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Jenny Behnisch, die Leiterin der gleichnamigen Klinik, kann einfach nicht mehr. Sie weiß, dass nur einer berufen ist, die Klinik in Zukunft mit seinem umfassenden, exzellenten Wissen zu lenken: Dr. Daniel Norden! So kommt eine neue große Herausforderung auf den sympathischen, begnadeten Mediziner zu. Das Gute an dieser neuen Entwicklung: Dr. Nordens eigene, bestens etablierte Praxis kann ab sofort Sohn Dr. Danny Norden in Eigenregie weiterführen. Die Familie Norden startet in eine neue Epoche! Elvira hatte das Gefühl, auf einer dicken Schicht Watte zu laufen. Sie hatte das Gericht soeben verlassen und obwohl sie das Urteil gegen ihren Freund Manfred so ähnlich befürchtet hatte, war sie doch geschockt. Es hatte ihr förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Man hatte ihr nicht einmal erlaubt, sich von Manfred zu verabschieden, nachdem er zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt worden war. Unmittelbar nach dem Richterspruch war er aus dem Gerichtssaal geführt worden. Im Hinausgehen hatte er sich suchend zum Zuschauerraum umgewandt. Seine Augen fanden ihre, ein letzter Blick, dann schloss sich hinter ihm die Tür. Fünf Jahre! Genauso lange waren sie bis zum heutigen Tag als Paar zusammen. Der Gerichtssaal leerte sich danach sehr schnell. Außer ihr waren nur wenige Besucher da gewesen. Elvira war noch so lange auf ihrem Platz sitzen geblieben, bis ein freundlicher Ordner sie leise aufforderte, zu gehen. Es war ihr schwergefallen, den Raum zu verlassen. Bis zur letzten Sekunde hatte sie die Tür fest im Blick behalten, durch die Manfred abgeführt worden war. Sie wusste, er würde nicht zurückkommen und trotzdem hatte sie eine unvernünftige Hoffnung, es möge doch geschehen. Er kam nicht. Ohne ihre Beine zu spüren stand sie auf und verließ den Gerichtssaal. Fünf Jahre! Fünf Jahre ohne ihn, ihren Freund, ihren Partner, ihren Geliebten. Aber auch: Fünf Jahre ohne Angst vor seinen Gewaltausbrüchen.
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Seitenzahl: 103
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Elvira hatte das Gefühl, auf einer dicken Schicht Watte zu laufen. Sie hatte das Gericht soeben verlassen und obwohl sie das Urteil gegen ihren Freund Manfred so ähnlich befürchtet hatte, war sie doch geschockt. Es hatte ihr förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Man hatte ihr nicht einmal erlaubt, sich von Manfred zu verabschieden, nachdem er zu fünf Jahren Haft ohne Bewährung verurteilt worden war. Unmittelbar nach dem Richterspruch war er aus dem Gerichtssaal geführt worden.
Im Hinausgehen hatte er sich suchend zum Zuschauerraum umgewandt. Seine Augen fanden ihre, ein letzter Blick, dann schloss sich hinter ihm die Tür. Fünf Jahre! Genauso lange waren sie bis zum heutigen Tag als Paar zusammen.
Der Gerichtssaal leerte sich danach sehr schnell. Außer ihr waren nur wenige Besucher da gewesen. Elvira war noch so lange auf ihrem Platz sitzen geblieben, bis ein freundlicher Ordner sie leise aufforderte, zu gehen. Es war ihr schwergefallen, den Raum zu verlassen. Bis zur letzten Sekunde hatte sie die Tür fest im Blick behalten, durch die Manfred abgeführt worden war. Sie wusste, er würde nicht zurückkommen und trotzdem hatte sie eine unvernünftige Hoffnung, es möge doch geschehen. Er kam nicht.
Ohne ihre Beine zu spüren stand sie auf und verließ den Gerichtssaal. Fünf Jahre! Fünf Jahre ohne ihn, ihren Freund, ihren Partner, ihren Geliebten. Aber auch: Fünf Jahre ohne Angst vor seinen Gewaltausbrüchen.
Wie von selbst fand ihre linke Hand die Stelle an ihrem rechten Oberarm. Die Berührung schmerzte. Kein Wunder. Der riesige blaue Fleck war unter dem langen Ärmel ihres Pullovers verborgen. Nur sie wusste, dass er da war. Eigentlich hätte er schon längst verblasst sein müssen. Manfreds fester Griff an ihrem Arm, während er mit der anderen Hand weit ausgeholt und ihr einen Schlag ins Gesicht versetzt hatte, lag schon länger zurück. Es hatte auch niemand bemerkt, dass sie tiefe Atemzüge vermied, denn seit einigen Wochen schmerzten ihre Rippen an der Stelle, an dem sich ebenfalls ein mittlerweile blaugrün verfärbter Bluterguss befand. Dieser und die anderen Hämatome, die sie seitlich an den Rippen und an den Oberschenkeln hatte, waren der Grund, weshalb sie dringend zum Arzt müsste … aber sie wusste, dass sie dann eine Erklärung für deren Entstehung abgeben müsste und davor hatte sie Angst. Und sie schämte sich.
Es war zehn Uhr. Der Tag hatte erst begonnen und sie musste unbedingt zur Arbeit. Es hatte sie einiges an Überwindung gekostet, als sie ihre Chefin gebeten hatte, den Vormittag frei zu bekommen. »Du weißt doch, dass wir schwach besetzt sind, was gibt es denn so Wichtiges?«, hatte ihre Vorgesetzte mit lauerndem Blick gefragt.
Nicht um alles in der Welt hätte Elvira den wahren Grund ihrer Bitte preisgeben wollen und so schob sie in der Eile den dringenden Arzttermin vor, um den sie irgendwann nicht herumkommen würde. Aber an jenem Tag hatte sie nicht wirklich vor, ihre bisherige Hausarztpraxis aufzusuchen. Sie musste ins Gericht. Sie war zum Glück nicht als Zeugin geladen. Die Schlägerei, in die Manfred vor vielen Wochen verwickelt gewesen war, hatte in einer seiner Stammkneipen stattgefunden, während sie zu Hause auf ihn gewartet und das Abendessen auf dem Herd warmgehalten hatte. Sie kannte solche Situationen längst und wusste, dass dieser Tag, wie so manche andere vorher schon, schlecht enden konnte. Es kam nicht selten vor, dass Manfred von seinen Kneipenbesuchen mehr oder weniger betrunken nach Hause kam und seinen Frust an ihr ausließ. Aber er schlug sie nicht nur dann, wenn er betrunken war. Seine krankhafte Eifersucht zwang ihn auch dann zu unkontrollierten Gewalthandlungen, wenn er keinen Vollrausch als vermeintliche Entschuldigung vorbringen konnte.
Bisher hatte sie es immer geschafft, die Spuren seiner Schläge vor den Blicken ihrer Kolleginnen im Kaufhaus und vor ihren wenigen Freundinnen zu verbergen, aber sie fürchtete den Tag, an dem sie zugeben musste, dass ihr Freund sie regelmäßig schlug. Sie schämte sich dafür, auch wenn sie im Grunde ihres Herzens wusste, dass sie nichts dafür konnte und dass eigentlich er es war, der sich schämen sollte. Aber wenn er spätestens am nächsten Tag völlig zerknirscht um Verzeihung bat, ihr versprach, nie wieder die Hand gegen sie zu heben und ihr sagte, dass sie ihn auf keinen Fall verlassen dürfe, sonst sei er verloren, hatte sie ihm jedes Mal verziehen und nicht nur das. Sie überlegte sogar und fand auch immer den Auslöser für seine Ausbrüche in ihrem eigenen Verhalten. Sie war überzeugt davon, dass sie sich in vielen Punkten ändern müsste, um ihn weniger zu reizen. Dann wieder sagte ihr eine leise Stimme in ihrem Kopf, dass sie nichts falsch gemacht hatte und das Einzige, was sie tun könnte, wäre, ihn zu verlassen. Aber wie sollte er denn ohne sie zurechtkommen? Wenn er verzweifelt und reuevoll in ihren Armen lag und unter Tränen schwor, wie sehr er sie brauchte, lief ihr Herz vor Mitleid über. Aber reichte Mitleid auf Dauer aus, ein Leben lang bei einem Mann zu bleiben, der seine Aggressionen nicht im Griff hatte? Diese Frage hatte sie sich schon öfter gestellt, aber die Antwort darauf hatte sie jedes Mal auf irgendwann später verschoben.
An jenem Abend hatte sie unruhig darauf gewartet, dass er endlich heimkäme. Sie hatte gehofft, dass das Essen auf dem Herd noch genießbar war. Es war wichtig, ihm keinen Grund für seine Wutausbrüche zu liefern.
Als es weit nach 21 Uhr klingelte, stand nicht er, sondern die Polizei vor ihrer Wohnungstür. Die beiden Beamten erklärten ihr, dass Manfred Heininger vorläufig festgenommen wurde. Er müsse die Nacht in der Zelle verbringen, morgen werde der Richter darüber entscheiden, ob er wieder auf freien Fuß gesetzt werden könne.
An die folgenden Stunden erinnerte sich Elvira später nur undeutlich. Wie im Trance schaltete sie den Herd aus und legte sich ins Bett. Vielleicht halfen ein paar Stunden Schlaf, alles ungeschehen zu machen. Aber natürlich war die Realität in den frühen Morgenstunden immer noch da. Kalt und grausam. Das Schlimmste war die Ungewissheit. Sie musste zu ihrer Arbeitsstelle im Kaufhaus, in dem sie seit mehr als zehn Jahren als Verkäuferin arbeitete. Manfred war Dachdecker. Mit ihren beiden Einkommen kamen sie im Grunde gut zurecht. Es hätte alles so schön sein können.
Was sollte sie seinem Chef sagen, wenn sie ihn entschuldigte? Sollte sie ihn überhaupt entschuldigen? Was, wenn er aus der Untersuchungshaft bereits entlassen worden und längst an seinem Arbeitsplatz war?
Sie hatte sich gegen einen Anruf in Manfreds Firma entschieden und war zur Arbeit gegangen. Gegen Mittag hielt sie es einfach nicht mehr aus, sie griff zu ihrem Handy und rief bei der Polizei an. Dabei erfuhr sie, dass gegen Manfred ein Haftbefehl ausgesprochen und Untersuchungshaft angeordnet worden war. Er hatte bei der Schlägerei in der Kneipe einen Mann derart schwer verletzt, dass dieser ins Koma gefallen war.
Entgegen ihrer Befürchtungen fand die Verhandlung schon nach vier Wochen statt. Sie hatte auf eine Bewährungsstrafe gehofft und dabei hatte sie völlig verdrängt, dass er bereits wegen anderer Delikte vorbestraft war. Der Staatsanwalt hatte sogar mehr als fünf Jahre Haft gefordert, aber weil das Opfer mittlerweile auf dem Weg der Besserung war und er deshalb nicht wegen Totschlags verurteilt wurde, waren es am Ende nur fünf Jahre, die Manfred hinter Gittern verbringen sollte. Einen wesentlichen Ausschlag gab auch die Entschuldigung, die Manfred mit niedergeschlagenen Augen von sich gab. Elvira merkte sofort, dass es nicht seine eigenen Worte waren. Die wenigen Sätze wirkten einstudiert und vermutlich hatte sein Verteidiger mit der Formulierung nachgeholfen. Aber der Richter glaubte ihm und wertete die Reue als schuldmindernd.
Elvira lief in Richtung Haltestelle der Straßenbahn, die sie zum Kaufhaus, in dem sie arbeitete, nehmen musste. Sie war tief in ihre trüben und sorgenvollen Gedanken versunken und schaute nicht links und nicht rechts. Deshalb reagierte sie erst, als sie eine fremde Hand an ihrem Arm spürte. Ob sie vor Schreck zusammenzuckte oder vor Schmerz, denn der blaue Fleck machte sich unangenehm bemerkbar, war für fremde Augen sicherlich nicht zu unterscheiden.
»Sag mal, du siehst und hörst nichts, ich habe schon dreimal nach dir gerufen!« Vor ihr stand Tamara, eine Kollegin und wenn Elvira in den letzten Jahren mehr an Nähe zugelassen hätte, wäre sie sicherlich auch eine gute Freundin geworden. Ohne eine Antwort abzuwarten, plapperte Tamara munter weiter. »Sag mal, gehen wir noch einen Kaffee trinken? Die Chefin hat gemeint, du kämst heute später wegen eines Arztbesuches und ich … naja … ich fange auch erst Mittag an, habe mir einen halben Tag frei genommen. Du weißt doch, der Umzug und so. Ich brauche einfach noch ein bisschen Erholungszeit nach dem vielen Kistenschleppen. Du sagst ja gar nichts?« Endlich schien Tamara bemerkt zu haben, dass Elvira wie versteinert und mit leerem Blick da stand und kein Wort herausbrachte. Stattdessen schaute sie demonstrativ auf ihre Armbanduhr und schüttelte den Kopf.
»Ach was … nun komm schon«, forderte Tamara sie mit einem breiten Lächeln auf. »Die Gelegenheit lassen wir uns doch nicht entgehen. Wann kommt es schon mal vor, dass wir uns privat treffen? Du hast ja immer was vor und willst so schnell wie möglich nach Hause zu deinem Manfred. Wie geht es ihm übrigens? Oder sollte ich besser fragen, wie es dir geht? War der Arztbesuch wegen etwas Ernstem?«
»Nein«, brachte Elvira endlich heraus. »Ich war gar nicht beim Arzt, obwohl ich dringend müsste.«
»Jetzt wird es interessant.« Tamara schüttelte energisch ihre schulterlangen Haare nach hinten. »Dort ist ein Café, wir gehen jetzt hinein und dann erzählst du mir alles.« Erneut griff sie nach Elviras Arm. Sie wurde schlagartig ernst, als sie bemerkte, wie ihre Kollegin wieder zusammenzuckte.
»Du bist am Arm verletzt? Meine Güte, sag doch was!«, rief sie ungeduldig und entsetzt.
»Nein, nein, alles in Ordnung«, wich Elvira aus, aber ihre Augen sagten etwas anderes.
Sie hatte nicht genug Kraft, sich gegen das lebhafte Wesen ihrer Kollegin zu wehren. Beinahe widerstandslos ließ sie sich an die Hand nehmen und über die Straße führen, hinüber zu dem kleinen gemütlichen Café auf der anderen Straßenseite. Es hatte soeben erst aufgemacht und außer ihnen beiden waren noch keine weiteren Gäste da.
»Was ist denn passiert mit deinem Arm und warum bist du nicht beim Arzt gewesen?«, wollte Tamara wissen, nachdem der Kellner für jede einen Cappuccino serviert hatte.
»Ach wie gesagt, gar nichts. Erzähl lieber was von dir. Wie gefällt es dir in der neuen Wohnung?«
Nachdenklich betrachtete Tamara ihr Gegenüber. Elvira war ziemlich genau das Gegenteil von ihr. Sie selbst hatte eine sportliche, fast athletische Figur, und sie liebte praktische und bequeme Kleidung. Elvira dagegen war mollig. Ihre langen blonden Locken trug sie im Laden meistens nach hinten zu einem Pferdeschwanz gebunden. Jetzt umrahmten sie ihr rundes Gesicht und schmeichelten ihren blauen Augen und den vollen Lippen. Tamara wusste, dass Elvira sehr oft begehrliche Blicke von Männern auf sich zog. Sie wusste auch, dass ihr Freund Manfred recht häufig eifersüchtig reagierte. Zumindest hatte Elvira ab und zu mal etwas in der Richtung angedeutet.
»Na gut, nachdem du offensichtlich nicht über das sprechen möchtest, was dich belastet, machen wir halt ein wenig Small-Talk. Meine neue Wohnung ist chic, sofern sie endlich fertig eingerichtet ist. Das dauert noch ein wenig, aber ich bin derzeit voll und ganz damit beschäftigt, mein Singledasein zu genießen und arbeiten muss ich ja auch noch. Viel Zeit für … mein Gott, was ist mit dir? Warum weinst du denn?« Erschrocken unterbrach Tamara ihr fröhliches Geplauder.
Bei Elvira waren offensichtlich sämtliche Dämme gebrochen. Über ihre Wangen kullerten dicke Tränen. Ihr Blick war starr auf die Cappuccino-Tasse gerichtet, die sie krampfhaft mit beiden Händen festhielt.
»Jetzt ist aber mal Schluss mit dem Schweigen. Du erzählst mir jetzt sofort was los ist und wie ich dir helfen kann!«, sagte Tamara energisch. »Und als Erstes zeigst du mir deinen Arm!«
Zögerlich rollte Elvira den Ärmel ihres lindgrünen Wollpullovers bis über den Ellbogen, bis der untere Rand ihres Hämatoms zu sehen war. Schnell verdeckte sie ihn wieder, ließ es aber zu, als Tamara vorsichtig nach dem Ärmel griff und ihn wieder hochschob. Bis zur Schulter war alles blau und grünlich verfärbt.
»Was ist das?«, fragte Tamara leise, als ob sie die Antwort erahnen könnte. »Bist du gestürzt, oder …« Sie sprach nicht aus, was sie dachte.
»Kein Sturz. Das war Manfred.« Elviras Stimme klang spröde und es war nicht zu überhören, wie schwer es ihr fiel, zum ersten Mal einem anderen Menschen gegenüber auszusprechen, worunter sie seit einigen Jahren litt.