Eltern am Limit - Dorothee Döhring - E-Book

Eltern am Limit E-Book

Dorothee Döhring

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Beschreibung

Beruflicher Erfolg, finanzielle Unabhängigkeit, laufend pädagogisch wertvolle Aktivitäten mit den Kindern und natürlich ein perfekter Haushalt – die Erwartungen an Eltern sind hoch. Doch die Realität sieht meist anders aus. Der Spießrutenlauf zwischen Kindergarten oder Schule, Arbeit, digitalen Meetings, Erledigungen, Kochen, Sportkursen, Arztterminen und Wäsche-Bergen zehrt und immer mehr Eltern suchen erschöpft und ausgebrannt Hilfe. Dieser Ratgeber zeigt, wie Familienglück trotz hoher Anforderungen und Stress möglich ist. Voraussetzung ist allerdings, sich zuerst einmal mit der Realität auseinandersetzen, bevor man Idealen nacheifert. Keine Familie kann Stress völlig vermeiden, damit er nicht zu einem Dauerproblem wird, sollten Eltern akute Belastungen nicht ignorieren, sondern rechtzeitig Unterstützung in Anspruch nehmen.

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Dorothee Döring

Eltern am Limit

Wegen stilistischer Klarheit und leichterer Lesbarkeit wurde im Text auf die sprachliche Verwendung weiblicher Formen verzichtet. Ausdrücklich sei hier festgehalten, dass die Verwendung der männlichen Form inhaltlich für alle Geschlechter gilt und keinesfalls einen sexistischen Sprachgebrauch darstellt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der DeutschenNationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Copyright © 2024 maudrich Verlag

Facultas Verlags- und Buchhandels AG, Wien, Austria

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitungsowie der Übersetzung, sind vorbehalten.

Umschlaggestaltung, Typographie und Satz: Florian Spielauer, WienUmschlagbild, S. 2–3, 9, 10–11, 12, 18, 28, 38, 46, 55, 64,

70, 85, 99, 104–105, 119, 133, 146, 155: © lemono, iStock

Lektorat: Mag. Katharina Schindl, WienDruck: Finidr, Tschechien

ISBN 978-3-99002-165-1 (Print)

ISBN 978-3-99111-856-5 (E-Pub)

Inhalt

Einführung

Teil 1: Konflikte und ihre Folgen

1 Bestandsaufnahme

Die überforderte Generation – Dauerspagat zwischen Familie und Beruf

Die Illusion der Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Überforderung der Eltern durch gestiegene Anforderungen

Was macht Erziehung heute so schwierig?

Illusionäre Vorstellungen von Elternschaft und Familienleben

Fehlende Orientierung durch veränderte Erziehungsstile

Überbehütung und Kontrolle

Fehlendes Erziehungswissen und mangelnde Kompetenz

Perfektionismus

2 Vielfältige Formen der Elternschaft

Die traditionellen Eltern

Die gleichberechtigte Elternschaft

Co-Elternschaft (Co-Parenting)

Alleinerziehende – Ein-Elternteil-Familien

Patchworkfamilien

Adoptiveltern

Regenbogeneltern

3 Quellen der Überforderung

Überzogene Erwartungen

Schulprobleme

Unterrichtsausfall durch Lehrermangel

Lernschwäche und Lernbehinderung

Leistungs- und Schulverweigerung

Hochbegabung

Verhaltensauffällige Kinder

Was ist Verhaltensauffälligkeit?

Häufige Formen kindlicher Verhaltensauffälligkeit

Krisenmodus Pubertät

Dauerstress durch ein chronisch krankes Kind

Die Überlastung der Mutter

Der Einfluss auf die Paarbeziehung

Der Einfluss auf die Lebensgestaltung

Der Einfluss auf Geschwister

Ein Beispiel aus meiner Konfliktberatung

4 Folgen der Überforderung

Schuldgefühle und chronisch schlechtes Gewissen

Burn-out (Erschöpfungssyndrom)

Aggression

Resignation

Depression

Teil 2: Konflikte erfolgreich meistern

1 Elternglück trotz Stress und Überforderung

Wege zu innerer Balance

Erkennen von Psychofallen

Befreiung von Mythen

Realistische Selbsteinschätzung

Erkennen und Schützen eigener Grenzen

Selbstwahrnehmung – Erkennen von Bedürfnissen und Ressourcen

Training der Emotionssteuerung

Mit Selbsthypnose und Autosuggestion zu innerer Balance

Stärkung der seelischen Widerstandskraft

Handlungsoptionen bei Leistungsdruck und Überforderung

Der ökonomische Umgang mit Ressourcen

Stressmanagement

Lebenszufriedenheit durch Work-Life-Balance

2 Hilfreiche Adressen

Deutschland

Österreich

Schweiz

Abschließende Gedanken

Quellen

Stichwortverzeichnis

Einführung

Dieser Ratgeber richtet sich an Eltern, die sich durch die Vielfalt der Anforderungen, die an sie gestellt werden, überfordert fühlen. Um diesen vielen Herausforderungen gewachsen zu sein, ist es erforderlich, die Gründe für diese Mehrfachbelastungen zu erkennen.

In Teil 1 erfolgt eine Analyse der zahlreichen Ursachen für dieses Problem, angefangen von der Illusion der Vereinbarkeit von Elternschaft und Beruf über die Schwierigkeiten Alleinerziehender bis hin zu den Herausforderungen, die von hochbegabten, schulisch schwachen oder verhaltensauffälligen Kindern ausgehen.

In Teil 2 dieses Ratgebers wird gezeigt, wie Familienglück trotz hoher Anforderungen und Stress möglich sein kann. Letztlich geht es darum, sich geistig-seelisch mit sich und der Realität auseinanderzusetzen.

Elternsein ist eine anspruchsvolle Lebensaufgabe, die oft an die Substanz geht, zu Überforderung führt und Stress auslösen kann. Damit sie Eltern nicht an ihr Limit bringt, sollten diese akute Belastungen nicht ignorieren, sondern rechtzeitig Unterstützung in Anspruch nehmen, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Das Eingeständnis, am Limit zu sein und Unterstützung zu benötigen, ist keine Schande und bedeutet nicht, versagt zu haben, vielmehr zeugt es von Selbstfürsorge und Verantwortungsbewusstsein.

Dieser Ratgeber beinhaltet darüber hinaus hilfreiche Adressen von Eltern- und Familienberatungsstellen, wo Betroffene Unterstützung finden können. Für eine niedrigschwellige anonyme Beratung steht in verschiedenen Regionen sogar rund um die Uhr ein Elternnotruf zur Verfügung.

Teil 1

Konflikte und ihre Folgen

1 Bestandsaufnahme

Die überforderte Generation – Dauerspagat zwischen Familie und Beruf

Die meisten 30- bis 40-Jährigen sind heutzutage im Stress, insbesondere wenn sie Kinder haben. Sie erleben einen Zeitdruck, den weder ihre Eltern noch ihre Großeltern kannten. „Sie müssen in fünf Jahren das leisten, was die Elterngeneration in zehn Jahren geleistet hat“, sagt Hans Bertram, emeritierter Soziologieprofessor der Berliner Humboldt-Universität. Gemeinsam mit Carolin Deuflhard hat er alle Daten ausgewertet, die der Mikrozensus, also die größte statistische Erhebung, in Deutschland über ökonomischen Strukturwandel und familiäre Lebensformen gesammelt hat. Die beiden kamen zu dem Ergebnis: Von jungen Erwachsenen wird in Deutschland zu viel auf einmal verlangt.1

„Die überforderte Generation“, das sind Bertram und Deuflhard zufolge etwa die Jahrgänge 1970 bis 1980. Sie sind in einer Zeit des Wohlstands groß geworden und erlebten ein enormes Angebot im Rahmen von Schule, Ausbildung und Studium. Die beiden Forscher kommen zu dem Schluss, dass sich Höchstleistungen im Beruf bei unsicheren Berufsperspektiven nur schwer mit der Fürsorge für Kinder verbinden lassen.

Tatsächlich haben viele Eltern in Deutschland mit der Vereinbarkeit von Beruf und Familie Schwierigkeiten. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) von ihnen gaben in einer repräsentativen Befragung des Meinungsforschungsinstituts Kantar Emnid an, damit Probleme zu haben. Nur 29 Prozent gaben an, beides gut hinzubekommen. Vor vier Jahren waren es noch 43 Prozent.2

Doch warum fällt es Eltern so schwer, die richtige Balance zu finden? Einer der Gründe ist laut der Studie, dass Frauen nach der Babypause immer früher – oft aus finanziellen Zwängen heraus – wieder in den Beruf zurückkehren. Sie wollen jedoch auch für ihr Kind da sein. Viele Väter hätten gerne mehr Zeit für die Familie, können es sich aber nicht leisten, ihre Arbeitszeit zu reduzieren. 86 Prozent der Befragten sind der Ansicht, dass sie sich dem Arbeitsmarkt anpassen müssten statt umgekehrt – trotz Homeoffice, Teilzeit und anderen flexiblen Arbeitsmodellen.3

Die heutige Elterngeneration müsse auch mit anderen Erwartungen fertig werden. Während Frauen früher als schlechte Mütter galten, wenn sie nach einer Geburt zeitnah wieder arbeiten gingen, ist heute oft das Gegenteil der Fall: 84 Prozent spüren die gesellschaftliche Erwartung, das Kind möglichst früh in eine Betreuungseinrichtung zu geben.4

Einfach zu lösen ist das Problem der Unvereinbarkeit von äußeren Erwartungshaltungen, eigenen Wünschen und realen Gegebenheiten nicht. Es macht einen deutlichen Unterschied, ob man im Haus der Eltern wohnt und Unterstützung aus der Familie erhält oder ob man in der Großstadt lebt, die Hälfte seines Einkommens für die Wohnung ausgeben und Unterstützung gegen Bezahlung organisieren muss. Vor allem hilft wohl ein bisschen mehr Gelassenheit bei der eigenen Beurteilung. Eltern, denen es gelingt, sich vom Druck zu befreien, alles perfekt machen zu müssen, befreien sich damit auch von Stress. Das Motto sollte sein: „Gut genügt.“ Ein bisschen weniger Selbstoptimierungszwang in Bezug auf Kindererziehung, Karriere und Wohnung nimmt schon etwas von der Last.

Unter dem Spagat zwischen Job und Familie leiden nicht nur Mütter, sondern auch Väter, die sich eine kooperative Elternschaft wünschen. Wohl jeder Vater will heute ein guter Vater sein, doch Anspruch und Realität klaffen oft weit auseinander. Väter fühlen sich oft zwischen Familie und Arbeitsplatz hin- und hergerissen. Sie fühlen sich dadurch sogar vom Alltag überfordert, wie eine neue wissenschaftliche Studie zeigt:

Noch vor 50 Jahren hatte ein Vater, der in der Öffentlichkeit einen Kinderwagen schob, Seltenheitswert. Der Vater gehörte in die Werkstatt oder ins Büro, die Mutter in die Küche und zu den Kindern. Seitdem hat sich viel verändert.

Während sich Frauen mehr emanzipierten und gut ausgebildet ihren Platz auf dem Arbeitsmarkt eroberten, forderten sie von den Vätern ihrer Kinder mehr Engagement in der Kindererziehung. Eine aktuelle Umfrage des Forsa-Instituts im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“, in deren Rahmen 1000 Väter und Stiefväter zwischen 20 und 55 Jahren befragt wurden, bringt nun Licht in die neue Rolle der Väter: Was hat sich verändert und was nicht?

Noch leben viele Männer nach dem geprägten Rollenmodell. Als Haupternährer fühlen sie sich dafür verantwortlich, genug Geld für die Familie zu verdienen. Fast 90 Prozent der Väter arbeiten Vollzeit, ergab die Studie, nur ein Drittel möchte die Arbeitszeit verkürzen.

Doch gleichzeitig wollen moderne Väter auch am Familienleben beteiligt sein: „Ein guter Vater sollte so viel Zeit wie möglich mit seinen Kindern verbringen“ – für diese Antwort entschieden sich 81 Prozent der befragten Männer.5

Vollzeit arbeiten und viel Zeit mit den Kindern verbringen – das ist ein Spagat, der kaum zu schaffen ist. Wunsch und Wirklichkeit im Leben der meisten Väter klaffen also weit auseinander, und das hinterlässt meist ein schlechtes Gewissen.

Unterbrochene Nachtruhe, morgens das Baby füttern, dann schnell aus dem Haus. Abends erschöpft von der Arbeit kommen, dann der ebenfalls gestressten Mutter das Baby aus dem Arm nehmen, Windeln wechseln und mit dem Kinderwagen spazieren fahren. Vater zu sein bedeutet heute, beiden Lebenswelten gerecht werden zu müssen – ein Dilemma, das bei 54 Prozent der Väter das Gefühl auslöst, nicht ausreichend für die Kinder da zu sein. 17 Prozent der Väter fühlen sich sogar völlig überfordert, ergab die Studie. 43 Prozent hätten gerne mehr Zeit für die Familie und auch mehr Freiraum für sich selbst: 39 Prozent der Väter bemängelten, sie hätten zu wenig Zeit für eigene Interessen.6

Die Anforderungen an einen modernen Vater sind schwer zu erfüllen, oft überfordert ihn der Spagat zwischen Job und Familie. Dennoch lohnt es sich, Vater zu sein. Ihr Leben sei durch die Geburt ihres Kindes glücklicher und erfüllter geworden, gaben immerhin 58 Prozent der Väter im Rahmen der Forsa-Studie an. Es sei eine riesige Chance, Vater zu sein und die Verantwortung für ein Kind mitzutragen, meint der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Väter erleben eine völlig andere Bereicherung als im Umgang mit ihren Kollegen im Job.

Berufstätige Eltern in Deutschland leiden vermehrt unter chronischer Zeitknappheit. Das ergab eine Umfrage unter 1000 Müttern und Vätern im Auftrag des AOK-Bundesverbandes. Danach beklagt knapp die Hälfte (47 Prozent), im Alltag durch mangelnde Zeit gestresst zu sein. Andere starke Belastungsfaktoren wie Geldknappheit oder psychische Anstrengungen rangieren laut der Studie mit jeweils 28 Prozent weit dahinter. Die Zahlen bestätigen frühere AOK-Familienstudien, die seit 2007 regelmäßig durchgeführt werden.7

Nach Ansicht des Gesundheitswissenschaftlers Klaus Hurrelmann von der Hertie School of Governance steht die heutige junge Generation von Eltern nicht nur vor neuartigen, sondern vermutlich auch vor größeren Anforderungen im Familienalltag als frühere Generationen. Trotz kooperativer (partnerschaftlicher) Elternschaft sei die Belastung der Frauen in Paarfamilien noch um einiges größer als die der Männer. Die Familienpolitik müsse sich daher flexibler auf die wandelnden Lebensläufe und die sich ändernden individuellen Muster der Lebensführung von Eltern einstellen, fordert Hurrelmann, denn der größte Teil von Müttern und Vätern ist heute erwerbstätig. Die Studie kommt auf einen Durchschnittswert von 50 Prozent Erwerbstätigen in Vollzeit und 36 Prozent in Teilzeit. Frauen bevorzugen nach wie vor die Erwerbstätigkeit in Teilzeit.8

Die Illusion der Vereinbarkeit von Familie und Beruf

Männer und Frauen im Alter zwischen Mitte 20 und Anfang 40 sehen sich vielfältigen gesellschaftlichen und selbst gesteckten Anforderungen gegenüber und sind so mittendrin in der „Rushhour des Lebens“: Etablierung im Job, Karriere, feste Partnerschaft, Familiengründung, fester Wohnsitz, Verantwortung für älter werdende Eltern.

Beim Versuch, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, entstehen Zeitnot und Überforderung, denn heute fällt die Zeit der Familiengründung mit der beruflichen Profilierung beider Elternteile zusammen. Kinder, Partnerschaft, Familie und Beruf sind daher eher ein logistisches Problem als ein Glücksversprechen! Am Arbeitsplatz muss man so funktionieren, als hätte man keine familiären Aufgaben, und wenn die Großeltern nicht mehr helfen können, sondern selbst hilfsbedürftig werden, bewegt sich die „Generation Sandwich“ hart an der Grenze der eigenen Belastbarkeit.

Soziologen sprechen bei der „Rushhour des Lebens“ vom Wahn der Gleichzeitigkeit, der zu Überforderung führt. Besonders schwierig ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alleinerziehende Mütter. Wenn sie keine Unterstützung aus ihrer Familie erhalten, sind sie zur Teilzeitbeschäftigung gezwungen und müssen ggf. mit staatlichen Mitteln aufstocken.

Katrin, 38:

Ich bin Grundschulrektorin und eigentlich sehr gut organisiert, komme aber oft an meine Grenzen: Ich bin alleinerziehend und habe einen Sohn mit ADHS und Förderstatus. Er geht zur Förderschule, wo ich ihn nachmittags um 16 Uhr abhole. Zu Hause habe ich mit ihm zu kämpfen, wenn es um seine Hausaufgaben oder spezielle Übungen geht. Für mich bleibt keine Zeit zum Regenerieren. Erst ein Zusammenbruch zeigte mir, dass ich der Mehrfachbelastung nicht mehr gewachsen war und etwas ändern musste. Ich reduzierte meine Stundenzahl, was auch bedeutete, dass ich meine Funktion als Rektorin aufgeben musste. Es bedeutete aber auch, dass ich mit einem reduzierten Einkommen zurechtkommen muss und später mit einer geringeren Pension.

Noch schwieriger wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf für alle, die im Schichtdienst arbeiten: Krankenschwestern, Altenpflegekräfte, Mitarbeiter(innen) von Airlines, Bus- und Zugpersonal, Hotelangestellte, Polizistinnen und Polizisten – insbesondere, wenn sie alleinerziehend sind, wie das folgende Beispiel zeigt:

Laura, 41:

Ich bin alleinerziehende Mutter und Einzelhandelskauffrau, aber die Arbeitszeiten im Einzelhandel machten es mir unmöglich, für die Betreuung meiner 7-jährigen Tochter zu sorgen, und eine private Betreuung konnte ich mir nicht leisten. Um Beruf und Familie zu vereinbaren, arbeite ich jetzt drei Tage pro Woche nachts in einem Hotel. An zwei Tagen übernachtet meine Tochter bei der Oma, einmal pro Woche schläft sie bei ihrer Patentante. Wenn es hart auf hart kommt, muss sie auch schon mal nachts allein zu Hause bleiben, mit dem Notfallhandy neben dem Bett und der Nachbarin, die Bescheid weiß. Ideal ist das alles nicht, aber so bleibt mir zumindest mehr Zeit, um mich um meine Tochter zu kümmern. Zeit für mich selbst habe ich bei diesem Arrangement nicht, denn ich manage nebenbei noch den Haushalt, d. h., ich koche, wasche und putze, und ich helfe bei den Hausaufgaben. Dabei bleibt wenig Raum für meine eigenen Bedürfnisse.

Wer alleinerziehend ist, muss sich zwischen Nachwuchs, Beruf und Privatleben „aufteilen“ und mit dem schlechten Gewissen zurechtkommen, zu wenig Zeit für sein Kind zu haben.

Aber auch der Wiedereinstieg in den Beruf nach der Elternzeit bereitet oft Probleme. Theoretisch gibt es in Deutschland einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz, in der Praxis kann es aber schwierig werden, einen zu bekommen. In der Schweiz haben nur Kinder in den Kantonen Basel-Stadt und Genf einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz. In Österreich wird derzeit intensiv über einen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung diskutiert. Besonders kompliziert wird es für Eltern, die im Schichtdienst arbeiten, denn die meisten Kitas (Kindertagesstätten) haben Öffnungszeiten zwischen 7 und 17 Uhr. Was passiert mit den Kindern, wenn die Frühschicht bereits um 6 Uhr beginnt oder die Spätschicht erst um 21 Uhr endet?

Im Jahr 2019 haben ca. 16 % der Erwerbstätigen im Schichtdienst gearbeitet. Die Abend- und Nachtarbeit hat in den letzten 20 Jahren zugenommen: Während Selbstständige häufiger am Abend arbeiten, arbeiten unselbstständig Tätige häufiger nachts. Was in den Zahlen nicht abgebildet ist: wie viele Eltern (vor allem Mütter) ihre Jobs aufgeben oder wechseln, weil die Arbeitszeiten nicht mit den Zeiten der Kinderbetreuung kompatibel sind.9

Wenn Frauen nach den größten Karrierehindernissen gefragt werden, nennt über die Hälfte der befragten Mütter (58 %) die schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Für Mütter bedeutet die Vereinbarkeit von Familie und Beruf fast immer Verzicht oder Einschränkung ihrer Karriere. Dies wird auch durch eine Studie der Bertelsmann Stiftung belegt.10

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein sehr schwieriges Thema und oft nur eine Illusion. Zugegeben wird das aber nur selten, denn wer gibt schon gerne zu, dass er den gesellschaftlichen Erwartungen nicht oder nur unter enormem Stress entsprechen kann?

Die Journalisten Marc Brost und Heinrich Wefing zeigen in ihrem Buch „Geht alles gar nicht. Warum wir Kinder, Liebe und Karriere nicht vereinbaren können“ 11 anhand anonymer Interviews mit Eltern, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf oft nur eine Illusion ist. Das hochaktuelle Werk entlarvt die von Wirtschaft und Politik beschworene „Vereinbarkeitslüge“ von Job, Familie und Selbstverwirklichung aus Männersicht.

Eltern hören und lesen überall die Botschaft der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und erfahren in ihrem eigenen Leben, dass es meist zwar irgendwie funktioniert – aber nur um den Preis der Vernachlässigung der Kinder, des Partners und der eigenen Bedürfnisse.

Dieser Gegensatz zwischen einem allgegenwärtigen gesellschaftlichen Anspruch und dem Erleben des Scheiterns in der Realität ist der ideale Nährboden für Stress. Das Ergebnis ist eine erschöpfte Gesellschaft aus Männern und Frauen, die verzweifelt versuchen, zwei oder drei Leben in einem einzigen zu führen.

Die (Un-)Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein Dauerthema in Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft. Lange galt es als Frauenthema, wie die Soziologin Arlie Hochschild bereits 1990 in ihrem Buch „The Second Shift“ (Die zweite Schicht)12 einprägsam aufzeigte. Auch heute leisten Mütter den Großteil der Haus- und Sorgearbeit (Care-Arbeit), auch wenn sie voll erwerbstätig sind. Zugleich sind ihre Einkommens- und Aufstiegschancen nach wie vor geringer als die von Vätern und kinderlosen Frauen. Immer mehr Frauen, vor allem hochqualifizierte, verschieben ihre Familienplanung oder bleiben kinderlos. Kinder und Karriere schließen sich für Frauen häufig immer noch aus. Seit einigen Jahren gewinnt das Thema auch bei Männern an Bedeutung. Väter übernehmen nach wie vor mehrheitlich die Rolle der Familienernährer, obwohl sich eine wachsende Zahl von ihnen wünscht, weniger Zeit mit Erwerbsarbeit und mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen. Die Vereinbarkeitsfrage ist also eine geschlechtsspezifische: Für Mütter geht es um mehr Teilhabe am Erwerbsleben und berufliche Chancen, für Väter um mehr Teilhabe an der Sorgearbeit und am Familienleben.

Das Predigen der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist insofern nichts anderes als der Versuch, zu verschleiern, was ganz offenkundig ist: Die totale Mobilisierung aller Arbeitsfähigen für die Wirtschaft zehrt an der Substanz. Sie wird bezahlt durch psychische Erschöpfung und vor allem durch weniger Kinder, was zur Verschärfung des demografischen Ungleichgewichtes beiträgt. Solange weiterhin die Prioritäten verdreht bleiben, solange also das Bedürfnis der Wirtschaft nach menschlicher Arbeitskraft immer Vorrang hat, wird das illusionäre Versprechen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf eine Quelle dauernder Enttäuschung sein.

Die Autorinnen Susanne Garsoffsky und Britta Sembach entlarven in ihrem Buch „Die Alles-ist-möglich-Lüge. Wieso Familie und Beruf nicht zu vereinbaren sind“ 13 die These etlicher Ratgeber, Politiker und selbst erklärter Supereltern, dass der schwierige Spagat zwischen Karriere und Familie lediglich eine Frage der richtigen Lebenseinstellung sei. Die Autorinnen, erfolgreiche Journalistinnen, bekennen, dass sie über lange Strecken ihres Lebens zu kurz kamen, erklären, warum Eltern nach wie vor einen schweren Stand in der Arbeitswelt haben, und entwickeln Perspektiven, wie man das ändern könnte.

Eine wachsende Zahl junger Frauen und Männer löst die Vereinbarkeitsillusion auf einfache Weise auf: Sie verzichten auf die Gründung einer Familie. Sie flexibilisieren ihr Leben: keine Kinder, kein Betreuungsproblem, kein schlechtes Gewissen, kein Stress.14

Überforderung der Eltern durch gestiegene Anforderungen

Eltern sind wahre Zirkuskünstler. Sie versuchen, immer so viele Bälle wie möglich gleichzeitig in der Luft zu halten. Die Bälle wechseln mit dem Alter der Kinder, doch weniger werden es nie. Das hat Folgen: Immer mehr Eltern fühlen sich durch die vielfältigen Anforderungen, die an sie gestellt werden, überfordert und erschöpft. Der moderne Familienalltag ist zu einem Gesundheitsrisiko geworden.

Mehr als die Hälfte aller Mütter und Väter in Deutschland halten die Ansprüche an Eltern heute für höher als vor 30 Jahren. Das geht aus der bereits erwähnten repräsentativen Befragung für die Zeitschrift „Eltern“ hervor. 59 Prozent der Teilnehmer waren dieser Meinung.15

Was aber sind heute die Ursachen für die zunehmende Überforderung der Eltern?

Ständiger Zeitdruck, die berufliche Belastung und das Vereinbaren von Familie und Beruf sind die Hauptbelastungsfaktoren. Hinzu kommen die gestiegenen Ansprüche in der Leistungsgesellschaft. Immer schneller soll immer mehr erledigt werden, wir werden von Reizen überflutet und ertrinken in Informationen. Wer eine Familie hat, ist 24 Stunden am Tag verantwortlich. Schule, Job und Freizeit sind eng durchgetaktet. Kleine Einbrüche im System – Kind krank, Tagesmutter fällt aus – rauben schnell viel Energie.

Evolutionär gesehen lebt der Mensch am besten in Verbünden: früher in Stämmen, später in Großfamilien. Eine Kleinfamilie ist keine solche Struktur. Sie muss sie sich daher schaffen, indem sich Eltern gegenseitig unterstützen, nach den Kindern der anderen schauen und Besorgungen füreinander übernehmen.

Insbesondere der schnelle gesellschaftliche Wandel unserer Zeit und die Aufweichung von Normen und Werten führt dazu, dass Handlungsmuster früherer Generationen nicht unhinterfragt übernommen werden können, sondern vielfach erst diskutiert und neu aufgebaut werden müssen.

Die steigenden Herausforderungen der Eltern haben aber vor allem damit zu tun, dass heute in der Regel beide Partner erwerbstätig sind und die verschiedenen Lebensbereiche und Aufgaben koordiniert werden müssen. Darüber hinaus setzen die steigenden Anforderungen an die Bildung und Förderung der Kinder und der zunehmend große Einfluss der Medien Eltern unter Stress.

Laut Gesetz haben Eltern und Schule den Auftrag, Kinder und Jugendliche zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten zu erziehen. Es war dabei lange klar, wer welche Aufgaben übernimmt. Doch diese Arbeitsteilung gerät seit einiger Zeit mehr und mehr aus dem Gleichgewicht und die Erziehung damit aus dem Ruder.

Lehrer beklagen, dass Eltern immer weniger in der Lage seien, ihren Teil der Erziehungsarbeit zu leisten. Eltern haben den Eindruck, dass sie die Orientierung bei der Erziehung ihrer Kinder verloren hätten – mit zum Teil dramatischen Folgen.

Kinderpsychiater, Therapeuten und Erziehungsexperten registrieren seit Jahren eine stetig wachsende Zahl von Beschwerden aus dem Schulbereich. Ein Teil des Problems sei, dass immer mehr Kindern das Wort Nein aus dem Elternhaus nicht mehr bekannt sei und ihnen auch Toleranz und Respekt vor anderen nicht beigebracht würden.

Der Blick auf die Zahlen der amtlichen Schulstatistik belegt, dass der Anteil der Kinder, denen ein besonderer Förderbedarf im Bereich emotional-sozialer Entwicklung bescheinigt wurde, in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist. Im Jahr 2007 hatten rund 0,6 Prozent aller Schüler bis zur 10. Klasse eine solche Diagnose. 2016 waren es bereits 1,2 Prozent. Das heißt: In den deutschen Klassen saßen zuletzt rund 87.000 Schüler,16 bei denen eine Verhaltensauffälligkeit offiziell bestätigt wurde. Die Dunkelziffer ist aber deutlich höher. Auffallend ist, dass der soziale Hintergrund keine große Rolle spielt; Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten kommen aus allen gesellschaftlichen Schichten.16

Die Autoren der Studie sehen eine Ursache für diese Entwicklung im Elternhaus der Kinder. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gelinge nicht so, wie sie gelingen sollte. Eltern seien oft nicht mehr in der Lage, die Kräfte aufzubringen, die es braucht, um ein Kind zu erziehen. Doch es seien eben die Eltern, die die „Kernerziehungskompetenz“ haben. Die Schule könne nicht allein richten, was zu Hause nicht vorgelebt werde. Um ihren Anteil am Erziehungsauftrag zu erfüllen, seien Lehrer auf die Kooperation der Eltern angewiesen. Doch offenbar seien immer mehr Eltern mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert.

Wie schwierig es für Mütter und Väter oft ist, ihren Erziehungsauftrag und zugleich ihre eigenen Ansprüche zu erfüllen, kann ich aus eigener Beratungspraxis bestätigen. Ich merke immer wieder, dass auf Eltern ein enormer Druck lastet. Oft müssen beide Elternteile arbeiten, um die Familie zu versorgen und ihre Existenz zu sichern. Weil Eltern es infolgedessen nicht mehr schaffen, ihre Kinder zu erziehen, steigen die Anforderungen an Schulen und Lehrer. Immer häufiger stehen daher nicht Mathematik und Englisch im Mittelpunkt des Unterrichts, sondern das soziale Miteinander. Und selbst das Erlernen grundlegender Alltagsfertigkeiten wird inzwischen auf die Schule übertragen: das Schleifebinden und das Halten eines Stifts.

Neben derdoppelten Erwerbsarbeit der Eltern