Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau - Helga Bögl - E-Book

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau E-Book

Helga Bögl

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Beschreibung

Ella, eine Frau Anfang 50, steckt nach über 30 Ehejahren mitten in der Scheidung. Um mit ihrem Gefühlschaos klarzukommen, beginnt sie, ihre Lebensgeschichte niederzuschreiben und wird von den Erinnerungen des Erlebten aus Kindheit und Jugend überrollt. Doch damit nicht genug. Während sie versucht, ihr eigenes Leben neuzuordnen, wird sie ständig gezwungen, ihren beiden Söhnen Pit und Tobias aus Krisensituationen herauszuhelfen. Auch das Verhältnis zu ihrer Tochter Anna ist nicht spannungsfrei. Die größte Fessel jedoch ist ihr geschiedener und alkoholabhängiger Mann Paul. Es gelingt Ella einfach nicht, sich um sich selbst und ihre Bedürfnisse zu kümmern; sie reibt sich auf für die Familie und die eigene Firma. Sie verliert den geliebten Bruder, die Mutter, einen Freund. Nach Jahren der Opfer könnte Ella mit ihrem Lebensgefährten Nick eigentlich ihren Lebensabend genießen, doch dann kommt alles anders.

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Seitenzahl: 577

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Helga Bögl

Ella - Braves Mädchen - Wegwerf-Frau

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Trennung

Erinnerungen an die Kindheit

So war das mit der Heirat

Es lockt die Liebe

Die Kinder

Der Traum vom Haus

Der Führerschein

Gemobbt im Trennungsjahr

Die Scheidung und die Zeit danach

Liebe zur Musik mit kritischen Texten

Dämon Alkohol

Immer wieder Schicksalsschläge

Tiefe Wunden

Israel – eine beeindruckende Reise

Das Leben geht weiter

Traurige Erlebnisse im Pflegeheim

Die Familie

Liebe geht und Liebe kommt

Impressum neobooks

Die Trennung

Mit einem lauten Knall schlug Ella die Wohnzimmertüre hinter sich zu. Sie war wütend und hatte sich wieder einmal mit ihrem Mann Paul gestritten. Es ging immer um das gleiche Thema: Sie wollte die Scheidung und er nicht. Hinter der Türe konnte man ihn noch toben hören, aber es war kein richtiges Toben, es war mehr ein Gelalle, weil er schon wieder einmal getrunken hatte. Er war Alkoholiker, und seit Jahren ging das nun schon so. Immer wieder, wenn Ella von einer Scheidung sprach, fing er an zu toben. Er hatte es ja auch sehr bequem hier im Haus. Ella kümmerte sich um alles. Neben ihrem Beruf versorgte sie nicht nur ihn und ihren jüngsten Sohn Tobias, sondern auch noch Haus und Garten. Sie liebte ihr Haus, das sie damals nur bauen konnten, weil sie viel Unterstützung von ihren Eltern und einen Bausparvertrag von ihrem Bruder bekommen hat.

Von ihren drei Kindern war Tobias der Jüngste, und er war auch der einzige, der noch zu Hause wohnte. Er stand kurz vor dem Diplom, und das war auch der Grund, warum sie immer noch hier geblieben ist. Sie wollte warten, bis er seinen Dipl.-Ing. in der Tasche hatte, aber sie hatte es satt, die beiden hinten und vorne zu bedienen. Tief in ihrem Herzen wartete sie auf ein Wunder, das die Lösung zu ihren Problemen bringen würde. Sie wusste, sie würde eine Scheidung nur erreichen, wenn sie beide, wie es das Gesetz verlangt, ein Jahr getrennt von Tisch und Bett leben würden, doch dass sie und Paul unter einem Dach leben würden war nicht möglich.

Seit Jahren führten sie und Paul schon keine Ehe mehr. Es war nur noch so ein „Nebeneinanderherleben“ wegen der Kinder. Paul sah Ella schon längst nicht mehr so, wie ein Mann seine Frau sieht. Er betrachtete sie wie sein Eigentum. Sie hatte manchmal das Gefühl, er sah in ihr so eine Art Nippesfigur, eine, die man im Schrank stehen hat, mit der man nichts anfangen kann, aber die man auch nicht hergeben möchte, weil man sie keinem anderen gönnt. Er hatte keine Hobbys, saß den ganzen Tag vor dem Fernseher und trank eine Flasche Bier nach der anderen. Tobias, dem das Lernen leicht fiel, war nicht viel besser als sein Vater. Manchmal hatte er gar keine Lust, zur Uni zu gehen, und oft lag er noch im Bett, wenn Ella bereits aus dem Büro heimkam. Keiner der beiden machte auch nur einen Finger krumm, um sie zu unterstützen.

Es war zum Verrücktwerden, und sie hatte das Gefühl zu ersticken, wenn sie noch länger bleiben würde. Schon seit Tagen grübelte sie, wie es weiter gehen sollte, und sie hatte für alle Fälle bereits einen Koffer mit dem Nötigsten gepackt. Sie war fest entschlossen auszuziehen. Sollten die beiden doch mal sehen, wie sie zurechtkamen.

Heimlich hatte sie sich ein kleines Apartment gemietet, in das sie sich immer dann zurückzog, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushielt. Aber das war natürlich nicht der einzige Grund. Sie hatte seit Jahren einen Geliebten, mit dem sie sich hier, meistens am Wochenende, traf. Und es gab noch einen weiteren Grund, sie hatte ein schönes Hobby. Sie liebte das Schreiben, und das konnte sie zu Hause nicht. Seit Paul wegen seiner Trunksucht verfrüht in Rente geschickt wurde, war er meistens schon am frühen Morgen angetrunken. Er meckerte und stänkerte ständig und gab einfach keine Ruhe. Manchmal war es überhaupt nicht mehr auszuhalten. Hier aber hatte sie ihre Ruhe. Sie schrieb ab und zu Artikel für eine kleine Zeitschrift an ihrem Ort. Sie schrieb gerne Gedichte, die auch schon veröffentlicht worden sind.

Paul und sie hatten bereits seit Jahren getrennte Schlafzimmer, und wenn sie ihn rumoren hörte, was nicht selten vorkam, lag sie so manche Nacht wach und wünschte sich dann, in ihrem Apartment zu sein. Weil sie sich mit ihrem Beruf und mit ihrer Familie überfordert fühlte, flüchtete sie immer öfter in ihre kleine Welt, in das Apartment. So auch heute, und sie war fest entschlossen, Paul endgültig zu verlassen. Sie nahm sich vor, gleich morgen ihre Anwältin anzurufen.

Mit dem Koffer in der Hand hatte sie, ohne ein Wort zu sagen, das gemeinsame Haus verlassen und fuhr in ihr kleines Reich, wie sie es nannte. Gleich nach dem Eintreten warf sie sich auf das breite, französische Bett in der Mitte des Raumes. Sie war unglücklich, unentschlossen und voller Zweifel, ob sie auch das Richtige getan hatte. Schon oft hat sie hier auf dem Bett gelegen und über ihr verpfuschtes Leben nachgedacht. In all den Jahren hatte sich eine Menge Groll angestaut, und sie hatte einmal gelesen, dass es hilfreich sein kann, seine Gedanken und seinen Ärger niederzuschreiben. Aber bei ihr war es ja nicht nur der Ärger. Sie hatte manchmal das Gefühl, als sei sie angekettet. Angekettet an Paul, und sie schaffte es einfach nicht, sich aus dieser Umklammerung zu lösen. In Gedanken flüchtete sie sich oft in die Vergangenheit.

Alles hatte sie zum Schreiben vorbereitet. Die alte Schreibmaschine von zu Hause hergebracht und Papier besorgt, aber wo sollte sie beginnen? Sie fand einfach nicht die richtigen Worte, um mit ihrer Geschichte zu beginnen.

Erinnerungen an die Kindheit

Ja früher, das war eben eine andere Zeit. Eine Zeit, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Damals, nach dem Krieg, war sie mit ihren Eltern, es war 1946 im Mai, aus der Tschechoslowakei ausgewiesen worden. Sie war knapp acht Jahre alt. Deutsche Kinder hatten es in den Jahren 1945/46 nicht leicht. Sie durften nicht zur Schule gehen und so versuchte Ellas Oma, dem Kind ein bisschen Lesen und Schreiben beizubringen.

Viele Begebenheiten aus ihren Kindertagen hatten sich in Ellas Gedächtnis festgebrannt. So konnte sie den Tag nie vergessen, an dem sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder, der damals noch ganz klein war, in den Luftschutzkeller geflüchtet war, der ein paar Häuser weiter zur Verfügung stand. Die Sirenen heulten, und die Menschen liefen alle aufgeregt durcheinander. Jeder versuchte, ein paar seiner Habseligkeiten in den Keller mitzunehmen. Ihre Mutter stellte plötzlich fest, dass sie das Sparbuch vergessen hatte. Sie ließ die beiden Kinder in dem Keller allein, um nochmals schnell nach Hause zu laufen und das Sparbuch zu holen. Ella umklammerte ihren kleinen Bruder und hatte furchtbare Angst, dass Mutter nicht wiederkommen würde. Es war ein solches Stimmengewirr und Durcheinander, und viele Leute drängten eilig in den Keller. Sie spürte große Erleichterung und klammerte sich ängstlich an die Mutter, als diese wiederkam.

Auch der gefangene Soldat, der durch das Fenster um Brot bettelte, fiel Ella wieder ein. Die damalige Wohnung ihrer Eltern war in einer langen Gasse gegenüber einem Gefängnis. Oft hörte Ella Schüsse, die durch die Mauern drangen, und manchmal auch Schreie. Als sie einmal mit den Nachbarskindern auf der Straße spielte, klopfte ein Mann von innen an das Gefängnisfenster. Das Fenster ragte nur halb aus der Erde, es musste dort der Keller gewesen sein. Der Mann deutete mit der Hand an den Mund und machte Zeichen, als ob er Hunger hätte. Ella rannte zu ihrer Mutter und erzählte ihr, was sie gesehen hatte. Die Mutter gab ihr einen halben Laib Brot, den Ella dann dem Mann durch die Gitterstäbe am Fenster durchsteckte, und der Mann verschwand dann eilig mit dem Brot.

Und an die Zeit der Zwangsausweisung konnte sich Ella noch ganz genau erinnern. Die Leute in dem kleinen Dorf, in dem sie geboren wurde, wurden zusammengetrieben wie eine Viehherde und in ein Auffanglager gesteckt. Sie konnte sich noch an eine große Halle mit Betonfußboden entsinnen, auf dem Stroh ausgelegt war, und dort schliefen viele Menschen. Es waren vor allem Frauen mit Kindern und viele alte Leute. Mutter besaß einen Blechnapf, mit dem Ella zum Essenholen geschickt wurde. Ihre Mutter musste bei Ellas kleinem Bruder bleiben, der zu dieser Zeit krank war. Alle Leute mussten vor dem Ausschank in der Suppenküche in einer langen Reihe anstehen, und jeder wartete geduldig, bis er an der Reihe war und ein wenig zu essen bekam. Es gab wirklich nur wenig, meistens nur ein bisschen Suppe mit einigen Kartoffelstückchen, manchmal gab es auch etwas Tee und eine kleine Scheibe Brot. Was sonst noch in dem Lager geschah, hatte sie gedanklich irgendwie verloren. So sehr sie sich auch zu erinnern versuchte, es war nichts mehr da, es war wie ausgelöscht. Nun ja, sie war auch ein sehr verträumtes Kind und hatte vielleicht alles nur verdrängt und konnte sich deshalb an viele Vorkommnisse nicht mehr erinnern.

Die Verladung auf dem Bahnhof, als alle in die vielen Waggons gezwängt wurden, konnte sie sich wieder ins Gedächtnis rufen. An der Grenze nach Deutschland mussten alle aussteigen. Alle mussten in einen großen Waschraum gehen und sich ausziehen, und zwar nackt. Dann kamen irgendwelche Leute und besprühten die Menschen zuerst mit einem weißen Pulver, um sie dann abzuduschen. Es hieß, es sei wegen der Läuse und Flöhe, die sonst eingeschleppt werden könnten. Alle mussten zurück in die Waggons, und die Fahrt ging dann weiter. Unvergessen war Ella noch der Bahnhof, an dem einige Leute aussteigen mussten. Bauern standen dort mit Traktoren und Anhängern. Ganz plötzlich war auch ihr Vater da. Mutter fiel ihm in die Arme. Während alle auf die Anhänger verladen wurden, erzählte Vater, wie er sie gefunden hatte. Er berichtete auch, dass er aus dem Gefängnis ausgebrochen war und sich bis zur Grenze versteckt halten musste. Es war ein großes Durcheinander auf dem Bahnhof. Keiner wusste, was man zu erwarten hatte. Als alle Leute aus den Waggons auf die Traktoren und Hänger verteilt waren, ging die Fahrt weiter. Vorher hatte noch jeder vom Roten Kreuz, das auf dem Bahnhof anwesend war, eine Zahnbürste mit Zahnpasta bekommen. Dazu erhielt jeder eine warme Decke und einen Becher mit heißen Tee. Zusätzlich bekam von den Erwachsenen jeder ein aufklappbares Feldbett. Das wusste Ella noch genau. Viele Jahre danach hatte Vater dieses Bett immer noch, und wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam und das Wetter war schön, legte er sich mit diesem Feldbett in den Garten.

Am Bahnhof musste Ella noch zur Toilette. Sie staunte, denn da war eine richtige Toilette mit Kloschüssel, und ein Waschbecken war auch da. Es war nicht wie im Waggon, wo in der Mitte ein Loch im Boden war, und wenn einer „musste“, breiteten ein paar Leute ihren Mantel aus, standen mit dem Rücken zum Loch, und mit ausgebreiteten Mänteln verdeckten sie die Blicke, so dass die Notdurft verrichtet werden konnte. Auch bei Großmutter gab es kein solches Klo. Da gab es ein kleines Häuschen hinten im Stall. Man setzte sich auf ein Brett, das über einem Loch befestigt war, und zum Säubern nahm man altes Papier. Wenn man einmal nachts musste, nahm Großmutter einen Nachttopf, ein sogenanntes „Potschamperl“ unter dem Bett hervor, das dann am Morgen ausgeleert wurde.

Ella wusste noch, dass sie damals auch die Großmutter und den Großvater aus einem der Waggons aussteigen sah, und die Tante, die Schwester ihrer Mutter, war auch mit dabei. Auch sie wurden alle auf einen Anhänger verladen. Die Fahrt ging über holprige Straßen, durch einen dichten Wald und über einen Feldweg. Dann waren sie plötzlich im Hof bei einem Bauern, und es kamen zwei Frauen, die beim Absteigen behilflich waren.

Jede Familie wurde bei einem anderen Bauern abgeladen, alle aus den Waggons wurden auf die umliegenden Dörfer verteilt. Großmutter und Großvater und auch die Tante wurden bei einem Bauern im gleichen Dorf wie Ella und ihre Eltern abgeladen, und Ella freute sich, dass sie alle beisammen waren. Nur ihre beiden Onkel, die Brüder ihrer Mutter, fehlten noch. Die seien immer noch in Kriegsgefangenschaft in Russland, so hatte sie einmal gehört, als die Erwachsenen sich unterhielten. Sie liebte ihre Großmutter sehr, denn sie hatte ja die ersten fünf Jahre bei ihr auf dem Bauernhof verbracht. Sie war ein „lediges Kind“, wie man damals sagte, und ihre Eltern heirateten erst, als Vater von der Front heimkam. Das war genau an ihrem ersten Geburtstag. Das Häuschen, das Ellas Familie zugewiesen bekam, war vorher ein sogenanntes Austragshaus gewesen. Das ist ein kleines Häuschen neben einem Bauernhof, in welches üblicherweise der Bauer oder die Bäuerin einzogen, falls eines der Kinder den Hof übernehmen würde. Meistens war das der ältere Sohn. Aber in diesem Falle gab es auf dem Bauernhof keinen männlichen Erben. Es waren nur drei heiratsfähige Töchter da, und die älteste davon hatte ein verkürztes Bein und hinkte. Die Bäuerin mit ihren Töchtern war nicht gerade erfreut, weil sie Ella und ihre Familie aufnehmen mussten. Das Häuschen, das nun ihr neues Heim werden sollte, stand lange Zeit leer und wurde vorübergehend als Unterkunft für die Schweine genutzt. Es war zwar saubergemacht und notdürftig hergerichtet, aber der Geruch der Schweine hing noch in der Luft. Die Wände waren noch eine Handbreit über dem Boden ganz feucht und schmutzig. Es waren zwei kleine Räume. Man ging durch den einen Raum in den anderen, das war bei Ella noch sehr präsent. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihren Vater vor sich, wie er mit einer Kelle den feuchten und stinkenden Mörtel vom unteren Rand der Mauern kratzte und neuen Mörtel aufzog. Ihre Mutter schrubbte den Bretterboden mit einer Wurzelbürste und murmelte: „Hauptsache, wir haben ein Dach über dem Kopf.“ Die erste Verpflegung bekam die Familie von der Bäuerin. Etwas Milch und etwas Brot, und am Abend wurde die ganze Familie beim Bauern zu einer Brotsuppe eingeladen. Nie im Leben hatte ein Essen so gut geschmeckt. Es gab gekochte Kartoffeln, die mit einem Löffel aushöhlt wurden, und dieser Inhalt wurde zur Brotsuppe gegessen, in die man noch vorher etwas Milch gegossen hatte.

Ellas Mutter arbeitete von da an als Magd beim Bauern. Sie half im Stall und auf dem Feld, und verdiente sich ab und zu etwas Geld durch Näharbeiten. Sie hatte in der Tschechoslowakei Damenschneiderin gelernt, und so wurde sie bald bei verschiedenen Bauern eingeladen, um Kleidung auszubessern oder auf Hochzeiten zu helfen, die Braut zu schmücken. In dieser Zeit musste Ella immer auf ihren kleinen Bruder aufpassen und nach dem Mittagessen das Geschirr spülen. Sie hasste das als Kind, und auch heute noch mochte sie es nicht, Geschirr abspülen zu müssen. Ihre Mutter half auch sehr oft bei den Bauern, die Aussteuer für die Braut herzurichten, und Ella konnte sich mit Schmunzeln noch daran erinnern, wie da geschummelt wurde. Im Aussteuer-Schrank wurde hinter die Wäsche Zeitungspapier gestopft, die Wäsche dann mehrmals gefaltet und von hinten mit dem Zeitungspapier gestützt, damit es von vorne so aussah, als hätte die Braut ganz viel Wäsche im Schrank. Es war ja Brauch, dass die Hochzeitsgäste sich die Mitgift der Braut ansehen durften.

Ihre Mutter war überhaupt sehr geschickt. Sie konnte so vieles, was man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Sie machte selbst Bier. Es war zwar sehr dunkel, aber es schmeckte toll. Natürlich hatte Ella heimlich genascht, sonst hätte sie ja nicht gewusst, wie es schmeckt. Damals legte man für den Winter Vorräte an, denn frisches Gemüse gab es im Winter nur, wenn man vorgesorgt hatte. Ellas Mutter hatte eine Kiste im Schuppen, vollgefüllt mit Sand. In diese Kiste wurde Gemüse für den Winter eingegraben, das heißt, mit Sand zugedeckt, damit es frisch blieb. Am schönsten aber war es, wenn Ellas Mutter zu Weihnachten Schokolade machte. Sie verrührte Kakao und Zucker in einer Schüssel. Dann schmolz sie etwas Kokosfett und rührte dieses in die Kakao-Zuckermasse, bis ein gleichmäßiger Brei entstand. Das Ganze füllte sie dann in kleine Förmchen aus Aluminium. In eine bereits vorbereitete große Schüssel, die mit Schnee gefüllt war, legte sie diese Förmchen. Durch die Kälte des Schnees gefror die Kakao-Masse. Die Förmchen wurden dann aus der Schüssel mit dem Schnee herausgenommen, umgedreht und gestürzt. Ella und ihr Bruder freuten sich jedes Jahr schon vor Weihnachten auf diese wundervoll schmeckende Schokolade. Ihre Mutter konnte sogar Seife selbst herstellen. Oder sie schichtete Eier in ein großes Glas mit Kalkbrühe, damit die Familie jederzeit Eier hatte im Winter, wenn die Hühner nicht so viele Eier legten. Ellas Vater half zu der Zeit als Maurer in einer kleinen Baufirma im Dorf. Statt Geld brachte er oft Speck, Brot, ja sogar Hammelfleisch oder Milch mit nach Hause, manchmal auch Eier oder Fleisch von einem Kaninchen.

Als Kind musste Ella oft bei Bauern im Nachbardorf abends zur Stallzeit, wenn die Kühe gemolken wurden, mit der Milchkanne vorbeikommen, um Milch abzuholen, die ihr Vater als Lohn für seine Arbeit bekommen hatte. Auf einem dieser Wege hatte sie ein Erlebnis, das sie nie vergessen konnte. In dunkler Nacht musste sie zu einem etwa vier Kilometer entfernten Bauernhof in den Nachbarort gehen. Ganz allein über Wiesen und Felder, vorbei an Büschen und umzäunten Viehweiden. Hinter jedem Busch hätte da jemand lauern können, und sie hatte furchtbare Angst. Es gab in dem Ort einen Schafhirten, der etwas behindert war. Alle nannten ihn den „Zucker-Spitz-Franzl“ und machten sich über ihn lustig, wenn er mit seiner Schafherde über die Felder zog. Er redete nie und hatte immer nur ein Grinsen im Gesicht. Als Ella an diesem Abend durch die finstere Nacht lief, stand dieser plötzlich neben ihr. Sie hatte ihn nicht bemerkt. Er war da, wie aus dem Nichts. Sie erschrak fürchterlich, und eine panische Angst überkam sie. Sie fing an zu laufen, und ihre Schritte wurden immer schneller. Grinsend lief er neben ihr her. So richtig sprechen konnte er nicht, er lallte etwas, das Ella nicht verstand. Sie blickte zur Seite und bemerkte, dass sein Hosenschlitz offen war, und er hielt seinen Penis in der einen Hand und mit der anderen freien Hand zeigte er darauf und grinste. Ella lief schneller, ja sie rannte geradezu, solche Angst hatte sie, und der Franzl rannte immer neben ihr her und lallte. Der Hof des Bauern, zu dem Ella musste, befand sich gleich am Ortsanfang, und als sie in den Vorgarten einbog, war dieser Franzl plötzlich verschwunden. Weinend fiel sie der Bäuerin um den Hals, doch diese lachte und sagte: „Aber du weißt doch, das ist der Depp, und der tut dir doch nichts.“ Sie bekam ihre Milch, und die Bäuerin begleitete sie noch ein Stück auf dem Nachhauseweg. Aber zu Hause erzählte sie von ihrem Erlebnis natürlich nichts.

Als Ella so dasaß in ihrem Apartment und in Erinnerungen schwelgte, merkte sie gar nicht, wie schnell die Stunden vergangen waren. Es war schon spät, und das Wochenende war auch schon vorbei. Es wurde Zeit, dass sie zu Bett ging, denn am nächsten Morgen musste sie wieder zur Arbeit. In der Firma war gerade nicht das beste Betriebsklima, und sie war froh, als endlich der Arbeitstag zu Ende ging. Als sie dann wieder heimkam, nahm sie ihr altes Fotoalbum zur Hand und fing an, darin zu blättern.

Da war zum Beispiel ein Klassenfoto von 1948, zwei Jahre nachdem sie in das Dorf gekommen waren. In der Tschechoslowakei durften die deutschen Kinder nicht zur Schule gehen, und so wurde sie erst im Dorf eingeschult, als sie schon fast acht Jahre alt war. Damals gab es noch die Zweiklassenschule, denn in dem Dorf waren nicht so viele Kinder. Im Umland waren lauter kleinere Dörfer oder Höfe verstreut, deren Kinder auch in die Schule in Ellas Dorf gehen mussten, und oft einen langen Schulweg vor sich hatten. In jedem Klassenzimmer waren zum Beispiel zwei Reihen Bänke. Eine Reihe galt für die erste Klasse. Die zweite Bankreihe für die zweite Klasse. Nachdem aber in der Reihe für die erste Klasse kein freier Platz mehr war, wurde Ella ein Platz in der zweiten Reihe, die eigentlich für die zweite Klasse war, zugewiesen.

Überhaupt sah es in den Klassenzimmern ganz anders aus als heute. Es gab mehrere lange Tischreihen auf jeder Seite mit jeweils drei Sitzmöglichkeiten auf einer davor stehenden langen Bank. Jeder dieser Tische war leicht schräg in Richtung zu den Kindern. Am oberen, höheren Teil befand sich eine Rinne, in der man seine Stifte ablegen konnte. Für jedes der Kinder war dann im Abstand von etwa fünfzig Zentimetern eine Mulde in diesem Tisch mit einem integrierten Tintenfass, in das man bei Bedarf seine Schreibfeder, die an einem hölzernen Federkiel befestigt war, eintauchen konnte. Wenn die Feder etwas zu sehr beansprucht wurde, spaltete sie sich vorne und die Schrift wurde manchmal zu dick, und oft entstand auch ein Tinten-klecks auf dem Schreibblatt. Dann bekam man entweder zu Hause Schelte oder gleich in der Schule, denn der Lehrer war sehr streng. Er wollte, dass aus seinen Schülern tüchtige Menschen wurden.

In den ersten Jahren nach dem Krieg gab es nicht viel zu essen, und die Kinder in den Dörfern freuten sich jedes Mal auf die Pause in der Schule. Da gab es manchmal eine Schulspeisung, gespendet von den Amerikanern. Zuweilen gab es eine Tasse Kakao und dazu ein Stück Gebäck, und darauf freuten sich alle schon die ganze Woche. Dann gab es auch ab und zu eine Haferschleimsuppe. Weil diese immer so sämig über den Löffel tropfte, gaben ihr die Kinder einen Spitznamen. Sie nannten sie „Rotzglocken-Suppe“. Sie schmeckte nicht so besonders, aber weil es ja so wenig zu essen gab, war man sogar über diese Gabe froh.

Einmal als der Lehrer krank war, hatten die Kinder eine Aushilfslehrerin, die von den Jungen immer geärgert wurde. Manchmal wusste sie sich nicht mehr zu helfen, dann nahm sie einfach einen Teppich-Klopfer, stieg dann auf die Tischreihe, ging dort entlang und schlug jedem Jungen, egal ob schuld oder nicht schuld, mit diesem in den Rücken. Dieses Bild hatte Ella noch heute vor Augen. Wenn auch diese Schläge nichts halfen und die Buben nicht aufhörten, Unsinn zu machen, rannte sie über den Hof hinüber zum Pfarrhof und holte den Pfarrer. Doch wenn der dann endlich prustend und nach Luft ringend ankam, waren die Buben schon längst durch das Fenster geklettert und über einen Anbau, der am Schulgebäude war, auf und davon. Als das neue Schuljahr anfing und die Zweitklässler in die dritte Klasse kamen, wurde Ella in die dritte Klasse mitversetzt und keiner merkte es, denn sie hatte ja immer bei den Aufgaben für die zweite Klasse mitgemacht. Sie kam also in die nächste Klasse, in dem die Dritt- und Viertklässler in einem Raum waren. Danach folgten die fünfte und die sechste Klasse.

Auf dem Land waren die Kinder damals nicht so flott mit dem Lernstoff wie in der Stadt. Ella kam deshalb erst nach der sechsten Klasse auf das Gymnasium. Eigentlich wollte sie gar nicht auf ein Gymnasium gehen, aber ihr Vater bestand darauf. Er wollte mit seiner Tochter vor den Leuten im Dorf angeben, denn Ella war das einzige Mädchen aus diesem Dorf, das auf ein Gymnasium ging. Die tägliche Fahrt dorthin war zu dieser Zeit nicht einfach. Schulbusse gab es keine und Autos schon gar nicht. Alle Wege wurden mit dem Fahrrad bewältigt, doch die Straßen waren nicht einmal ausgebaut, es gab nur aufgeschüttete Schotterwege. So musste sie jeden Tag eine Strecke von acht Kilometern zur Schule hin und acht Kilometer von der Schule nach Hause mit dem Fahrrad zurücklegen. Sie musste auf ihrem Schulweg über einen ziemlich steilen Hang fahren und durch einen langen Wald. Doch meistens fuhr sie nicht allein, es fuhren noch fünf Jungens aus dem Dorf mit ihr, die auch alle auf das Gymnasium gingen. Doch wenn sie Nachmittagsunterricht hatte, musste sie den Weg von der Schule nach Hause oft alleine zurücklegen. Im Winter war es immer schon früh finster und sie fürchtete sich oft sehr. Die Wege waren so schlecht, dass es nicht selten vorkam, dass Ella mit einem Loch im Fahrradschlauch nach Hause kam. Vater wurde diese Flickerei im Laufe der Zeit zu dumm, und er zeigte ihr, wie man einen Fahrradschlauch flickte. Manchmal musste sie mitten im Wald ihr Flickzeug auspacken, um das Loch im Fahrradschlauch zu reparieren. Deshalb kam es dann vor, dass sie später nach Hause kam, oft erst am Nachmittag. Manchmal traf sie hungrig zu Hause ein, und dann kochte ihre Mutter einen Grießbrei, weil doch die Essenszeit schon vorüber war. Auch kam es vor, dass ihr die Mutter, wenn sie beim Bauern bei der Ernte half, den Grießbrei schon vorher gekocht hatte und über dem Wasserschiffchen am Herd warm hielt, dann war dieser Brei oft schon ganz eingetrocknet. Aber er schmeckte auch so, wenn man Hunger hatte.

Ella war ein verträumtes Kind und kam oft von der Schule spät nach Hause. Auf dem Heimweg gab es doch so viel zu sehen und zu entdecken. Im Frühling zum Beispiel die Buschwindröschen oder die Maiglöckchen, die am Waldrand wuchsen und so wunderbar dufteten. Sie kannte viele Pflanzen und Pilze. Einmal sah sie im hohen Gras ein kleines Bambi liegen, das sie so gerne gestreichelt hätte. Doch sie hatte in der Schule gelernt, dass man Jungtiere nicht anfassen sollte. Ella liebte Tiere sehr. Menschen gegenüber war sie jedoch immer voller Misstrauen. Eines Tages entdeckte sie bei ihren Streifzügen durch die Natur versteckt zwischen zwei Wiesen ein kleines Rinnsal. Rund um dieses Bächlein wuchsen viele Dotterblumen. Ella war ganz hingerissen von den gelben Blumen, die da in der Sonne leuchteten. Sie kannte ja viele Blumen mit Namen, das hatte sie von ihrer Großmutter gelernt, und sie wusste, dass diese Blume so hieß, weil sie so gelb war wie der Dotter eines Eies. Sie kannte den Klatschmohn und die blauen Kornblumen, die ihre Köpfe zwischen den Ähren auf den Kornfeldern in den Himmel streckten. In den Wiesen wuchsen Grasnelken, Vergissmeinnicht, Löwenmaul und Löwenzahn. Auch eine Pflanze, die Sauerampfer hieß, wuchs dort, und man konnte die Blätter sogar essen, und das taten die Kinder oft. Dazwischen der Gewürzkümmel, den sie mit der Großmutter oft gesammelt hatte. Doch keine der Pflanzen, fand Ella, war schöner als die Dotterblume, und so wurde dieser Platz zwischen den Wiesen an dem kleinen Bächlein der Lieblingsplatz von ihr. Am schönsten war es, wenn sie hier im Gras lag und dem Gezirpe der Grillen zuhörte. Sie bildete sich sogar ein, wenn sie mit einem Ohr ganz nah am Boden lag, das Gras wachsen zu hören. Verträumt schaute sie dann in den Himmel, und entdeckte in den Wolken die unterschiedlichsten Gesichter, so dass sie oft die Zeit vergaß. Sie berührte das Zittergras, das neben ihr wuchs und wunderte sich, wenn die kleinen Herzchen im Wind hin und her wiegten. Sie verfolgte das Auf- und Abschweben der Feldlerche und war ganz fasziniert von ihrem wunderschönen Gesang. So kam es immer wieder vor, dass sie verspätet nach Hause kam und das Essen dann kalt war.

Ella verriet nie jemandem ihren Lieblingsplatz, aber zum Muttertag pflückte sie immer für ihre Mutter einen kleinen Strauß von diesen Dotterblumen, denn Blumenläden, so wie man sie heute kennt, gab es damals noch nicht. Oft merkte ihre Mutter gar nicht, dass es schon spät war, wenn Ella nach Hause kam, denn sie half hin und wieder beim Bauern auf dem Feld bei der Ernte. Es kam auch vor, dass ihre Mutter den kleinen Bruder mit auf die Wiesen nahm, die gemäht wurden. Der freute sich dann und saß jauchzend auf dem heimfahrenden Heuwagen. Morgens zur Schule fuhr Ella meistens mit den Jungen, aber am Nachmittag hatte sie oft noch zusätzlichen Unterricht. Manchmal war es Handarbeit, manchmal war es Sport oder Chorsingen. So war sie auf dem Nachhauseweg oft allein. Mit fortschreitender Jahreszeit war es am Spätnachmittag, wenn sie heimfuhr, meistens schon dunkel. So passierte es einmal, dass in dem Wald, den sie ungefähr zwei Kilometer zu durchfahren hatte, Amerikaner, die in der Nähe stationiert waren, Manöver abhielten. In der Schule war es wieder einmal spät geworden, und als sie durch den Wald heimradelte, stand plötzlich ein Amerikaner mitten auf der Straße, und es sah so aus, als ob er sie anhalten wollte. Ella bekam es mit der Angst zu tun. Sie sah sich um, als ob sie Hilfe erwarten würde. Erleichtert stellte sie fest, dass einer der Jungen, die mit ihr aufs Gymnasium gingen, hinter ihr in der Ferne zu sehen war. Auch der Amerikaner sah das, und er verschwand ganz plötzlich wieder im Wald. Ella erwähnte das Vorkommnis mit keinem Wort zu Hause.

Eigentlich hatte sie kein besonders gutes Verhältnis zu ihren Eltern und war als Kind auch nicht glücklich in ihrem Elternhaus. Sie war ja „nur“ ein Mädchen. Ihr Bruder, der war als Junge das Ein und Alles ihrer Eltern, das bekam sie oft zu spüren. Immer, wenn er etwas angestellt hatte, wurde sie dafür bestraft, weil sie angeblich nicht genügend auf ihn aufgepasst hatte. Ihr Bruder war vier Jahre jünger als sie und das „Herzibinkerl“, wie Oma immer sagte. Er bekam auch immer alles, was er wollte, und sie nicht. Er hatte einen Fußball, er hatte ein Luftgewehr und er hatte Schlittschuhe. Das traf sie am meisten, denn sie hätte so gerne auch Schlittschuhe gehabt. Wenn sie wenigstens einen Schlitten gehabt hätte, denn es gab in ihrem Dorf einen kleinen Hügel, wo die anderen Kinder Schlitten gefahren sind. Doch wo sollten sie einen Schlitten hernehmen? Sie hatten ja kein Geld. Und weil auch ihr Bruder sich so sehr einen Schlitten wünschte, ging ihr Vater in den Wald, hielt nach einem Baum Ausschau, der dick genug war, fällte ihn, und in der Scheune beim Nachbarn zimmerte er daraus einen Schlitten.

Ella musste grinsen. Dieser Schlitten steht noch heute in ihrem Haus im Keller. Einen von Hand geschnitzten Schlitten, wer hat das heute noch? Überhaupt waren zur jetzigen Zeit Sachen aus früheren Zeiten sehr begehrt. Es gab Sammler, die für solche alten Sachen viel Geld ausgaben, und obwohl dieser Schlitten schon ganz gebrechlich aussah, wollte sich Ella nicht von ihm trennen. Um die Schlittschuhe beneidete sie ihren Bruder sehr, und einmal hatte sie es gewagt, sich die Schlittschuhe des Bruders heimlich zu nehmen. Dann ist sie mit einer Freundin auf den zugefrorenen Dorfweiher gegangen. Sie schnallte sich die Schlittschuhe auf ihre einzigen Schuhe, die sie hatte, an. Damals hatten Schlittschuhe noch Krallen, die man an den Schuhsohlen einhängen musste, und wenn man keine stabilen Schuhe hatte, konnte es passieren, dass eine Schuhsohle auch schon mal abgerissen wurde. Genau das passierte Ella, und sie traute sich nicht nach Hause, sie wusste genau, was passieren würde. Sie würde Prügel vom Vater bekommen, doch ihre Freundin wusste Rat. Sie nahm Ella mit zu ihrem Vater, der Sattler war, und dieser nagelte die Schuhsohlen wieder an.

Ihr Bruder wurde immer bevorzugt, und das nagte an ihr. Besonders, nachdem Ella ja jede freie Minute, die sie hatte, arbeiten musste. Nach der Schule ging sie als Kindsmagd zum Nachbarn, der war Metzger, und so fiel immer etwas zu essen ab, das sie dann nach Hause brachte. Besonders oft bekam sie einen Topf voll mit Kesselsuppe, das war eine Suppe, in der der Metzger seine Innereien und Würste kochte, und die immer so stark gerochen hat. Vor dieser Suppe graute ihr noch heute, und wenn sie die Augen schloss und sich diese vorstellte, stieg ihr dieser scheußliche Geruch immer noch in die Nase.

Besonders in den Herbstferien gab es für Ella viel zu tun, nämlich Gänsehüten beim Bauern. Eine ganze Gänseschar musste sie zu einem kleinen Weiher am Ende des Dorfes treiben, sie im Weiher baden und auf der angrenzenden Wiese grasen lassen. Schlimm war es, wenn ein Gewitter im Anzug war. Da wurden die Gänse unruhig und fingen ein Stückchen über dem Boden aufgeregt zu fliegen an. Ella hatte dann alle Hände voll zu tun, sie beisammenzuhalten, und da wurde der Gänserich manchmal böse. Er fauchte und biss nach ihr, wenn sie ihn in der Gänseherde halten wollte. Vollzählig musste sie die Gänseherde am Abend beim Bauern wieder ins Gatter treiben, und dafür gab es dann ein Stück Speck und etwas Brot, das Ella dann nach Hause brachte. Es gab nicht viel in dieser Zeit. Sie erinnerte sich, wenn sie als Kind Durst hatte, machte Oma immer ein Gemisch aus Zucker, Wasser und einem Schuss Essig, und das war dann schon etwas ganz Besonderes. Limonade gab es erst viel später. Oma nannte es „Kracherl“, weil es beim Öffnen der Flasche immer so zischte.

Wenn Ella an ihre Kinderzeit dachte, daran, dass sie oft Schläge bekam und manchmal nicht einmal so richtig wusste warum, wurde sie ganz traurig. Manchmal schlug Vater sie nicht, er hatte dann eine andere Strafe. Er ließ Ella auf einem kantigen Holzscheit in der Ecke der Wohnstube niederknien, und das tat dann besonders weh, und man spürte den Schmerz im Knie noch ziemlich lange danach.

Große Freude hatte sie mit einem Hund, den ihr Vater nach Hause brachte. Sie nannte ihn Lumpi und sie streichelte ihn jeden Tag, wenn sie an seiner Hundehütte vorbeiging. Er durfte nie frei herumlaufen, war immer an einer viel zu kurzen Kette angebunden. Das war so üblich, man sah keine Hunde auf der Straße herumlaufen. Einmal erlaubte ihr Vater nach vielem Betteln, dass sie Lumpi mitnehmen durfte, als sie beim Bäcker Brot holen sollte. Da geschah dann das Unglück. In dem Dorf sah man nie ein Auto fahren, es gab nur Fuhrwerke, die von Ochsen gezogen wurden, oder Handkarren. Doch genau an dem Tag, als Ella mit ihrem Lumpi zum Bäcker ging, kam ein Hochzeitsauto um die Ecke und überfuhr ihren Hund. Weinend lief Ella nach Hause, und ihr Vater holte den Hund und begrub ihn, nicht, ohne ihr fürchterliche Vorwürfe zu machen. Tagelang trauerte Ella, und noch lange Zeit danach pflanzte sie Blumen an die Stelle, an der ihr Lumpi begraben war.

Mit Tieren hatte sie in ihrer Kinderzeit kein Glück. Sie hatte später dann eine Katze, die auch qualvoll starb, weil sie auf dem angrenzenden Feld eine vergiftete Maus gefressen hatte. Nur Hansi, der zahme Rabe, den ihr Bruder eines Tages nach Hause brachte, der lebte etwas länger. Als ganz kleiner Jungvogel wurde er von ihrem Bruder heimgebracht und mit Würmern hochgepäppelt. Er wurde handzahm und war der beste Freund der Kinder. Immer, wenn sie von der Schule nach Hause kamen, saß er auf dem Zaun vor dem Haus, in dem sie wohnten, flog sofort, wenn man ihn rief, auf den Arm desjenigen und kletterte dann auf die Schulter. So lieb begrüßte er die Kinder, doch eines Tages, als ihr Bruder von der Schule nach Hause kam, lag Hansi tot vor dem Eingang zum Grundstück. Dort waren gerade Vermessungsbeamte damit beschäftigt, das Nachbargrundstück zu vermessen. Sie erzählten, sie dachten, es sei ein wilder Vogel und hatten ihn erschlagen. Beide Kinder waren wochenlang unendlich traurig, aber auch Trauer und Schmerz vergehen mit der Zeit.

Schon als Kind hatte sie sich so oft danach gesehnt, auch einmal in den Arm genommen zu werden wie ihr Bruder, doch sie konnte sich nur an eine einzige Umarmung von der Mutter erinnern. Das war, als sie mit etwa zwölf Jahren in den großen Ferien zum Hopfenzupfen bei einem Bauern war. Zwei Wochen harte Arbeit, zerschundene, grüne Hände, und dann verlor sie auf dem Weg nach Hause das ganze Geld, das sie verdient hatte. Sie war eine kurze Strecke mit einem Bus gefahren, und wahrscheinlich war ihr dann das Geld aus der Tasche ihres Kleides gerutscht. Sie war so furchtbar unglücklich und weinte den ganzen Weg nach Hause. Mutter war gerade beim Wäscheaufhängen im Hof, und Ella fiel ihr schluchzend um den Hals. Sie hatte sich so gefreut, mit dem Geld etwas zum Haushalt beisteuern zu können. Das war das einzige Mal, an das sie sich erinnern konnte, dass Mutter sie in den Arm genommen und ihr tröstend übers Haar gestrichen hatte. Wegen Kleinigkeiten, so war sie heute noch der Ansicht, bekam sie oft vom Vater Schläge. Sie erinnerte sich an einen Tag, da war es für sie besonders schlimm. Ihr Bruder war mit dem Fahrrad verunglückt und lag bewusstlos im nahen Kreiskrankenhaus. Die Eltern waren voller Sorge und machten einen Bittgang zur Statue der heiligen Muttergottes, um für die Genesung ihres kranken Sohnes zu bitten, das war damals bei besonderen Sorgen so üblich. Ellas Vater hatte ihr verboten, während der Abwesenheit der Eltern das Haus zu verlassen. Sie erinnerte sich noch sehr genau, dass es ein wunderschöner Mai-Sonntag war. Ein paar Häuser weiter war eine Dorfschänke, und dort wurde wie jedes Jahr im Monat Mai ein Maifest gefeiert. Es gab Tanz und Musik, die weithin zu hören war. Auch Ella hörte die Musik und wurde sogleich in ihren Bann gezogen. Sie wusste, dass sie das Haus nicht verlassen durfte, aber der Klang der Musik machte sie neugierig, und sie näherte sich langsam der Schänke. Sie beobachtete die Tänzer durch das Fenster, sah das lustige Treiben und vergaß darüber die Zeit. Erschrocken fiel ihr ein, dass sie schon längst hätte zu Hause sein müssen, denn die Eltern wollten bis um sieben Uhr am Abend wieder da sein. So schnell sie konnte, rannte sie zurück, doch als sie näher kam, sah sie bereits ihren Vater, der schon auf sie wartete. Sie wusste, der Vater war sehr jähzornig, er verlangte unbedingten Gehorsam. Er packte sie bei den Zöpfen, warf sie zu Boden, schlug auf sie ein und schrie: „Habe ich dir nicht verboten, das Haus zu verlassen?“ Er zerrte sie hoch, schleifte sie über den Hof bis zur Haustüre. Dann stieß er sie mit dem Kopf gegen die Türe, so dass ihr das Blut aus der Nase floss. Erst als er das merkte, ließ er von ihr ab. Das war nicht das einzige Mal, dass sie Prügel bekam, aber dieser Tag ist in ihrem Gedächtnis heftig haften geblieben. Dass sie jemals Schläge von ihrer Mutter bekommen hätte, daran konnte sich Ella nicht erinnern.

Eines Nachmittags, als Ella wieder einmal nach der Schule Gänse hütete, kamen fahrende Zigeuner an den Weiher. Sie machten dort Station und wuschen ihre Wäsche. Von der anderen Seite des Teiches, an dem sie ihre Gänse hütete, konnte sie alles beobachten. Sie wusste noch, sie trug das blaue Kleid aus Perlon, das ihre Mutter genäht hatte. Ein Kleid aus Perlon war nach dem Krieg die neueste Mode, und Mutter nähte ihr dauernd irgendwelche Kleider und sorgte dafür, dass sie immer hübsch aussah, denn Hosen, wie sie heute auch von den Mädchen getragen wurden, gab es noch nicht. Plötzlich stand einer von diesen Zigeunermännern vor ihr. Er hatte sich so angeschlichen, dass sie ihn gar nicht kommen hörte. Er lächelte sie an und wollte sie überreden, mit ihm in das an den Weiher angrenzende Kornfeld zu gehen. Er meinte, er würde ihr dort etwas zeigen. Doch sie war Fremden gegenüber immer voller Misstrauen, und als sie nicht mitging, verschwand der Mann gleich wieder.

Auch von der Schule aus wurden die Kinder manchmal beschäftigt und zu Arbeiten eingeteilt, wie zum Beispiel zum Kartoffelkäfersuchen. Die Kartoffelkäfer seien Schädlinge, so erzählte der Lehrer, sie würden ganze Kartoffelernten vernichten. Die gesamte Klasse wurde ausgesandt, um diese Käfer von den Pflanzen abzusammeln. Auch deren Larven mussten gesammelt werden. Wenn man die Käfer auf der Hand betrachtete, hinterließen sie große orange-gelbe Flecken auf der Handfläche. Alle Kinder hatten dadurch ganz gelbe Hände, und diese Flecken waren auch sehr schwer wieder zu entfernen. Aber so eine Käfersuche war oft ganz lustig und machte allen Spaß. In der Erntezeit erlaubten die Bauern das sogenannte Nachernten auf den Feldern. Zum Beispiel auf dem Kartoffelfeld. An den Feldrändern wurden oft Kartoffeln übersehen oder vom Pflug nicht erfasst. Die durfte man dann abernten und mit nach Hause nehmen. Da kam schon so manches Mal ein ganzer Sack zusammen, und wenn man fleißig war, konnte man sogar den Vorrat für den Winter zusammenbekommen. Am schönsten war es jedoch, wenn alle Kinder nach der Kartoffelernte auf dem Feld zusammenkamen und ein Kartoffelfeuer entzündeten. Es gab dann gebratene Kartoffeln, die im offenen Feuer geröstet wurden. Auch wenn diese manchmal richtig schwarz verkohlt waren, schmeckten sie trotzdem wunderbar und so manches der Kinder hatte ganz schwarze Hände und einen verschmierten, schwarzen Mund. Aber Schmutz machte den Dorfkindern nichts aus. Meistens liefen sie sowieso barfuß, und es kam nicht selten vor, dass sie in Kuhfladen oder Gänsedreck traten. Da wischte man die Füße ganz einfach im Gras wieder ab, und keiner dachte sich etwas dabei.

Vater hatte immer eine Arbeit für Ella, denn nichts tun, war in ihrer Familie nicht üblich. Wenn das Korn auf den Feldern heranreifte, konnte man an den Ähren zwischen den Körnern dunkle Klümpchen entdecken, das sogenannte Mutterkorn. Es war zwar giftig, aber in den Apotheken sehr gefragt und wurde zu Medikamenten verarbeitet. Man konnte die dunklen Körnchen aus den Ähren herauszupfen, sammeln und in die Apotheken bringen. Dafür gab es dann Geld. Ella sammelte also, ihr Vater brachte die Körnchen zum Verkauf in die Apotheke in der nahen Stadt und bekam dafür Geld. Alle waren froh über so einen zusätzlichen Verdienst.

Beim Umblättern im Fotoalbum sah Ella ein Bild von ihrer Großmutter. Ja, Großmutter war die einzige, der sie vertraute, und sie hatte sie auch sehr geliebt. Noch heute stand das Bild von Großmutter daheim in ihrer Vitrine. Wenn es irgendwann doch einmal die Zeit erlaubte, ging Ella als Kind zu ihrer Großmutter. Sie war gerne mit ihr zusammen. Sie war eine stattliche Person mit weißgrauen Haaren, die im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden waren, aber wenn sie aus dem Haus ging, trug sie immer ein Kopftuch. Was Ella nicht vergessen konnte war, dass Großmutter immer mehrere Röcke übereinander trug, und sie trug niemals Unterhosen, daran erinnerte sie sich noch ganz genau. Wenn Großmutter zum Wasserlassen musste, blieb sie nur stehen, hielt ihre Röcke weit weg von den Beinen, so dass es aussah, als wären diese ein Ballon. Dann ließ sie einfach da, wo sie gerade stand, das Wasser laufen, und dann ging sie weiter, als sei dies das Normalste von der Welt. Als Kind sah Ella alles als ganz normal an und dachte sich nie etwas dabei. So war Großmutter eben, und sie hatte für Ella immer Zeit. Sie kannte viele alte Geschichten, und sie unternahm immer etwas mit Ella. Manchmal gingen sie beide in den Wald, um Pilze zu suchen, und so lernte sie die guten von den giftigen Pilzen zu unterscheiden. Sie lernte auch, welche Beeren man essen konnte und welche giftig waren. Es gab Himbeeren, Brombeeren und sogar Preiselbeeren. Sobald der Juli in Sicht war, gingen beide zum Schwarzbeerenpflücken. Großmutter nahm eine alte Milchkanne mit und für jeden einen kleinen Becher. Zuerst wurde der Becher voll gepflückt und dann immer in die Kanne gekippt, bis diese voll war. Zu Hause gab es dann einen frischen Schwarzbeeren-Kuchen. Außer Großmutter konnte niemand solch einen guten Kuchen backen.

Großmutter hatte auch einen kleinen Leiterwagen. Den hatte sie einmal von einem alten Bauern geschenkt bekommen. Mit diesem begleitete Ella sie auch oft in den Wald, um Holz und große Tannenzapfen für den Winter zu sammeln. Auch Tannenreisig, das getrocknet auf dem Waldboden lag, wurde gesammelt. Die Tannenzapfen schüttete Großmutter in einen großen Sack. Damit konnte man im Winter schon eine ganze Weile heizen. Von ihrer Großmutter lernte Ella auch, wie der Gewürzkümmel als Pflanze aussah. In den nahen Moorwiesen wuchs diese Pflanze. Großmutter schnitt sie ab und bündelte sie. Zu Hause hängte sie diese Bündel an den Gartenzaun in die Sonne, damit sie trocknen konnten. Waren sie dann endlich getrocknet, schüttelte Großmutter dann diese Bündel über einer Zeitung ab und sammelte die abgefallenen Kümmel-Körnchen in einer Tüte. Man brauchte diese Körnchen zum Würzen von Speisen, zum Beispiel zu gerösteten Kartoffeln oder Gurkensalat. Für alle Speisen, die etwas schwer bekömmlich waren, konnte man das Gewürz verwenden.

Einmal konnte Ella sogar beim Torfstechen zusehen. Torf war damals ein begehrtes Heizmaterial. Mit einer rechteckigen eisernen Schaufel, die ungefähr die Form eines Kohlebriketts hatte, wurden Teile aus dem Moorboden gestochen. Diese Teile wurden dann zum Trocknen aufgeschichtet und im Winter zum Heizen verwendet. Heute wird so etwas nicht mehr gemacht, weil die Moore unter Naturschutz stehen, fiel ihr in dem Augenblick ein. Von ihrer Großmutter hatte Ella in ihrer Kindheit viel gelernt. Leider starb sie viel zu früh, und sie war damals unendlich traurig.

Ella war mit zwölf Jahren noch nicht aufgeklärt. Solche Themen waren bei ihr zu Hause einfach tabu, und sie getraute sich auch nichts zu fragen, denn ihre Mutter sagte dann immer nur: „Das verstehst du nicht!“ In dem Fotoalbum, in welchem Ella gerade blätterte, fand sie neben dem Bild ihrer Großmutter noch das Bild von dem Haus, in das sie in dem Dorf später umgezogen sind. Sie bekamen zwei Zimmer, eines im Dachgeschoss und eines, es war eine Wohnstube, im Parterre. Ella und ihr Bruder mussten in dieser Wohnstube schlafen, und ihre Eltern schliefen im zweiten Zimmer im Dachgeschoss, denn dort war es im Winter immer sehr kalt, es gab keine Heizung unterm Dach. Unten in der Wohnstube gab es noch ein Sofa, auf dem Ellas Vater oft schlief, wenn er von der Nachtschicht nach Hause kam und bald wieder zur nächsten Schicht aufbrechen musste. Ihr Vater hatte nämlich in der Zwischenzeit eine Arbeitsstelle bei der Bundespost bekommen und musste jeden Tag mit dem Fahrrad in die nächste Kreisstadt zum Bahnhof fahren, von da dann mit dem Zug weiter, und er musste im Schichtdienst arbeiten. So kam es oft vor, dass er, wenn er Nachtdienst hatte, tagsüber schlief, und Ella und ihr Bruder mussten dann besonders leise sein. Die Kinder mussten auch am Abend sehr früh ins Bett, um ausgeschlafen zu sein wegen der Schule. Da die Betten von Ella und ihrem Bruder in der Wohnküche direkt an der Wand standen, sagte der Vater, wenn Besuch kam, jedes Mal: „Dreht euch zur Wand, und jetzt wird geschlafen. Ich will keinen Mucks mehr von euch hören!“ Aber Ella spitzte natürlich die Ohren.

Meistens am Mittwochabend lagen beide Eltern im Winter zusammen auf dem Diwan in der Wohnstube. Sie hatten das Licht gelöscht, obwohl es noch nicht Zeit zum Schlafen war. Ella war noch munter, und sie hörte ihre Eltern oft tuscheln und stöhnen. Vater stellte dann immer das Radio an mit der Sendung von Fred Rauch: „Sie wünschen und wir spielen.“ Und trotzdem bekam Ella das Flüstern und Stöhnen mit, und sie schämte sich. Sie hatte ja so eine Ahnung, was da vor sich ging, aber Genaues wusste sie natürlich nicht.

Zu der Vermieterin, der „Hausherrin“, hatte Ella ein besonders gutes Verhältnis. Sie mochte sie. Nur manchmal wunderte sie sich. Es hatte den Anschein, als hätte diese Frau ein Geheimnis. Mehrmals im Monat bekam sie Besuch von einem Herrn, von dem Ella wusste, dass er in der Nachbargemeinde wohnte und verheiratet war. Immer wenn dieser Herr zur Hausherrin kam, schloss diese alle Fensterläden, und das fand Ella sehr merkwürdig.

In dem Haus gab es auch ein Badezimmer, und wenn man zur Toilette wollte, musste man zuerst durch das Badezimmer gehen. Als Ella wieder einmal dorthin ging, bemerkte sie, dass sie zwischen den Beinen blutete. Sie erschrak fürchterlich und dachte, sie sei krank. Zu ihrer Mutter traute sie sich nicht, und so ging sie zur Vermieterin, die immer nett zu ihr war, und vertraute sich ihr an. Diese lächelte nur, und von ihr wurde Ella erklärt, was eine Menstruation ist und was da im Körper einer Frau vor sich geht.

Auf der nächsten Seite des Albums entdeckte Ella ein altes Klassenfoto. „Mein Gott, das waren noch Zeiten“, dachte sie, lächelte und murmelte: „Was wohl aus allen geworden ist?“ In der Grundschule, die damals einfach Volksschule hieß, hatte Ella denselben Lehrer, den schon ihre Mutter in Böhmen hatte. Er war zufällig im gleichen Dorf wie sie gelandet, und unterrichtete in der fünften und sechsten Klasse. Ella war seine Lieblingsschülerin. Sie war die beste in der Klasse und konnte sehr gut auswendig lernen. Immer, wenn in dem kleinen Dorf eine Festlichkeit stattfand, bekam Ella die ehrenvolle Aufgabe, ein Gedicht aufzusagen. Ob es nun eine Fahnenweihe oder die Einweihung eines Ehrendenkmals war oder auch eine Weihnachtsfeier. Ella lernte immer brav ihr Gedicht. Aber als sie dann auf das Gymnasium ging, wurde alles ganz anders. Ihre Noten wurden schlecht, und in der Schule gefiel es ihr nicht. Der Schulweg war weit, und im Winter war sie oft gezwungen, zu Fuß zu gehen, und sie kam manchmal ganz nass in der Schule an, weil sie durch ganz hohen Schnee stapfen musste.

Zwei Klassen höher gab es einen jungen Mann, der sie, wenn sie sich in der Pause begegneten, immer anlächelte. Er kam aus einem kleinen Dorf, das genau entgegengesetzt zu dem Dorf von Ella lag. Manchmal, wenn er zur gleichen Zeit Schulschluss hatte wie sie, wartete er vor der Schule. Dann begleitete er sie ein Stück auf ihrem Heimweg. Dadurch hatte er dann einen doppelt so langen Schulweg wie sie, weil er ja den ganzen Weg wieder zurück musste, um in sein Dorf zu kommen. Ella wollte das gar nicht, dass er sie ab und zu begleitete, aber er ließ sich nicht davon abbringen, er schwärmte für Ella. Sein Vater war in dem kleinen Dorf, in dem er wohnte, der Bürgermeister, und er bekam von zu Hause immer Taschengeld. Von ihm bekam sie ihre erste Orange. Sie hatte noch nie eine Orange gesehen, denn in ihrem Dorf gab es nur einen Metzger und einen Bäcker. Beim Bäcker konnte man außer Brot und Semmeln auch noch Mehl, Zucker, Nudeln und Sonstiges für den Haushalt kaufen. Wenn man Gemüse und Obst brauchte, hatte man das im eigenen Garten. Äpfel und Birnen wurden in einer Grube unter der Erde frisch gehalten, und das Gemüse in kleinen Kisten im Sand eingelegt. Salat wurde in altes Zeitungspapier eingewickelt und im Keller gelagert, und so hatte man immer frisches Obst und Gemüse. Orangen aber waren in dem Dorf nicht bekannt, und so freute sich Ella ungemein über diese erste Orange. Ein anderes Mal versuchte er, ihr Karamellbonbons, die mit Schokolade überzogen waren, zu schenken, die sie aber nicht annehmen wollte. Da steckte er ihr diese Bonbons einfach in die Kapuze ihres Anoraks. So versuchte er mit allen Mitteln, sie als Freundin zu gewinnen. Einige Jahre später, als Ella mit ihren Eltern bereits weggezogen war, stand plötzlich ein junger Mann vor dem Wohnblock, in dem sie jetzt wohnten. Er hatte sich so viel Mühe gemacht, um sie zu finden. Er wollte sie unbedingt besuchen und wissen, wie es ihr geht, doch zu dieser Zeit hatte sie sich bereits in Paul verliebt. Oft in späteren Jahren hat sie an diesen Jungen gedacht und sich gefragt, was wohl aus ihm geworden ist.

Über einen Bekannten hatte ihr Vater erfahren, dass in der Stadt, in der sie das Gymnasium besuchte, manchmal im Waisenhaus ein Platz frei war, um zu übernachten. Vater sah ein, dass es für Ella nicht gut war, so einen weiten Weg im Winter gehen zu müssen. Denn manchmal musste sie eben zu Fuß gehen, wenn der Schnee besonders hoch war. Er fragte dort an, und sie bekam für die Wintermonate ein Bett zugewiesen. Das Waisenhaus wurde von katholischen Ordensschwestern geführt. Es lebten dort Waisen-Kinder aller Altersgruppen, ob im Babyalter oder bereits über zehn Jahre alt. Die Schwestern waren sehr streng. Diejenigen, die schon zur Schule gingen, mussten als erste am Morgen aufstehen, Zähne putzen, dann gab es Frühstück. Zwei der Schwestern kümmerten sich in der Zwischenzeit um die Kleineren. Es waren Kinder dabei, die nachts ins Bett machten, und zu denen waren die Schwestern ganz besonders streng. Um zu verhindern, dass diese Kinder nachts einnässten, bekam jeden Tag eines der größeren Kinder einen Wecker unter das Bett, der auf Mitternacht gestellt war. Derjenige, der den Wecker unter seinem Bett hatte, musste dann aufstehen und die Kleineren aufs Töpfchen setzen. Es gab aber auch ein Zwillingspaar, zwei Mädchen, die beide schon zwölf Jahre alt waren und trotzdem immer noch ins Bett machten. Auch diese beiden mussten geweckt und zur Toilette geschickt werden. Eines Tages traf es auch Ella, sie war an der Reihe und musste sich nachts um die Bettnässer kümmern. Den Wecker hatte sie überhört, sie schlief ganz tief, und am folgenden Morgen hatten alle, die Kleinen und die Zwillinge, ins Bett gemacht. Die Schwestern waren wütend auf Ella, und die Zwillinge bekamen Schläge. Das nasse Bettzeug bekamen sie um die Ohren, und Ella fühlte großes Mitleid mit ihnen, und es tat ihr unendlich leid, weil es doch eigentlich ihre Schuld war.

Im nächsten Winter, der besonders kalt war, stand im Waisenhaus leider gerade kein freies Bett zur Verfügung, und so gab ihr Vater in der Zeitung eine Anzeige auf mit dem Wortlaut: „Arme Schülerin sucht Unterkunftsmöglichkeit für den Winter!“ Das bekamen natürlich ihre Mitschülerinnen mit, denn sie wussten, das konnte nur sie sein. Zur damaligen Zeit gingen aus den umliegenden Dörfern nur Jungen auf ein Gymnasium, und es wusste in einem kleinen Landkreis jeder über jeden Bescheid, und Ella wurde in der Schule ausgelacht, weil sie eine „arme Schülerin“ war. Aber sie hatte Glück. Ein älteres Ehepaar meldete sich auf diese Anzeige, und sie durfte im Winter zusammen mit einer anderen Schülerin aus einer höheren Klassenstufe in einem kleinen Zimmer bei diesen Leuten während der kalten Jahreszeit wohnen. Diese Leute waren sehr nett und immer freundlich. Der Mann war der Direktor einer Kreissparkasse, die Frau war Hausfrau. Sie hatten ihren einzigen Sohn im Krieg verloren, und die Frau hatte diesen Schmerz immer noch nicht überwunden, und so schenkte sie ihre ganze Liebe den beiden Mädchen, sie sah sich als deren Pflegemutter. Ella hatte ein sehr gutes Verhältnis zu ihr, und auch noch in späteren Jahren, als sie bereits verheiratet war, schickte sie ihrer Pflegemutter immer am Muttertag einen schönen Blumenstrauß.

Beim weiteren Blättern im Fotoalbum entdeckte sie ein Bild ihres Großvaters. Es war das einzige Foto, das sie von ihm hatte, und sie konnte sich auch nur noch sehr vage an ihn erinnern. Sie hatte nur noch das Bild ihres Großvaters vor sich, als er aufgebahrt im Flur von Großmutters Wohnung lag. Er war 1947 ganz plötzlich gestorben. Er sei ganz ruhig eingeschlafen, so hatte Großmutter erzählt. Damals war Ella noch viel zu klein, um zu begreifen, was Sterben überhaupt bedeutet! Sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wie seine Stimme klang, nur daran, dass er sie oft schweigend mit seinen blauen Augen angeschaut hat, und immer ein Lächeln im Gesicht hatte.

Sie versuchte, sich sein Bild in Erinnerung zu rufen, und das fiel ihr gar nicht leicht, denn eigentlich hatte sie ihn ja überhaupt nicht gekannt. Einen schwarzen Schnauzbart hatte er, das wusste sie noch, und sie erinnerte sich, dass er meistens nach Feierabend auf der Bank am Kachelofen in der Wohnstube saß und seine Pfeife rauchte. So eine Pfeife mit einem Teil aus Porzellan, in das er dann seinen Tabak stopfte. Anschließend zog er genüsslich an seiner Pfeife, blies den Rauch in die Luft, so dass es danach immer so gut roch. Er starb viel zu früh. Er hatte es einfach nicht überwunden, dass er seinen Hof und die vielen Tiere im Stich lassen musste. Ella seufzte, als sie an die damalige Zeit dachte. „Nun, Großmutter hat ihn noch um viele Jahre überlebt!“, murmelte sie. „Aber sie musste ganze vier Jahre furchtbar leiden, sie siechte so richtig dahin, bis sie dann starb!“ Der Sohn eines benachbarten Bauern hatte mit seinem Luftgewehr nach Vögeln geschossen. Großmutter putzte da gerade die Außentreppe, die zum Hauseingang führte. In diesem Moment traf sie ein Querschläger genau in das Steißbein. Sie spürte zwar den Schmerz, aber sie merkte nicht, dass diese Kugel im Knochen stecken geblieben war. Einen Arzt gab es in dem kleinen Dorf und auch in den angrenzenden Dörfern nicht, und Großmutter dachte, das würde schon wieder werden. Doch es kam anders. Sie bekam eine Bleivergiftung, und bevor das überhaupt festgestellt wurde, war sie schon bettlägerig, und man konnte ihr nicht mehr helfen. „Das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen“, entfuhr es Ella. „Meine Tante nahm Großmutter zu sich und pflegte sie.“ Großmutter war immer eine stattliche Frau, und als sie nach langem Leiden starb, war sie nur noch ein winziges kleines Bündel.

So war das mit der Heirat

Ella war vor lauter Grübeln und Erinnern eingeschlafen. Als sie erwachte dachte sie an ihr zuhause und was die beiden jetzt wohl ohne sie machen würden. Niemand wird sich jetzt um sie kümmern und schon wieder hatte sie ein schlechtes Gewissen. Sie verscheuchte ihre Gedanken und musste plötzlich an ihre Mutter denken. Mutter hatte sie immer wieder gewarnt, diesen Mann zu heiraten. Aber welcher Jugendliche macht das schon, auf seine Mutter hören. Wenn man jung ist und verliebt, lebt man doch in einer Traumwelt und man sieht alles nur noch durch eine rosarote Brille. Ella bekam bei einem Besuch in seinem Elternhaus schon mit, wie Paul von seiner Mutter verwöhnt wurde und sie fand es eher belustigend wenn sie sah, dass ihm seine Mutter die Banane schälte und dass er Nüsse nur aß wenn seine Mutter sie ihm knackte. Kirschen aß er überhaupt keine, denn da hätte man ja die Kerne ausspucken müssen und das war ihm zu umständlich. Das alles hätte ihr eine Warnung sein müssen, aber es heißt ja nicht umsonst, dass die Liebe blind macht.

So richtig kennen gelernt hat sie Paul erst als sie schon verheiratet waren. Heute ist das alles viel einfacher, man zieht erst einmal zusammen. Doch damals wäre das unmöglich gewesen. Die Leute hätten mit Fingern auf uns gezeigt und Mutter wäre vor Scham nicht mehr aus dem Haus gegangen.

"Ach" seufzte sie, "hätte ich doch nie geheiratet denn damit hat mein ganzes Unglück angefangen!" Ja, dachte sie, damit fing alles an und sie wusste plötzlich wie sie ihre Geschichte beginnen sollte und fing an zu schreiben: