versehen, andere wiederum mit nie fertiggestellten Korrespondenzen, offensichtlich chronologisch geordnet worden. Kein leichtes Unterfangen, da die meisten der Blätter ohne Datumsangaben waren. Moritz ging die Notizen noch einmal durch. Doch, genau so hätte auch er die Ordnung hergestellt.

Den größten Teil des Kartons nahm jedoch ein Buch ein, das am Boden schlummerte, eingebunden in einen grau-braun gesprenkelten Einband. Vorsichtig hob Moritz das Buch heraus. Ein vergilbter Zettel war auf den Buchdeckel aufgeklebt, beschrieben mit einer offensichtlich altertümlichen Schreibmaschine. Die Rundung des kleinen e war gefüllt, das kleine v kaum lesbar, der Rand des Zettels altmodisch ausgezackt, wie bei einer Briefmarke. Neugierig und gespannt entzifferte Moritz den mittlerweile fast verblassten Titel des Buches.

Was hatte er denn da entdeckt? Enttäuschung machte sich augenblicklich breit. Welcher Idiot hatte denn das in die vergessene Perrault-Kiste gesteckt? Das Buch musste er an der Rezeption abgeben, damit es an seinen angestammten Platz zurückkehren konnte. Wenn irgendwann ein Religionswissenschaftler das Werk aufspüren wollte, würde er es Moritz verdanken, dass Jean Grancolas Traité de la messe et de l’office divin von 1713, denn als solches entpuppte sich das Buch, wieder auffindbar war.

Kopfschüttelnd schob er den Schmöker an die Seite und widmete sich wieder den Perrault’schen Papieren. Zwei der kleinen Zeichnungen würde er sich ablichten lassen, den Rest exzerpierte er gleich in seinen Laptop. Viel war es nicht, was er entdeckte. Sorgfältig verstaute Moritz Koch seinen Fund im Karton und schnürte diesen wieder zu. Wahrscheinlich würde die Schachtel nun für die nächsten 100 Jahre auf einem der unzähligen Archivregale verschwinden und verstauben.

Der Himmel über dem Kuppeldach war finster geworden, und Moritz hatte den Eindruck, dass sich bereits eine dünne Schicht Schnee auf dem Glas ausgebreitet hatte. Morgen würde er ein letztes Mal die Bibliothek besuchen, noch einmal alles, was er in den ganzen Wochen erarbeitet hatte, stichprobenartig überprüfen und der netten Mme. Tricastin ein paar Blumen mitbringen.

Der Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass die Bibliothek in einer knappen Stunde schließen würde. Er wollte sich im Anschluss noch ein kleines, etwas kostspieligeres Abendessen gönnen. Um die Zeit zu überbrücken, zog er sich das Buch mit dem religiösen Inhalt von Grancolas herbei. Moritz wusste so gut wie nichts über diesen Theologen. Nur so viel, dass er irgendwann im 17./18. Jahrhundert gewirkt haben musste und Professor an der Sorbonne gewesen war. Mehr aus Langeweile denn aus echtem Interesse öffnete er das Buch. Was war das denn? Statt eingebundener Buchseiten lagen durch eine dünne Schnur zusammengebundene Blätter zwischen den beiden Deckeln, und diese nicht, wie er erwartet hatte, gedruckt, sondern handschriftlich. Und diese Schrift kannte Dr. Moritz Koch. Er begann zu lesen, und was er da las, verschlug ihm die Sprache. Das konnte nicht wahr sein! Der Märchenforscher konnte kaum glauben, auf was er da gestoßen war. Wenn dies publik würde … Und er, Dr. Moritz Koch, würde dafür sorgen, dass die Welt davon erfuhr. Er starrte auf die Blätter und hatte das Gefühl, eine scharfgemachte Bombe in seinen Händen zu halten. Zorn und Enttäuschung brachen sich Bahn, diese Bombe würde er in Bremen hochgehen lassen …

*

Hölzle saß an seinem Schreibtisch, die Akte eines Menschenhändlers vor sich, bald würde die Verhandlung sein. Delikte wie Menschenhandel und Prostitution gehörten zum Kommissariat 44 in Bremen und fielen eigentlich nicht in sein Ressort. Allerdings hatte es eine Tote gegeben, und für diese wiederum war Kriminalhauptkommissar Heiner Hölzle zuständig. Eine junge Bulgarin war in ihrer Wohnung leblos aufgefunden worden. Zu Tode geprügelt. Die Beweislage war allerdings dünn, es konnte durchaus sein, dass der Mann für den Tod der Frau nicht belangt werden würde. Doch es bestand wenigstens die Chance, dass man ihn wegen seiner anderen Straftaten hinter Schloss und Riegel bringen konnte.

Im Hintergrund dudelte seine geliebte Musikbox einen Hit der Flippers – was auch sonst? –, Ein Herz aus Schokolade. Vor ihm stand ein halb leerer Becher mit mittlerweile nur noch lauwarmem Kaffee, daneben häufte sich der Verpackungsmüll seiner nicht weniger geliebten Schokoriegel.

Demnächst würde die Hauptverhandlung sein. Hoffentlich schperred se den so lang weg, wie’s geht, dachte Hölzle, wohl wissend, dass viele dieser Schweine zu oft zu billig davon kamen. Das Strafmaß von zehn Jahren Gefängnis wurde nur allzu selten ausgeschöpft. Meist scheiterte das Ganze an der Angst der Frauen, die gegen ihre Peiniger aussagen sollten.

Auch wenn die Mehrzahl der Gewaltdelikte tatsächlich gegenüber Männern ausgeübt wurde, so empfand Hölzle die Verbrechen gegen Frauen und Kinder immer als besonders grausam.

Sein Kollege Harry Schipper hatte sich eben zusammen mit einer neuen Kollegin, Britta Auermann, auf den Weg gemacht. Die Bahn hatte sie informiert, dass ein Mädchen von einem Zug überrollt worden war, und die beiden hatten die traurige Aufgabe, zu klären, ob es sich um einen Selbstmord handelte, ob vielleicht ein Unfall vorlag oder ob sie womöglich von einer anderen Person auf die Gleise gestoßen worden war.

Telefongebimmel riss ihn aus seinen Gedanken. Stirnrunzelnd starrte er auf das Display, die angezeigte Nummer begann mit 0033388. Ein Anruf aus Frankreich, Straßburger Vorwahl. Seine Schwester Babsi. Was konnte so wichtig sein, dass sie ihn im Büro anrief? Hoffentlich war alles in Ordnung, Mutter kam langsam in die Jahre.

»Hi, Schwesterherz, was kann ich für dich tun?«, begrüßte er sie gut gelaunt.

»Hallo, Heiner, prima, dass ich dich erwische. Ich habe einen Anschlag auf euch vor«, kam Babsi gleich zum Grund ihres Anrufes. »Die Jungs würden gerne für zwei Wochen zu dir, oder vielmehr zu euch, kommen.«

Hölzle holte tief Luft, doch bevor er irgendetwas sagen konnte, plapperte seine Schwester munter weiter. Die Worte sprudelten aus ihr heraus wie ein Wasserfall, und Heiner sah seine Schwester im Geiste schon blau anlaufen, da sie überhaupt keine Luft zu holen schien.

»Jerôme macht ein Praktikum am Zentrum für Luft- und Raumfahrttechnik und Alexander eines bei Mercedes. In Bremen versteht sich. Entschuldige, dass ich dich damit so überfalle, aber das hat sich jetzt ganz kurzfristig ergeben, und ich kann die beiden ja nicht im Hotel einquartieren. Also nimmst du deine Neffen bei dir auf?«

Mit jedem Wort wurden Hölzles Augen größer, gut, dass seine Schwester das Entsetzen in seinem Gesicht nicht sehen konnte.

»Heiner? Bist du noch dran?«

Hölzle fing sich wieder. »Wie stellst du dir das vor? Ich bin den ganzen Tag weg, oft auch nachts und am Wochenende. Und Christiane hat auch genug an den Hacken, also, ich weiß nicht …«

»Jetzt sollst du mir einmal einen Gefallen tun. Es ist wichtig für die Jungs, dass sie diese Auslandspraktika machen. Außerdem sind sie nicht mehr drei Jahre alt, und man muss sie nicht permanent im Auge behalten. Die sind schon recht selbstständig, glaub’ mir, ihr werdet kaum merken, dass sie da sind. Bitte, kleiner Bruder«, sie verlegte sich aufs Flehen.

Es blieb ihm wohl kaum etwas anderes übrig, als ja zu sagen.

»Okay, okay. Wann soll das sein?«, brummte er in den Hörer.

»Ähm, das kommt jetzt vielleicht ein bisschen plötzlich, aber sie fahren schon morgen mit dem Zug los. Ankunft in Bremen ist dann am Samstag sehr früh morgens um 1.40 Uhr.«

»Was, um die Uhrzeit und schon übermorgen? Sag mal, geht’s noch? Seit wann weißt du das eigentlich?«, Hölzle wurde allmählich richtig sauer.

»Seit letzter Woche. Und, es tut mir leid, wir haben keine bessere Verbindung mehr bekommen. Ich weiß, ich weiß, ich hätte dir schon längst Bescheid geben müssen, aber bei uns war ständig irgendwas los. Am Gerichtshof steppt wie immer der Bär, und Alain ist vor drei Tagen für ein Forschungssemester in die USA geflogen. Und Mama ging’s auch nicht so gut. Herzrhythmusstörungen, sagt der Kardiologe. Jetzt bekommt sie Medikamente und sie ist wieder auf dem Weg der Besserung. Sie hatte nachts immer so Herzrasen, richtige Attacken. Du siehst also …«

»Na toll, und das mit Mamas Gesundheitszustand erfahre ich so ganz nebenbei. Na ja, ist ja nun auch nicht mehr zu ändern. Ich hol’ die Jungs ab. Wenn ich’s nicht schaffe, dann kommt Christiane. Wir kriegen das schon hin. Ach, eins noch: Du kannst deinen Sprösslingen schon mal einbläuen, dass mein Wort Gesetz ist und sie sich an unsere Spielregeln zu halten haben, sonst setz’ ich sie eigenhändig in den nächsten Zug nach Straßburg. Klar soweit?«

»Oh, oh, nur kein Stress. Wie gesagt, du wirst kaum merken, dass sie da sind. Ich finde, die sind mittlerweile ganz gut geraten. War ja manchmal nicht so einfach mit den Zwillingen, als sie klein waren.« Babsis Stimme klang etwas wehmütig. »Toll, dass das klappt«, fuhr sie dann fort, »ich danke dir ganz herzlich. Übrigens könnten du und Christiane uns endlich mal in Straßburg besuchen. Mama würde sich auch freuen, und das neue Haus kennst du ja noch gar nicht.«

Hölzle versprach, ihnen in absehbarer Zukunft einen Besuch abzustatten, ermahnte seine Schwester, ihn über den Gesundheitszustand ihrer Mutter auf dem Laufenden zu halten und legte dann auf.

Sekundenlang starrte er das Telefon an, fühlte sich wie von einem Lastwagen überfahren. Alexander und Jerôme, die eineiigen Zwillinge, die er nie unterscheiden konnte. Zwei Wochen lang mit den ungezogenen Bengeln – egal was seine Schwester behauptet hatte – unter einem Dach. Das konnte ja heiter werden.

KIRA 1

»Frau Funke, wir wissen, was Kira und Sie in den letzten Monaten durchgemacht haben. Unsere Schulpsychologin hat mehrfach versucht, mit Kira darüber zu sprechen. Doch vergeblich. Sie lässt niemanden an sich ran. Auch ihre beste Freundin Anne weiß sich keinen Rat mehr. Aber das wissen Sie ja, Frau Funke.«

Der Direktor des Schulzentrums Bördestraße hob hilflos die Hände. »Kira war eine unserer besten Schülerinnen, und jetzt, Frau Funke …«

Annette Funke zuckte bei jedem Satz des Direktors wie von einer unsichtbaren Hand geschlagen zusammen.

»Herr Ehrhardt …«, Annette rang nach den Worten, die der Direktor wahrscheinlich gerne von ihr hören wollte. Dass Kira sich wieder fangen würde, das Leben ihrer Tochter bald wieder in normalen Bahnen verlaufen würde, ihre Noten sich bald verbesserten, Kira wieder Freude am Geigenunterricht hätte und sie wieder das fröhliche Mädchen sein würde, das sie 16 Jahre lang gewesen war. Aber Annette Funke wusste, das alles war eine einzige große Lüge.

Kira hatte sich nach dem Tod ihres Vaters und ihres geliebten Bruders Ben in sich selbst zurückgezogen. Während sie, Annette, sich verstärkt in ihre Arbeit gestürzt hatte, hatte sie Kira allein gelassen. Erst vor drei Jahren war sie wieder in ihren alten Beruf als Hotelfachfrau zurückgekehrt, war glücklich gewesen, so schnell wieder Fuß fassen zu können. Sie war erfolgreich, hatte in der kurzen Zeit eine Vertrauensstellung inne und war für die Planung des gesamten Personaleinsatzes zuständig.

Natürlich war ihr nicht entgangen, dass Kiras schulische Leistungen immer dürftiger wurden, sie nur noch lustlos ihre Geige aus dem Koffer holte, bis sie eines Tages den Kasten überhaupt nicht mehr öffnete, und Annette sich gezwungen sah, den Unterricht bei Frau Stelljes aufzugeben. Es war ihr auch nicht verborgen geblieben, dass Kira nur noch wie ein Spatz aß.

In den ersten Wochen nach Bens Tod hatte sie das Essverhalten noch auf die tiefe Trauer geschoben, doch jetzt musste sie einsehen, dass Kira offenkundig unter Magersucht litt. Dreimal bereits hatte sie mit ihrer Tochter einen Termin im Gesprächskreis für essgestörte Jugendliche und deren Eltern vereinbart, dreimal hatte Kira sie alleine vor der Tür stehen lassen. Auch weigerte sich Kira standhaft, mit ihrer Mutter zur Kinder- und Jugendärztin zu gehen.

Wie zu Kinderzeiten hatte Annette Kira kleine Botschaften auf bunten Zetteln auf dem Küchentisch hinterlassen. Früher gab es die Pass-auf-dich-auf-Zettel, die Denk-an-was-auch-immer-Zettel, die Sei-so-lieb-und-erledige-dies-und-das-Zettel oder auch die Mutmach-Zettel vor einer schwierigen Klassenarbeit oder einfach nur dafür, aus ihrer Tochter ein selbstbewusstes und selbstbestimmtes Wesen zu machen. Heute gab es nur noch die Mutmach-Zettel. Doch sie blieben ungelesen, zumindest unbeantwortet.

Meist fand Annette die Zettel auf dem Küchentisch genauso vor, wie sie sie hingelegt hatte. Die Marzipanpraline, die sie immer auf die Ecke legte, damit der Zettel nicht davonflog, blieb unberührt.

Anfangs hatte sie versucht, Kira mit ihren Lieblingsgerichten zu ködern. Kira hatte immer einen deftigen Geschmack gehabt. Eintöpfe jeder Art, Rouladen mit Klößen, panierte Koteletts mit Bratkartoffeln. Jetzt schob ihre Tochter das Essen angewidert zurück. Um Annette einen Gefallen zu tun, pickte sie ab und zu mit der Gabel ein Häppchen auf, schob es in den Mund, um es Minuten später wieder in die Kloschüssel zu befördern. Annette hatte ihr dann irgendwann eine Art Astronautennahrung besorgt, kalorienreich und mit einem hohen Eiweißanteil. Nur diesen Fläschchen war es zu verdanken, dass Kira noch nicht zusammengebrochen war.

Ihre wunderschöne, lebenslustige Tochter hatte sich in ein Gespenst verwandelt. Sie hatte Anne darauf angesprochen. Doch Anne hatte gemeint, sie solle sich nicht so sorgen, es gäbe Mädchen an der Schule, die seien noch dünner, Kira wäre doch noch ganz in Ordnung mit dieser Figur. Annette hatte die Tatsache, dass andere Mädchen noch gestörter waren als ihre eigene Tochter, nicht wirklich beruhigt, und sie hatte schon überlegt, ob sie mit Kira wegziehen und irgendwo ganz neu beginnen sollte. Doch alleine bei diesem Gedanken war Kiras frühere Aufmüpfigkeit wieder entfacht worden. Nie, niemals würde sie das Haus, in dem sie auch einmal glücklich gewesen war, verlassen.

»Frau Funke, daher bin ich wirklich der Auffassung, es wäre nur in Kiras Interesse, wenn Sie einen Jugendpsychologen hinzuziehen würden. Ich habe Ihnen bereits die Telefonnummer von Frau Strittmaker aufgeschrieben, sie gehört zu den Besten ihrer Zunft. Machen Sie bitte so bald wie möglich einen Termin mit ihr aus.«

Geistesabwesend nahm Annette Funke den gelben Notizzettel entgegen und steckte ihn in ihre Manteltasche. Sie hatte Direktor Ehrhardt am Ende nicht mehr zugehört, wusste sie doch selbst am besten, wie es um ihre Tochter stand, und dass professionelle Hilfe dringend notwendig war. Aber sie konnte ihr Kind doch nicht an den Haaren zur Psychologin schleppen. Bis heute hatte sich Kira jedem Gespräch verweigert, und so wie sie ihre Tochter kannte, würde sie mit Druck überhaupt nichts erreichen.

Mit großen Augen starrte ein riesiger ausgestopfter Uhu auf sie herab. Er krönte den altehrwürdigen Bibliotheksschrank, der die gesamte Wand hinter dem Schreibtisch des Direktors einnahm. Irgendwie fühlte sich Annette in diesem Ambiente in die Feuerzangenbowle mit Heinz Rühmann versetzt. Sie starrte zurück, die weit aufgerissenen Augen des Uhus erinnerten an die Augen Kiras, die ihr in dem immer schmaler werdenden Gesicht mittlerweile riesig erschienen.

Ehrhardt war aufgestanden, nickte ihr aufmunternd zu, doch sie konnte auch die Besorgnis in seinem Gesicht erkennen. Annette musste sich auf beide Lehnen des Besuchersessels stützen, um überhaupt die Kraft zu finden, ebenfalls aufzustehen. Sie hielt dem Schuldirektor die Hand hin. Annette Funke war so erschöpft, dass selbst diese einfache Geste des sich Verabschiedens von ihr die größte Mühe und Konzentration erforderte.

Sie ging den Flur am Schwarzen Brett der Schule entlang. Der Hinweis auf das in 14 Tagen stattfindende Schulkonzert sprang ihr ins Auge. Seit Jahren war Kira ein unverzichtbarer Bestandteil dieses Konzerts gewesen, hatte vor zwei Jahren erstmals einen Soloauftritt mit ihrer Geige gehabt. Durch wen man sie wohl jetzt ersetzt hatte? Müde schlurfte sie den Flur entlang. Bildete sie es sich nur ein, weil man es immer wieder in Romanen las, oder roch der Gang tatsächlich intensiv nach Bohnerwachs und Schulmief? Aus einem der Klassenräume drang ein dumpfes Geräusch, als wäre ein Stuhl umgefallen. Es war Nachmittag, und nur in wenigen Räumen fand Unterricht statt. Vor allem die Klassen, die kurz vor dem Abitur standen, hielten sich jetzt noch in der Schule auf.

Annette hielt sich mit der linken Hand am Geländer fest, als sie die breite Treppe ins Erdgeschoss hinunterging. Ihr war schwindlig. Plötzlich stand sie vor den Fahrradständern der Schule. Hatte sie überhaupt etwas zum Abschied gesagt? Hatte sie sich für Ehrhardts Interesse am Wohlergehen ihrer Tochter bedankt? Sie konnte sich nicht erinnern. Ihre Finger fühlten sich taub an, als sie den Schlüssel ins Fahrradschloss steckte und drehte. Wie eine alte Frau bestieg sie den Sattel, trat mit wackeligen Beinen in die Pedale.

Sie würde versuchen, heute noch einmal vernünftig mit Kira zu sprechen. Vielleicht mit ihr für die Sommerferien eine Reise planen. Egal wohin, Hauptsache weg von zu Hause. Bei dem Gedanken an das abweisende Gesicht ihrer Tochter, an die abwehrende, fast feindselige Haltung ihr gegenüber, verließ Annette der letzte Mut. Kurz entschlossen stoppte sie, wechselte die Straßenseite und fuhr in die Gegenrichtung. Bloß nicht nach Hause, dort würde sie verrückt werden, sie musste unter Leute. Fast schämte sie sich bei dem Gedanken, wie sehr sie sich auf ihre Schicht im Hotel freute. Wenn Kira zu Hause war, dann in ihrem Zimmer, abgeschlossen in ihrer eigenen Welt. Sie, Annette, käme nicht hinein, nicht ins Zimmer und schon gar nicht in die Gedankenwelt ihrer Tochter.

Vor der erstbesten kleinen Kneipe hielt sie an, schloss gewissenhaft das Rad ab. Sie setzte sich an einen Tisch am Fenster, bestellte ein Glas Rotwein. Wann hatte sie zum letzten Mal am frühen Nachmittag Alkohol getrunken? Heute hatte sie das Gefühl, sie hätte ihn noch nie so dringend gebraucht wie jetzt. Wohl wissend, dass der Rotwein ihre Sorgen auch nicht von ihr nehmen würde. Der Bardolino war gut temperiert und rann angenehm die Kehle hinunter. Sie dachte an ihren Mann und an das vergangene Jahr.

Mit ihrem Mann Peer hatte sie zwei, drei Mal in der Woche einen guten Wein getrunken. Sie hatte den Roten bevorzugt, Peer war ein durch nichts zu erschütternder Rieslingfan gewesen. Gerne hätte Annette sich jetzt eine Zigarette angezündet. Aber sie hatte das Rauchen aufgegeben, als Kira unterwegs gewesen war. Vier Jahre später war Ben zur Welt gekommen, und sie hatte sich erstmals wieder ein Päckchen Zigaretten gegönnt. Warum auch immer. Wenigstens eine rauchen, auf der Terrasse, wenn die Kinder im Bett waren. Aber schon die erste Zigarette hatte ihr nicht geschmeckt. Damit war für sie das Thema erledigt gewesen.

Acht Jahre nach der Geburt ihres Sohnes diagnostizierten die Ärzte bei Ben Leukämie. Akute lymphatische Leukämie. Nach der erschütternden Erstdiagnose folgten Wochen auf der kinderonkologischen Station, wo Ben eine intensive chemotherapeutische Behandlung erhielt. Annette verbrachte fast mehr Zeit in der Klinik als zu Hause, das ganze Leben der Familie Funke hatte sich auf den Kopf gestellt. Zunächst schien die Therapie auch gut anzuschlagen, Ben kam nach Hause, musste aber weiterhin behandelt werden, um die Remission zu erhalten. Kira, die gesund und munter war und immer ein fröhliches Wesen hatte, ging, unbemerkt von ihren Eltern, nach und nach unter. Nicht umsonst wurden solche Kinder Schattenkinder genannt.

Nach knapp zwei Jahren meldete sich der Krebs bei Ben mit aller Vehemenz zurück, und die Torturen begannen erneut. Doch diesmal blieb trotz der Qualen, die Ben auszustehen hatte, der Erfolg aus. Ein halbes Jahr später war Ben dann gestorben.

Am Tag nach Bens Beerdigung begann Kira, sich einzuigeln. In ihrem grenzenlosen Schmerz bemerkten Annette und Peer zunächst nicht, wie Bens große Schwester sich nach und nach von ihren Eltern entfernte. Dann folgte dieser unsägliche Mittwoch im Juli.

Bens Beerdigung war fünf Monate her gewesen, und irgendwie hatte das Leben doch weitergehen müssen. Annette hatte sogar darüber nachgedacht, ob sie und Peer nicht ein drittes Kind lieben könnten. Ein Baby würde ihnen Ben nicht zurückbringen, es könnte auch nie diese klaffende Wunde schließen, aber es wäre eine wunderschöne Aufgabe, einen neuen Menschen auf das Leben vorzubereiten. So hatte Annette gedacht, hatte eine Flasche Weißwein in den Kühlschrank gestellt und auf Peer gewartet, freudig und doch etwas ängstlich, denn sie hatte keine Ahnung, wie ihr Mann auf ihre Idee reagieren würde. Sie sollte es auch nie erfahren.

Peer war mit dem Motorrad zur Arbeit gefahren und hatte beschlossen, anschließend das herrliche Wetter für eine kleine Spritztour nach Fischerhude zu nutzen. In den letzten Wochen war er beinahe täglich eine zusätzliche Tour auf seinem Nachhauseweg gefahren. Annette gönnte es ihm, lenkte das Motorradfahren ihn doch von seinem tiefen Schmerz ein wenig ab. Peer war ein sicherer Fahrer, konzentriert, hielt sich streng an die Geschwindigkeitsbegrenzungen, überholte nie in Kurven, tat nie etwas Unüberlegtes. Annette selbst hatte trotzdem immer ein mulmiges Gefühl, wenn sie auf dem Sozius saß. Ihr war ihr alter Drahtesel lieber.

Es klingelte an der Haustür, als sie gerade zwei Weingläser und einen Weinkühler auf die Terrasse tragen wollte. In dem Moment, als der melodische Gong ertönte, wusste Annette, dass etwas Furchtbares passiert war. Sie konnte später nie ergründen, warum sie so sicher gewesen war. Und auch Kira musste es gespürt haben, denn Annette hörte, wie die Zimmertür im oberen Stock geöffnet wurde.

Vor der Haustür standen zwei Polizisten, eine Frau und ein Mann sowie eine weitere Person, deren Jackenaufdruck an der linken Brust ihn als Seelsorger auswies, fast regungslos zwischen den beiden mächtigen Tontöpfen, in die Annette vor Jahren dunkelrot blühenden Oleander gepflanzt hatte.

»Frau Funke, es tut uns sehr leid. Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass Ihr Mann einen Unfall hatte, ein Trecker hat ihn übersehen. Er war sofort tot …«

Im Obergeschoss schlug mit lautem Knall eine Tür zu. Kira.

Seufzend trank Annette den letzten Schluck Bardolino. Sie hatte das Gefühl, dass sich diese Tür seitdem nie wieder geöffnet hatte.

MORITZ 1

Moritz Koch räkelte sich noch einmal auf seinem Sitz. Die braune Baumwollhose, die er trug, war innen angeraut und kratzte an seinen Beinen, seitdem er in Kassel den Zug bestiegen hatte. Er stopfte sein Hemd zurück in die Hose und zog sich seinen blau-grün karierten Pullunder über seinen kleinen Bauchansatz.

Koch war zwar erst 35 Jahre alt, doch seit Geburt von eher rundlicher Statur, hatte er es bis heute nicht geschafft, seinem Körper eine sportliche Note zu verleihen.

Koch fuhr zweiter Klasse mit der Deutschen Bahn und hatte sich einen Platz mit Anschluss für seinen Laptop reserviert. Ein älteres Ehepaar, das ihm gegenübersaß, ließ ihn leider nicht zu seiner gewünschten Ruhe und Konzentration kommen. Gern hätte er die knapp drei Stunden Fahrt dazu genutzt, noch ein wenig an seinem Vortrag zu feilen, doch die beiden hatten offensichtlich ihre Hörgeräte, sofern vorhanden, in den Koffern verstaut, denn ihr hessisches Gebabbel tönte durch den halben Wagen. In Hannover klappte Koch seinen Laptop resigniert zu. Na ja, eigentlich fühlte er sich doch bestens auf die Konferenz, die anlässlich des 100. Todestages des Literaturprofessors und Märchenforschers Traugott Helfrich stattfand, vorbereitet. Der Einfluss der orientalischen Märchenwelt auf das Schaffen von Charles Perrault – seine Kollegen würden nicht schlecht staunen, wenn er ihnen die Ergebnisse der letzten sechs Monate Forschungsarbeit in Frankreich präsentierte.

Noch gehörte Dr. Moritz Koch, seines Zeichens Märchenforscher, nicht zu den ganz Großen seiner Zunft, doch die neuen Erkenntnisse seiner Studien würden ihn ein Stückchen weiter zum Gipfel des Olymps bringen. Unglückseligerweise hatten seine Forschungen auch bittere Begleiterscheinungen zutage gebracht, die ihm nun schwer im Magen lagen. Wie nur sollte er diese Situation am geschicktesten meistern?

Koch schaute aus dem Fenster und betrachtete die an ihm vorbeifliegende Landschaft. Als er in Kassel losgefahren war, hatte es in Strömen gegossen, und er musste den altersschwachen Knirps über seine Aktentasche halten, damit der Wind ihm nicht die Regentropfen in seine Unterlagen peitschte. Kurz vor Bremen hatte es aufgeklart, und nun, 15 Minuten, bevor der Zug den Hauptbahnhof erreichte, schien die Sonne von einem blauen Himmel, den lediglich der silbrig glänzende Kondensstreifen eines Flugzeuges verunzierte. Koch schloss seine braune Mappe, in die er Laptop und die Mémoires de C. Perrault, natürlich nicht das Original von 1755, sondern einen Nachdruck von 1993, verstaut hatte. Der Märchenforscher wuchtete den grünen Trolley aus dem Gepäcknetz und schlüpfte in seinen beigen Trenchcoat.

Verdammt, jetzt hatte er sich beim Zuknöpfen auch noch den mittleren Knopf abgerissen. Moritz Koch steckte ihn in die Manteltasche und wanderte, seinen Koffer hinter sich her zerrend, zum Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Quietschend hielt der Zug, die Tür glitt auf, und eine Meute Schüler versuchte sich bereits an ihm vorbei zu drängen, bis einer der Lehrer der ungestümen Bande Einhalt gebot.

Der Wissenschaftler betrat bremischen Boden. Suchend schaute er sich auf dem Bahnsteig um. Vielleicht war ja eine Kollegin oder ein Kollege im selben Zug gewesen, und man könnte gemeinsam zum Tagungsbüro in der Glocke gehen, um die Konferenzunterlagen abzuholen. Doch Koch erspähte kein bekanntes Gesicht. Eine quäkende Lautsprecherstimme ertönte und gab die neunminütige Verspätung eines Intercitys aus Hamburg bekannt. Gleichzeitig ertönte ein Pfeifkonzert, das Koch zusammenzucken ließ. Die Schülerbande, die eben noch den Zug stürmen wollte, pfiff sich die Seele aus dem Leib. Neugierig den Hals reckend, versuchte er zu erspähen, was die halbwüchsigen Jungs so aus der Fassung brachte – wahrscheinlich ein Werderspieler, dessen Leistung mittels Pfiffen quittiert wurde.

Doch was Koch dann sah, ließ auch ihn, verhalten und leise allerdings, durch die Zähne pfeifen. Fünf kurzberockte, langbeinige junge Schönheiten hatten soeben den Zug auf dem gegenüberliegenden Gleis verlassen, Beauty Case in der einen Hand, Rollkoffer in der anderen. Koch nickte anerkennend, diese Mädchen hatten eindeutig Modelqualitäten. Hatte er nicht irgendwo gelesen oder gehört, dass die Vorauswahl zur Catwalk Princess in Bremen fallen sollte? Der Veranstalter war mit seinen Juroren schon seit einigen Wochen zugange, um das hübscheste Mädchen aus Norddeutschland auszuwählen. Die endgültige Entscheidung würde dann später in München fallen. Eigentlich hielt er von solchen Veranstaltungen nicht viel, doch der Anblick der fünf Grazien war schon eine Augenweide.

Auf dem Bahnhofsvorplatz entledigte Koch sich seines Mantels. Es war zwar gerade mal halb elf, doch die Frühlingssonne hatte bereits eine Kraft entwickelt, mit der Koch nicht gerechnet hatte. Das Tagungsbüro würde um elf Uhr öffnen, die erste Veranstaltung war dann für den späten Nachmittag geplant. Es sollte ein lockeres Zusammentreffen der Märchenforscher werden, ein erstes Kennenlernen, ein erster Gedankenaustausch. Ab morgen würden dann eine Woche lang Wissenschaftler aus ganz Europa ihre Fachvorträge halten und in anschließenden Diskussionen die Thesen der Kollegen entweder zerpflücken oder gutheißen. Und es gab ein tolles Rahmenprogramm, wie er der Internetpräsentation der Konferenz entnommen hatte. So wurde unter anderem eine Fahrt nach Bremerhaven mit Besuch des Auswandererhauses und des Klimahauses angeboten. Diese beiden Attraktionen der Seestadt hatte er sich schon immer einmal anschauen wollen.

Moritz Koch schaute auf die Uhr. Er würde die noch verbleibende Zeit bis zur Öffnung des Tagungsbüros nutzen, um bei seinen Vier Freunden vorbeizuschauen. Der Gedanke ließ ihn schmunzeln. Immer, und da gab es keine Ausnahme, immer wenn er nach Bremen kam, führte ihn sein erster Weg hinter das Rathaus zum Liebfrauenkirchhof, wo die berühmte Plastik der Bremer Stadtmusikanten von Gerhard Marcks stand. Die meisten Touristen, die die Skulptur bewunderten, waren zunächst erstaunt, wie klein die Stadtmusikanten waren, die auf ihrem hohen Podest standen.

Moritz Koch hielt kurz an, um seinen Trolley von der linken Seite auf die rechte zu befördern, als sein Handy klingelte. Er hielt nichts von dem ganzen Gedudel und Gebrumme, welches man sich heutzutage herunterladen konnte, sein Handy klingelte wie ein altes Bakelittelefon. Die Nummer auf dem Display war ihm nicht bekannt. Er zerrte seinen Koffer vor den Eingang zu einer dermatologischen Praxis und nahm den Anruf entgegen.

»Mensch, Hanna, das gibt’s doch nicht. Was, auf der Teilnehmerliste hast du mich gefunden? Ach so, abkommandiert, um über uns Exoten zu berichten. Na, werd’ mal nicht frech. Klar treffen wir uns, ich freu’ mich auf dich. Nee, mit Ulf hab ich noch nicht gesprochen. Der kann mich mal. Nee, ich möchte jetzt nicht wirklich mit dir über meine Familie reden. Aber du kennst ja Ulfs Frau, Silvia ist so ein mieses Stück, ein echter Schleimbolzen. Ja, ich beruhige mich schon wieder. Bei einem Bier gibt’s weitere Infos. Ja, tschüss Hanna. Ja, ja, doch, heute Abend beim Warm-up im Foyer, ja, ich mich auch.«

Moritz Koch freute sich wirklich. Hanna Wagner und er hatten zusammen die Schulbank gedrückt, Abitur gemacht und waren auch kurze Zeit, zwei Wochen in der neunten Klasse, um genau zu sein, ein Paar gewesen. Später kamen sie noch einmal zusammen, diesmal entstand eine ernsthafte Beziehung, die mit der alten Teenieschwärmerei nichts mehr gemein hatte. Mit Hanna konnte man Pferde stehlen. Doch die Liebe hatte der Entfernung zwischen Bremen und Kassel nicht auf Dauer standgehalten, und so hatten sie sich in aller Freundschaft getrennt.

Kaum hatte Moritz seinen Trolley wieder weiter in Richtung Innenstadt ziehen wollen, klingelte sein Handy erneut. Diese Nummer kannte er. Sein Bruder Ulf, sein großer Bruder Ulf, der absolut unter dem Pantoffel seiner Frau Silvia stand. Sein großer Bruder, der ihn doch tatsächlich um eine Menge Geld bringen wollte. Aber nicht mit ihm, das Testament von Onkel Hubertus würde er anfechten, koste es, was es wolle.

»Ja, Ulf, was willst du? Ach nee, sag nur. Wo du doch in Bremen wohnst, könnten wir uns treffen und alles gütlich besprechen?«, fauchte er mit beißendem Sarkasmus. »Du hast sie wohl nicht mehr alle! Mit gütlich besprechen ist bei mir nix mehr. Ich habe keine Zeit, und von meiner Seite aus ist alles gesagt. Ach, Silvia soll einfach mal ihre dämliche Fresse halten. Ja, du hast richtig gehört, ihre dääääämliche Fresse. Du weißt genau, dass Hubertus uns beiden zu gleichen Teilen sein Geld vermachen wollte. Aber das reichte deinem gierigen Weib ja nicht. Silvia musste sich an Hubertus ranwanzen, ihm Honig ums Maul schmieren, bis er sein Testament auch zu ihren Gunsten geändert hat. Nee Brüderchen, nicht mit mir. Dr. Stoll wird das Testament anfechten. Ja, das ist mir doch egal, wenn ihr euch dann mit der Doppelhaushälfte übernehmt. Das hättet ihr euch besser vorher überlegen sollen. Nein, nichts da, keine weitere Diskussion. In welchem Hotel ich abgestiegen bin? Wieso? Nein, wir sind alle im Hilton untergebracht. Ach, das heißt jetzt Radisson Blu, wusste ich noch gar nicht. Ja, gut, von mir aus, aber ohne Silvia. Eins noch vorweg Ulf, ich werde nicht nachgeben.«

Heftig atmend legte Moritz Koch auf. Der fast weinerliche Klang von Ulfs Stimme hatte ihn wieder etwas besänftigt. Aber er würde nicht freiwillig auf 90.000 Euro verzichten.

Jetzt musste er sich aber beeilen. Zügigen Schrittes führte ihn sein Weg Richtung Marktplatz, der Trolley hüpfte hinter ihm auf den Pflastersteinen auf und ab. Eine Traube von Menschen, Japaner, vermutete Koch, umringte Esel, Hund, Katze und Hahn, einer nach dem anderen stellte sich neben der Skulptur auf, wollte abgelichtet werden. Der Stadtführer schien den Touristen erklärt zu haben, dass ein Wunsch in Erfüllung geht, wenn man die Beine des Esels umfasst, denn unzählige Hände griffen nach den goldglänzenden Beinen des Esels, umschlangen sie, rieben sie.

Irgendwann, so dachte Moritz Koch, sind die Beine des Esels durchgerubbelt, und er wird mit seinen Kumpeln auf dem Boden landen. Auch er wollte die Beine noch berühren, denn wenn er dies nicht tun würde, so bildete er sich zumindest ein, würde dies einen endlosen Schwanz von Unglück für ihn hinter sich herziehen. Die Zeit drängte, und Koch schob rücksichtslos einige der Asiaten zur Seite, umfasste die Beine des Esels, schloss die Augen, murmelte seinen Wunsch. Die Gäste vom anderen Ende der Welt hatten es lächelnd hingenommen, dass der Einheimische sich einfach vorgedrängt hatte.

Die Domuhr schlug elf Mal. Der junge Wissenschaftler und Märchenforscher Dr. Moritz Koch sputete sich, um als einer der Ersten im Tagungsbüro zu erscheinen. Am Dom vorbei in Richtung Glocke eilend, erspähte er eine ihm bekannte Gestalt, die soeben durch den Eingang in das Innere des Gebäudes verschwand. Diese Rückansicht war unverwechselbar: hochgewachsen, athletisch, eisengraues volles Haar, sich trotz seiner 60 Jahre bewegend, als wäre er gut und gerne 20 Jahre jünger – der alte Isegrim hatte sich soeben unter die Konferenzteilnehmer gemischt.

*

Christiane Johannsmann wartete fröstelnd am Gleis 9, denn es zog fürchterlich, und, obwohl der Frühling schon richtig Gas gegeben hatte, waren die Nächte noch recht kalt. Die Hände tief in den Taschen ihrer bordeauxroten Jacke vergraben, die Schultern hochgezogen, hatte sich Christiane mit dem Rücken gegen den Wind gestellt. Sie war erst fünf Minuten hier und hatte das Gefühl, als stünde sie schon eine kleine Ewigkeit auf dem Bahnsteig herum. Ihre Füße hatten sich bereits in Eisklötze verwandelt, und Heiner hatte sich bereit erklärt, einen heißen Kaffee zu besorgen.

Sie war gespannt auf die Zwillinge, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte. Heiner hatte damit gerechnet, dass Christiane eher zurückhaltend reagieren würde, als er ihr von den beiden neuen Mitbewohnern berichtete. Christiane war noch nie eine Freundin von solchen Überfällen gewesen. Umso erstaunter war er, dass Christiane sich ehrlich über den Besuch seiner zwei Neffen zu freuen schien.

»Du wirst schon sehen, das wird nicht nur nett und lustig. Kannst du dich vielleicht noch an unseren letzten Besuch erinnern?«, hatte er sie mit skeptischem Gesicht gefragt.

»Ach komm schon, wie alt bist du eigentlich? Wir machen mit denen mal einen drauf, und alles ist gut. Außerdem sind die Zwei das Arbeiten nicht gewohnt, hängen wahrscheinlich abends in den Seilen und machen dann keinen Stress mehr«, hatte sie versucht, ihn zu beruhigen.

»Deinen Optimismus möchte ich mal haben«, war Heiners Antwort gewesen.

Christiane strengte sich an, die Lautsprecherstimme, die in diesem Moment irgendetwas verkündete, zu verstehen. Sie schnappte nur die Worte »fährt ein auf Gleis 9« auf, doch das reichte als Information. Wenigstens schien der Zug ausnahmsweise mal den Fahrplan einzuhalten. Und tatsächlich, wenige Augenblicke später vibrierte leicht der Boden, und sie sah den ICE sich nähern.

Christiane blieb, wo sie war und versuchte, Alexander und Jerôme unter den herumwuselnden Reisenden, die hier ausstiegen, auszumachen. Allmählich leerte sich der Bahnsteig. Nur ein junges Paar stand eng umschlungen da, und ein Obdachloser war dabei, die Mülleimer nach weggeworfenen Pfandflaschen zu durchsuchen, von denen er bereits eine in einer Plastiktüte verstaut hatte.

Christiane fragte sich, ob sie die Zwillinge wohl verpasst hatte. Vielleicht hatten die beiden sie ja nicht erkannt, waren ausgestiegen und sofort zum Ausgang gelaufen, in der Meinung, ihr Onkel würde auf dem Parkplatz auf sie warten. Es würde auch zu den beiden passen, sich alleine auf den Weg zur Wohnung zu machen. Heiner hatte recht, so einfach waren die Zwillinge vielleicht doch nicht.

Christiane reckte noch einmal den Kopf in alle Richtungen, als ihr Handy klingelte.

»Hallo, Schatz«, flötete sie, als sie sah, wer anrief, »was gibt’s, ist der Kaffee alle?«

»Hi, Süße. Die Jungs haben mich gerade angerufen. Sie haben den Anschluss in Hannover verpasst – warum überrascht mich das nicht –, und sie kommen jetzt erst um 10.44 Uhr an. Dank eigener Kreditkarten haben sie in einem Hotel in Bahnhofsnähe eingecheckt. Ich sag dir eines, das fängt ja schon gut an. Wenn das in dem Stil so weitergeht, bleiben die keine zwei Wochen bei uns.« Heiner war stinksauer, das konnte sie hören.

»Ist doch nicht so dramatisch, kann ja mal passieren. Wir fahren jetzt erst mal nach Hause, hauen uns eine Runde aufs Ohr und holen sie später ab«, besänftigte Christiane ihren Freund. Sie war erleichtert, dass die Jungs sich gemeldet hatten und offensichtlich doch bereits schon recht selbstständig waren.

»Ja, von mir aus. Heute ist ja Gott sei Dank Samstag. Ich komme dir entgegen, und wir treffen uns unten an der Treppe.«

HANNA 1

Hanna Wagner saß vor ihrem Laptop und widmete sich ihrer neuen Exklusivstory. Ihr Büro glich einem kleinen Dschungel, denn neben dem Schreibtisch, dem Stuhl und einigen Regalen beherrschten Pflanzen das große, helle Zimmer. Auf dem Fensterbrett tummelten sich knallrot blühende Dipladenien und Japanrosen, deren Blütenkelche wie gemalt aussahen. Neben den großen Fenstern reckten zwei riesige Philodendren und ein monströser Gummibaum ihre Zweige in die Höhe. Auf dem Boden standen weitere Topfpflanzen, ein Elefantenfuß, zwei Glücksfedern und eine Curcuma, die bereits Blütentriebe bildete. Ganz neu in Hannas Sammlung war eine Frangipani, die sie sich im Internet bestellt hatte. Sie liebte den intensiven süßen Duft der Blüten.

Diese Geschichte könnte ein echter Knaller werden. Welferding, ihr Chef, hatte keine Ahnung, was sie neben ihrer sonstigen Arbeit so trieb. Aber wenn sie ihm diese Story vorlegen würde, würde er Augen machen. Hanna Wagner hegte den Verdacht, dass ein Jurymitglied des Modelcastings The Catwalk Princess seine Stellung weidlich ausnutzte, um sich die Mädchen gefügig zu machen und sie zu missbrauchen, zumindest einige von ihnen. Nur eines der Mädchen, die Hanna versucht hatte, zu kontaktieren und mit ihr über den Verdacht zu reden, war bisher bereit gewesen, sich überhaupt mit ihr zu treffen. Es war frustrierend gewesen, in das ablehnende Gesicht zu blicken. Mit großen Augen und stumm reagierte sie auf Hannas vorsichtige Fragen. Nein, wie sie denn auf eine so absurde Idee kommen würde. Niemand wollte ihr an die Wäsche. Alle seien nur nett und freundlich gewesen, so der Tenor.

Die Mädchen schienen alles in Kauf zu nehmen, nur für den mehr als unwahrscheinlichen Fall, berühmt zu werden. Was war nur los mit den jungen Leuten heutzutage? Wollte denn keiner mehr einen Beruf erlernen oder studieren? Die meisten wollten ein Superstar werden. Fast auf jedem Fernsehkanal gab es irgendwelche Shows, für die sich junge Leute und teils sogar ältere Erwachsene bewarben, um zu singen und zu tanzen, sich zum Affen und im schlimmsten Fall auch zum Gespött der Zuschauer zu machen. Hanna hatte dafür null Verständnis, vor allem, nachdem eine neue Studie ergeben hatte, dass Teilnehmer an Castingshows zum Teil später noch jahrelang depressiv waren.

Die Journalistin war überzeugt, dass es genügend Menschen gab, die die Träume vom schnellen Geld und Berühmtheit schamlos für ihre eigenen Zwecke ausnutzten. Und einen von ihnen hatte Hanna Wagner jetzt im Visier. Vor drei Jahren war der Castingmanager Bruno Nies in Frankfurt der sexuellen Belästigung zweier Mädchen bezichtigt worden, doch es war nie zu einer Anklage gekommen. Die Beweislage war zu dünn gewesen und das Verfahren schließlich eingestellt worden. Hanna ging jede Wette ein, dass da eine Menge Geld geflossen war, nur damit die Mädchen den Mund hielten. Was waren das nur für Eltern, die lieber ein paar Tausend Euro nahmen und darauf verzichteten, dass ihren Kindern Gerechtigkeit widerfuhr?

Verkorkste Welt, dachte Hanna und spielte gedankenverloren mit einem Bleistift. Niemand hatte diese Geschichte damals weiter verfolgt, doch Hanna hatte sie keine Ruhe gelassen. Seither hatte sie Bruno Nies nicht mehr aus den Augen verloren, hatte sich wie ein Jagdhund an seine Fersen geheftet. Doch der Mann war gerissen. Er ahnte allerdings nicht, wie hartnäckig eine Hanna Wagner sein konnte. Die Journalistin untersuchte jede noch so kleine Spur, die ihren Verdacht untermauern könnte. Und nun war Nies mit seinem ganzen Tross nach Bremen gekommen, um auch hier jede Menge junger hübscher Mädels zu begutachten, ob sie für die Laufstege und Hochglanzmagazine dieser Welt taugen könnten.

Hanna hatte in einer Mappe die Fotos der Mädchen gesammelt, von denen sie wusste oder zu wissen glaubte, dass sich Nies an ihnen vergangen hatte. Diese Mädchen hätten Schwestern sein können. Es hatte eine Zeit lang gedauert, dann hatte sie aus den Hunderten von Mädchen, die sich in Bremen bewarben, die herausgefischt, die ihren Vorgängerinnen am ähnlichsten sahen.

Zwei von ihnen waren in die engste Wahl gekommen, mit ihnen wollte sich Hanna unterhalten. Heute Nachmittag noch wollte sie sich mit Kira Funke treffen, sie passte am besten in Brunos Beuteschema. Gertenschlank, hellblondes langes Haar, ein ebenmäßiges Gesicht mit großen dunklen Augen. Natürlich machten groß gewachsene hübsche Blondinen einen großen Teil der Mädchen aus, die sich der Nachwuchsmodelkonkurrenz stellten. Aber diese hatten etwas ganz Besonderes an sich.

Hanna war auf Anhieb das altmodische Wort liebreizend eingefallen. Ja, diese jungen Dinger strahlten eine Art Liebreiz aus, der sie schon wieder verletzlich erscheinen ließ. So wie diese Prinzessin in dem Märchenfilm Drei Nüsse für Aschenbrödel, den sich Hanna jedes Jahr in der Weihnachtszeit erneut anschaute. Und dieses strahlende Aussehen hatten die beiden Frankfurterinnen, ein Mädchen aus Mannheim, eins aus Bochum und eben Kira Funke. Allerdings traf das Wort gertenschlank bei ihr nicht ganz zu. Sie war viel zu dünn. Hanna wusste, dass das Mädchen unter Magersucht gelitten hatte oder vielleicht noch litt. Wie so oft im Leben eines Journalisten hatte Hanna dabei der Zufall in die Hände gespielt.

Kira war befreundet mit Dennis, dem Sohn von Hannas Liebhaber. Eigentlich war Dennis auf Hanna nicht gut zu sprechen gewesen, aber mittlerweile hatten die beiden eine Art Waffenstillstand geschlossen. Der Junge wusste, dass sie eine Reportage über Castings schrieb, allerdings konnte er natürlich nicht ahnen, um was es Hanna bei ihren Recherchen wirklich ging. Dennis vergötterte Kira Funke, folgte ihr beinahe wie ein treuer Hund, nur leider wurde seine Liebe nicht erwidert. Kira mochte Dennis sehr, aber sie hatte ihm zu verstehen gegeben, dass sie nicht mehr als eine reine Freundschaft wollte. Doch dem Jungen schien es nichts auszumachen, wo immer Kira auftauchte, war Dennis meist nicht weit. Er tat Hanna leid.

Hanna riss sich zusammen, Dennis war nun wirklich nicht ihr Problem. Sie streckte sich auf ihrem Schreibtischstuhl und begann, ihren Artikel zu schreiben. Die Arbeit ging ihr gut von der Hand, der Artikel nahm Formen an, und parallel dazu notierte sie sich Punkte und Fragen, die noch zu klären waren. Erst als sich ihr Magen mit einem lauten Grummeln meldete, bemerkte sie, dass sie heute außer ein paar Frühstücksflocken noch gar nichts gegessen hatte. Eine kleine Pause und etwas Herzhaftes auf dem Teller wären sicherlich nicht verkehrt für die Konzentration.

Hanna stand auf und ging in die winzige Küche, um den Backofen vorzuheizen. Viel mehr als eine Fertigpizza Quattro formaggi gab ihre Kühl-Gefrierkombination nicht her, aber das war besser als nichts. Im Gemüsefach lagen noch ein halber Salatkopf und zwei Tomaten, die als ein kleiner Salat enden sollten. Wenigstens etwas Frisches zur Pizza, dachte Hanna, die sich seit einer, allerdings unspektakulären Gallengeschichte etwas bewusster ernährte.

Das Radio spielte leise im Hintergrund einen Hit von Adele, während Hanna nochmals die Fragen an Kira, die sie sich auf ihrem großen Block notiert hatte, durchging. Hanna erschrak, als es plötzlich an ihrer Wohnungstür Sturm klingelte. Pizarro, Hannas kleiner Hund, der bis dahin schlafend in seinem Körbchen gelegen hatte, sprang kläffend heraus und raste zur Tür. Hanna schob den Stuhl zurück und warf einen Blick durch den Spion. Dennis. Was wollte er denn von ihr?

Sie klemmte sich den Hund unter den Arm und öffnete.

»Hi, Dennis, was …« Weiter kam sie nicht, der junge Mann begann haltlos zu schluchzen. Sie fasste ihn an der Schulter, zog ihn herein und bugsierte ihn ins Wohnzimmer, wo sie ihn sanft auf das Sofa niederdrückte. Pizarro schien zu spüren, dass irgendetwas nicht stimmte. Er winselte und schlich bedrückt in sein Körbchen zurück, nachdem Hanna ihn wieder auf dem Fußboden abgesetzt hatte. Angst überfiel sie. War seinem Vater etwas zugestoßen? Nein, ganz sicher nicht. Damit wäre Dennis bestimmt nicht zu ihr gekommen. Doch was konnte Dennis so aus der Fassung bringen? Kira!

Oh je, Hanna war voller Mitgefühl, vielleicht hat Kira jetzt einen richtigen Freund und Dennis nun aus ihrem Dunstkreis verbannt. Der arme Junge.

Mit heftigem Schniefen und sich mit dem Jackenärmel die Nase abwischend, beruhigte sich Dennis allmählich.

»Was ist los, willst du was trinken?« Hanna setzte sich mit sorgenvoller Miene in den Sessel, der direkt neben dem Sofa stand.

Der Junge schüttelte den Kopf, dann holte er tief Luft.

»Kira ist tot«, brachte er dann mühsam hervor, bevor ihn ein erneuter Heulkrampf schüttelte.

Entsetzt schlug Hanna die Hand vor den Mund. »Um Gottes willen, Dennis, sag mir, was passiert ist!«

»Sie hat …, sie hat sich … vor einen Zug geworfen«, stammelte er und vergoss weitere bittere Tränen.

Fassungslos stand die Journalistin mit zitternden Beinen auf, um eine Packung Papiertaschentücher zu holen. Zurück kam sie mit einer Flasche Wasser, zwei Gläsern und den Tüchern, die sie dem jungen Mann wortlos hinhielt.

Dennis schnaubte ausgiebig in eines hinein, nahm ein weiteres Taschentuch und schnäuzte sich erneut. Dann holte er tief Luft und blickte die Freundin seines Vaters aus roten verquollenen Augen an.

»Warum hat sie das getan, Hanna? Es ging ihr doch wieder besser. Sie hat wieder gegessen, gelacht … Ich versteh es einfach nicht.« Er raufte sich die Haare.

»Dennis, wann ist das passiert?« Hanna hielt ihm ein Wasserglas hin, das er nun dankbar entgegennahm.

»Heute früh.«

»Woher weißt du das denn überhaupt?«, wollte Hanna wissen.

»Ihre Mutter hat mich um ein Uhr heute Morgen angerufen, ob ich wüsste, wo Kira steckt. Aber ich hatte keine Ahnung. Sie wollte mit den anderen Mädchen noch etwas trinken gehen, das war alles, was ich wusste. Um halb zwei hat sie dann wieder angerufen und mir gesagt, Kira wäre jetzt nach Hause gekommen. Ich hatte sie darum gebeten, mir Bescheid zu geben.« Dennis trank das Glas in einem Zug leer und drehte es anschließend in seinen Händen. Starrte es an, als könne er darin eine Antwort auf die Frage finden, warum seine Traumfrau sich das Leben genommen hatte.

»Kiras Mutter hat mich dann noch einmal angerufen, heute früh um halb sieben oder so. Die war richtig panisch, weil Kira schon wieder verschwunden war. Sie hat wohl gar nicht mitbekommen, dass Kira das Haus verlassen hatte. Eine Stunde später hat sich die Polizei bei ihr gemeldet.« Es tat gut, mit jemandem darüber zu reden und seinen Tränen freien Lauf lassen zu können. Der Schmerz war zwar unendlich groß, aber Dennis war seltsamerweise froh, dass er nun seinen Kummer bei Hanna loswerden konnte. Seine Mutter hätte dafür nicht getaugt, die hatte seine Schwärmerei für den Hungerhaken noch nie richtig verstanden.

»Wo ist Kiras Mutter jetzt? Sollte nicht jemand bei ihr sein? Sie hat doch sonst niemanden mehr.« Hanna schenkte sich einen Schluck Wasser ein.

Dennis schüttelte den Kopf. »Kiras Patenonkel wohnt in Verden, den hat sie bestimmt informiert. Jetzt ist Frau Funke bei der Polizei. Sie muss die Leiche identifizieren. Das ist der reinste Horror! Überleg doch mal, wie sie aussehen muss, nachdem sie sich vor den Zug geschmissen hat! Oh mein Gott!« Er jaulte auf wie ein geprügelter Hund, und die Tränen strömten erneut über sein Gesicht.

»Dennis, sie muss sich Kira nicht anschauen, wenn man sie anhand von Tattoos oder Muttermalen oder so was identifizieren kann. Da zeigt man den Angehörigen nur Fotos davon. Weißt du, ob Kira tätowiert war oder irgendeine Auffälligkeit hatte?«

Dennis zog den Rotz in seiner Nase hoch und nickte. »Ja«, presste er mit tränenerstickter Stimme hervor, »Kira hatte ein komisches Mal im Nacken. Von Geburt an, hat sie mir erzählt. Sie hat es mir auch mal gezeigt, man konnte es ja durch ihre langen Haare nicht sehen. Storchenbiss nennen es die Ärzte, hat sie gesagt.«

»Hast du Hunger? Ich wollte mir gerade ’ne Pizza warm machen?«, wechselte Hanna das Thema, bemüht, Dennis etwas abzulenken.

Dennis schüttelte den Kopf. Er fühlte sich, als könne er in seinem ganzen Leben nichts mehr essen.

»Dennis, ich bin gleich wieder da, ich schalte nur schnell den Backofen aus, sonst verbrennt mir noch die Pizza.« Hanna verschwand, gefolgt von ihrem winzigen Hund, in die Küche.

Dennis stand auf. Er brauchte noch ein Taschentuch, und Hanna hatte die Packung auf ihren Schreibtisch gelegt. Sein Blick fiel auf den schwarzen Bildschirm des aufgeklappten Laptops. Hanna hatte wohl, bevor er kam, an etwas gearbeitet. Der kleine Computer brummte vor sich hin. Dennis hatte keine Erklärung dafür, aber er fuhr mit dem Finger über das Touchpad, der Bildschirm wurde hell, und die Worte Missbrauch und Modelshows sprangen ihm förmlich ins Auge. Gebannt fing er an zu lesen.

Die Ofentür knallte zu, Dennis schreckte zusammen, setzte sich schnell wieder auf seinen Platz. Er hatte genug gesehen.

Hanna Wagner kam zurück mit der bereits in Achtel zerteilten Pizza und einer Schüssel Salat.

»Ich glaube, ich nehm’ doch ein Stück«, sagte Dennis zaghaft.

»Bedien dich. Willst du auch Salat dazu?«, bot Hanna dem jungen Mann an.

»Nee, lass mal. Zu gesund.« Dennis schenkte ihr ein gequältes Grinsen. Sie unterhielten sich noch eine Zeit lang über Kira, über ihre Krankheit und ihre Träume, nachdem sie wieder Hoffnung geschöpft hatte. Nach etwa einer Stunde machte sich Dennis auf den Nachhauseweg.

Hanna Wagners journalistischer Instinkt sagte ihr, dass es zwischen Kiras Selbstmord und der Modelshow einen Zusammenhang geben musste, und diesen würde sie finden.

Derselbe Gedanke ging auch dem Jungen durch den Kopf und entfachte in ihm eine unbändige Wut.

*