Ellen Ammann - Adelheid Schmidt-Thomé - E-Book

Ellen Ammann E-Book

Adelheid Schmidt-Thomé

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Beschreibung

Als "frauenbewegte Schwedin" oder "Pionierin der katholischen Frauenbewegung" wird Ellen Ammann oft bezeichnet. 1870 in Stockholm geboren, heiratete Ellen Sundström 1890 nach München und engagierte sich bald in karitativer Ehrenarbeit. So initiierte sie verschiedene Einrichtungen für Katholikinnen. Die Bahnhofsmission, der Münchner Zweigverein des Katholischen Frauenbundes sowie der bayerische Gesamtverband, die sozial-karitative Frauenschule und ein Säkularinstitut basieren allesamt auf ihrem Tatendrang. Ab 1919 und bis zu ihrem Tod 1932 war Ammann zudem eine der ersten weiblichen Landtagsabgeordneten im jungen Freistaat. Sie vertrat dort die Tätigkeitsbereiche Jugendfürsorge, Gesundheitswesen, öffentliche Fürsorge und Wohlfahrtspflege. Dieses Buch stellt Leben und Wirken einer außergewöhnlichen Frau in einer schwierigen Zeit vor.

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kleine bayerische biografien

herausgegeben vonThomas Götz

ADELHEID SCHMIDT-THOMÉ

Ellen Ammann

Frauenbewegte Katholikin

kleine bayerische biografien

Biografien machen Vergangenheit lebendig: Keine andere literarische Gattung verbindet so anschaulich den Menschen mit seiner Zeit, das Besondere mit dem Allgemeinen, das Bedingte mit dem Bedingenden. So ist Lesen Lernen und Vergnügen zugleich.

Dafür sind gut 100 Seiten genug – also ein Wochenende, eine längere Bahnfahrt, zwei Nachmittage im Café. Wobei klein nicht leichtgewichtig heißt: Die Autoren sind Fachleute, die wissenschaftlich Fundiertes auch für den verständlich machen, der zwar allgemein interessiert, aber nicht speziell vorgebildet ist.

Bayern ist von nahezu einzigartiger Vielfalt: Seinen großen Geschichtslandschaften Altbayern, Franken und Schwaben eignen unverwechselbares Profil und historische Tiefenschärfe. Sie prägten ihre Menschen – und wurden geprägt durch die Männer und Frauen, um die es hier geht: Herrscher und Gelehrte, Politiker und Künstler, Geistliche und Unternehmer – und andere mehr.

Das wollen die KLEINEN BAYERISCHEN BIOGRAFIEN: bekannte Personen neu beleuchten, die unbekannten (wieder) entdecken – und alle zur Diskussion um eine zeitgemäße regionale Identität im Jahrhundert fortschreitender Globalisierung stellen. Eine Aufgabe mit Zukunft.

DR. THOMAS GÖTZ, Herausgeber der Buchreihe, geboren 1965, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Regensburg. Veröffentlichungen zu Stadt und Bürgertum in der Neuzeit.

Inhalt

Zum Geleit

Vorwort

1Kindheit und Jugend 1870–1890

Die junge Ellen / Die Familie Sundström / Politik und Religion – Elemente ihres Lebens / Protestantisches Schweden / Unvergessen: die Lehrerin Sœur Agnès / Die Lebensfreundin Lydia Wahlström / Streit um die Zukunft / Deutschlandreise / Erwachsenwerden / Die Zentrumspartei / Studentin der Heilgymnastik / Ottmar Ammann tritt in Ellens Leben / Die Familie Ammann / Verlobung und Hochzeit

2Eine Schwedin in München 1890–1904

Die orthopädische Praxisklinik / Eingewöhnungsprobleme / Ehekrisen / Familiengründung / Die Kinder der Familie Ammann / Verbindungen / Cölestin Schwaighofer

3Mädchenschutz und Bahnhofsmission 1895–1897

Gesellschaftlicher Wandel / Gefahren der Großstadt / Ein Verein für die Mädchen / Cyprian Fröhlich / »Ihre Liebe besaß starke Flügel« / Der »Marianische Mädchenschutzverein« / »Wer schützen will, muß auch der Gefahr vorbeugen« / Was ist die Bahnhofsmissionarin? / Verschiedene Farben – ein Ziel / »Zusammenarbeit ohne Vermischung« / »Marianischer Mädchenschutzverein und die Bahnhofmission« (1904)

4Frauenbewegung in Deutschland

Die ersten Frauenvereine / Hauptforderungen der Frauenbewegung / Überregionale Frauenvereine und -verbände / Die politische und kirchliche Situation nach 1870 / Kulturkampf / Die katholische Frauenbewegung / Die Frauenfrage / Der Katholische Frauenbund in Köln 1903 / Der KDFB und das Frauenwahlrecht

5Der Frauenbund in München und Bayern 1904 und 1911

Vorbereitungen für die Münchner Gründung 1904 / Frauenbewegung in München / Widerstände / »An die Katholischen Frauen und Jungfrauen Münchens« / Gründungsversammlungen / KDFB und andere Münchner Frauenvereine / Frauen für die Konfession – nicht gegen den Mann / Verbandsarbeit / Arbeitslast und -freude / Der bayerische Landesverband 1911 / Aktiv in beiden Vereinen / Die Nachkriegsjahre

6Die social-caritative Frauenschule 1906–1916

»Verantwortungsvolle Arbeit am Menschen« / Erste Kurse und gezielte Frauenschulung ab 1909 / »Soziale Arbeit ist mütterliche Arbeit« / Die Schule ab 1916 / 1919: zwei Frauenschulen in München / Leiterin und Lehrerin

7Ellen Ammann – Ehefrau und Mutter nach 1904

»Eins zum andern« / Ellen Ammann – ganz menschlich / Verluste und Sorgen / Gesundheitliche Probleme / Ottmar Ammann – der unterstützende Gatte / Frau Hofrat, der »kleine Feldherr« / Feiern auch in schlechten Zeiten / Die finanziellen Sorgen hören nicht auf / Die Kraft lässt nach / Ellen Ammann und die Hierarchien

8Krieg und Revolution 1914–1919

Die Ammanns im Feld / Überzeugte Patriotin / Arbeit in der Kriegsfürsorge / »Ausharren, durchhalten« – Rede 1916 / Aktionen des Frauenbunds / Revolution in Bayern / Ammanns Rückblick auf die Revolutionsmonate / Die Bayerische Volkspartei (BVP)

9Die Diakonin – ab 1914

Der »Dritte Orden« in München / Kloster St. Anton / »Forderungen der Zeit an die katholischen Frauen« / »Die heimliche »heilige Schar« / »Vereinigung Katholischer Diakoninnen« (VD) / Michael von Faulhaber / Oberin Schwester Birgitta / Ancillae Sanctae Ecclesiae

10Die Politikerin 1919–1932

Die Weimarer Republik / Frauenwahlrecht / Die Frauen machen Wahlkampf / Die weiblichen Abgeordneten 1919 / 1919: Das Parlament im ›Exil‹ / Ellen Ammann und die Teilhabe der Frauen / Die Reden der Ellen Ammann / Ellen Ammanns wichtigste Reden / Arbeitsschwerpunkte und erste Entscheidungen / Ellen Ammann und die Nationalsozialisten / Hitlers Putschversuch und die folgenden Landtagswahlen / Hochgeachtet bis zum Schluss

11Die letzten Jahre

Aufopfernde Tätigkeit / Tod am 23. November 1932 / Nachrufe und Würdigungen / Und heute? – Ellen Ammanns Erbe

12Reden und Aufsätze der Ellen Ammann

Publikationen zu Frauenbildung und -arbeit / Frauenbildung und -arbeit / 1921: Frauen als Schöffinnen und Geschworene / Kriegsgefangene, Kriegsfolgen / Unmoral und Sittlichkeit / Publikationen zum Thema Sittlichkeit / Sozialpolitische Themen / Gesundheitswesen und Wohlfahrt

Anhang

Zeittafel / Personenverzeichnis / Quellen- und Literaturverzeichnis / Bildnachweis / Dank

Zum Geleit

2020 ist für den Katholischen Deutschen Frauenbund (kurz: KDFB) in Bayern ein ganz besonderes Jahr: Am 1. Juli jährt sich der Geburtstag seiner Gründerin zum 150. Mal. Für den Frauenbund in Bayern war Ellen Ammann ein Glücksfall. Die gebürtige Schwedin gründete am 6. Dezember 1904 in München einen Zweigverein des KDFB; 1911 initiierte sie den KDFB Landesverband. Heute ist dieser mit 165.000 Mitgliedern der größte Frauenverband in Bayern und eine starke Stimme für die Gleichberechtigung von Frauen in Politik, Gesellschaft und Kirche.

Auf das soziale, gesellschaftliche und politische Leben in Bayern zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte Ellen Ammann entscheidenden Einfluss. Einige soziale Organisationen, die heute nicht mehr aus dem gesellschafts- und sozialpolitischen Leben in Bayern wegzudenken sind, wie die Münchner Bahnhofsmission oder IN VIA, verdanken wir ihrem Wirken.

Als eine der ersten weiblichen Abgeordneten im Bayerischen Landtag schrieb Ellen Ammann auch in der Politik Frauengeschichte. Besonders mutig war ihr Einsatz bei der Vereitelung des Hitlerputsches im November 1923.

Adelheid Schmidt-Thomé schafft es in ihrer Biografie, der Leserin/dem Leser nicht nur Ellen Ammanns Leben und Werk, sondern auch ihre private Seite, ihre Familie, ihre Existenzängste und Nöte näherzubringen. Eindrucksvoll schildert diese Biografie darüber hinaus die innere Zerrissenheit Ellen Ammanns. In Schweden geboren, einem Land, das der Frauenfrage äußerst fortschrittlich gegenüberstand, traf sie nach ihrem Umzug nach Bayern auf viele Widerstände. Deutlich wird auch, dass Ellen Ammann ein Kind ihrer Zeit war. Sie musste – vor allem während ihrer Arbeit als Parlamentarierin – zahlreiche Kompromisse eingehen.

Die Autorin nimmt uns mit auf eine kurzweilige Reise durch das bewegende und bewegte Leben von Ellen Ammann. Für alle, die mehr über diese außergewöhnliche Frau erfahren möchten, ist die Lektüre dieses Bandes der kleinen bayerischen biografien unverzichtbar.

Noch immer kann Ellen Ammann Inspiration und Vorbild für Frauen sein. Sie war, wie man heute sagen würde, eine echte Powerfrau. Im Laufe ihres Lebens hatte sie mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen, mit Vorurteilen, mit mangelnden Mitspracherechten der Frauen, mit Ängsten und Notzeiten, die der Erste Weltkrieg mit sich brachte, mit sozialer Not und Elend, mit dem Erstarken des Nationalsozialismus – aber all das nahm sie als Herausforderung an und machte es zu ihrer Aufgabe.

Bei all ihrem gesellschaftlichen, sozialen und politischen Wirken war der Glaube für Ellen Ammann die zentrale Richtschnur. Frauenbewegung und Katholischsein, für sie war das kein Gegensatz, sie war – wie der Untertitel dieser Biografie es ganz richtig beschreibt – eine frauenbewegte Katholikin.

Wer diese Biografie liest, staunt über den Facettenreichtum und das vielfältige Wirken Ellen Ammanns, gerade in einer Zeit, in der Gleichberechtigung noch nicht so verbreitet war wie heute.

Als Landesvorsitzende des Katholischen Deutschen Frauenbundes in Bayern möchte ich allen, die sich für Frauengeschichte interessieren, diese Biografie wärmstens ans Herz legen.

München, im Herbst 2019

Emilia Müller

Vorsitzende des KDFB Landesverbandes Bayern

Vorwort

»Für die verwundbare, scheue, keusche Seele der zarten kleinen Frau war jedes Hinaustreten in die Öffentlichkeit, war ihr tägliches Werk stets ein neues Wagnis […]« – So steht es in einem Nachruf auf Ellen Ammann von 1933. Doch gleichzeitig war sie führungsstark, energisch, von »nordischer Vehemenz«, dabei zugewandt, gläubig, frauenbewegt … Auch Hausfrau und Mutter: Ellen Ammann heiratete 1890 mit gerade einmal 20 Jahren, ging von Stockholm nach München, zog sechs Kinder groß, arbeitete 18 Jahre in Praxis und Klinik ihres Mannes und trug später ein gut Teil zum Unterhalt der Familie bei. So weit die ›private‹ Ellen Ammann.

Ab 1895 engagierte sie sich in München in einem Mädchenschutzverein und wurde Gründerin: der katholischen Bahnhofsmission, des Münchner Zweigvereins des »Katholischen Deutschen Frauenbunds (KDFB)« mit vielen Unterorganisationen, des KDFB-Landesverbandes Bayern und zahlreicher Zweigvereine, der »Social-caritativen Frauenschule«. Aus ihrem Bedürfnis nach Spiritualität erwuchs eine Drittordensgemeinschaft. Welch ein Erbe für die katholischen Frauen in Bayern! Alle Gründungen bestehen und florieren heute noch.

Darüber hinaus wirkte sie im Ersten Weltkrieg in der Kriegsfürsorge und war von 1919 bis 1932 eine der ersten weiblichen Landtagsabgeordneten. Diese unerschöpfliche Energie, die die schwedische Bayerin über 42 Jahre antrieb, erwuchs aus ihrem Glauben.

Die wenigen Fotos von Ellen Ammann zeigen verschiedene Seiten ihrer Persönlichkeit: humorvoll als Mutter auf der Schulter ihres Mannes – Bayerin mit Trachtenhütl – Tierfreundin mit Papagei und Dackel – und die unbeirrbare Frauenführerin, die seriöse Politikerin mit Orden. Was Bilder nicht zeigen können: eine suchende Frau, stets im Gespräch mit Gott. Die als Abiturientin unbedingt Lehrerin an einer Klosterschule werden möchte – und dann Heilgymnastik lernen muss. Die Deutschland hasst, dann lieben lernt. Die einem Mann erst in letzter Sekunde das Jawort gibt. Die emanzipierte Schwedin, die eine willige deutsche Gattin sein möchte und es nicht wirklich kann. Sie akzeptiert den Mann als Oberhaupt, aber sie hadert mit patriarchalischen Mustern. Sie stellt die Familie über alles und ist doch ein Leben lang berufstätig. Ihre Unentschlossenheit. Die Katholikin, die aber unabhängig von der Kirche agieren möchte. Eine zarte Person mit einer starken Persönlichkeit.

Die Quellenlage ist dürftig: Alle Archive, das des Bayerischen KDFB und große Teile des Familienarchivs, wurden im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Die Königliche Bibliothek in Stockholm besitzt 84 Briefe von Ellen Ammann an Freunde und Familie, die Marianne Neboisa ausfindig gemacht und aus dem Schwedischen übersetzt hat. Die Abschriften und weitere Unterlagen, Ergebnisse einer intensiven Recherche von Neboisa, liegen im Archiv der Erzdiözese München und Freising. Der Nachlass beinhaltet auch die erhaltenen Originale aus dem Familienarchiv.

Drei Biografien liegen bereits vor: Das »Lebensbild« von Marie Amelie von Godin (1933) ist geprägt von einer schwärmerischen und sehr persönlichen Sympathie für die Protagonistin. Die Zitate im Text lassen sich großteils nicht nachvollziehen, sind also nicht ohne weiteres verwendbar. Die 1992 von Marianne Neboisa veröffentlichte umfangreiche Biografie hat vorrangig das apostolische Wirken Ellen Ammanns im Blick (und den Wunsch, dass sie seliggesprochen werden möge). Das Buch ist leider nicht chronologisch strukturiert und lässt ein Personenregister vermissen. 2017 erschien die Dissertation von Gunda Holtmann, die das intellektuelle Leben Ellen Ammanns, ihre geistige Arbeit sowie ihre Denk- und Lebenswege im Kontext der katholischen Frauenbewegung darstellt, wie es in einer Rezension des Sankt Michaelsbunds heißt. Zudem hat Gerlinde Wosgien eine detaillierte Chronik des KDFB-Landesverbandes Bayern sowie verschiedene Aufsätze mit wichtigen Informationen über die Arbeit von Ellen Ammann verfasst.

Die jetzt vorliegende Biografie zum Anlass des 150. Geburtstags von Ellen Ammann stellt sie als private und öffentliche Persönlichkeit vor und möchte außerdem die Gründungen würdigen, die sie ins Leben gerufen hat.

Zum Schluss ein paar Gedanken zum Gebrauch dieses Buches: Im Anhang finden Sie ein Personenverzeichnis mit Kurzbiografien über die wichtigsten Wegbegleiter Ellen Ammanns. Der »Katholische Deutsche Frauenbund« trug im Lauf seiner mehr als 100-jährigen Geschichte mehrere Namen: Bei der Gründung 1903 nennt er sich »Katholischer Frauenbund« (KFB), ab 1916 »Katholischer Frauenbund Deutschlands« (KFD) und ab 1921 »Katholischer Deutscher Frauenbund« (KDF). 1983 setzt sich die Abkürzung KDFB für »Katholischer Deutscher Frauenbund« durch; diese wird im Buch verwendet, auch da, wo sie historisch noch nicht zutrifft.

München, im Herbst 2019

Adelheid Schmidt-Thomé

1Kindheit und Jugend 1870–1890

»Von ihrem ersten Tage ist sie ein Freudenkind gewesen. Niemals hat sie uns den geringsten Kummer, eine Sorge oder Unruhe bereitet.

Glück war sie uns von ihrer ersten bis zu ihrer letzten Stunde.«

(Lilly Sundström über Ellen)

Junge Schwedinnen hatten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts andere Möglichkeiten als die deutschen Frauen. Als Letztere begannen, eine höhere Schulbildung zu erkämpfen, waren in Schweden Frauenarbeit und -studium bereits Alltag. Entsprechend kann Ellen Ammann später in vielen Dingen freier denken und handeln als die meisten deutschen Frauen.

DIE JUNGE ELLEN

Ellen Ammann wird als Ellen Aurora Sundström am 1. Juli 1870 in Stockholm geboren. In der Västra Trädgårdsgatan Nr. 7 befinden sich die Wohnung der Familie und die Redaktion des »Stockholms Dagblad«, einer renommierten Tageszeitung. In diesem Haus kommt zweieinhalb Jahre später auch Ellens Schwester Harriet Sundström zur Welt. Die Eltern, Carl und Lilly Sundström, sind seit 1868 verheiratet; sie gehören dem sogenannten ›Bildungsbürgertum‹ an.

Stockholm ist mit seiner Schärenküste ein Naturparadies. Carl Sundström und seine Töchter lieben die sommerlichen Segel- und Angeltörns in dieser faszinierenden Landschaft. Sport – Segeln, Schwimmen, Skifahren – ist eine für Mädchen damals ungewöhnliche Leidenschaft Ellens, die sie auch in München, wo dies noch ungewöhnlicher ist, mit ihrer Familie beibehalten wird. »Es gehört mit zum Köstlichsten«, erinnert sich ihre spätere Mitarbeiterin Maria Hopmann, »wenn sie von ihrem Elternhaus, von der Schule bei den katholischen Schwestern in Stockholm, von den Ferien im Skärgarden und auf der Segeljacht ihres Vaters erzählt. In ihrer ganzen Erziehung gab es keine Zimperlichkeit und Weichlichkeit, wurde für die Stählung von Körper und Geist gleichmäßig gesorgt und Selbständigkeit und Selbstverantwortung von früh auf verlangt.«

Ein Kinderbild Ellen Ammanns von 1873

Ähnlich asketisch werden in der Familie anscheinend auch Gefühle behandelt. »Noch kurz vor ihrem Tode hat Ellen Ammann mir einmal erzählt«, schildert die ›Erstbiografin‹ Godin, »wie sie sich zwar noch gut erinnere, daß ihre jungen Eltern mit ihr und Schwester Harriet, selbst noch halbe Kinder, durchs Haus tollten, und daß sich der Vater für die Arbeit seiner kleinen Mädelchen jederzeit zum Gefährten hergab. Zärtlichkeitsbezeugungen seien bei den Sundströms hingegen durchaus nicht an der Tagesordnung gewesen; daß sie so richtig geherzt worden sei als Kind, darauf könne sie sich kaum besinnen.« Das scheint Ellen zu der »nordischen« Persönlichkeit gemacht zu haben, die man ihr gerne nachsagt.

Die Familie Sundström

Die Mutter von Ellen und Harriet, Carolina Sofia (Lilly) Häggström, ist eine emanzipierte Frau, Journalistin und Mitglied im Fredrika-Bremer-Bund, der Keimzelle der schwedischen Frauenbewegung. Der Vater der Mädchen, Dr. Carl Rudolf Sundström, ist Lehrer im höheren Schuldienst und Leiter des Ressorts Außenpolitik beim »Stockholms Dagblad«. Er ist ein renommierter Naturwissenschaftler sowie Verfasser und Übersetzer wissenschaftlicher Arbeiten.

Ellens jüngere Schwester Harriet/Henrike Sundström ist eine in Schweden recht bekannte bildende Künstlerin. Sie studiert in München, Stockholm, Frankreich und gehört zwischen 1891 und 1894 der sogenannten Künstlerkolonie in Dachau an.

POLITIK UND RELIGION – ELEMENTE IHRES LEBENS

Die Sundström-Mädchen werden entsprechend dem hohen intellektuellen und gesellschaftlichen Niveau der Eltern erzogen: Bildung ist wichtig, der Vater bringt ihnen Politik und Naturwissenschaften nahe, Ellen begeistert sich darüber hinaus für Geschichte. Die Mutter arbeitet in der Redaktion der Zeitung mit und übernimmt nach dem Tod ihres Mannes teilweise dessen Aufgaben. So lebt sie ihren Töchtern eine gewisse emanzipierte Selbstständigkeit vor.

Dr. Carl Rudolf Sundström (1841–1889)

Carolina Sofia Sundström (1849–1943)

Für Ellens Entwicklung noch maßgeblicher ist die tiefe Verwurzelung ihrer Mutter im katholischen Glauben. Obwohl Schweden ein strikt protestantisches Land ist, konvertiert Lilly Sundström 1881 heimlich und erzieht ihre (protestantisch getauften) Töchter als Katholikinnen. Trotz der strengen Glaubensvorschriften können die beiden eine private Mädchenschule, die katholische École française (Franska skolan), besuchen. Sie wurde vor allem für Diplomatenkinder eingerichtet und wird von einer französischen Kongregation, den Josefsschwestern, geführt, die seit 1862 mit einer Sondererlaubnis unterrichten dürfen.

In den Biografien heißt es, Ellen Sundstöm habe 1884 die Erstkommunion empfangen. So steht das auch in der Heiratsurkunde. Ellen hätte aber, wie die ›Zweitbiografin‹ Neboisa später herausgefunden hat, als Katholikin damals ihre staatsbürgerlichen Rechte verloren und kein Abitur machen können. Es ist daher wohl eher so gewesen, dass sie die Heilige Kommunion als »Tochter einer Neukonvertitin«, wie es im Kirchenbuch der katholischen Gemeinde St. Eugenia heißt, empfangen hat.

Protestantisches Schweden

In Schweden ist der Protestantismus von 1527 bis 1999 Staatsreligion, die Ausübung anderer Religionen ist bis 1871 verboten und wird mit Restriktionen belegt. 1783 wird das erste apostolische Vikariat für Schweden eingerichtet. Noch um 1890 machen die katholischen Bürger eine verschwindende Minderheit aus. Die katholische Gemeinde St. Eugenia in Stockholm, die Heimatgemeinde von Lilly und Ellen Sundström, 1837 gegründet, ist die älteste katholische Gemeinde Schwedens.

UNVERGESSEN: DIE LEHRERIN SŒUR AGNÈS

Bis 1888 besucht Ellen die Franska skolan. Hier werden den Schülerinnen eine anspruchsvolle Bildung, die vom Vater hochgeschätzte französische Kultur und der katholische Glauben der Mutter vermittelt. Die deutsche Lehrerin Walburga (Wally) Stockhausen ist mit der Mutter befreundet und wird eine wichtige Vertrauensperson für die ganze Familie. Besonders verehrt Ellen ihre gerade einmal fünf Jahre ältere Lehrerin Marie Thérèse Tardy (Sr. Agnès des Anges), die ab 1885 unterrichtet. Sie wird zum großen Vorbild des Teenagers. 1891 schreibt Ellen in ihr Tagebuch: »Gott hat uns geführt, die eine zur anderen. Er ist Urheber unserer Freundschaft. […] Deo gratias Schwester meiner Seele! […] Als Sie mich das erstemal so nannten, haben Sie mir den Mut zurückgegeben, der mir an jenem Tag absolut mangelte.« An jedem 10. eines Monats feiert Ellen diesen Tag und die Lehrerin mit großer Liebe: »Heute, du Gott meiner Seele, vor vielen Jahren gabst du mir jene geistige Schwester, die soviel Einfluß auf meine Kindheit hatte […] Sie legte den Keim zu jenem Streben oder vielmehr Wunsch, dir zu gefallen, der mich stets trieb oder verfolgte, je nach meiner Treue.«

Der religiöse Einfluss von Sœur Agnès wirkt lebenslang. Ellen eifert ihr nach, möchte ebenfalls Klosterschwester und Lehrerin werden. Für die Erwachsene ist die Sœur Leitstern im Glauben. Die Verbindung zwischen den beiden ist nach Ellens Weggang aus Schweden hauptsächlich spirituell, über Gedanken, Texte im Gebetbüchlein, das die Lehrerin Ellen zur Hochzeit schenkt, Meditation, Gebete – von Ellen ins Universum zu Sr. Agnès gesandt. Persönliche Treffen sind höchst selten möglich, das beeinträchtigt aber die tiefe emotionale Bindung nicht.

DIE LEBENSFREUNDIN LYDIA WAHLSTRÖM

Das Lernen macht Ellen Freude. Die Abiturprüfungen legt sie im Mai 1888 extern in der Wallinska skolan ab, mit sehr guten Noten. Während der Vorbereitungen freundet sie sich mit der Protestantin Lydia Wahlström an. »Sie machte einen solchen Eindruck von innerer Ruhe und Stille und ich fand heraus, dass diese ihre Wurzeln in einer tiefen Religiosität hatten«, schreibt diese Jahrzehnte später im Nachruf auf ihre Freundin. 1921 erinnert sie sich an die junge Ellen: »Ein kleines, dunkles Mädchen mit hängendem Zopf und schüchternen, melancholischen Augen, welche zuweilen aufleuchten konnten, wenn ein unbeschreiblich schönes Lächeln wie ein Kräuseln über ein sonst spiegelblankes, ruhiges Äußeres fuhr. Dieses Lächeln, so entdeckte ich später, kam beinahe gegen ihren Willen; sie war als ein ideeller und zielstrebiger junger Mensch im allgemeinen schrecklich ernst.« Und über die kurze gemeinsame Zeit in Schweden schreibt sie: »Während der nächsten sonnigen Werktage nach dem Examen verkehrten wir fleißig miteinander auf Wanderungen in der Umgebung und obgleich wir die weiße [Studenten]Mütze nicht auf dem Kopf tragen durften, war sie doch umso mehr gegenwärtig in unseren Gedanken.«

Die Abiturientinnen planen ihre Zukunft. Neboisa las aus den Briefen der jungen Ellen an Lydia folgende Ideale heraus: »Ein reines, edles Leben mit möglichst viel Einfluß auf andere Menschen, um sie für ihre Vorstellungen vom besten Sinn des Daseins zu gewinnen, stand vor ihrem Geiste. Ellen offenbarte dabei ihr Katholischsein und ihr heimliches Vorbild Sœur Agnès, verriet aber auch etwas von den Schwierigkeiten daheim, noch ohne zu ahnen, daß sie bald ihre Träume durchkreuzen werden.«

Stolz trägt Ellen eine weiße Studentenmütze, die ihr als Abiturientin eigentlich nicht zusteht.

Nach der Hochzeit Ellens haben sie und Lydia anscheinend 17 Jahre lang keinen Kontakt, aber danach besteht eine intensive Freundschaft zwischen den beiden, trotz der verschiedenen Konfessionen und der unterschiedlichen Lebenswege. Lydia Wahlström wird Lehrerin und Schriftstellerin. Sie ist in Schweden eine überzeugte Frauenrechtlerin und Anhängerin der Frauenstimmrechtsbewegung – was manchmal zu kontroversen Briefwechseln mit ihrer Freundin Ellen führt.

STREIT UM DIE ZUKUNFT

Schon in Ellens letztem Schuljahr beginnen Diskussionen zwischen Vater und Tochter über ihre Zukunft. Sie möchte immer noch Lehrerin werden, am liebsten an ihrer Schule und am liebsten im Kloster. Vater Carl ist damit nicht einverstanden. Was ihm daran missfällt, ist nicht bekannt. Ist es der Eintritt in eine Kongregation, die mit dem Beruf verbundene Ehelosigkeit? Oder reicht nur das Geld nicht für ein auswärtiges Studium? Jedenfalls wünscht er, dass Ellen schwedische Heilgymnastik lernt, eine frühe Form der Krankengymnastik. Das kann sie in Stockholm tun, und die Ausbildung dauert nicht lange. »Er sagte, daß ich durch meine Weigerung meine Zukunft zerstöre usw.«, schreibt Ellen nach dem Abitur an die Freundin Lydia. »Daß ich mir dessen ungeachtet den Weg ins Leben bahnen kann, da ich ja um der Wahrheit willen so handle, das weiß ich ja. Doch es ist immer schwer, so etwas von seinem Vater zu hören.«

Die Auseinandersetzungen werden immer unerfreulicher. Vielleicht, um Entspannung in die Situation zu bringen, lädt Wally Stockhausen ihre Freundin Lilly Sundström mit den Töchtern im Sommer 1888 zu einer Reise durchs Rheinland ein.

DEUTSCHLANDREISE

Unterwegs besuchen die Reisenden auch die Familie des Freiherrn Maximilian Heereman von Zuydtwyck auf Schloss Surenburg in Nordrhein-Westfalen. Die Heeremans haben vier Töchter und fünf Söhne, von denen die drei jüngeren Töchter noch zu Hause leben; die anderen Kinder besuchen Internate.