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Ein eingewanderter Wolf und zwei Morde stören die vermeintliche Ruhe im beschaulichen Entlebuch erheblich. Um dem irren Killer auf die Spur zu kommen, kehrt Bruno Emmenegger, Kommissar der Luzerner Polizei, zurück in seine alte Heimat, den "Wilden Westen Luzerns". Die Spur führt von einem äusserst blutigen Tatort in der Wallfahrtskirche Heiligkreuz weit zurück in die Vergangenheit - zum Drama der Olympischen Spiele von München 1972. Emmenegger lüftet, trotz eisigem Schweigen der Einheimischen, ein dunkles Familiengeheimnis. Doch der Täter ist der wackeren Truppe um Emmenegger stets einen Schritt voraus. Bis sich der Kommissar und der Mörder im Tal der Kleinen Entlen von Angesicht zu Angesicht gegenüber stehen und es zu einem dramatischen Showdown kommt... Das ist aber nicht das Ende der Geschichte. Denn der Wolf streicht im Entlebuch weiterhin umher. Und ausserdem: Emmenegger ist mit dem Ausgang dieses Falls ganz und gar nicht einverstanden. Deshalb zaubert er nochmals ein Ass aus dem Ärmel… Ein erstaunlicher Krimi, spannend, mit viel Humor und Charme. 364 Seiten (Druckversion)
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Seitenzahl: 389
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Für Yvonne, Ruth und Ruedi – ihr fehlt!
Kapitel 1: 24. Oktober 2009, Jagdsaison
Kapitel 2: 5. September 1972, Olympiade München
Kapitel 3: 24. Oktober 2009, Heimspiel
Kapitel 4 : Berlin 15. September 1972, Bauernopfer
Kapitel 5: 24. Oktober 2009, Abend, Hotel Adler Schüpfheim Wilder Westen
Kapitel 6: Rückblende, Ostberlin, Freitag 10. November 1989, Zauberland ist abgebrannt
Kapitel 7: 25. Oktober 2009, 7.00 Uhr, Hotel Adler Schüpfheim, von Frau zu Frau
Kapitel 8: 25. Oktober 2009, Mittagszeit, Kirche HeiligkreuzChloroform und Weihrauch
Kapitel 9: 25. Oktober 2009, zur gleichen Zeit in SchüpfheimLeberwurst rettet Emmenegger den Tag
Kapitel 10: 25. Oktober 2009, gleichzeitig in der Kirche Heiligkreuz der Wolf schlägt wieder zu
Kapitel 11 : 25. Oktober 2009, Kreuzigung in Heiligkreuz
Kapitel 12: 25. Oktober 2009, Abend, die 9mm Makarow ist eine heisse Spur
Kapitel 13: 26. Oktober 2009, früh morgens in Schüpfheim, der Wolf im Schafspelz
Kapitel 14: 26. Oktober 2009, Berlin ruft
Kapitel 15: 26. Oktober 2009, zwei Stunden zuvor in Schüpfheim der Wolf wittert Blut
Kapitel 16: 27. Oktober 2009, 6 Uhr morgens in Luzern Emmenegger riecht den Braten
Kapitel 17: 27. Oktober 2009, 11.30 Uhr in Schüpfheim, ein Verdacht erhärtet sich
Kapitel 18: 27. Oktober 2009, 16.30 Uhr in Schüpfheim, Inga
Kapitel 19: 27. Oktober 2009, 21.30 Uhr in Schüpfheim, Schlaf, Kindlein, schlaf…
Kapitel 20: 27. Oktober 2009, 21.30 Uhr in Schüpfheim, trunken Elend
Kapitel 21: 27. Oktober 2009, 22.15 Uhr in Schüpfheim, ein Chamäleon in der Adlerbar
Kapitel 22: 27. Oktober 2009, 22.30 Uhr in Schüpfheim, Emmenegger’s Traum
Kapitel 23: 28. Oktober 2009, 02.15 Uhr in Schüpfheim, der falsche Hund
Kapitel 24: 28. Oktober 2009, 05.00 Uhr in Schüpfheim, Hilfe aus Berlin
Kapitel 25: 28. Oktober 2009, 05.30 Uhr in Schüpfheim, Mutter
Kapitel 26: 28. Oktober 2009, kurz nach sechs Uhr in Schüpfheim, bei Wickis stinkt’s gewaltig!
Kapitel 27: 28. Oktober 2009, kurz nach sieben Uhr, bei Heiligkreuz, Diamonds
Kapitel 28: 28. Oktober 2009, kurz nach sieben Uhr, Heiligkreuz, Schwester Dorothea
Kapitel 29: 28. Oktober 2009, kurz vor halb acht Uhr, Schwarzenbergchrüz, fünfzig Ziegen und ein Traktor
Kapitel 30: 28. Oktober 2009, kurz nach acht Uhr in Schüpfheim, Mutter Wicki hat die Nase voll
Kapitel 31: 28. Oktober 2009, halb neun Uhr im Tal der Kleinen Entlen, der kleine Wolf
Kapitel 32: 28. Oktober 2009, Viertel vor neun Uhr, Luzern und Schüpfheim, ich spreche nur mit dem Chef!
Kapitel 33: 28. Oktober 2009, neun Uhr, im Tal der Kleinen Entlen, Espenlaub
Kapitel 34: 28. Oktober 2009, drei Stunden zuvor, im Tal der Kleinen Entlen, spurlos
Kapitel 35: 28. Oktober 2009, 13.20 Uhr, vor der Waldhütte, Schutzengel
Kapitel 36: Leidenszeit
Kapitel 37: Der Ripper von Magdeburg
Kapitel 38: Welcome home
Kapitel 39: Bockjagd
Kapitel 40: Nachspiel
Nachwort
Nur einzelne Sonnenstrahlen schimmerten durch den sich langsam auflösenden Herbstnebel im Tal der Kleinen Entlen. Eine düstere Szenerie in Dunkelgrün. Die Farbenpracht des Herbstwaldes, der bei schönem Wetter rot und gelb leuchtet, war bei diesem matten Licht nur zu erahnen. Es roch nach verfaultem Holz, Moos und Sumpf und ein wenig nach Sterben. Ein Raubvogel zog seine Kreise, segelte schwerelos über die Moorlandschaft, in der Hoffnung, eine Maus oder sonst ein kleines Tier zu erjagen. Ein Bächlein plätscherte in der nahen Schlucht leise vor sich hin. Während der Schneeschmelze im Frühling wird sich das Rinnsal wieder in einen tobenden Bergbach verwandeln, der tonnenweise Stein, Sand und Geröll verschieben wird. Aber im Oktober ist er ganz zahm. Jeder leichte Windstoss, der die welken Herbstblätter bewegt, übertönt ihn problemlos.
Die zahlreichen Entlebucher Alpbetriebe sind um diese Zeit verlassen. Wenn die Kühe im Herbst wieder ins Tal zurückgetrieben worden sind, prägt eine gespenstige Ruhe das Hochmoor am Fusse des Schimbrig. Ein markanter Berg, den man schon weit vom Schweizer Mittelland aus an seinem runden Buckel erkennt. Er ist ein Ausläufer einer mächtigen Bergkette, zu der auch der weltbekannte Pilatus gehört. Vereinzelte Rufe und Signalmelodien der Jagdhörner kündigten die bevorstehende Treibjagd schon von weitem an. Die Jagdsaison war eröffnet. In diesem Jahr mit einer besonderen Attraktion: Einem eingewanderten Wolf, der im luzernischen Entlebuch schon einige Schafe gerissen hatte. Sehr zum Unmut der Schafzüchter und Bauern.
Naturschützer, Tourismusorganisationen, Schafzüchter und Jäger hatten natürlich über den «Entlebucher Wolf» recht unterschiedliche Ansichten. Die Jagdgesellschaft jedenfalls hatte für sich eine typisch entlebucherische Lösung bereit: «Abschiessen, ausstopfen, verkaufen. Gras über die Sache wachsen lassen. Jeder hält die Schnauze. Gibt es überhaupt einen Wolf im Entlebuch? Also wir als Jäger müssten es ja wissen.»
An diesem Samstag im Oktober stand ein einzelner Jäger auf einer Anhöhe. Schussbereit zwischen zwei Wachholderbüschen. Hoffnungsvoll erwartete er das von den Treibern aufgescheuchte Wild. Der Jäger war kaum auszumachen. Dank seinem dunklen Übermantel in Tannengrün verschmolzen seine Konturen mit dem Gelände. Der Lärm der Treiber kam langsam näher. Der Blick des Jägers war gespannt auf den nahen Waldrand gerichtet. Er wusste aus Erfahrung, wo ungefähr ein Reh oder ein Hase aus dem Dickicht flüchten würde, ihm direkt vor den Lauf. Darum durfte er wohl auch diesen privilegierten Posten besetzen, jedoch wahrscheinlicher, weil er mehr Geld in die Jagdgesellschaft einschoss als die meisten seiner Jagdkumpane.
Der ahnungslose, vom Jagdfieber infizierte Jäger bemerkte nicht, dass sich hinter ihm eine zweite, ebenfalls gut getarnte Gestalt im Schatten der Wachholderbüsche versteckt hielt.
«Jetzt ganz ruhig bleiben, zu lange habe ich mich auf diesen Moment vorbereitet», dachte der Mann im Hinterhalt. «Wie ich es in der Ausbildung gelernt habe. Anschleichen und ohne Zögern gnadenlos zuschlagen. Wie ein Wolf, der ein unbedarftes Schaf reisst.»
Alles ging blitzschnell. Ein Sprung. Ein Schlag mit einem Zaunpfahl. Der Jäger ging sofort in die Knie. Geschickt entriss der Angreifer dem Jäger die Schrotflinte und richtete sie auf sein wehrloses Opfer.
«Du?», fragte der überrumpelte Jäger benommen.
«Ja, ich, da staunst du was?», erwiderte der Angreifer und versetzte dem Jäger einen heftigen Tritt in die Seite. Der Jäger krümmte sich auf dem feuchten Boden vor Schmerz. Der Angreifer hielt die geladene Schrotflinte weiterhin direkt auf den Kopf seines Opfers gerichtet und sagte mit unheimlich ruhiger Stimme: «Ich habe dich und deine Familie beobachtet, und ich weiss, dass ihr meiner Mutter Unrecht zugefügt habt.»
«Ich kenne deine Mutter nicht!», stotterte der Jäger verwirrt.
«Oh doch, du hast nur ein schlechtes Gedächtnis und kein Gewissen.»
«Ich habe keine Ahnung, von wem du sprichst.»
«Wo ist Elke? Wo ist meine Mutter? Sag die Wahrheit, oder ich schiesse dir in die Eier.»
«Du bist Elkes Sohn? Ich wusste nicht, dass Elke ein Kind hat.»
«Lügner! Das kaufe ich dir nicht ab. Wo ist sie? Komm schon, oder ich mach dich kalt.»
«Ich weiss es nicht. Ehrlich. Vater hatte sich damals um alles gekümmert.»
«Was ist damals passiert? Nun rede endlich, du Ratte.»
Die Rufe aus dem nahen Waldrand wurden immer lauter. Die Treiber waren nicht mehr weit entfernt. Da witterte der Jäger eine Chance, lebend davon zu kommen. Er schrie um Hilfe und versuchte, den Lauf der Flinte zu fassen.
Nachdem die Jagdgesellschaft den Schuss gehört hatte, freuten sich Jäger und Treiber schon auf einen gelungenen Abschuss samt anschliessendem Umtrunk. Als sie jedoch auf den hingerichteten Jäger stiessen, verging ihnen schlagartig die Lust auf ein geselliges Zusammensein.
Sie erwachte zwischen vier und halb fünf in der Früh aus einem unruhigen Schlaf.
«Weswegen bin ich aufgeschreckt? Waren das Schüsse?», dachte sie, ihr Herz raste, und sie versuchte, wieder ruhiger zu atmen. «Sicher nur ein Albtraum.»
Sie hatte geträumt von Berlin, ihrem Mann Wolfgang, der sich weit mehr für das Theater interessierte als für sie und ihren gemeinsamen Sohn Kurt. Von ihren dominanten Eltern, die sich um ihren Dreijährigen kümmerten, während sie als Physiotherapeutin mit den DDR-Athleten zu Grossveranstaltungen unterwegs war. Doch an eine Schiesserei in ihrem Traum konnte sie sich wirklich nicht erinnern.
«Na, ist ja egal», sie drehte sich gegen die Wand. Doch sie fand keine Ruhe.
Nachdem sie ihre eigene sportliche Karriere als Kunstturnerin wegen einer gravierenden Verletzung aufgeben musste, wurde Elke von ihrem Vater, Heinrich Büchner, einem hohen Offizier der Staatssicherheit, praktisch gezwungen, weiterhin für die DDR-Kunstturner zu arbeiten. Ganz zum Wohle der Republik.
«Aber wo bleibe ich?», dachte sie an diesem frühen Morgen einmal mehr traurig.
«Ich sehe keine Zukunft für mich in der DDR. Ich liebe meinen Mann nicht mehr, und selbst mein Kind haben sie mir entfremdet. Mama hat nun endlich ihren lange ersehnten Sohnemann. Mama, das ist dein Enkel! Und, ja, Papa hat seinen strammen Jungpionier. Dreijährig! Wohlgemerkt! Scheisse, Scheisse ich muss weg, einfach raus. Ich habe nichts mehr, das mich in diesem schrecklichen Land halten könnte.»
Sie döste trotz der schweren Gedanken allmählich wieder ein. Die Zeit im Olympiadorf war anstrengend und die Arbeitstage lang. Ihre Zimmergenossin, eine dralle Sportmasseurin aus Dresden, schnarchte unaufhörlich und vor allem laut durch die Nacht. Hätte Elke gewusst, dass die Schüsse, die sie gehört hatte, wirklich stattgefunden hatten und ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen würden, sie hätte keine Sekunde mehr geschlafen.
Kurz vor sechs wurden Elke und ihre Zimmergenossin rabiat geweckt. Mit einem kurzen, energischen Klopfen erschien das speckige Gesicht des Delegationsleiters der DDR-Sportler in der Türe. Elke nannte ihn hämisch «Wachhund».
Dieser bellte: «He Mädels, kommt vor die Glotze, bei den Israelis hat’s gekracht, gleich nebenan.»
Verschlafen schlurfte Elke in den Gemeinschaftsraum, wo schon die halbe DDR-Mannschaft gespannt in den Fernseher starrte.
An diesem Morgen, kurz nach vier Uhr, kletterten Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation «Schwarzer September» über einen Zaun und drangen in das Olympische Dorf ein. Die mit Sturmgewehren bewaffneten Geiselnehmer überwältigten die israelischen Sportler und forderten die Freilassung von über zweihundert Palästinensern aus israelischen Gefängnissen sowie die Freilassung der deutschen RAF-Terroristen Andreas Bader und Ulrike Meinhof sowie eines japanischen Terroristen.
Die ganze Delegation war in grosser Aufregung. Sogar die sogenannten Aufpasser der Stasi, verantwortlich dafür, dass ja kein DDR-Wettkämpfer im kapitalistischen Westen sein Glück finden konnte, waren durch lebhafte Diskussionen mit den Sportlern abgelenkt. Kurz darauf traf die Meldung des Olympischen Komitees ein: Die Spiele sollen weitergehen, man lasse sich nicht erpressen. Der Delegationsleiter tat sein Bestes, seine aufgebrachte Mannschaft anzutreiben: «Genossinnen und Genossen, versucht euch zu konzentrieren. Heute steht trotz allem Training auf dem Programm. Glaubt ja nicht, dass wir uns die jahrelangen Vorbereitungen verpfuschen lassen. Also, keine Schwächen. Ich erwarte von euch Bestleistungen. Das ist ein Befehl.»
Elke spürte plötzlich eine innere Unruhe. War dies die Möglichkeit für die ersehnte Flucht in den Westen? Das Durcheinander wegen der Geiselnahme war vielleicht ihre grosse Chance. Elke atmete tief durch. Jetzt durfte sie nicht den geringsten Fehler machen. Vor allem musste Elke ihre Zimmergenossin für einen Moment loswerden. Denn diese galt als Petze, weil sie ein Geplänkel mit Delegationsleiter Detlef, dem «Wachhund», pflegte. Elke musste sich schnell etwas einfallen lassen. Nachdem die beiden Frauen wieder auf ihrem Zimmer waren, sagte Elke in einem verschwörerischen Ton: «Du, Gertrud, ist dir auch schon aufgefallen, dass der Detlef immer bei den Duschen herumschleicht, wenn ich diese benutzen will? Macht er das bei dir auch?»
Elke hatte nicht einmal gelogen, denn es stimmte wirklich, dass dieser Kotzbrocken es auf sie abgesehen hatte. Gertrud schoss das Blut in den Kopf, sie konnte auf keinen Fall die bildhübsche Elke als Konkurrentin dulden.
«Dem werde ich gleich was flüstern», schnaubte sie und machte sich sogleich im Stile eines eifersüchtigen Nashorns auf die Suche nach dem nichts ahnenden Detlef.
Elke reagierte blitzschnell. Neben ihrer gewöhnlichen Arbeitsausrüstung packte sie ein paar persönliche Sachen und Ersatzkleider in eine Plastiktüte und stopfte diese in ihre grosse Sporttasche. Dazu gehörten auch eine grosse Sonnenbrille und ein Sonnenhut, den sie letzthin erstanden, aber noch nie getragen hatte.
Kaum war alles verstaut, kam Gertrud zurück.
«Dem hab ich’s gegeben, der wird dich in Zukunft in Ruhe lassen, sonst erfährt seine Frau, was er so an Wettkämpfen treibt. Aber er ist halt trotzdem süss, mein Detlef. Er hat gesagt, dass du dir das mit den Duschen nur einbildest. Er müsse von der Stasi aus auch die Nasszonen von Zeit zu Zeit kontrollieren. Aber wenn es dich stört, lasse er es sein, solange die Aufpasser nichts dagegen unternähmen.»
«Mann-oh-Mann», dachte Elke, «wie doof kann man nur sein.»
Zu Gertrud sagte sie lediglich: «Dann ist ja alles in Ordnung, wenn dein Detlef weiss, wo er hingehört. Komm, der Bus wartet.»
Als Elke im Treppenhaus an Detlef vorbeiging, verhiessen seine bösen Blicke nichts Gutes. Aber Detlef konnte sie mal. Sie hatte ja nicht vor, auch nur einen Tag länger in seinem Team zu bleiben.
Die DDR-Sportler wurden zu ihren jeweiligen Sportstätten verfrachtet. In der Sporthalle, in der sich die Kunstturner eigentlich schon aufwärmen sollten, diskutierten Trainer und Athleten verschiedenster Nationen über den Sinn oder Unsinn der Weiterführung der Spiele. Zu dem für die Kunstturner zugeteilten Stasi-Mann sagte Elke: «Ich geh schon mal in die Garderobe und richte mich ein. Nach dem Einturnen kannst du mir die erste Athletin zur Behandlung schicken. Du weisst schon, diese Mimosen haben ja immer was, das zwickt.»
Mit einem bezaubernden, verschwörerischen Lächeln liess sie den Aufpasser stehen und machte sich auf den Weg in die Katakomben der Olympischen Turnhalle.
Auf dem Weg zur Garderobe des DDR-Teams kam sie an der Umkleidekabine der Schwedinnen vorbei. Die Türe stand offen. Das ganze schwedische Team schaute weiter vorne im Gang auf einen Fernsehmonitor, der anstatt den sonst üblichen Sportresultaten aus der Kunstturnhalle, die aktuellsten Meldungen über die Geiselnahme zeigte.
Niemand bemerkte, wie Elke in die Garderobe der Schwedinnen schlüpfte. Eine Duftwolke aus Duschmittel, blumigem Parfum und verschwitzten Turnklamotten verschlug Elke kurz den Atem.
Sie schnappte sich mit sicherem Blick den schicken, blaugelben Trainingsanzug einer schwedischen Turnerin. Die Grösse müsste passen. Sie packte Oberteil und Hose in ihre Tasche.
Als sie aus der Türe trat, fragte sie selbstbewusst eine Gruppe von Schweden, die sie aus der Tür kommen sahen: «Spricht von euch jemand Deutsch? Wisst ihr, wo sich die Kabine der DDR befindet?»
Ein Betreuer der Schweden konnte ein paar Brocken Deutsch und meinte: «Eure Kabine ist die übernächste. Aber den Weg kannst du dir vielleicht sparen. Soeben haben sie gemeldet, dass die Spiele wahrscheinlich unterbrochen werden. Bei den Israelis hat es Tote gegeben.»
Am Nachmittag wurde tatsächlich beschlossen, dass das Training abgebrochen wird. Doch die DDR-Mannschaft konnte nicht zurück in ihre Unterkunft, weil sie direkt gegenüber der Connollystrasse 31 einquartiert worden war, wo das Geiseldrama seinen Lauf nahm. Es blieb den DDR-Sportlern nichts anderes übrig, als zwischen den bald hunderten von Schaulustigen und Reportern auf der Strasse auszuharren. Die Stasi-Aufpasser hatten alle Hände voll zu tun, wollten sie doch jedes Interview der DDR-Stars mithören, beziehungsweise kontrollieren. Deswegen bemerkte niemand, dass Elke in einem geeigneten Augenblick in einem offenen Hauseingang verschwand.
Im Treppenhaus war es ganz ruhig. Jemand musste den Boden vor kurzem frisch aufgewischt haben. Elkes Nase registrierte den penetranten Zitronenduft eines Reinigungsmittels, das sie bis anhin nicht kannte.
«Nicht alles im Westen muss zwingend besser sein», dachte sie und suchte den Weg in den Keller. Dort zog sie sich den schwedischen Sportanzug über und öffnete ihre sonst stets streng zusammengebundenen Haare. Getarnt durch ihre dunkle Brille und den grossen Sonnenhut ging sie mit ihren strohblonden Haaren problemlos als Schwedin durch. Sie kontrollierte ein letztes Mal die mitgebrachten Habseligkeiten in der unauffälligen Plastiktüte: Ausweis, ein paar Fotos, ihr Tagebuch, Ersatzwäsche. Sie versteckte ihre verräterische DDR-Sporttasche unter der Kellertreppe hinter leerstehenden Kisten. Zum Schluss trug sie noch einen knallroten Lippenstift auf, den sie im Trainingsanzug der Schwedin gefunden hatte. Geschminkte Lippen hatte man bei ihr bisher noch nie gesehen.
Als sie aus dem Haus trat, flog ein Polizeihubschrauber mit ohrenbetäubendem Getöse über die Connollystrasse. Die Schaulustigen starrten gespannt in den Himmel und erwarteten, dass schon bald die Erstürmung der Wohnung der Israelis beginnen würde. Elke machte einen möglichst grossen Bogen um die DDR-Mannschaft und steuerte auf Tor Nummer sechs zu. In diesem Moment war dies der einzig offene Zugang zum Olympiadorf. Nach wenigen Metern begegneten ihr zwei junge Sportler aus der italienischen Nationalmannschaft, die sofort auf sie zusteuerten. Weil ihnen die Warterei schon länger auf die Nerven ging, fragten sie die hübsche Blonde spontan: «He Bella, so ganz allein? Du besser mit uns trinken einen Café?»
Elke musste trotz der Anspannung über die beiden munteren Casanovas mit ihren rabenschwarzen Locken schmunzeln.
«Si, si – aber nur Café!»
Lächelnd hakte sie sich bei den zwei Italienern ein, die ihr Glück noch gar nicht fassen konnten, und passierte unerkannt Tor Nummer sechs.
Der Stasi-Aufpasser beim Ausgang sechs behauptet später steif und fest, dass an diesem Tag bei seinem Posten kein einziges Mitglied der DDR-Mannschaft aus dem Olympischen Dorf in den Westen hätte flüchten können.
Ein paar Strassen weiter gab Elke jedem ihrer charmanten Begleiter einen flüchtigen Kuss auf die Wange und sprang flink in eine Strassenbahn. Die beiden italienischen Sportler haben wohl nie erfahren, dass sie der Tochter eines berühmt-berüchtigten Offiziers der Staatsicherheit den Absprung in den Westen ermöglicht haben.
In der Strassenbahn wich die ganze Anspannung von Elke. Ihre Beine zitterten unkontrolliert, so dass sie sich hinsetzen musste. Sie weinte vor Glück, denn sie wusste aus zahlreichen Berichten, dass die BRD allen Flüchtlingen aus der DDR bedingungslos Asyl gewährte.
Bruno Emmenegger, knapp über vierzig und Kriminalkommissar der Luzerner Polizei, war schlechter Laune, nein, in ihm brodelte es gewaltig. Zuerst war da dieser Krach mit seinem Chef. Mit ihm hatte Emmenegger sich angelegt, weil dieser Gockel einer lokalen Zeitung ein sehr ungeschicktes Interview über moderne Polizeiarbeit gegeben hatte. Emmenegger wies seinen Vorgesetzten bei nächster Gelegenheit auf gewisse Halbwahrheiten hin. Klar, er hätte es dem Chef nicht vor dem versammelten Kader sagen sollen. Sowas kommt selten gut an. Aber so ist er halt, der Emmenegger, dieser Heimweh-Entlebucher. Fadengrad. Und einer der Besten bei der Kriminalpolizei. Deswegen gelingt es dem Kommandanten ja auch nie, entschieden gegen Emmenegger vorzugehen. Ausserdem wird dieser trotz seiner Macken von den Kameraden seiner Rechtschaffenheit wegen geschätzt. Der Kommandant wollte es sich aber nicht nehmen lassen, Emmenegger für sein ungebührliches Verhalten ihm gegenüber abzustrafen. Er teilte Emmenegger an dessen einzigen freien Wochenende seit einer Ewigkeit für das Hochrisikospiel des FC Luzern gegen den Erzrivalen FC Basel ein. Mit Gummiknüppeln und Wasserwerfern prügelnde Fans zu trennen, war für Bruno Emmeneggers Dienstgrad ungewöhnlich, ja eigentlich eine Schmach. Der listige Emmenegger aber spottete in der Betriebskantine dermassen über den bevorstehenden Einsatz, dass es der bedauernswerte, noch unerfahrene Einsatzleiter des «Fussballkommandos» mitbekommen musste: «Super, ich als alter FCL-Fan freue mich schon jetzt riesig, endlich mal ein paar Baslern tüchtig auf den Deckel zu geben.»
Alle, die Emmenegger etwas besser kannten, wussten sofort, dass dies sicher nicht sein Ding war. Der Einsatzleiter aber war der Meinung, dass man einem Entlebucher nie trauen sollte, womit er ja im Prinzip nicht ganz falsch lag. So verschwand Emmeneggers Name kurzerhand wieder von der Einsatzliste. Das Wochenende war gerettet. Wenn nicht etwas Aussergewöhnliches passieren sollte…
Aber genau das war eingetroffen. Einem Jäger wird am helllichten Tag mit einer Schrotflinte in den Kopf geschossen.
Die unappetitliche Nachricht erreichte Emmenegger, als er es sich gerade in der Badewanne bequem gemacht hatte und sich vom freitäglichen Ausgang allmählich zu erholen schien. Emmenegger war mit zwei alten Schulkollegen in einer seiner Lieblingskneipen, dem Unterlachenhof in Luzern, zur Feier des freien Wochenendes auf ein Glas Wein eingekehrt. Inklusive des fabelhaften Rehrückens, für den der Unterlachenhof weit herum bekannt war. Es folgten eine zweite und dritte Flasche Wein, so dass Emmenegger sein Auto stehen liess und sich zu Fuss auf den Heimweg machte. Jetzt in der Badewanne verfluchte sich Emmenegger, dass er zu später Stunde unbedingt in einer Bar noch ein Bierchen, oder waren es mehrere, kippen musste. Auf jeden Fall hatte er einen üblen Kater.
Es war Astrid Egger, Emmeneggers engste Mitarbeiterin, die in den vergangenen Jahren auch eine treue Freundin und tüchtige Mitstreiterin im täglichen Polizeidienst geworden war, die ihn aus seiner Lethargie in der wohligen Badewanne holte. Sie kam wie gewohnt sofort auf den Punkt:
«Hallo Bruno, sorry für die Störung, aber wir haben ein Problem im Entlebuch.»
Emmenegger stöhnte missmutig: «Und da findest du keinen Dümmeren als mich. An meinem freien Tag.»
«Bruno, da hat einer dem anderen auf der Jagd in den Kopf geschossen.»
Astrid erzählte Emmenegger, was sie bereits wusste. «Die Kollegen und ich finden, dass du dir das ansehen solltest. Du als Entlebucher kommst auch mit den Leuten da hinten besser zurecht als wir Städter. Wir müssen ihnen jedes Wort aus der Nase ziehen.»
Emmenegger konnte diese Bitte nicht ausschlagen. Wie oft hatte Astrid ihrerseits für ihn die Kastanien aus dem Feuer geholt, wenn alles Drunter und Drüber gegangen war und er mit seiner chaotischen, auf Instinkt beruhenden Arbeitsweise mal wieder keinen Schritt weiter kam. Allein bei der Vorstellung an den grausigen Anblick am Tatort fühlte sich Emmenegger zum Kotzen. Das tat er dann auch ausgiebig.
Der kurze Fussmarsch zu seinem Auto tat Emmenegger gut. Dank der frischen Luft konnte er wieder in ganzen Sätzen denken. Nur sein Kopfweh überstieg die gegen oben offene Skala im zweistelligen Bereich. Zu allem Übel steckte auch noch ein Bussenzettel für falsches Parken unter seinem Scheibenwischer.
«Das auch noch!» Besonders reizend, seine feinen Kollegen hatten Emmenegger eine kleine Botschaft hinterlassen. «Liebe Grüsse von Heinz und Röbi.»
Das war wohl die Retourkutsche seiner «Lieblingskameraden», denen er auch schon den einen oder anderen Bären aufgebunden hatte.
«Selber schuld, wieso kann ich nie die Fresse halten. Und das mit den Fuchsschwänzen, die ich neulich an die prächtigen BMW-Polizeimotorräder von Heinz und Röbi montiert habe. Haben die denn das immer noch nicht verdaut? Sah doch echt rockig aus!»
Emmenegger war also mit gutem Recht stinkiger Laune, als er die Anhöhe beim Schwarzenbergchrüz erreichte, von wo man in das einzigartige Tal der Kleinen Entlen sehen kann. Der Anblick der gigantischen Felswände der mächtigen Gebirgszüge hatten Emmenegger schon immer die Sprache verschlagen. Auch an diesem Tag wurde er von der rauen Schönheit überwältigt.
«So muss es in den Rocky Mountains aussehen», hatte Bruno schon als Kind gedacht.
Es regnete leicht. Der Nebel wurde immer dichter, was Emmenegger beim Fahren jedoch nicht weiter störte, da er in diesem Tal sowieso jeden Meter kannte. «Ah, ja, machen wir halt das Beste daraus», motivierte sich Emmenegger für die anstehenden Ermittlungen, «Heimspiel.»
Langsam fuhr Emmenegger mit seinem wendigen 4x4-Kleinwagen um die engen Kurven, die zum Gebirgsfluss Kleine Entlen führen. Die Kollegen haben sich schon öfters über seinen «Bauern-Mercedes» lustig gemacht. Doch Emmenegger kannte die Vorteile seines kompakten Fahrzeugs, das ihn auch im Winter sicher in die Berge bringt. Oder im Herbst zum Pilzesammeln in die weit abgelegenen Entlebucher Seitentäler, wo die Strässchen oftmals so schmal sind, dass nicht jedes Auto so einfach wieder wenden kann. Emmenegger fragte sich seinerseits, wozu gewisse Städter die fetten, übergrossen, benzinfressenden Offroader benötigten. «Wahrscheinlich zum Kühetreiben in den Parkhäuser der Einkaufszentren.»
Als Emmenegger die Brücke über die Kleine Entlen überquert hatte, konnte er schon die grünen Range Rovers der Jäger sehen. Dahinter die Polizeifahrzeuge und einen Krankenwagen. Astrid winkte ihm zu und dirigierte ihn zu einer freien Parkmöglichkeit am Waldrand.
«Wie siehst denn du aus?», begrüsste Astrid den Kommissar, der unrasiert und mit zerzausten Haaren umständlich aus dem Auto stieg.
«Wurde später gestern», brummte Emmenegger, «Du hast nicht zufällig eine Kopfwehtablette dabei? Ich glaube, mein Schädel explodiert gleich», stöhnte er.
«Nein, aber ich kann den Notarzt fragen, den habe ich hier eben noch gesehen. Geh du doch schon mal zum Tatort, bevor der Regen noch stärker wird», antwortete Astrid dem bemitleidenswerten Sünder.
Emmenegger hatte einen kurzen Fussmarsch durch den dichten Mischwald hinter sich zu bringen. Auf dem gleichen Weg den auch die Treiber der Jagdgesellschaft benutzt haben mussten. Die abgeknickten Zweige und viele Fussabdrücke auf den lehmigen Stellen des kleinen Pfades waren nicht zu übersehen. Es wurde immer steiler und unwegsamer.
Emmenegger musste kurz stehen bleiben, er zog die kühle Luft tief in seine Lunge und atmete geräuschvoll aus. Ganz so fit wie in seinen wilden Zwanzigern war er anscheinend auch nicht mehr. Der Kommissar schaute sich um. Der Wald war so dicht, dass man höchstens dreissig Meter weit sehen konnte. Emmenegger wusste, dass sich eine Weide oberhalb seines Standortes befindet, aber noch verdeckten die Bäume die Sicht. Und dann, nach nur wenigen weiteren Schritten, stand Emmenegger auf der Weide. Dort blieb er stehen. Der Nebel hatte sich gelichtet. Ein kleiner Raubvogel liess sich im starken Gegenwind treiben.
«Ein Falke oder so was muss das sein», spekulierte Emmenegger. Ohne grosse Flügelschläge, scheinbar ohne den geringsten Kraftaufwand blieb der Vogel konstant über der Weide in der Luft stehen und überwachte das Treiben unter sich.
«Na kleiner Freund, was hast du mitbekommen, was kannst du mir verraten? Mir kannst du dich doch anvertrauen. Was hast du gesehen? Als einziger Zeuge?», fragte sich der Kommissar gedankenverloren.
Wieder konzentriert, verschaffte er sich einen Überblick über den Tatort. Fast gierig sog Emmenegger die ersten Eindrücke in sich auf.
«Wie ein Jagdhund, der Witterung aufnimmt», hatte sich Astrid schon über ihn lustig gemacht. Die Kriminaltechniker hatten bereits ihr weisses Zelt aufgestellt. Dahinter ragten Wachholderbüsche gespenstig in die Höhe, die in dem diffusen Herbstlicht wie übergrosse Zuschauer aussahen. Emmenegger pfiff zweimal kurz durch die Finger, so dass die Kriminaltechniker von ihrer Arbeit aufschauten und sich zu ihm umdrehten.
Emmenegger rief ihnen zu: «Hey Jungs, wo darf ich die Weide betreten?» Obwohl Emmenegger für seine oft chaotische Arbeitsweise bekannt war, war er eben auch Profi genug, den Wert von gesicherten Spuren zu schätzen. Dank Astrid, die sich sehr für die neusten kriminaltechnischen Ermittlungsmethoden interessierte, kam Emmenegger seit einiger Zeit selber auf den Geschmack, diese auch zu nutzen. Zum guten Glück hatte er Astrid, die mit dem Computerzeug besser zurechtkam als er.
Meyer, der Chef-Kriminaltechniker, rief Emmenegger zu:
«Ach Bruno, gut gemeint, aber mach dir bloss keine Mühe, auf dieser Weide sind sowieso alle Spuren futsch.»
Er kam beim Zelt an und fragte Meyer besorgt: «Was ist denn passiert? Was heisst, alle Spuren sind futsch?»
Meyer winkte Emmenegger zu sich unter das Zelt, das die zugedeckte Leiche vor weiterem Regen schützen sollte. Enttäuscht liess sich der Kriminaltechniker auf einen mitgebrachten Klappstuhl nieder und seufzte: «Bruno, heute ist wohl alles schief gelaufen, was schief laufen kann». Kopfschüttelnd begann Meyer das Desaster zu beschreiben: «Nachdem die Jäger den Schuss gehört hatten, hasteten die Treiber der Jagdgesellschaft mit ihren Hunden Richtung Waldrand. Da es in diesem Wald aber ziemlich steil bergauf geht, hatte die Hundemeute innert Kürze einen beträchtlichen Vorsprung. Alles Rufen brachte nichts mehr, die Hunde folgten nur noch ihrem Jagdtrieb. Als die Jäger endlich die Weide erreicht hatten, konnten sie den Anblick, der sich ihnen bot, zunächst gar nicht deuten. Anstatt einem erschossen Reh oder Hasen, oder vielleicht sogar dem begehrten Wolf, lag ein Mensch bei den Wachholderbüschen, umringt von der Hundemeute die unaufhörlich kläffte.
`Hans! Ist dir was passiert?´, soll Emil Wicki, der Bruder von Hans, gerufen haben. Schnell sind die Jäger zu ihrem am Boden liegenden Jagdkollegen geeilt. Einige aufgeregte Jagdhunde leckten das blutige, vollkommen zerstörte Gesicht des Jägers und zwei stritten sich um ein Fleischstück, das verdächtig einem menschlichen Ohr glich.
Mehrere Jäger mussten sich übergeben. Einer der zwei Jugendlichen, die ebenfalls als Treiber mit ihren Vätern auf die Jagd mitgehen durften, fiel in Ohnmacht.
Kein Wunder, sind alle Spuren zerstört, und der Regen kam noch dazu», schloss Meyer resigniert seine Zusammenfassung.
«Hast du schon eine leise Ahnung was hier passiert sein könnte?», fragte Emmenegger, der selbst als erfahrener Polizist noch selten einen derart blutigen Tatort gesehen hatte. Emmenegger stand von diesem Moment an unter Strom. Unter Starkstrom. Hier war etwas Ungeheuerliches passiert, das ihn und seine Kollegen in der nächsten Zeit voll und ganz beschäftigen würde.
Meyer fuhr mit seiner Schilderung fort: «Hans Wicki, so heisst das Opfer, wurde von hinten mit diesem Zaunpfahl aus Holz niedergeschlagen. Er stammt wahrscheinlich von dem alten Zaun da hinten beim kleinen Schottersträsschen, das auf die nächst höhere Alp führt. Jedenfalls fehlt da ein Pfahl. Aber das klären wir selbstverständlich noch ab. Sicher klebt das Blut des Opfers daran. Der Täter muss Handschuhe getragen haben, denn auf dem Pfahl gibt es keine Fingerabdrücke. Dann wurde Hans Wicki mit seiner eigenen Flinte erschossen. Frontal ins Gesicht, eine eigentliche Hinrichtung. Auch auf der Waffe gibt es nur verwischte Fingerabdrücke, was die Vermutung weiter stützt, dass der Täter Handschuhe getragen haben muss. Wahrscheinlich schlich sich der Täter auf diesem Schotterweg von hinten an den Jäger heran. Dieser Weg führt zur nächsten Alp und um den kleinen Hügel, um den sich diese Weide hier hinzieht. Aber wir haben keine Fussabdrücke dem Täter zuordnen können, weil die aufgebrachten Jäger jede Spur zertrampelt haben, als sie einem der Jagdhunde das blutige Ohr wieder entreissen wollten.»
«Habt ihr es schon mit einem Spürhund versucht?», fragte Emmenegger.
«Ja, aber der war durch die Gerüche der Jagdhunde und von dem vielem Blut total irritiert, so dass er keine Witterung aufnehmen konnte. Zudem regnete es recht stark. Wie gesagt, heute ging alles schief.»
Irgendetwas störte Emmenegger erheblich, nur wusste er nicht genau, was es war. Er dachte laut: «Eine Hinrichtung deutet auf Rache hin. Rache deutet auf ein Beziehungsdelikt hin. Meistens geschehen da Verbrechen im Affekt. Hier hat aber jemand ganz gezielt gehandelt.»
«Was mich auch irritiert, sind die Handschuhe», ergänzte Meyer, «wer trägt den jetzt schon Handschuhe, so kalt ist es doch noch gar nicht. Und zum Schiessen sind Handschuhe ja eher hinderlich.»
Da wurde Emmenegger bewusst, was ihn vorhin gestört hatte, und er zeigte auf Meyers dünne Medizinhandschuhe.
«Wir haben es mit einem Profi zu tun, der genau gewusst hat, wie man keine Spuren hinterlässt. Nichts da mit Affekthandlung. Hier war alles bis ins Detail geplant.»
Da es für Emmenegger im Moment am Tatort nichts mehr zu tun gab, weil die Ermittler auf die definitiven Ergebnisse aus dem Labor warten mussten, verabschiedete er sich. Er nahm aber nicht den gleichen Weg zurück zu den Autos der Jäger, sondern den Schotterweg, den wohl auch der Täter benutzt haben musste. Nach wenigen Minuten erreichte er die verlassene Sommeralp. Da gibt es eine Weggabelung. Ein Weg führt zur nächsthöheren Alp. Ein zweiter in eine steile Schlucht hinein, von wo aus man nur zu Fuss zu einer Passtrasse kommt, die über den Glaubenberg in den Kanton Obwalden führt. Der letzte Weg führt um den kleinen Hügel zurück zum Platz, wo die Jäger ihre Autos geparkt hatten.
Emmenegger, der das Gebiet von seinen Streifzügen durch die pilzreichen Wälder bestens kannte, blieb einen Moment stehen und überlegte, welchen Weg er selber eingeschlagen hätte.
«Wahrscheinlich durch die Schlucht auf die Passstrasse», dachte er. «Da könnte er sein Auto abgestellt haben. Die Passstrasse ist relativ stark befahren, da fällt ein Auto weniger auf als hier im abgelegenen Tal der Kleinen Entlen, wo die Einheimischen das Nummernschild jedes fremden Autos aus Prinzip überprüfen. Er? Könnte es auch eine Frau gewesen sein?»
Ausschliessen konnte man das nicht, aber für Emmenegger sprachen zwei Argumente gegen eine Täterin. Erstens die ungeheuerliche Brutalität des Angriffs. Und zweitens war Hans ein kräftiger, stattlicher Mann, den umzuhauen, wäre wohl manchem Kerl, geschweige denn einer Frau, schwer gefallen.
«Na gut, es gibt natürlich auch grosse, gut trainierte, kräftige Frauen.» Aber trotzdem war für Emmenegger eine Frau eher unwahrscheinlich.
Als Emmenegger den Parkplatz erreichte, kam ihm Astrid entgegen und streckte ihm die Kopfwehtabletten entgegen.
Emmenegger wehrte ab: «Nicht mehr nötig, aber danke trotzdem, diese Schweinerei auf der Weide kuriert die schrecklichste Migräne. Wer ist da vorher schon weggefahren?»
«Der Arzt, er bringt die zwei Jugendlichen nach Hause. Wir haben ihre Aussagen aufgenommen, und der Doktor meinte, es wäre besser, wenn wir sie zu ihren Müttern heimbrächten. Die armen Kerle. Wir sollten auch jemanden vom Care-Team aufbieten.»
«Ja, organisiere das bitte. Ich möchte jetzt sehr gerne mit dem Vater und dem Bruder von Hans Wicki sprechen. Die stehen ja da vorne.», sagte Emmenegger.
«Du kennst die beiden?», fragte Astrid.
«Wer nicht!», brummte Emmenegger missmutig.
Tatsächlich war der alte Hermann Wicki eine sehr prominente Person im Entlebuch. «König von Sörenberg» nennen ihn die Einheimischen etwas despektierlich.
Schon früh erkannte Hermann Wicki das Potenzial des Wintertourismus für die Region und kaufte in Sörenberg, heute eine bekannte Wintersportdestination, bei den Bauern Land- und Nutzungsrechte, die im Winter den Skibetrieb garantierten. Wicki kam aus einfachen Verhältnissen. Er verstand es aber hervorragend, potenzielle Geldgeber von seinen Ideen zu überzeugen. Bei seinen Geschäftstätigkeiten ging Wicki oft recht skrupellos vor. Gerüchte über massive Einschüchterungen und Erpressungen hielten sich über Jahre. Öffentlich wagte es aber niemand, gegen den aufstrebenden Wicki-Clan vorzugehen.
Mit dem wachsenden Erfolg sorgten bald grosszügige Spenden, oder sollte man es Schmiergeldzahlungen nennen, für den reibungslosen Ablauf von Wickis halbseidenen Geschäften.
Wicki selber war äusserst sparsam, auch bei der Bezahlung seiner Angestellten. Auf diese Weise wurde er schon bald alle Schulden los und reinvestierte die anfallenden Gewinne geschickt in neue Projekte. Vorzugsweise in Landkäufe und Immobilien. In einem atemberaubenden Tempo schaffte Wicki ein Immobilienimperium, nicht nur im Entlebuch, sondern im ganzen Kanton Luzern.
«Kommissar Emmenegger, ich leite die Untersuchung dieses Falles, mein Beileid», begann Emmenegger das Gespräch mit Hermann Wicki. «Können sie mir noch einmal genau erzählen, was passiert ist, Herr Wicki, was sie und die Jäger gesehen haben?»
«Das habe ich dieser Tussi doch bereits erzählt», fauchte Wicki zurück. «Ich kenne ihren Chef sehr gut. Ich glaube, ich muss ihn mal auf die ineffiziente Arbeitsweise seiner Mitarbeiter hinweisen.»
Das reichte Emmenegger, dem der alte Wicki mit seiner ungehobelten Art schon immer auf die Nerven ging.
«Ok, dann machen wir das anders», erwiderte Emmenegger Wickis Frechheiten. «Alle verlassen doch noch einmal bitte ihre Fahrzeuge und zeigen meinen netten Arbeitskollegen da drüben Fahrzeugpapiere und Jagdscheine. Ah, und die Waffenscheine selbstverständlich auch. Und Astrid, wollten wir der Ordnung halber nicht noch einen kleinen Alkoholtest bei diesen Herrschaften durchführen?»
Emmenegger hatte ins Schwarze getroffen. Kannte er doch seine Entlebucher.
Emil Wicki, der Bruder des Opfers, trat auf Emmenegger zu: «Schon recht, Herr Emmenegger, mein Vater ist durch den Wind, kein Wunder unter diesen Umständen. Aber wir haben wirklich nicht mehr gesehen, als wir ihrer geschätzten Mitarbeiterin schon erzählt haben.»
«Na, geht ja auch freundlicher», knurrte Emmenegger. «Hatte ihr Bruder Feinde, wurde er bedroht?»
«Nicht, dass ich wüsste, aber mein Bruder und ich sind beide in der Politik tätig, und wenn man sich in der Öffentlichkeit für die Bevölkerung einsetzt, ist man immer einer gewissen Kritik ausgesetzt, das kennen sie als Polizist wohl auch zur Genüge.»
«Falscher Hund!», dachte Emmenegger nur.
Astrid winkte Emmenegger diskret zu sich und sagte: «Komm Bruno, wir lassen uns lieber nicht auf einen Kleinkrieg mit den Wickis ein, wir haben alle Personendaten aufgenommen und müssen sowieso auf Meyers Resultate warten.»
«Du hast recht. Ich bleibe am besten heute Abend in Schüpfheim, da erfahre ich garantiert wesentlich mehr, als von diesen Jägern, die ja alle irgendetwas mit dem Wicki-Clan zu tun haben. Fahr du bitte zurück nach Luzern. Du musst das mit den Medien aufgleisen. Du und der Mediensprecher, ihr müsst eine einigermassen appetitliche Version dieser Horrortat erfinden. Diese Blutsauger von Journis werden uns die Hölle heiss machen, das kann ich dir schwören. Aber wartet mit der Mitteilung, bis die alte Mutter Wicki vom Tod ihres Sohnes weiss. Die gute Frau soll es von uns oder dann von ihrem Mann erfahren, aber sicher nicht aus den Medien.»
«Harte Schale – weicher Kern», Astrid schmunzelte, «manchmal aber auch umgekehrt.»
Als Hermann Wicki einwilligte, seine Frau Marianne selber über den Mord zu informieren, fiel Emmenegger ein Stein vom Herzen. Denn er kannte die zierliche, herzensgute Frau von früher: Als er noch ein Schulbub war, hatte sie ihm im Dorfladen ab und zu etwas Süsses zugesteckt. Er singe sonntags in der Kirche so schön, hatte sie ihm dann jeweils zugeflüstert. Wieso diese Frau an einen Rüpel wie Wicki geraten konnte, war Emmenegger ein Rätsel, das er nie lösen würde. Vielleicht trotz allem, Liebe?
Auf jeden Fall konnte er auf die schmerzliche Aufgabe, die alte Mutter über die Ermordung ihres Sohnes zu informieren, gerne verzichten.
«Eines ist schon komisch», sagte Astrid zum Abschied. «Normalerweise gibt es bei einer solch brutalen Tat sofort Vermutungen, Theorien, Geschwätz. Aber hier halten sich alle erstaunlich bedeckt. Ist doch bemerkenswert bei einem so prominenten Opfer. Findest du nicht, Bruno?»
«Darum bleibe ich heute in Schüpfheim, ich weiss, wo die Entlebucher redselig werden. Nur Geduld. Haltet mir die Presse und den Chef vom Hals. Morgen weiss ich hoffentlich mehr. Für mich riecht das nach einem Beziehungsdelikt, also besteht für die Bevölkerung keine unmittelbare Gefahr wie bei einem Amokschützen. Das hier war eine ganz persönliche Abrechnung. Apropos Amokschütze, das wäre doch eine Idee für deine Pressemitteilung, besprich das doch mit unserem Medienguru, für irgendetwas soll der ja eingestellt worden sein.»
Kopfschüttelnd fuhr Astrid los nach Luzern. Dieser Emmenegger erstaunte sie zum tausendsten Mal. Der konnte noch in den extremsten Situationen seinen Humor aufblitzen lassen und Giftpfeile abschiessen.
«Zum Glück verstehen sich Bruno und ich so gut», dachte Astrid, «aber ein einfacher Mensch ist Bruno trotzdem nicht.»
«Herein», rief Oberst Heinrich Büchner gereizt. «Ah endlich, eintreten, Oberstleutnant. Gibt es Neuigkeiten von meiner Tochter? Innert zehn Tagen sollten wir sie ja nun wirklich gefunden haben. Die wird sich ja nicht in Luft aufgelöst haben. Was haben sie mir zu melden?»
«Zu Diensten, Genosse Oberst. Ich habe tatsächlich Neuigkeiten. Ihre Tochter hat während der Olympischen Spiele in München den Tatbestand der Republikflucht erfüllt und ist in die BRD übergelaufen. Kurze Zeit später hat sie sich in die Schweiz abgesetzt. Wir haben dort einen sehr fähigen Kontaktmann auf sie angesetzt. Sobald sie sich in der Schweiz irgendwo anmeldet, erfahren wir es umgehend.
Aber was mir mehr Sorgen macht, Genosse Oberst, ist, dass man in der Offiziersmesse über sie redet.»
«Über mich?»
«Ja, Genosse Oberst, zwar nur hinter vorgehaltener Hand. Es ist mir ja höchstpersönlich äusserst peinlich, aber Missgunst und Neid gibt es leider überall.»
«Damit und mit Hohn muss ich wohl rechnen, Oberstleutnant. Da gelte ich als einer der schärfsten Hüter unserer Republik, und meine eigene Tochter setzt sich in den Westen ab. Das kann ich unmöglich so stehen lassen, wir müssen unverzüglich handeln!
Was sagt denn mein jämmerlicher Schwiegersohn, der Wolfgang? Habt ihr ihn schon vernommen? Der steckt sicher hinter dieser leidigen Geschichte. Dieser eingebildete Theater-Lackaffe war mir schon immer zuwider. Nur Theater, Theater und schöne Künste im Kopf. Ist ja beileibe kein Wunder, interessierte das meine Tochter nicht mehr. Um den Sohn kümmert sich zum guten Glück meine Frau. Dieses Schauspielermilieu ist nichts für ein Kind.»
«Genosse Oberst, mit Verlaub. Niemand quetscht mehr aus einem Häftling heraus als ich. Ich kenne alle Tricks und habe keinerlei Skrupel, die Daumenschrauben anzuziehen. Aber dieser Wolfgang, so leid es mir tut, der hatte keine Ahnung vom Plan ihrer Tochter. Dem seine kleine beschissene Welt ist in sich zusammengebrochen. Der ist am Boden zerstört – fix und fertig.»
«Oberstleutnant, das ist mir vollkommen wurst. Mein Schwiegersohn muss den Kopf hinhalten, machen sie ihn zur Schnecke, er muss seine verdammte Komplizenschaft gestehen, so oder so. Volles Programm: Drohen sie, quetschen sie seine Freunde aus. Ihnen fällt doch sonst immer etwas Nettes ein.»
«Aber Genosse Oberst, ich dachte halt nur, weil er ja ihr Schwiegersohn ist…»
«Scheiss drauf, ich brauch einen Sündenbock! Und mein lieber Freund, eines kann ich ihnen versichern, wenn etwas an mir hängen bleiben sollte, dann gehen sie mit mir unter. Verstanden?»
«Ist mir schon klar, Genosse Oberst. Ich klopfe ihren werten Schwiegersohn schon noch weich. Isolationshaft und Schlafentzug. Das führt meistens zum Ziel.»
«Ich vertraue ihnen, Oberstleutnant. Wir sollten alles aus dem Weg schaffen, was einer weiteren Beförderung hinderlich sein könnte. Für mich, aber auch für sie! Verstanden? Halten sie mich auf dem Laufenden. Abtreten!»
Im November des gleichen Jahres stürzte sich der bekannte Theaterschaffende Wolfgang Schulz, auf dem Weg zu einer weiteren Vernehmung durch die Staatssicherheit, in den ungesicherten Lichthof eines fünfstöckigen Verwaltungsgebäudes. Sein Selbstmord wurde vom DDR-Regime als Schuldgeständnis für die Beihilfe zur Republikflucht seiner Ehefrau Elke Schulz proklamiert. Kurt, der dreijährige Sohn von Elke und Wolfgang, kam in die Obhut der Genossen Grosseltern, Heinrich und Maria Büchner.
«Hallo Eva», begrüsste Kommissar Emmenegger die hübsche Kroatin, die hinter dem Tresen im Adler Gläser in die Spüle stellte.
«Ah, der feine Herr Kommissar erinnert sich wieder an seine angeblich grosse Liebe, für die er leider nie Zeit hat. Mit der er nie in die Ferien verreist. Die er letzte Woche nicht ein einziges Mal angerufen hat!», antwortet Eva kühl.
Eva und Bruno führten seit einiger Zeit eine etwas komplizierte Beziehung. Zum einen wegen der unterschiedlichen und unregelmässigen Arbeitszeiten, zum andern wollte es Eva am Anfang ihrer Beziehung eher langsam angehen, was Emmenegger fälschlicherweise als Desinteresse interpretierte und sich deshalb stur rarmachte. Ein typischer Entlebucher halt. Aber Eva hatte gespürt, dass sie nun auf Bruno zugehen musste, wenn sich etwas an der verkorksten Situation ändern sollte. Denn das wollte sie unbedingt. Bruno gefiel ihr schon seit der ersten Sekunde. Der war anders als andere Kerle: männlich, aber kein Macho, feinsinnig, aber keine Memme. Ein ganz besonderer Mann. Sie war in den vergangenen Jahren von Männerbekanntschaften mehrmals enttäuscht worden. Sie führte das darauf zurück, dass sie als Bardame arbeitete. Das wird anscheinend von vielen Männern als Freipass für ein kurzes, unverfängliches Abenteuer missverstanden. Zudem war sie sich seit langem schmerzhaft bewusst, dass sie zwar schon seit Kindsbeinen in Schüpfheim lebte, aber trotzdem für viele auf ewig ein «Jugo» bleiben würde. Eine gesamtschweizerische Untugend – keine Entlebuch spezifische.
Nur wenn bei ihren Barbesuchern in den eigenen vier Wänden der Haussegen schief steht, ist Eva wieder gut genug, um das Gejammer der von ihren Ehefrauen gebeutelten Entlebucher anzuhören. Weil die Männer wieder einmal über die Stränge gehauen haben und dann mit Liebesentzug büssen müssen. Doch im Grossen und Ganzen mochte Eva ihren Job im Adler und in der dazugehörenden Adlerbar. Und auch die Menschen in diesem Dorf. In ihrem Dorf. Auf keinen Fall wollte sie wieder zurück nach Kroatien. Hier war jetzt ihre Heimat. Vor allem, seit dieser Polizist Emmenegger in ihr Leben getreten war. Mit ihm konnte sie besonders gut reden. Anfangs zwar noch schüchtern, aus Angst, wieder eine Enttäuschung zu erleben. Dann aber zunehmend mit Schmetterlingen im Bauch.
Als Emmenegger ihr an einem milden Sommerabend erzählte hatte, dass seine Mutter ursprünglich aus Saint-Malo, der Korsarenstadt in der Bretagne im Norden Frankreichs, stammt, und er als Junge wegen seiner partout nur Französisch sprechenden Mutter als Welschen gehänselten wurde, fasste Eva endgültig Vertrauen, und sie wagte sich, Bruno in Luzern zu besuchen. Es wurde ein wunderbarer Abend. Emmenegger lud sie in eine gemütliche Kneipe zu einem einfachen Nachtessen ein. Später schlenderten sie Geschichten erzählend und lachend dem Seeufer entlang. Erstaunlich geschickt brachte es der Kommissar schliesslich fertig, dass Eva den letzten Zug nach Schüpfheim verpasste. So blieb Eva in dieser Nacht bei ihrem Korsaren, wie sie ihn seither nannte.
«Hast du noch ein Zimmer für einen gestrandeten Polizisten?», fragte Emmenegger nüchtern.
«Einzel- oder Doppelzimmer? Ah nein, heute ist alles ausgebucht», antwortete Eva linkisch. Dann aber gaben sie das lächerliche Spiel wortlos auf und umarmten sich.
«Schön, dass du da bist, Bruno. Natürlich kommst du heute Nacht zu mir», flüsterte Eva in Brunos Ohr.
«Ich wollte dich ja sowieso besuchen, an meinem freien Wochenende, also an meinem vermeintlich freien Wochenende.»
«Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht frei hast, nachdem was passiert sein soll…»
Der brutale Mord an Hans Wicki hatte sich im Dorf wie ein Lauffeuer herumgesprochen, und Eva wollte jetzt natürlich alles ganz genau wissen. Doch Bruno wusste ja auch noch nicht viel mehr und ersparte Eva die grausigen Details.
«Ich muss unbedingt eine Dusche nehmen und etwas essen. Danach möchte ich mit einigen Leuten im Dorf sprechen. Ich gehe wohl von Kneipe zu Kneipe. In irgendeiner Beiz erfahre ich sicher etwas, was mich in diesem Fall weiterbringt. Am Schluss komme ich zu dir in die Bar, zu deinen Nachtschwärmern. Hör dich doch bitte auch um, dir erzählen sie ja sonst immer alles.»
Eva war Feuer und Flamme, solche Geschichten faszinierten sie. Bruno musste ihr immer und immer wieder von seinen spannendsten Fällen erzählen. Das tat er gerne. Aber natürlich berichtete er nur von dem, was für ihre Ohren gedacht war, da war Emmenegger sauber. Auf jeden Fall konnte Eva jetzt endlich an einer laufenden Ermittlung teilhaben. Mit einem verschwörerischen Blick zu Bruno hauchte Eva: «Du kannst mir vertrauen, Babe.»
Als Eva ihre Schicht in der Adlerbar übernahm, begann Emmenegger seine Tour im verschlafenen Schüpfheim.
Zuerst kehrte er im Gasthaus Kreuz ein. Wild auf Wild? Stand auf einer Schiefertafel. Nein, das war Emmenegger heute nun wirklich nicht mehr.
«Hallo Fredi», begrüsste Bruno den Wirt.
«Bonjour mon Capitain», flachste der Wirt mit einer Anspielung auf Emmeneggers Herkunft mütterlicherseits.
«Ich bin am Verhungern, was hast du ausser Wild?»
«Ein Steinpilzrisotto – in Weisswein gekocht, ein Traum sag ich dir.»
«Ok, das nehme ich. Wo sind die Jäger? Treffen die sich nicht häufig hier bei dir.»
«Normalerweise schon, aber nach dem was passiert ist… Die sind alle noch geschockt. Schreckliche Sache!»
«Ja, schreckliche Sache. Sag mal, hattet ihr in den letzten Wochen Ärger im Dorf?»
«Wieso Ärger? Nein, es war alles friedlich, nur der Wolf machte uns diesen Sommer Sorgen.»
«Wegen der vielen getöteten Schafe?»
«Ja natürlich, und jetzt bringen die Jäger nicht mal was von der Jagd nach Hause. Einige von ihnen fürchten sich weiterhin, auf die Jagd zu gehen, solange ein Verrückter um sich schiesst. Nehmen wir später noch ein `Schwarzes´ zusammen?», fragt der Wirt. So heisst die Kaffee-Schnaps-Spezialität im Entlebuch. Viel Schnaps, dünner Kaffee.
«Und Bruno, schön, dass du den Fall übernommen hast. Du weisst ja, dass wir keinen weiteren Ärger in unserem Unesco-Biospähren-Reservat gebrauchen können. Der Wolf reicht vollständig.»
«Ja, ja, aber ein Wolf kommt selten alleine», murmelte Emmenegger gedankenverloren.
Weitere Gäste betraten den Gasthof. Der Wirt kümmerte sich um die Ankömmlinge. Eine flinke Serviertochter brachte Emmenegger den heissen Teller an den Tisch und Bruno konnte sich endlich seinem herrlich dampfenden Risotto zuwenden. Im Moment interessierten ihn die Steinpilze und ein Glas Merlot wesentlich mehr, als die biosphärischen Überlegungen seines alten Freundes Fredi.
Nach dem Essen ging Emmenegger nach draussen, um in Ruhe Astrid anzurufen. Er wollte wissen, ob sie schon etwas von der Kriminaltechnik gehört habe.
Astrid seufzte: «Bruno, leider sieht es ganz schlecht aus. Meyer ist verzweifelt, keine verwertbaren Spuren. Der Chef ist im Moment noch anderweitig beschäftigt. Er gibt sogar jetzt noch Interviews zum heutigen Fussballspiel. Das ist übrigens ungewohnt friedlich abgelaufen. Der Chef lobt unsere Einsatztruppe für ihren diskreten, aber doch präsenten Auftritt, was immer er damit meint.»
«Und wie ging das Spiel aus?»
«Keine Ahnung.»
«Frauen!»
«Lieber Bruno, wir brauchen Hinweise aus der Bevölkerung, sonst kommen wir keinen Schritt weiter.»
«Ich arbeite daran. Ich habe da noch eine Idee. Haben Röbi und Heinz noch Dienst?»
